9. April 2006
Zur steigenden Gewaltbereitschaft Jugendlicher
Weshalb das traditionelle Männerbild die Gewaltbereitschaft männlicher Jugendlicher fördert

Obwohl die zumindest von den Medien bemerkte und angemahnte steigende Häufigkeit der Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen heute jedem ein Begriff ist, wird die Zunahme jugendlicher Gewaltbereitschaft vielfach verharmlost, häufig sogar gänzlich geleugnet. Versucht man solche Dinge mit betroffenen Eltern zu thematisieren, wachsen die Widerstände schier ins Uferlose. Zwei Telefongespräche, die ich mit verschiedenen alleinerziehenden Müttern über ihre gewaltbereiten Söhne (am Beginn der Pubertät) führte, endeten beinahe in einem häßlichen Streit.

Bislang scheint sich die Ansicht durchgesetzt zu haben, daß die Mehrzahl jugendlicher Gewalttaten im Umfeld von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit stattfinde. Daß dies nicht der Fall ist, zeigte die Berichterstattung über die Zustände der Berliner Rütli-Schule, die in Deutschland beileibe keinen Ausnahme- und Einzelfall darstellt. Aber auch außerhalb der Schulen steigt die Gewaltbereitschaft. In einem Artikel vor fast einem Jahr habe ich bereits darauf hingewiesen (Auf zum lustigen Passantenklatschen), daß hier eine Sache zu laufen beginnt, die nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden darf, weil sie weitreichende Folgen für die Zukunft unserer Gesellschaft hat. Die Manie, Passanten, aber auch Mitschüler gewalttätig zu belästigen, die ganze Szene mit dem Video-Handy aufzunehmen und dann stolz herumzuzeigen, hat sich inzwischen zu einem fest etablierten Freizeitvergnügen vor allem männlicher Jugendlicher gemausert.

Obwohl eine langsame, aber stetige Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Themen wie sexueller Mißbrauch und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu beobachten ist, scheint das Thema der steigenden Gewaltbereitschaft männlicher Jugendlicher irgendwie tabu zu sein. Am traditionell überkommenen Männerbild darf offenbar nicht gerührt werden. Denn genau dort haben Sozialpsychologen eine ausschlaggebende Ursache für die steigende Gewaltbereitschaft männlicher Jugendlicher ausgemacht.

Bereits am 16. Dezember 1987 wird von der damaligen Bundesregierung aufgrund eines Kabinettsbeschlußes eine Unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission) eingesetzt. Die Gewaltkommission hat den Auftrag, bis Ende 1989 in einer Sekundäranalyse die Ursachen, insbesondere der politisch motivierten Gewalt, der Gewalt auf Straßen und Plätzen, der Gewalt im Stadion, der Gewalt in der Schule und der Gewalt in der Familie zu untersuchen und Konzepte zur Verminderung von Gewalt zu entwickeln, die so praxisnah und handlungsorientiert gefaßt sein sollen, daß sie von Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz auch möglichst kurzfristig umgesetzt werden können. Bald ergaben sich die ersten Schwierigkeiten dieser Kommission: sie konnten sich nur schwer auf eine gemeinsame Definition des Begriffs "Gewalt" einigen. Die aus dem Bereich der Psychologie stammenden Kommissionsmitglieder wollten Gewalt "auf ausgeübte oder glaubwürdig angedrohte Aggression eingeschränkt" sehen. Schließlich einigte man sich vorläufig auf einen Gewalt-Terminus, "der die zielgerichtete direkte physische Schädigung durch Menschen erfaßt ... wird überwiegend auch noch der Angriff auf Sachen einbezogen." Doch noch immer waren sich die Fachleute nicht einig darüber, was Gewalt eigentlich sei. Weitere langatmige Diskussionen ergaben dann die letztendliche Einigung darauf:

Der Gewaltbegriff soll aus der Sicht des staatlichen Gewaltmonopols bestimmt werden. Dabei soll es primär um Formen physischen Zwanges als nötigender Gewalt sowie Gewalttätigkeiten gegen Personen und/oder Sachen unabhängig von Nötigungsintentionen gehen. Ausgeklammert werden sollen die psychisch vermittelte Gewalt im Straßenverkehr und die strukturelle Gewalt.

Hier wird für Menschen, die ein wenig in Sozialpsychologie bewandert sind, sehr deutlich, wie dilettantisch solche Kommissionen vorgehen: sie halten es einerseits nicht für nötig, die Gesellschaft als Ganzes zu betrachten, um die strukturelle Gewalt zu erkennen, die unausweichlich auch Gewalt hervorbringt, wie sie ihrer Definition entspricht, und andererseits klammern sie bewußt psychische Gewalt aus, obwohl heute jeder psychologische Laie weiß, daß jeder Tat eine entsprechende psychische Befindlichlichkeit vorausgeht.

Ottmar Hanke hat sich in seinem Buch "Gewalt in der Peer-Group von Jungen" (Untertitel: Konzeptioneller Zugang – pädagogische Folgerungen), das erstmals 1998 erschien, dieser Problematik angenommen. Der Autor ist am Schulverwaltungsamt der Stadt Regensburg Leiter des Sachgebiets Gewaltprävention an Regensburger Schulen. Hanke präsentiert hier eine bis ins Detail fundierte Analyse der steigenden Gewaltbereitschaft Jugendlicher, die vor allem im Zusammenhang mit sog. peer groups, also der Gleichaltrigen-Gruppe oder Clique, auftritt. Er hat nämlich bei seinen Untersuchungen entdeckt, daß die Jugendlichen dem traditionell überlieferten Männerbild des körperlich überlegenen Mannes nacheifern, weil sie das so gelernt und vorgelebt bekommen haben, und weil ihnen alternative Männerbilder fehlen. Zu diesem Männerbild zählen u.a. die Unterdrückung von Empfindsamkeit und Schmerz, das Empfinden überwältigender Scham bei der leisesten Andeutung irgendeiner Schwäche, die Notwendigkeit absoluter Dominanz gegenüber Schwächeren und gegenüber Frauen, und nicht zuletzt die Kanalisierung unerwünschter Impulse in Gewalttaten.

Hanke stellte aber auch wiederholt fest, daß Jugendliche, die von Gleichaltrigen eher abgelehnt werden, eine noch größere Gewaltbereitschaft entwickeln, um sich den anderen zu beweisen, als die in der peer group bereits anerkannten das gewöhnlich tun. Das korreliert mit der Beobachtung, daß extreme Gewalttäter an Schulen, die bis zum Äußersten gehen, ausschließlich Einzelgänger sind, die von keiner der jeweils existierenden peer groups akzeptiert wurden. Hanke:

Männliche Kinder und Jugendliche, die ein gemäßigt hohes Vorkommen an unsozialem Verhalten zeigen bzw. gewalttätige Jugendliche haben nicht weniger Kontakte und Freundschaften als ihre normalen Altersgenossen, sondern qualitativ andere: Ihre Freundschaften sind weniger verbindlich und offen, sind einförmig und eingeschränkt. In ihnen werden alternative Beziehungsmuster nicht eröffnet, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit auf gewalttätige Formen beschränkt. ... Unsoziale männliche Kinder zeigen und erhalten von ihren peers doppelt so viele negative Verhaltensweisen als normale. Unsoziale Jugendliche zeigen mehr Befehlsgebaren und den peers unangenehmes/abscheuliches Verhalten als ihre normalen Altersgenossen; zudem zeigen sie weniger soziale Fertigkeiten. Männliche Individuen beider Altersstufen erfahren durch Gespräche mit devianten Inhalten eine Verstärkung ihres unsozialen Verhaltens.

Nun hat die moderne Erforschung der menschlichen Ökologie* ergeben, daß Kinder, denen während ihrer Entwicklung eine sehr große Vielfalt an Bezugspersonen zur Verfügung stehen, weitaus mehr Rollen erlernen als beispielsweise Kinder, die nur von der Mutter erzogen werden. Aufgrund von Zeitmangel (alleinerziehende Mütter müssen meist arbeiten) und wegen des fehlenden männlichen Vorbildes entwickelt sich das männliche Kind in einer solchen Situation oft entweder völlig abseits des herrschenden Männerbildes, oder es fixiert sich in übertriebener Weise darauf, um den als schmerzliches Defizit empfunden Mangel der Vaterlosigkeit auszugleichen. (Das sind natürlich nur grobe Vereinfachungen, deren Notwendigkeit in diesem Forum sicher verstanden wird.)

* Ökologie = Lehre von den Umweltbeziehungen der Organismen