24. August 2006
Konstitution der Gesellschaft I
Vorwurfsvolle Schuldzuweisungen

Wie schon häufig erwähnt stellen für mich viele Diskussionsforen ein mehr oder weniger getreues Abbild unserer Gesellschaft dar. Heute möchte ich mich jedoch auf einen wesentlichen Aspekt beschränken: den des Vorwurfs und der Schuldzuweisung.

Freiheit durch Macht

Heutzutage gilt es in unserer Gesellschaft als allgemein anerkannt, daß der sich als frei bezeichnen darf, der am meisten weisungsbefugt und am wenigsten weisungsgebunden ist. Mit anderen Worten: Man strebt das, was man heute als erstrebenswerte Freiheit definiert, in der Regel durch ein Streben nach Macht an, und zwar nach Macht über andere. Nur wer sich stark fühlt, stärker als andere, glaubt sich frei und wird von anderen als freier empfunden als der offensichtlich oder scheinbar Schwache. Schwäche ist in unserer Leistungsgesellschaft überhaupt verpönt, und fast ebenso verpönt scheint auch die geringste Andeutung von allem, was auf irgend eine Schwäche hindeuten könnte. In den Tageszeitungen, Wochenzeitschriften und elektronischen Medien wimmelt es daher nur so von Schuldzuweisungen, Herabwürdigungen und Vorwürfen der Schwäche und Unfähigkeit. Es geht in den täglichen Medienschlachten längst nicht mehr um echte Problemzusammenhänge, sondern einzig um Macht und Vorherrschaft. Wie eben auch in diversen Diskussionsforen, in denen mit großer Vorliebe meist nicht über die Inhalte von Artikeln und Beiträgen diskutiert, sondern allermeist über den jeweiligen Autor hergezogen wird, besonders wenn dieser Autor in seinen Ausführungen nicht dem Mainstream folgt. Die Bevorzugung solcher nicht dem common sense verhafteter Autoren als Prügelknaben hat den unschätzbaren Vorteil, stets genügend Mitläufer zu finden, die sich ebenfalls vom dargestellten Nonkonformismus bedroht fühlen.

Gerechtigkeit durch Beschuldigung

In der Zeit, in der ich gelegentlich erwähnte, über keinen Arbeitsplatz zu verfügen und daher von Sozialleistungen zu leben, mußte ich mir hier beinahe täglich Beschuldigungen mannigfacher Art anhören. Die einen warfen mir Sozialschmarotzertum vor, die anderen Faulheit, wieder andere Unfähigkeit und allerlei menschliche Abartigkeiten, um nur einige der schweren Vorwürfe zu nennen, mit denen man mich bedachte. Man drohte mir, beschimpfte mich, suchte mich von der Teilnahme am Diskussionsforum zu entfernen und erfand sogar Pseudonicks, um mich nachzuäffen. Suchte ich mich dieser Vorwürfe zu wehren, hatte (und hat) das einen weiteren Vorwurf zur Folge: Ich sei ungehobelt, unfreundlich, beleidigend usw.

Daß all dieser Aufwand vor allem den so Reagierenden dazu diente, sich selbst für gut und gerecht befinden und vor allem die eigenen mit meinen Ausführungen mitschwingenden Emotionen niederhalten zu können, habe ich nie bezweifelt. Doch woher kommen diese überaus heftigen und vor allem völlig übertriebenen Reaktionen? Darf man hier von Haß sprechen, der angesichts eines Ventils (in Form meiner Wenigkeit) zum Ausdruck kommt? Wem gilt dieser Haß? Und war er eigentlich nicht schon vor dem Ventil da, auch wenn ihn kaum einer wahrgenommen hat?

In der Tat gilt ein solcher Haß gar nicht mir oder anderen davon Betroffenen, sondern den sich so Äußernden selbst – genauer: einem Teil ihres Selbst, das sie stets so gut unter Verschluß halten, daß sie es erst wieder bemerken, wenn sie mit einem anderen konfrontiert werden, der diesen Teil seines Selbst nicht unter Verschluß hält, sondern im Gegenteil öffentlich präsentiert. Der Haß kommt aus der Verachtung, die sie diesem Anderen entgegenbringen müssen für die angenommene Unfähigkeit, diesen gewissen Teil ihres Selbst verborgen zu halten. Ja, ihr habt richtig gelesen: Die ausgeprägte Fähigkeit, Teile seines Selbst zu unterdrücken, wird in unserer Gesellschaft als Stärke angesehen. In Wirklichkeit handelt es sich natürlich um eine echte Schwäche, die darin besteht, gewisse Anteile des eigenen Selbst nicht oder nur schwer ertragen zu können.

Annahme (Anerkennung) durch Leistung

Bereits im Säuglings- und Kleinkindalter müssen wir uns "entscheiden", entweder die Liebe und Zuwendung der Eltern zu riskieren oder aber ihren Wünschen nach Wohlverhalten, die sich oft gegen unsere ureigensten Bedürfnisse richten, nachzukommen. Die allermeisten Kinder – mir sind keine Ausnahmefälle bekannt – "entscheiden" sich natürlich für das geforderte Wohlverhalten, schon allein deshalb, weil sie es sich in diesem Stadium der völligen Abhängigkkeit von den Eltern gar nicht leisten können, eine andere Entscheidung auch nur in Erwägung zu ziehen: Es gibt nur diesen einen Weg für die so mißverstandenen und mißbrauchten Kleinstkinder. Und weil so kleine Kinder noch nicht in der Lage sind, durch Nachdenken und Rationalisieren zu einer bewußten Entscheidung zu gelangen, bleibt ihnen nur das Verdrängen dieser unerwünschten Bedürfnisse. Dieses Verdrängen wird auf natürlichste Weise realisiert, indem diese unerwünschten Bedürfnisse mit der Angst vor dem Liebesentzug besetzt werden.

Dieser Vorgang dürfte sich bei uns allen in der einen oder anderen Form abgespielt haben. Durch das Verdrängen sind diese Bedürfnisse aber nicht verschwunden: sie führen bis zu ihrer Reaktivierung ein Eigenleben im betroffenen Menschen und machen ihm oft einen gewaltigen Strich durch seine ihm logisch scheinenden Rechnungen. Das liegt daran, daß diese Anteile des Selbst niemals in die Gesamtpersönlichkeit integriert wurden, wohl aber einen – unbewußten – Anteil am Charakter des jeweiligen Menschen beanspruchen: Sie wirken quasi aus dem Keller heraus, in den wir sie in unserer Not einst verbannt haben.

Auf diese Weise lernten die meisten heute lebenden Menschen, daß sie nur etwas wert sind, wenn sie etwas leisten, und zwar nicht irgend etwas, sondern genau das, was die Mehrheit (die Gesellschaft) als wertvoll anerkennt. Diese Grundhaltung wurde ihnen durch die Verweigerung der Zuwendung bei Unartigkeit vermittelt. Man sagt zwar, die Mutterliebe sei von Grund auf bedingungslos, doch lassen sich in der Praxis nur allzuoft Situationen beobachten, in denen Kinder unnötigerweise am Ausleben ihrer Bedürfnisse gehindert werden. Allermeist steckt dahinter die Angst der Mutter bzw. der Eltern, in den Augen der anderen als unfähige Erzieher dazustehen, der sein Kind nicht im Griff hat. Statt sich also dem Wohl und der gesunden Entwicklung des Kindes verpflichtet zu fühlen, wird gewöhnlich dem gesellschaftlichen Druck nachgegeben. Selbstverständlich spürt das Kind auch schon im präverbalen Alter, daß es nicht um seiner selbst willen geliebt und angenommen wird, sondern nur, wenn es brav – das heißt: gehorsam – ist.

Folgen

Eine weitere Auswirkung dieser frühkindlichen Konditionierung, die sich im Laufe der weiteren Entwicklung zu einem regelrechten Trauma auswächst, besteht in der lebenslangen Unsicherheit über die eigene Wahrnehmung und so auch über die eigene Urteilskraft. Wir haben gelernt, uns unsere Wahrnehmungen weitgehend von Autoritäten ausrichten und deuten zu lassen. Das hat zur Folge, daß sich die Menschen in den heutigen Gesellschaften in zwei Gruppen aufteilen lassen, deren Mitglieder jedoch meist von beiden einen gewissen Anteil haben (Radfahrer-Prinzip). Die einen bestimmen innerhalb gesellschaftlich festgelegter Rollen, was die anderen wahrzunehmen haben bzw. welche Wahrnehmungen Gültigkeit besitzen und welche nicht.

Das Endergebnis besteht in einer leicht zu führenden Masse, deren Mitglieder sich gegenseitig in Schach halten und die sich gleichzeitig nach der Führung durch einen starken, mächtigen Mann sehnen. Durch den Anteil, den sie mittels Unterwerfung unter seine Macht an dieser erhalten, fühlen sie sich wieder stark und zuversichtlich.