9. Januar 2006
Freiheit, die ich meine
Der beste Knecht ist jener, der sich selber knechtet

Was bedeutet Freiheit? Wie erlebt der Mensch das, was er mit dem Begriff "Freiheit" verbindet? Gibt es ein natürliches oder ursprüngliches Bedürfnis nach Freiheit? Oder ist Freiheit lediglich das Fehlen von Zwängen? Gibt es neben der Freiheit von etwas auch die Freiheit für etwas? Kann man Freiheit tatsächlich leben? Oder spielt dieser Begriff etwa keine Rolle mehr, wenn gewisse Zwänge weggefallen sind?

Jeder, der andere, aber vor allem sich selbst regelmäßig beobachtet, wird feststellen, daß die Befreiung von unerwünschten Zwängen gelegentlich das Freisetzen kreativer Potentiale zur Folge hat. Welche Zwänge gäbe es auch, die erwünscht wären? Besagt nicht die Definition von Zwang im Gegensatz zur Notwendigkeit, daß die betreffende Situation nicht nur ungewollt und unerwünscht ist, sondern vor allem Menschenwerk? Und liegt darin nicht die Möglichkeit, gerade solche Zwänge zu überwinden? Doch nicht zufällig liegt die Betonung auf "gelegentlich"! Denn sehr häufig kann man beobachten, das von Zwängen befreite Menschen nicht zwangsläufig damit die Freiheit erwerben, ihr kreatives Potential zu entfalten und zu nutzen. Im Gegenteil wissen viele mit ihrer neugewonnen Freiheit nichts anzufangen und verfallen womöglich in Stumfsinn und Langeweile, wenn sie diese Fähigkeit nicht erwerben.

Kann Freiheit zu einer Last werden, die den Menschen so schwer bedrückt, daß er ihr zu entfliehen sucht? Woher kommt es dann, daß Freiheit für viele ein hochgeschätztes Ziel und für andere eine Bedrohung bedeutet? Gibt es vielleicht außer dem angeborenen Wunsch nach Freiheit auch eine instinktive Sehnsucht nach Unterwerfung?

Mir schwant etwas von einer in der Natur häufig vorkommenden Analogie, und zwar die von der Abhängigkeit vieler Organismen voneinander, vor allem, wenn sie in enger oder weitläufiger Nachbarschaft miteinander "verkehren". Ist nicht das Verhalten von Raub- und Beutetieren fein aufeinander abgestimmt? Könnte man nicht gar von einer weitläufigen Symbiose zwischen Räuber und Beute sprechen? Gäbe es den einen ohne den anderen? Nicht auf eine analoge Zwangsläufigkeit, die besagt, daß es in der menschlichen Gesellschaft genau so sein muß wie in der Tierwelt, will ich mit dieser Analogie hinaus. Vielmehr will ich auf den Umstand hinweisen, daß es sich um eine systemimmanente Zwangsläufigkeit handelt, die in der Gesellschaft bewirkt, daß sich das Verhalten der Mehrheit nach den Vorgaben einiger weniger richtet, zum Teil unabhängig davon, ob sich dieses Verhalten zum Wohle oder Schaden der Mehrheit auswirkt.

Wenn ich in meinem Umfeld nachfrage, woran es ihrer Ansicht nach liegen mag, daß so wenig Menschen authentisch – eigenständig und zivilcouragiert – leben, sind die Antworten so verschieden wie die Menschen selbst. Dabei ergaben sich für mich zwei Kategorien von Grundaussagen. Die einen geben an, der Mensch sei eben so, das sei sein Wesen, womit sie meist genetische Grundlagen oder verhängnisvolle menschliche Neigungen meinen. Die anderen halten seine Erziehung, seine Erfahrungen, insbesondere die frühkindlichen, für den ausschlaggebenden Faktor. Durch die Lektüre zahlreicher Arbeiten zu diesem Thema fiel mir die Entscheidung am Ende doch ziemlich leicht, um nicht zu sagen: sie erleichterte mich ungemein. Denn die Vertreter beider Ansichten können ihre Aussagen mehr oder weniger beweisen, so daß nichts näher liegt als die Annahme, daß eben beide Faktoren eine Rolle bei der Entwicklung menschlicher Verhaltensweisen spielen.

Die Ergebnisse der Gehirnforschung lassen vermuten, daß Gene sich nicht nur, wie man das bisher annahm, durch leichte Abwandlungen bei der Befruchtung (via Mutationen) verändern, sondern ebenso von den Erfahrungen des Individuums beeinflußt werden – zumindest ein wenig. So wären Neigungen – wie die zur Unterwürfigkeit oder die nach großer Macht – nicht allein dadurch einschlägige Erfahrungen zu "rechtfertigen", sondern ebenso durch quasi angeborene. Doch auch wenn dem so ist – der menschliche Einfluß beschränkt sich auf die Erfahrungen, die ein Mensch macht oder nicht macht, wiewohl er auch hier nur sehr eingeschränkt zu wirken vermag.

Dennoch gibt es im Menschen ein Bedürfnis nach etwas, das man in Analogie zu den Tieren die artgerechte Lebensweise nennen könnte. Wie die meisten Tiere benötigen wir gesunde Nahrung, saubere Luft zum Atmen, Sonnenstrahlen und dergleichen mehr. Wir brauchen aber auch ein stabiles Umfeld und darin ein gewisses Maß an Sicherheit. Wir benötigen ein Gefühl für die Welt, in der wir leben, für die Dinge, mit denen wir täglich umgehen und für die Menschen, denen wir täglich begegnen, kurz: die Bezogenheit zur Welt. Wir brauchen Liebe und Zuwendung ebenso wie Liebesfähigkeit und Mitgefühl, um uns entfalten und über uns hinauswachsen zu können.

All das scheint in der heutigen Gesellschaft sehr rar geworden zu sein. Doch stellt der heutige moderne Industrieland-Bewohner keineswegs das Resultat einer erst neuerdings – seit der industriellen Revolution – eingesetzten Entwicklung dar. Vor einer ähnlichen Situation – nämlich dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Tradition – stand der Europäer schon einmal.

Wenn hier von der "mittelalterlichen Gesellschaft" und vom "Geist des Mittelalters" im Gegensatz zur "kapitalistischen Gesellschaft" die Rede ist, dann sprechen wir wie von Idealtypen. In Wirklichkeit war das Mittelalter natürlich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt zu Ende, und auch die moderne Gesellschaft entstand nicht plötzlich. Sämtliche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte, die die moderne Gesellschaft kennzeichnen, haben sich schon in der Gesellschaft des 12., 13. und 14. Jahrhunderts herausgebildet. Im ausgehenden Mittelalter begann bereits das Kapital eine wachsende Rolle zu spielen, und dementsprechend wuchs auch der Widerstreit zwischen den verschiedenen Klassen der städtischen Gesellschaft.

Wie stets in der Geschichte hatten sich alle Elemente des neuen Gesellschaftssystems bereits in der älteren Gesellschaftsordnung entwickelt, die von der neuen verdrängt wurde. Aber wenn es auch wichtig ist zu erkennen, wie viele moderne Elemente bereits im Spätmittelalter vorhanden waren und wie viele mittelalterliche Elemente in der modernen Gesellschaft fortbestehen, so blockiert es doch jedes theoretische Verständnis des historischen Prozesses, wenn man unter Überbetonung der Kontinuität die fundamentalen Unterschiede zwischen der mittelalterlichen und der modernen Gesellschaft unterbewertet oder wenn man Begriffe wie "mittelalterliche Gesellschaft" und "kapitalistische Gesellschaft" als unwissenschaftliche Konstrukte überhaupt ablehnt. Derartige Versuche, die sich als wissenschaftliche Objektivität und Exaktheit ausgeben, beschränken in Wirklichkeit die Sozialforschung auf das Sammeln zahlloser Einzelheiten und blockieren jedes Verständnis für die Struktur der Gesellschaft und ihrer Dynamik.

Der hauptsächliche Unterschied der mittelalterlichen Gesellschaft zur heutigen besteht in einem Mangel an individueller Freiheit. Die Bindung an eine festgelegte Rolle innerhalb der Gesellschaft war viel stärker und ließ beinahe keine Möglichkeiten offen, an dieser Rolle etwas zu ändern, sei es durch Aufstieg in eine höhere Gesellschaftsklasse oder durch Umzug in eine andere Stadt. Von den Regeln, die den damaligen Menschen beherrschten, blieb quasi kein Lebensbereich verschont.

Allerdings bot das damalige System auch Vorteile: Dadurch, daß der Mensch vom Moment seiner Geburt in ein strukturiertes Ganzes eingebunden wurde, besaß das Leben für ihn Sinn, der keine Zweifel aufkommen ließ. Jeder war mit seiner Rolle in der Gesellschaft identisch. Innerhalb der Grenzen seines Umfeldes besaß der einzelne tatsächlich ein großes Maß an Freiheit, sein Selbst in seiner Arbeit und in seinem Gefühlsleben zum Ausdruck zu bringen. Daneben gab es damals aber auch viel Leid und Schmerz, die nach dem Dogma der Kirche als Folge der Sünde Adams und der Sündhaftigkeit jedes einzelnen gedeutet wurde.

Viele sehnen sich heute, im Zeitalter des zunehmend isolierenden Individualismus,* nach Zugehörigkeit und Gemeinschaftsgefühl zurück, wollen verständlicherweise aber ihre Indivudualität nicht aufgeben. Gleichzeitig mit der Festigung der Individualität wurde der Mensch freier – und hilfloser: er wurde unabhängiger und kritischer, dadurch aber auch isolierter, einsamer und stärker von Angst erfüllt. Die Abnahme äußerer Zwänge ging mit einer kaum bemerkten Zunahme innerer Zwänge einher. Diese inneren Zwänge – Unterwerfung unter die öffentliche Meinung, Nachgeben des Erwartungsdrucks an uns –, sind den meisten Menschen heute wenig bis gar nicht bewußt.

* In Wirklichkeit herrscht in unseren modernen Gesellschaften nur ein Pseudo-Individualismus, da den sogenannten "Individuen" zwar ein individuelles Sein zugesprochen wird, sich aber weitgehend kontrolliert nach Normen entwickeln und daher keine wirklichen Individuen im eigentlichen Wortsinn sind.

Kurz, der Kapitalismus hat den Menschen nicht nur von seinen traditionellen Fesseln befreit, er hat auch in einem enormen Maß zur Vergrößerung der positiven Freiheit und zur Entwicklung eines tätigen, kritischen und verantwortungsbewußten Selbst beigetragen.* Dies war jedoch nur die eine Wirkung, die der Kapitalismus auf den Prozeß der zunehmenden Freiheit ausübte; gleichzeitig trug er zur wachsenden Vereinsamung und Isolierung des Einzelnen bei und erfüllte ihn mit dem Gefühl seiner Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht.

* Leider nur bei einer Minderheit. Obwohl der Mensch heute mehr "weiß" und mehr hat, ist er sich gegenüber dem mittelalterlichen Menschen fremd geworden.

Hier ist zunächst ein Faktor zu erwähnen, der zu den allgemeinen Merkmalen der kapitalistischen Wirtschaft gehört: das Prinzip der individuellen Initiative. Im Gegensatz zum Feudalsystem des Mittelalters, wo ein jeder seinen bestimmten Platz in einem geordneten, durchsichtigen Gesellschaftssystem hatte, stellte das kapitalistische Wirtschaftssystem den Einzelnen völlig auf eigene Füße. Was er tat, wie er es tat und ob er dabei Erfolg hatte oder nicht, war ausschließlich seine Sache. Daß dieser Grundsatz den Prozeß der Individualisierung förderte, liegt auf der Hand und wird stets als wichtiger Faktor auf der positiven Seite der modernen Kultur verbucht. Aber während dieses Prinzip die "Freiheit von" vergrößerte, trug es andererseits dazu bei, einen Großteil der menschlichen Bindungen zu durchtrennen, wodurch es den Einzelnen von seinen Mitmenschen isolierte.

Die Lehren der Reformation hatten diese Entwicklung vorbereitet. In der katholischen Kirche hatte die Beziehung des Einzelnen zu Gott auf seiner Zugehörigkeit zur Kirche beruht. Die Kirche war das Bindeglied zwischen ihm und Gott, wodurch sie einerseits seine Individualität einschränkte, ihn aber andererseits als den integralen Bestandteil einer Gruppe Gott gegenüberstellte. Der Protestantismus dagegen konfrontierte ihn, allein auf sich gestellt, mit Gott. Der Glaube in Luthers Sinn war eine völlig subjektive Erfahrung, und auch für Calvin war die Überzeugung, zu den Auserwählten zu gehören, etwas rein Subjektives. Der Mensch, der Gottes Macht ganz allein gegenüberstand, mußte sich ja zerschmettert fühlen und sein Heil in der völligen Unterwerfung suchen. Psychologisch unterscheidet sich dieser spirituelle Individualismus nicht allzu sehr vom ökonomischen Individualismus. In beiden Fällen ist der einzelne völlig auf sich gestellt und steht in dieser Isolation einer überlegenen Macht gegenüber, ob es sich dabei um Gott, um seine Konkurrenten oder um unpersönliche Wirtschaftsmächte handelt. Die individuelle Beziehung zu Gott war die psychologische Vorbereitung für den individuellen Charakter der weltlichen Betätigung des Menschen.

Stellt man dieser Erkenntnis nun die Beobachtung der zunehmenden Vereinzelung des modernen Individuums gegenüber, gelangt man leicht zu dem Schluß, daß wir im Grunde beides benötigen, um unsere Lebensweise zu einer artgerechten zu machen: Individualität und Gemeinsinn. Daran, daß sich beide Bedürfnisse nicht gegenseitig ausschließen, hege ich keinen Zweifel. Im Gegenteil glaube ich fest daran, daß zunehmendes Verständnis für sich selbst und so auch für den Mitmenschen unabdingbare Voraussetzung sind für die Entwicklung einer humanen Gesellschaft.