28. April 2005
Handlung und Interesse
Motive und Intentionen

Die Handlungen eines jeden Menschen, der nicht gerade unter extremen geistigen Störungen leidet, werden gewöhnlich von seinem jeweiligen Interesse bestimmt. Man könnte dagegen einwenden, daß die Handlungen vieler Menschen von äußeren Zwängen bestimmt sind. Nichtsdestoweniger ist es auch hier das Interesse der Betroffenen, das die Handlung bestimmt: dem Zwang nachzugeben, um drohende Konflikte zu vermeiden.

Bei vielen Handlungen, die Menschen unternehmen, ist das dahinterstehende Interesse nicht immer eindeutig zu erkennen. Häufig werden Interessen bekundet, hinter denen weitere, tiefere Interessen stehen, deren Offenlegung tunlichst vermieden wird. Oder es werden Interessen vorgegaukelt, die tatsächlich nicht im jeweiligen Menschen existieren: bei heimlicher Manipulation, Ablenkungs- und Täuschungsmanövern, Heuchelei, Pseudo-Althruismus usw. Diese Vorspiegelung angeblicher Interessen dient immer und ausschließlich der Vermeidung von Nachteilen bzw. dem Erlangen von Vorteilen, was im Grunde dasselbe ist (zwei Seiten derselben Münze).

Nicht selten kommen Interessen zu Verwirklichung, die die Schwelle des menschlichen Bewußtseins nicht überschreiten – sei es, weil der Mensch nicht über das entsprechende Kategoriensystem verfügt, sei es, daß er bestimmte Inhalte (nervös-ängstlich) daran hindern möchte, deutlich hervorzutreten. Man nennt die Erklärungen, welche Menschen ersinnen, um Handlungen zu rechtfertigen, deren Ursachen ihnen nicht unmittelbar bewußt sind, auch Rationalisierungen. Versuche mit Hypnotisierten haben gezeigt, daß Suggestionen, die zu einer Handlung führen, vom Suggestionsopfer fast immer mit einer quasi-vernünftigen Erklärung begründet werden.

Aber auch die Art und Weise, wie wir Dinge bezeichnen, hängt von unserem Interesse ab, ebenso wie die Klassifikationen (Kategorien), in die wir unwillkürlich alles einsortieren, was wir wahrnehmen. Daß sich viele Menschen dieses Zusammenhangs kaum bis gar nicht bewußt sind, zeigen die oft sinnlosen Streitereien um Bedeutungen, Begriffsdefinitionen und Sichtweisen, wie sie in zahlreichen Diskussionsforen an der Tagesordnung sind. So werden beispielsweise gesellschaftskritische Äußerungen von jenen befürwortet, die am System leiden, die Verbesserungen im Auge haben, die sich den Forderungen, die an sie gestellt werden, nicht gewachsen fühlen oder ihnen aus sonstwelchen Gründen (zu hoher Leidensdruck, Zwang zur Aufgabe der Authentizität usw.) auszuweichen suchen. Dagegen bevorzugen andere, die sich mit dem System arrangiert haben, die davon profitieren, gewöhnlich auch eine gewisse gesellschaftliche Position erobert (auf der Hühnerleiter ein paar Sprossen erklommen) haben, diese Kritik mit allen verfügbaren Mitteln abzuweisen, wenn nötig auch mit fadenscheinigen Argumenten, mit feudalistischem Anspruchsdenken oder indem sie versuchen, den jeweiligen Kritiker unglaubhaft zu machen, in herabzuwürdigen und in den Augen des Publikums der Lächerlichkeit preiszugeben. Das besänftigt ihre Ängste vor der Enthüllung ihrer wahren Interessen.

Die jeweils angegebenen oder durchscheinenden Interessen, die hinter den Begründungen und Ausführungen stehen, sind also nicht immer die tatsächlich vorhandenen. Kann man beispielsweise einem Menschen, der nicht wirklich argumentiert, sondern lediglich mit Herabwürdigungen arbeitet, ein aufrichtiges Interesse an der jeweiligen Diskussion unterstellen? Ist diese Vorgehensweise nicht vielmehr ein Indiz für ein ganz anderes Interesse? Die häufigste Motivation für Herabwürdigung anderer scheint mir das Bestreben zu sein, sich damit gleichzeitig aufzuwerten. "Dem haben wir's gezeigt!", "Das hat gesessen!" oder "Treffer versenkt" und Sinnverwandtes sind nicht selten zu lesende Formulierungen nach einer oft gemeinschaftlich erfolgten Herabwürdigung eines Beitrag- oder Artikelschreibers. Durch die scheinbare Gemeinsamkeit wird ein Konsens vorgespiegelt, der gar nicht wirklich existieren muß. Wer weiß schon, hinter wievielen Nicks ein und derselbe Mensch sein Unwesen treibt?

Doch aus welchem Grund (oder Gründen) hat es ein Mensch nötig, sich derart fiktiv aufzuwerten? Ich frage mich oft, warum sich manche von einem Kritiker abgewertet fühlen können, der ihnen sowieso bodenlos unterlegen ist, wie ihre wehrhafte Empörung glauben zu machen trachtet. Dabei gibt es doch täglich haufenweise nichtssagende, einfältige Themen, an denen sie ihr Mütchen kühlen könnten. Entweder sie fühlen sich von diesen eher harmlosen Zeilen nicht bedroht, so daß diese keinen Auslöser darstellen, oder aber es bringt in ihrer Vorstellung einen größeren (wiederum fiktiven) Gewinn, sich mit jenen anzulegen, deren Ausführungen etwas mehr an Gehalt und somit potentieller Bedrohung bieten – oder sogar beides.

Am heftigsten habe ich solche Versuche von ganz offensichtlichen Emporkömmlingen erlebt, die einige meiner humanistische Forderungen zum Anlaß nahmen, mich in die längst überholte und unbrauchbar gewordenen Schablone des kommunistischen Agitators zu pressen. Hier war das dahinterstehende Interesse eindeutig: Abwendung einer vermeintlichen Bedrohung, mit den Mitteln geifernder Gehässigkeit statt Argumenten und geflissentlichem Streben nach Nebenschauplätzen, um ja nicht aufs Thema eingehen zu müssen. Hier konnte ganz klar die Motivation zur Herabwürdigung wegen Ärger über das eigene Unvermögen, meinen Text zu verstehen, ausgeschlossen werden, da es sich ganz offensichtlich um Akademiker oder doch zumindest gebildete Menschen handelte, die durchaus in der Lage waren, meinen Ausführungen zu folgen und nachzuvollziehen. Die unverblümteste Aussage war dabei eine krasse Aufforderung, ich solle mich hier verpissen, "solche wie dich brauchen wir hier nicht!". Wenn man sich dann die Mühe macht und die Beiträge solcher Poster einmal etwas genauer unter die Lupe nimmt, läßt sich meist unschwer erkennen, wes Geistes Kind sie sind. Nicht selten findet man dort unverblümt geäußerte Haßtiraden auf Andersdenkende, anders Lebende und anders Aussehende.

Was glaubt ihr, werte Leser, warum wohl manche Diskussionen auf diese Weise unmöglich gemacht werden? Nur aus der Lust am Stänkern? Ich fürchte manchmal, hier steckt weit mehr dahinter, als oberflächlich betrachtet sichtbar wird. Mich würde es nicht wundern, wenn gewisse Institutionen hier anonym vertreten wären, die ein verständliches Interesse daran haben, so manches nicht Thema werden zu lassen. (Ich höre schon die höhnischen "Paranoia! Paranoia"-Rufe.) Selbstverständlich ist es nicht verwunderlich, daß konfliktbeladene Themen latent schwelende Konflikte zum Ausbruch gelangen lassen, so daß ich nicht wirklich davon ausgehe, jemals eine ruhige und sachliche Diskussion zu solchen Themen führen zu können – zumindest nicht im Rahmen eines Internet-Diskussionsforums.

Eine weitere Motivation dafür, in Diskussionsforen Stunk zu machen, hätte ich jetzt fast vergessen: Spaß durch Stiftung von Chaos. Ja, das gibt's tatsächlich: pervertiertes Verständnis von Spaß aus Mangel an echter Freude am Leben. Um dieses scheinbar völlig unsinnige Vergnügen verstehen zu können, ist es lediglich notwendig, sich vor Augen zu führen, was dem Troll so diebisches Vergnügen bereitet: das Gefühl der Macht durch Destruktivität. Zerstören ist soviel einfacher als produzieren, und vermittelt zudem Machtgefühle und somit wieder kurzfristige Aufwertung der eigenen Persönlichkeit.

Die Zunahme von Perversionen aller Art in bestehenden Gesellschaften war schon immer ein untrügliches Anzeichen für fortgeschrittene Verrohung der Bevölkerung. Als ich damals anfing, Artikel in Diskussionsforen zu schreiben, gab es User, die mich doch tatsächlich fragten, weshalb ich ihnen ein schlechtes Gewissen machen wolle oder Schuldgefühle auslöse. Immerhin gab es da auch noch etliche, die echte Betroffenheit zuließen. Daran hat sich, wie mir heute scheint, inzwischen einiges geändert. Es herrscht im Gegensatz zu damals, will mir scheinen, eine ungeheue Aggressivität in vielen Internetforen, verbunden mit offen gezeigter Schadenfreude, ja zuweilen sogar bis zu unerhüllter Gewaltverherrlichung und Tötungsaufforderungen.

Die zunehmende Gewaltbereitschaft spiegelt sich also auch in einem virtuellen Forum wider. Dabei ist die Bereitschaft zu groberen Umgangsformen in den betreffenden Beitragssschreibern schon vor dem Wirken des jeweiligen Auslösers vorhanden, und nicht erst, wie viele behaupten, durch das Aufnehmen von Inhalten, die sie als störend oder unrichtig empfinden, entstanden. Es handelt sich hier um ein recht bekanntes Slapstick-Thema: "Nun schau man an, was du mich wieder hast tun lassen!" jammert Hardy dem Laurel vor, nachdem erstgenannter wieder Mist gebaut hatte. Die Groben nutzen also nur die Gelegenheit, ihren Frust abzubauen, indem sie die angestauten Aggressionen gegen jemanden richten, der aus Versehen ihr Ventil gelockert hat.