8. April 2006
Die Klavierdeckel des Buckminster Fuller
Komprehensive Tendenzen

Wenn du am Ersaufen bist, ist ein vorbeitreibender Klavierdeckel ein willkommener Lebensretter. Das heißt aber nicht, daß Klavierdeckel das beste Design für Rettungsringe darstellen.

Dieses Beispiel führt Buckminster Fuller in der Einleitung zu seinem Buch "Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde" an. Er möchte damit den Leser darauf hinweisen, daß das menschliche Gehirn ausschließlich mit Spezialfall-Erfahrungen konfrontiert wird, wir mit unserem Verstand aber allgemeine Prinzipien (oder was wir jeweils dafür halten) erfassen können, die jedem Spezialfall zugrunde liegen. Und doch schleppen wir noch immer haufenweise "Klavierdeckel" mit uns herum, weil einst eine Spezialfall-Erfahrung uns diese Lösung nahelegte.

Ein nicht nur mir ständig aufstoßender Klavierdeckel ist die traditionell überlieferte Art und Weise, wie Kinder sozialisiert werden. Sozialisation nennt man das Anpassen und Tauglichmachen für die Erfordernisse der jeweiligen Gesellschaft. Dies geschieht in unserem Kulturkreis vorwiegend durch repressive Konditionierung: das Kind soll gehorchen, damit es geliebt wird. Die Eltern oder Allein-Erzieher geben dem Kind ihre überkommenen Ansichten und Haltungen mit auf den Weg, meist ohne sich über die Konsequenzen einer solchen Konditionierung (dt.: Gehirnwäsche) im Klaren zu sein. Meist sind sie mit ihrem Werk erst dann zufrieden, wenn die Kinder & Jugendliche im Großen & Ganzen ihren eigenen Vorstellungen entsprechend denken & handeln: im Stolz der Mütter & Väter auf ihre Nachkommen drückt sich eine Zufriedenheit aus, die größtenteils einer narzißtischen Selbstbeweihräucherung entspringt. Wo Eltern keinen Anlaß zu diesem speziellen Stolz sehen, wird den Kindern & Jugendlichen nicht selten Undankbarkeit und Ungehorsam vorgeworfen, ihr Verhalten wird bestraft und verächtlich gemacht. Stolz auf Nachkommen, die unvorgesehene Wege gehen, wird gewöhnlich nicht empfunden.

Das weitverbreitete Fehlen von Kenntnissen über sozialpsychologische Zusammenhänge stellt keine rein zufällige Entwicklung dar. Vielmehr wird, seit Freud der Psychologie das Laufen beibrachte, diesem Wissensgebiet eine derart negative Aufmerksamkeit entgegengebracht, die der allzu verständlichen Angst vor den eigenen, lange unterdrückten Lebensimpulsen entspringt. Mit ihrem ständigen Geschimpfe auf die Psyche – "Psychogeschwafel", "Psychofuzzy" etc. – drücken Leute die Verachtung* aus, die sie für ihre eigenen psychischen Vorgänge empfinden. Es gilt noch heute als verweichlicht und unmännlich, sich einzugestehen, von psychischen Vorgängen beeinflußt zu werden: "Wer über die Psyche spricht, hat sicher einen Grund dazu und deshalb einen an der Waffel. Ein gesunder Kerl muß über solche Sachen nicht reden, der weiß das auch so." Hier spricht der berühmte "gesunde Menschenverstand", dessen Gesundheitsbegriff sich daran orientiert, was die jeweilige Gesellschaft, von der er geprägt ist, für gesund und was sie für krank befindet. Dabei handelt sich's bei diesem Gesundheitsbegriff nicht einmal um eine einheitliche, unsere Gesellschaft durchdringende Überzeugung, denn die öffentliche Meinung ist eine lokale Angelegenheit. Zwar wird diese Tatsache durch die ständige Präsenz der Massenmedien leicht verwischt und zu verschleiern gesucht, doch können sich jene, die häufig von einem Ende ihres Landes zum anderen reisen, leicht davon überzeugen, daß viele Vorstellungen, die in ihrer Stadt gelten, in einer weiter entfernten Stadt oft ganz anders ausfallen.

* Das Gefühl der Verachtung ist ein Resultat von Selbsterhöhung gegenüber einem vermeintlich oder offensichtlich Schwächeren. Wer Verachtung empfindet, drückt mit dem Ausleben dieser Verachtung seine Angst davor aus, sich in einer ähnlichen Situation wie der Verachtete zu befinden. Genauer betrachtet drückt der Verachtende mit seiner Haltung gegenüber dem Verachteten seine Furcht vor den eigenen, unterdrückten Anteilen seines Selbst aus, die er stellvertretend im Anderen verachtet. Verachtung stellt somit einen – allermeist uneingestandenen – Schutzmechanismus dar, der die davon Betroffenen daran hindert, Gefühle wie Sympathie oder auch nur Verständnis dem Verachteten gegenüber aufkommen zu lassen – es könnte ja geschehen, daß er seinen eigenen verdrängten Selbstanteilen Sympathie entgegenbrächte. Verachtung ist dennoch eine Reaktion, die zu den gesellschaftlich anerkannten Sanktionierungsmaßnahmen zählt und daher weitaus mehr gesellschaftlich als individual-psychisch begründet ist.

Die Sozialpsychologie ist ein wissenschaftliches Forschungsgebiet, das für ihre Resultate nicht allein die sozialen Verhältnisse erforscht, wie in der Soziologie, und nicht einzig die psychischen Gegebenheiten des Individuums untersucht, um eine Lösung für individuelle Probleme zu finden. Die Sozialpsychologie faßt diese beiden sich stark durchdringenden Gebiete zusammen und ist bemüht, ihre Wirkungsmechanismen herauszufinden. Die Ergebnisse der Sozialpsychologie sind in der Lage, weitverbreitete und verdummende Mythen zu entlarven und nachvollziehbare Zusammenhänge offenzulegen, die – wie könnte es auch anders sein? –, das Selbstverständnis (ein weiterer Klavierdeckel) großer Teile der Bevölkerung in Frage zu stellen. Die allermeist irrationalen Widerstände, die diesem Forschungsgebiet und seinen Vertretern entgegengebracht werden, basieren auf uneingestandenen Ängsten und bedienen sich deshalb auch meist der Erzeugung solcher Ängste, um Zustimmung zu erheischen.

Die unüberschaubar zahlreichen Klavierdeckel, die sich in unserer Gesellschaft – mehr zufällig als wegen ihrer Funktion bewußt ausgesucht – etabliert haben, stellen zusammengenommen große Hindernisse auf dem Weg in eine menschenwürdige und den menschlichen Bedürfnissen gerecht werdende Gesellschaft dar. Wie eine solche Gesellschaft letztlich aussehen wird, läßt sich von heutigen Standpunkten aus nur erahnen: es existieren zu viele Unwägbarkeiten und Variationsmöglichkeiten, um hier verläßliche Vorhersagen machen zu können.

Derzeit sieht es leider nicht so aus, als ob sich unsere Gesellschaft in eine humane Richtung weiterentwickelt. Im Gegenteil sehe ich einen enormen Zuwachs individueller und Solidarität heischender Dummheit und Ignoranz. "Moderne" Psychologen betrachten es inzwischen als krankhaft, die Realität so unverzerrt wie möglich wahrnehmen zu wollen, wie das seit Freud über Fromm bis Menninger etablierte Bild eines seelisch gesunden Menschen vorgab. Illusionen des Menschen über sich selbst, über die Welt und über die Zukunft werden nicht nur als Normalfall, sondern sogar als Garanten für psychisches Wohlbefinden ausgegeben. Als lebenstüchtig gilt heute jener, dem es gelingt, sich durch Illusionen gegen alle Informationen zu schützen, die sein Bild von Stärke und Kompetenz und damit seine Zukunftserwartungen gefährden könnten. Selbsttäuschungen gelten längst als gelungener Anpassungsversuch an eine Realität, die eher zu Resignation und Hoffnungslosigkeit einlädt. Daß Illusionen nie auf Dauer wirken, sondern irgendwann das Los aller Seifenblasen nehmen – sie zerplatzen einfach, weil sie die Konfrontation mit der Wirklichkeit nicht überstehen –, scheint in diesem Zusammenhang niemanden wirklich zu interessieren.