27. Mai 2005
Auf zum lustigen Passantenklatschen
Neue Gewaltwelle aus England erobert Deutschland

Donnerstag, Sat-1, Akte 05-Reportage: Jugendliche benutzen ihr Video-Handy zur Dokumentation von Gewaltakten, die sie selbst an beliebigen Passanten begehen.

Drei Kids aus Berlin, zwischen 14 und 15 Jahren alt, ist langweilig. Und weil ihnen nichts besseres einfällt, drehen sie einen Video: Der Kick in die Fresse. Hinterhältige Übergriffe auf Wehrlose mit nur einem Ziel: eine möglichst brutale Szene zu filmen, zu sammeln und zu tauschen. Jugendpsychologe Dr. Christian Lüdke erklärt diesen Trend unter Deutschlands Kids so:

Dadurch, daß diese Jugendlichen diese Bilder dokumentieren, sie sammeln, sie zeigen, machen sie deutlich, daß es Teil ihrer Identität ist. Je brutaler die Bilder sind, umso besser bin ich, umso wertvoller bin ich, umso stärker bin ich und umso mächtiger bin ich auch.

Einer der Jugendlichen auf die Frage, was daran so reizvoll sei:

Iss einfach so cool, wenn man paar Videos hat, so lustige Videos oder brutale so, die guckt sich dann jeder an.

Während einer dieser fragwürdigen Helden eine junge Passantin von hinten mit einem gekonnten Sprungkick niedertritt, filmt ihn ein anderer. Die restlichen Jugendlichen kichern dabei schadenfroh. Nach dem Grund dieses Lachens befragt, antwortet einer wie selbstverständlich: "Weil's lustig ist." Das Lustige daran, so die weitere Auskunft: "Es ist einfach so, man ärgert andere Leute und lacht darüber, find's witzich."

Lüdke findet, dieses Lachen sei ein ganz wichtiger Teil dieser Inszenierungen, weil es letzlich auch das Ende dieser Clips darstelle und auf diese Weise Schmerz, Gewalt und Brutalität mit Spaß und Freude gekoppelt würde und so tiefbefriedigende Gefühle auslöse. Vermutlich ist das ein ähnlicher Effekt, wie der des eingespielten Klatschens und Lachens vom Band bei den täglichen Seifenopern – ohne dieses ständige mechanische Lachen wäre das Ganze wohl kaum erträglich.

Doch nicht nur Passanten werden zum Opfer, sondern auch gleichaltrige mißliebige Schüler wie Florian, den sie vor grölender Menge schwer mißhandelten: mit Kabelbindern im Wald gefesselt, Hosen runtergezogen, mit Tinte eingschmiert – und natürlich alles schön dokumentiert. Einer der Beteiligten gestand, während er auf seine Gerichtsverhandlung wartete, freimütig ein, nur mitgemacht zu haben, um nicht als Lusche zu gelten. Peer-pressure nennt das der Fachmann, der Druck der sog. peer group. Ähnliches (jedoch ohne Video-Handy) wurde vor nicht allzu langer Zeit über eine Dorf-Schüler-Gruppe (Jungs und Mädchen zwischen 14 und 16, angeführt von einem 20jährigen) berichtet, die einen Obdachlosen so brutal mißhandelte, daß dieser an den Folgen verstarb.

Lüdke meint, diese Filme seien für die Jugendlichen eine Art Trophäe, die dazu dienen, den Tatrausch zu verlängern. Die traumatischen Folgen für die Opfer sind diesen Jugendlichen dabei vollkommen gleichgültig.

Wie ich immer wieder betone: wir können es uns nicht mehr erlauben, weiterhin achselzuckend zuzusehen, wie sämtliche moralischen Werte den Bach runtergehen. Wenn diese Jugendlichen die Wähler von morgen darstellen, kann man sich leicht ausmalen, wohin wir steuern. Dabei ist es nicht damit getan, den Eltern oder alleinerziehenden Müttern die Schuld zuzuschieben. Traditionsbestimmte Bindungen sind ohne Ersatz zerfallen. Die Verschärfung der Marktsituation verlangt eine immer frühere Ablösung der Kinder vom Elternhaus. Den Eltern bleibt oft gar keine Zeit zwischen Arbeits- und Wohnort, sich ausgiebig um ihre Kinder zu kümmern. Vor allem mangelt es sehr vielen Jugendlichen am Entgegenbringen von echtem Verständnis und an echter Zuwendung. Sie fühlen sich nicht ernst genommen, nicht beachtet, ergo minderwertig und sehen auch keine Perspektiven, die es lohnend erscheinen ließen, sich selbst zu disziplinieren.

Die Bindungen unter den Menschen werden immer schächer, so scheint es. Einerseits wird vom anonymen Individuum verlangt, sich weitgehendst anzupassen, andererseits wieder, so individuell wie nur möglich zu sein. Dieses Prokrustesbett der Normalität läßt nicht allzu viel Raum für autarke Entfaltung. Kein Wunder also, wenn Jugendliche gegen diese bei ihren Eltern beobachtete Zwangsjacke der Konformität revoltieren. Doch vor allem fehlt es den Jugendlichen an Selbstwertgefühl: viele fühlen sich nur rumgeschubst und rechtlos. Eine Nachbarin erzählte mir kürzlich von einem 13jährigen, der beinahe täglich irgendwelche Mitschüler verprügelt. Nach dem Grund dafür befragt, antwortete dieser jugendliche Schläger: "Solang ich noch nicht 14 bin, könnt ihr mir gar nichts."

Gewalt ist immer ein sicheres Anzeichen für empfundene Hilflosigkeit. So läßt sich auch die oben beschriebene Video-Handy-Gewalt als Hilfeschrei orientierungsloser Jugendlicher verstehen. Aber es hört sie niemand – will sie keiner hören. Dabei sind wir – die Erwachsenen – die Produzenten dieser Jugendlichen. Wir lassen die Entwicklung einer Gesellschaft zu, die solche Auswüchse annimmt. Wir sind noch weit entfernt von der Verantwortungsgesellschaft, die Amitai Etzioni zu recht einfordert.