4. Januar 2008
Kulturheuchelei
Wer ist schon, was er zu sein vorgibt?

Die hohen Ansprüche des Kultur-Menschen, der sich mit der Bezeichnung "Kultur" von barbarischen Zeitgenossen unterschieden sehen möchte, machen ihn in gewisser Weise unkritisch gegen sich selbst wie gegen seine Mitmenschen. Sie tragen zur Steigerung seines Narzißmus bei und verschaffen ihm so ein gewisses Maß an Selbstberuhigung und -zufriedenheit.

Den einfachen Kulturgläubigen lehrte man schon früh die Ansicht, daß Kulturation oder Sozialisation im Auftrag des Kampfes gegen das Böse im Menschen unverzichtbar sei. Man müsse das Böse im Menschen ausrotten, weil er sich und die Welt sonst zugrunde richten würde. Nun zeigt sich aber gerade in den als fortschrittlich bezeichneten Kulturen eine erhöhte Neigung zu Krieg und Gewalttätigkeit, wie man leicht nachprüfen kann, wenn man die Grausamkeit und Kaltblütigkeit, mit der Kriege heute geführt werden, mit der vergangener Jahrhunderte vergleicht. Noch nie in vergangener Zeit wurde so bestialisch und anhaltend auf diesem Planeten gemordet wie seit dem Ersten Weltkrieg, und seither hat es keinen Tag mehr gegeben, an dem in dieser Welt kein Krieg geherrscht hat. Die Frage, wie das zu erklären sei, scheint daher eine durchaus berechtigte.

In Zeiten des Krieges entledigt sich der Mensch seiner Kulturhaut mit einer Leichtigkeit, die schlußfolgern läßt, sie habe ihm nicht sonderlich gut gesessen, sei ihm geradezu lästig gewesen und er, froh darüber, diese lästige Kleidung mit allgemeiner Billigung so einfach losgeworden zu sein, würde nun sein wahres Gesicht zeigen: endlich darf er all seinen sonst nur mühevoll unterdrückten Trieben nachgeben und nach Herzenslust stechen, metzeln, hauen, schießen und – morden, wie die neusten Nachrichten aus Kenya derzeit berichten.

Doch möchte ich mich hier nicht über politische Zusammenhänge eines fernen Landes auslassen, das tun andere schon zur Genüge und würde mich zudem überfordern, weil mir die dortigen Verhältnisse nicht gerade geläufig sind. Vielmehr liegt mir daran herauszufinden, wie es sich zutragen kann, daß Menschen, die als kultiviert gelten und gelten wollen, in bestimmten Zeiten zu Grausamkeit und Gewalttätigkeit neigen. Wie gelangt ein Mensch überhaupt erst zu einer höheren Stufe von Sittlichkeit und Anstand? Man sagt, durch eine gute Erziehung. Man nennt eine Erziehung gut, deren Resultat den Ansprüchen der jeweiligen Gesellschaft genügt: Wohlverhalten, Fleiß, Ehrlichkeit, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Respekt und wie die Schlagworte alle heißen, beschreiben Verhaltensweisen, die allzeit und jeder eventuell entgegenstehenden Triebregung zum Trotz gezeigt werden sollen.

Man hält daher schon die Kinder dazu an, großzügig zu sein und zu teilen, weil das ein wünschenswertes Verhalten darstellt. Schaut man sich aber in der Erwachsenenwelt um, findet man davon sehr wenig wieder. Das in der Kindheit erzwungene Verhalten wurde, als die elterlichen Zwänge wegfielen, nicht weitergeführt. Es war ein vorübergehendes Verhalten, einzig zu dem Zweck angenommen, nicht den Unmut der Eltern herauszufordern. Man hat beobachtet, daß Kinder, denen man Teilen und Großzügigkeit nicht nahelegt, diese meist von selbst lernen und später auch beibehalten. In diesen Fällen hat sich das gewünschte Verhalten aus eigener Überzeugung etabliert: das Kind ist von selber draufgekommen, hat sich damit wohlgefühlt, hat die Freude, die es damit spenden konnte, genossen und sich das Elementare der Handlung freiwillig eingeprägt.

Eine Untersuchung der Motive von Tierschützern ergab eine höchst überraschende Tatsache: ein erheblicher Teil der Tierschützer war als Kind eher unsanft mit Tieren umgegangen. Viele hatten ureigene Erfahrungen mit Tierquälerei gemacht, inklusive der darauf folgenden Gewissensbisse und seelischen Nöte. Man könnte nun schlußfolgern, daß sie aus einem Schuldgefühl heraus zu Tierschützern geworden waren. Doch wäre das zu kurz gedacht. Die Erfahrung damit, einem hilflosen Tier Schmerzen zu bereiten, und die nicht von Erwachsenen beeinflußte und somit ureigene Erkenntnis, daß sie das nur taten, weil sie selber Schmerz empfanden und sich durch das "Weitergeben" diesem Schmerz gegenüber nicht mehr so hilflos fühlten, hat einen Entwicklungsprozeß in Gang gesetzt, der zu erhöhter Sensibilität gegenüber allem Lebendigen führte. (Tierschützer sind nicht zu verwechseln mit Eiapopeia-Tierliebhabern, die Haustiere hauptsächlich deshalb halten, weil ihnen soziale Kontakte fehlen, und zu diesem Zweck ihren Hund oder ihre Katze zu vermenschlichen suchen.)

Die Triebregungen des Menschen, die mittels Erziehung (Sozialisation, Kulturation) gebändigt und kanalisiert werden sollen, sind bei allen Menschen gleichartig in ihrer Natur. Sie sind das tiefste, elementarste Wesen des Menschen, sind seine ursprünglichen Bedürfnisse. Sie sind weder gut noch böse, sondern elementar und – primitiv.

Während das Neugeborene zu einem Erwachsenen entwickelt, unterliegen seine Triebregungen mannigfaltigen Veränderungen: Sie werden unterdrückt, umgelenkt, miteinander verschmolzen, wechseln ihre Objekte und wenden sich zum Teil sogar gegen die eigene Person. Reaktionsbildungen gegen gewisse Triebe täuschen die inhaltliche Verwandlung derselben vor, als ob aus Egoismus → Altruismus, aus Grausamkeit → Mitleid geworden wäre. Eine solche Verwandlung gibt es aber nicht. Was hier wirklich geschieht, ist lediglich das Resultat von Unterdrückung des einen Teils eines solchen Trieb-Paares. Egoistische Bedürfnisse bilden mit altruistischen ein solches Ambivalenz-Paar, ebenso wie Haß und Liebe. Trotz dieser Paarbildung handelt es sich um eigenständige Triebe. Sie schließen sich nur scheinbar gegenseitig aus, in Wirklichkeit kommt es nicht selten vor, daß beide zur gleichen Zeit auftreten.

Neben den äußeren (erzieherischen) Einflüssen, die auf das sich entwickelnde Menschenkind ausgeübt werden, um seine Sozialisation voranzutreiben und so erwünschtes Verhalten zu produzieren, gibt es auch eine innere Strömung, die den Menschen von ganz alleine dahingehend zu beeinflussen vermag, die eigensüchtigen Triebe nicht ständig in den Vordergrund seines Handelns zu stellen. Es ist dies das menschliche Liebesbedürfnis im weitesten Sinn. Man lernt das Geliebtwerden als Vorteil zu schätzen, für den man gerne auf andere Vorteile zu verzichten bereit ist: wer geliebt wird, hat's leichter, fühlt sich bestätigt, erhoben, ist motiviert und gestärkt durch die dem Geliebtwerden innewohnende Bestätigung seines Selbst. Er kann auch auf ein gut Teil Kontrolle seiner ihn liebenden Mitmenschen verzichten, weil von diesen keine Gefahr droht. Wird man geliebt, fühlt man sich emotional mit dem/den Liebenden verbunden, was sich häufig zu einem Gefühlskontinuum entwickelt, an dessen Veränderungen man die Befindlichkeit seiner Mitmenschen abliest.

Von den Triebregungen anderer Menschen bekommen wir keine direkte Kenntnis, sondern müssen uns damit begnügen, sie aus ihren Handlungen und ihrem Benehmen zu schließen. Daß uns dabei manchmal Fehler unterlaufen, kann mit Gewißheit jeder bestätigen. Wir wissen niemals mit Bestimmtheit zu sagen, ob eine "kulturell gute" Handlung aus edlen Motiven stammt oder sozusagen geheuchelt ist. Gewöhnlich fragt man nicht nach diesen Motiven, man unterstellt nicht mal edle, sondern läßt diese Untersuchung in der Regel völlig aus. So kann sich hinter freundlichem Umgang und rücksichtsvoller Zuvorkommenheit berechnende Kälte verbergen, oder hinter fröhlicher Lässigkeit und verschmitztem Gesichtsausdruck steckt in Wirklichkeit eine Angst vor Zurückweisung. Eine meiner Bekannten war früher ständig nur am Lachen und Kichern, bis ich in einem ernsten Gespräch von ihren seelischen Qualen erfuhr. Den wenigen sensibleren Menschen ihrer Umgebung fiel das Systematische und Ständige ihres Lachens irgendwie unangenehm auf, die meisten hielten sie jedoch einfach für eine lustige Frau.

Man kann ohne weiteres davon ausgehen, daß in unseren Kulturgesellschaften zahlreiche, wenn nicht sogar die meisten Menschen ihren eigenen Triebregungen weitgehend entfremdet sind, weil Kulturen die "guten" Handlungen verlangen, ohne sich um die dahinter stehenden Motive zu kümmern. Gesellschaften zwingen Menschen zum Kulturgehorsam: man verlangt von ihnen, daß sie nicht ihrer Natur folgen. Je fortgeschrittener eine Kultur ist, desto höher werden die sittlichen Anforderungen, sichtbar auch in der steigenden Zahl von fest- oder ungeschriebenen Gesetzen. Die Mitglieder dieser Gesellschaft werden so weiter und weiter von ihren Triebveranlagungen weggeführt. Die durch diese ständige Triebunterdrückung hervorgerufene innere Spannung äußert sich nun in den seltsamsten Reaktions- und Kompensationserscheinungen. Es kommt vermehrt zu neurotischen Entwicklungen, das Bedürfnis nach Betäubung und somit nach Flucht vor dieser inneren Spannung weitet sich aus, verbreitet sich und findet seinen Niederschlag in der gerade heute feststellbaren hohen Neigung zu allerlei Drogen (inkl. Nikotin und Alkohol), Schmerz- und Beruhigungsmitteln und Psychopharmaka. Man versucht mit einem ständigen Zuwachs, mit einem nicht endenwollenden Mehr und Mehr und Mehr, etwas besser zu machen. (Verwechslung von Quantität mit Qualität führt hier zu Suchtverhalten.)

Wer wie der moderne Mensch sich genötigt sieht, ständig im Sinne der Vorschriften zu leben und zu handeln, lebt im Grunde über seine psychologischen Verhältnisse. Mit anderen Worten: er ist ein Heuchler, er kann nur ein Heuchler sein, denn er muß sich ständig selbst verleugnen, auch wenn ihm dies schon lange zur zweiten Natur geworden ist und er stets automatisch das gewünschte Verhalten zeigt. Für die Wirkungsweise dieser speziellen Entfremdung ist es völlig gleichgültig, ob den Betroffenen dieser Sachverhalt bewußt ist oder nicht. Daß unsere Kultur diese spezielle Art der Heuchelei mehr als nur begünstigt, sie geradezu fordert, kann wohl kaum noch bezweifelt werden. Möglicherweise ist unsere Gesellschaft gar auf Heuchelei aufgebaut, könnte ohne sie gar nicht existieren, wie man auch von den täglichen zehn bis 20 kleinen und großen Lügen eines jeden Einzelnen sagt, sie wären zum Wohle des konfliktfreien Miteinander notwendig.