31. Dezember 2007
Die Henne und das Ei
Wie entstand das Leben?

Immer wieder taucht die Frage nicht nur bei Kindern auf, was wohl zuerst da war: die Henne oder das Ei. Daß sich diese Frage nicht wirklich beantworten läßt, liegt nicht so sehr an der Unzulänglichkeit des menschlichen Verstandes als vielmehr in der einfachen Tatsache, daß die Frage falsch gestellt wurde.

Es ist die Frage nach der Entstehung des Lebens selbst, die hinter dieser harmlos scheinden Frage mit dem Ei und der Henne steckt. Wir, die wir zwischen lebloser (anorganischer) und belebter (organischer) Materie zu unterscheiden gelernt haben, können uns gewöhnlich nicht vorstellen, daß Leben aus "toter" Materie entstanden sein könnte. Und doch läßt unser "gesunder Menschenverstand" letztlich, wenn wir diesen Gedanken zu Ende denken, gar keinen anderen Schluß zu. Der vermeintliche Ausweg, das Leben wäre von irgendwo aus dem Weltall auf die Erde gelangt, verschiebt diese Frage nur woanders hin, denn irgendwie muß ja auch das hier gelandete Leben entstanden sein. Auch die religiöse Beantwortung der Frage nach der Entstehung des Lebens stellt nur eine Scheinlösung dar, denn die Behauptung eines "höheren Wesens", welches das Leben gemacht hätte, beantwortet nicht die Frage nach der Entstehung des Lebens dieses höheren Wesens. Für den Wissenschaftler sind solche "Antworten" unbefriedigend, weil sie nichts erklären. Der Zweck solcher Antworten besteht denn auch nicht in der Befriedigung des Wissensdurstes, sondern in der Selbstberuhigung und Kapitulation vor einer solchen Frage. Denn nach der Entstehung des angeblich höheren Wesens darf denn auch nicht gefragt werden, wie uns die religiösen Dogmen weismachen wollen.

Wir wir schon in der Schule gelernt haben, besteht organische Materie aus Aminosäuren. Schon in den 40er Jahren versuchten daher Biochemiker, die Situation, wie sie vor der Entstehung des Lebens auf der Erde bestanden haben mochte, im Labor nachzubauen und so herauszufinden, ob dabei biologisch bedeutsame Substanzen herauskämen. Der kalifornische Biochemiker und Nobelpreisträger Melvin Calvin hatte schon 1950 solche Versuche unternommen, wobei er als Energiequelle die ionisierende Strahlung eines großen Elektronenbeschleunigers benutzt hatte. Damit war es ihm immerhin gelungen, Ameisensäure und Formaldehyd zu erzeugen. So gab es viele Experimente, die nichts brachten und nichts bewiesen – bis dann eines Tages im Jahre 1953 der Chemiestudent Stanley Miller in seiner jugendlichen Unbekümmertheit ein Experiment ansetzte, das die Welt der Wissenschaft erschütterte. Er verschaffte sich die wichtigsten Zutaten, die, wie man ihm sagte, in der Ur-Atmosphäre enthalten gewesen sein sollten, Methan und Ammoniak, mischte sie auf gut Glück mit Wasser und verschloß die Lösung in einem Glaskolben. Um die Originalsituation so genau wie möglich zu kopieren, schloß er eine Hochspannungsleitung an seinen Glaskolben an und sorgte dafür, daß die darin enthaltene Mischung von kräftigen Funkenentladungen getroffen wurde. Dann überließ er seinen Versuchsaufbau sich selbst, schloß seinen Laborraum ab und ging zu Bett.

Auf der Erde hat es, nach allem, was wir bisher wissen, mindestens einige Dutzend, wahrscheinlich aber mehrere 100 Jahrmillionen gedauert, bis unter den Bedingungen, die Stanley Miller in seinem kleinen Glaskolben nachzuahmen versuchte, "etwas passiert" war. Man wird vermuten dürfen, daß Miller über diese Tatsache nur unzureichend informiert gewesen war. Anderenfalls wäre es kaum vorstellbar, daß er schon nach 24 Stunden seine Ungeduld nicht mehr bezähmen konnte. Nach dieser lächerlichen Frist nämlich schaltete Stanley Miller den Blitze erzeugenden Hochspannungsgenerator ab, füllte seine Versuchslösung, die er mit den Blitzen behandelt hatte, in Reagenzgläser, und begann erwartungsvoll danach zu suchen, was sich in ihr wohl ereignet haben mochte.

So unglaublich es unter den geschilderten Umständen klingt: Millers Suche war nicht nur erfolgreich, ihr Ergebnis übertraf die kühnsten Erwartungen! Die durch die künstlichen Blitze zugeführte Energie hatte in der so simplen Mischung aus Ammoniak, Methan und Wasser innerhalb von nur 24 Stunden neben einer Reihe ganz anderer Verbindungen gleich 3 der wichtigsten Aminosäuren entstehen lassen: Glyzin, Alanin und Asparagin. Das aber waren bereits 3 von insgesamt nur 20 Bausteinen, aus denen alle biologischen Eiweißarten zusammengesetzt sind, die es auf der Erde gibt.

Niemand weiß, warum es gerade 20 Aminosäuren sind, nicht mehr und nicht weniger, aus denen die irdische Natur alle ihre Lebewesen aufgebaut hat. Vielleicht läßt sich heute aber ein Grund dafür anführen, warum es gerade diese 20 sind und keine anderen, die wir in allen irdischen Organismen immer wieder finden. Unsere Schlußfolgerungen angesichts des bisherigen Ablaufs der Entwicklung und ebenso das Resultat des Millerschen Experiments legen hier eine ganz bestimmte Vermutung nahe, denn eigentlich sieht das Ergebnis von Miller wie ein nichtssagender Zufall aus: von den zahlreichen Aminosäuren, die nicht in lebenden Wesen vorkommen, hat er keine einzige produziert, aber gleich drei, die in Organismen vorkommen. Glyzin, Alanin und Asparagin sind bei diesem Experiment einfach deshalb entstanden, weil die Wahrscheinlichkeit, daß sich aus den Ausgangsstoffen unter den gegebenen Bedingungen gerade diese Moleküle bilden würden, besonders groß war.

Wie groß und wie universell die Bereitschaft der 92 im Kosmos vorkommenden Elemente ist, sich zusammenzuschließen, und zwar zu eben den Molekülen, von denen hier so ausführlich die Rede ist, zeigen radioastronomische Befunde. Bei systematischen Untersuchungen wurden im freien Weltraum (also nicht etwa in den Atmosphären anderer Himmelskörper) als erstes die Verbindung OH (als "Trümmerbruchstück" des Wasser-Moleküls), dann aber auch Ammoniak, Methan, mindestens zwei Kohlenstoff-Schwefel-Verbindungen und sogar das bereits den nächsten Entwicklungsschritt darstellende Formaldehyd nachgewiesen. In Meteorbruchstücken wurden Aminosäuren gefunden.

Wissenschaftler auf der ganzen Welt begannen nun, das Experiment von Miller nachzubauen – zum Teil mit der Absicht, ihn zu widerlegen, weil sie sich das Resultat einfach nicht vorstellen konnten. Doch zur Verblüffung der Fachwelt gelangen alle Experimente ohne Ausnahme. Abwandlungen der Experiment-Anordnung und längere Laufzeiten brachten die wichtigsten Bausteine des Lebens hervor, sogar das Adenosintriphosphat, auch ATP genannt, die wichtigste Energiequelle aller auf der Erde lebenden Zellen. Noch längere Laufzeiten der Experimente erbrachten sogar einzelne Polymere, also Zusammenschlüsse von Aminosäuren und von sogenannten Nukleotiden, den Bausteinen der Nukleinsäuren. Schon unter diesen höchst einfachen Bedingungen des Laboratoriums und innerhalb der extrem kurzen Versuchs-Zeiträume verrieten die abiotisch entstandenen Elementarbausteine ihrerseits wieder die Tendenz, sich mit ihresgleichen zu den langen Kettenmolekülen oder "Polymeren" zusammenzuschließen, aus denen Eiweiße und Nukleinsäuren bestehen.

Es schien vollkommen gleich zu sein, auf welche Ausgangsstoffe man zurückgriff. Hauptsache war, daß das Gemisch Kohlenstoff, Wasserstoff und Stickstoff enthielt, jene Atome, die den Hauptanteil aller lebenden Materie bilden. Auch die Art der Energiequelle schien weitgehend unwichtig zu sein. Mit UV-Licht ging es ebenso gut wie mit den von Miller benutzten elektrischen Entladungen. Andere Wissenschaftler nahmen gewöhnliches Licht. Auch damit gelangen die Versuche. Das gleiche Ergebnis wurde erzielt, wenn die Wissenschaftler Röntgenstrahlen benutzten oder einfach nur große Hitze. Selbst wenn sie Ultraschall auf ihre Reaktionslösungen einwirken ließen, bildeten sich die genannten und zahlreiche andere biologische Bausteine. Mit welchen Mitteln auch immer man die Bedingungen der Ur-Erde zu kopieren versuchte, in praktisch jedem Fall entstanden die komplizierten Moleküle, deren "abiotische Genese", deren Entstehung ohne die Anwesenheit von Lebewesen nicht nur so vielen vorangegangenen Forschergenerationen, sondern auch den Männern, die diese Versuche jetzt durchführten, bis dahin so geheimnisvoll und unerklärlich erschienen war.

Natürlich bleibt es nach wie vor wunderbar, daß die Materie überhaupt so beschaffen ist, daß sie sich unter den Bedingungen der uns bekannten Welt in dieser Weise fortentwickelt. Aber dabei geht es eben, wie der Versuch von Miller erstmals in verblüffender Weise demonstrierte, durchaus "natürlich" zu, womit nur gesagt werden soll, daß das, was sich in den Reagenzkolben der Experimentatoren abspielte, eindeutig auf die in dieser Welt herrschenden Naturgesetze zurückzuführen war. Daß etwas, was auf diese Weise naturwissenschaftlich verstanden und erklärt werden kann, im Gegensatz zu einem ebenso gedankenlosen wie verbreiteten Vorurteil keineswegs aufhört, wunderbar zu sein, dafür bilden diese Versuche ein besonders überzeugendes Beispiel.

Niemand weiß, wie die erste auf der Erde entstandene molekulare Struktur aussah, der das Prädikat "lebendig" zuzuerkennen wäre. Was meinen wir mit diesem Eigenschaftswort "lebendig" überhaupt? Wie so oft bei Definitionen, die auf Grenzziehungen zurückgehen, ist die Frage gar nicht so leicht zu beantworten. Diese Schwierigkeit besteht in allen Fällen, in denen wir die Fülle der Naturerscheinungen systematisch einzuteilen versuchen. Ist z.B. ein Virus ein lebender Organismus oder noch dem Bereich der unbelebten Natur zuzurechnen? Viren bestehen lediglich aus dem langen Faden eines Nukleinsäuremoleküls, das als Knäuel in einer Eiweißkapsel steckt: eine isoliert existierende Erbanlage, ein einfaches Gen, das von einer schützenden Hülle umgeben ist. Kein Körper, keine Nerven, kein Gehirn, keine Sinnesorgane, keine Organe – die äußerste Abstraktion des Lebens, zu nichts anderem fähig als sich zu vermehren und zu diesem Zweck eine andere Zelle zu "mißbrauchen". Viren können aus diesem Grund nicht die ersten Lebewesen sein, denn sie benötigen zu ihrer Vermehrung eine Wirtszelle, die über Vermehrungsorgane verfügt. Viren sind demnach degenerierte "Spätformen".

Die ältesten Fossilien, die bisher entdeckt worden sind, sind Abdrucke und fossilierte Einschlüsse kernloser algenartiger Einzeller. Sie sind über 3 Milliarden Jahre alt. Bei aller Primitivität stellen diese Organismen bereits ziemlich komplizierte und kunstvoll organisierte Lebensformen dar. Zwischen ihnen und den abiotisch entstandenen molekularen Bausteinen, den Biopolymeren, klafft entwicklungsmäßig in unserem Wissen eine große Lücke. Die Übergangsformen, die es zwischen diesen beiden Stadien der Entwicklung gegeben haben muß, kennen wir nicht. Sie haben offenbar keine Spuren hinterlassen.