14. Juli 2007
Faschistoide Tendenzen ...
... wirken in fast allen Ländern dieses Planeten. Das scheint dem oberflächlich Informierten kaum glaubhaft, läßt sich aber leicht nachweisen.

Einige Tage vor dem Erscheinen dieses Artikels bei Single.de erschien in der Rubrik Fiktion ein Artikel, in dessen Thread unter anderem ein Disput darüber stattfand, ob man dieses "leidige" Thema nicht endlich ruhen lassen sollte. Dieser Ansicht bin ich ganz und gar nicht. Die wichtigste Grundlage faschistoider Entwicklung besteht nämlich nach wie vor unerkannt fort: der meist geleugnete, weil besonders tief verwurzelte Reflex zum Gehorsam gegenüber Autoritäten. Wer das Milgram-Experiment kennt, wird sich von meinen im Folgenden dargelegten Ausführungen nicht allzu sehr erschrecken lassen.

Leider realisieren die wenigsten heutigen Menschen, daß der von Stanley Milgram experimentell untersuchte Gehorsams-Reflex in uns allen weiter fortbesteht und jederzeit von außen aktiviert werden kann. Erzeugt und installiert wurde uns dieser Reflex in der Kindheit. Je früher dies geschah, desto tiefer ist er im Unbewußten begraben.

dann erzieht man sich gehorsame Kinder, die später nicht zu fragen wagen, weshalb die Kollegin gemobbt wird, nur weil sie sensibler ist als der Durchschnitt, weshalb der Kollege gehen muß, obwohl er seine Arbeit gut macht, weshalb Kinder von ALG-II-Empfängern keine finanzielle Unterstützung bei der Einschulung erhalten, weshalb kleine Betrüger, die faktisch aus Not handeln, schwer bestraft werden und große Betrüger straflos davonkommen, falls sie überhaupt erwischt werden, weshalb Kinderschänder und Vergewaltiger nur geringe Strafen erhalten und nach ein paar Jahren als therapiert entlassen werden, um dann wieder rückfällig zu werden (u.s.w.).

Ein solches Kind wird niemals sagen können: "Ich ertrage die Ketten nicht, die mir täglich auferlegt werden, meine schöpferischen Kräfte sind in Gefahr, vernichtet zu werden. Ich brauche meine ganze Energie, um sie zu retten, um mich hier zu behaupten. Ich kann euch ja nichts entgegenhalten, das ihr verstehen könnt. In dieser engen, verlogenen Welt kann ich nicht leben. Und doch kann ich euch nicht verlassen. Ich kann euch nicht entbehren, ich bin noch ein Kind, auf euch angewiesen. Deshalb seid ihr so übermächtig, obwohl so schwach im Grunde. Es braucht Heldenmut und übermenschliche Qualitäten, übermenschliche Kraft, um diese Welt zusammenzustampfen, die mich am Leben hindert."

Niemals wird es wagen können, sich seine Situation bewußt zu machen: "Ich habe diese Kraft nicht, ich bin zu schwach und habe Angst, euch weh zu tun, aber ich verachte die Schwäche in mir und die Schwäche in euch, die mich zum Mitleid zwingt. Ich verachte jede Form von Schwäche, die mich am Leben hindert. Ihr habt mein Leben mit Zwängen umstellt, zwischen Schule und Zuhause gibt es nirgends einen Freiraum. Ich muß Worte gebrauchen können. Ich muß sie herausschreien können. Eure Moral und eure Vernunft sind für mich ein Gefängnis, in dem ich ersticke, und dies am Anfang meines Lebens, in dem ich so vieles zu sagen hätte."

Solche Worte werden jedem braven Kind im Hals steckenbleiben, falls es sie überhaupt noch gedanklich zu formulieren wagt. Solche Worte haben mich mehrmals beinahe das Leben gekostet, als ich sie meinen Eltern damals mitteilte: Ich wurde über Jahre, bis ich mich selber wehren konnte, windelweich geschlagen für Wahrheiten, die aus meinem Mund kamen und nicht versiegen wollten. Nein, nicht alle Kinder werden dafür geschlagen, es gibt in der Tat weitaus schlimmere, weil nachhaltigere Strafen für angewandte Ehrlichkeit. Aber für alle gilt: Was sich nicht nach außen artikulieren durfte, bleibt im Körper als dauernde Spannung wirksam. Und später, wenn diese Erlebnisse längst tief ins Unterbewußtsein verdrängt wurden, geleugnet werden, die einstigen Peiniger idealisiert als liebende Eltern dargestellt werden – später dann leben diese Spannungen in uns ein Eigenleben, das nur auf bestimmte Reize wartet, um sich zum Ausdruck bringen zu können.

Der Befehlston eines Vorgesetzten versetzt einen Teil des Untergebenen, an den der Befehl gerichtet ist, in einen infantilen Zustand zurück. Dieser Teil hat nun wieder wie damals Angst davor, die beschützende Hand der Vaterfigur zu verärgern (den Job zu verlieren). Die Angst ergreift die ganze Person und der Mensch gehorcht – automatisch. Während dieses Regressionsprozesses ist der Betroffene weder zu eigenständigem Denken noch zu kritischer Beurteilung seiner Situation fähig. Nicht wenigen Menschen widerfährt diese Regression* so häufig und regelmäßig, daß sie gar nicht mehr daraus zurückfinden können und so ständig im Befehlsmodus verweilen. Und weil dieser Befehlsmodus keine Einbahnstraße darstellt, sondern das Bedürfnis weckt, die durch den Befehlsempfang entstandene Spannung durch eigenes Befehlen zu mildern, wenden die Betroffenen das Befehlen auf ihre eigenen Untergebenen an. Das sind allermeist ihre Kinder, die so zu Objekten degradiert werden, weil der Betroffene sonst nichts hat, an dem er sich abreagieren könnte, oder die Frau oder Freundin, oder Untergebene in seiner Firma, die er nach einem solchen Erlebnis ohne für diese ersichtlichen Grund herunterputzt.

(Nicht vergessen sei hier der ausführlich untersuchte Wiederholungszwang, der die meisten Menschen Situationen mit ungelösten Konflikten aus ihrer Kindheit wieder und wieder inszenieren läßt.)

Ein anderer, ebenso erschreckender Aspekt der Erziehung zu absolutem Gehorsam besteht in der damit einhergehenden Gefühlsreduktion. Wir beurteilen als Kinder wie auch als Erwachsene unsere Situationen anhand unserer Gefühle. Gedanken, die wir uns zu Situationen machen, sind mit unseren Gefühlen so stark verwoben, daß wir sie nicht wirklich auseinanderhalten können. Daher sind Gedanken im Grunde abstrahierte, symbolisierte Gefühle.

Diese Vorstellung mag dem Unkundigen äußerst befremdend erscheinen. Doch wird sie verständlich, wenn wir den Grund für unsere künstliche Trennung von Gefühl und Gedanke, die in Wirklichkeit nicht existiert, verstehen lernen: Weil das Kind die eigenen Gefühle nicht haben durfte, verwarf es sie schon sehr früh. Anfangs wurde es sich seiner Gefühle unsicher, später hat sich die Angst vor den eigenen Gefühlen fest etabliert und erlaubt es dem Betroffenen daher nicht mehr, seinen Gefühlen voll zu vertrauen. Deshalb bekommt er beim Denkvorgang meist nur die abstrahierten Symbole bewußt mit, die zugrundeliegenden Gefühle werden gewöhnlich verdrängt.

Diese Unsicherheit muß aber, weil sie eine schier unerträgliche Spannung erzeugt, irgendwie kompensiert werden. Das geschieht in der Regel durch Kontrolle. Je weiter die gefühlsmäßige Entfremdung von sich selbst und der Welt fortgeschritten ist, desto stärker wird das Bedürfnis nach Kontrolle: über andere Menschen, über eigene und fremde Dinge, über das eigene Befinden usw. "Alles im Griff" ist eine gängige Behauptung, die vor allem der Selbstberuhigung dient – und meist nicht zutrifft.

Dazu passend aus Alice Millers "Der gemiedene Schlüssel":

Die Willkür des Vaters und seine Macht war für das Kind die herrschende Rechtsinstanz, eine andere gab es nicht. Wie genau Adolf Hitler dieses System verinnerlichte, zeigte er im Dritten Reich. Es gab keine humane Überlegung und kein Gefühl, die seiner Grausamkeit Grenzen gesetzt hätten, als er selbst an der Macht war. Genauso wurde er erzogen. Was auch immer die Eltern für angebracht hielten und beschlossen, wurde erbarmungslos mit allen Mitteln der Gewalt durchgesetzt. Das Kind durfte niemals an der Richtigkeit dieser Beschlüsse zweifeln, das hätte unerträgliche Folter zur Folge gehabt. Genausowenig konnte ein gewöhnlicher Bürger im Dritten Reich einen Beschluß des Staates oder der Gestapo in Frage stellen. Folterungen und Tod waren die unausweichliche Antwort darauf, wenn er es dennoch tat. Die brutale Gewalt als einzige und höchste Macht, die zudem mit einer "Rechtgebung" für "Ordnung" und angebliche "Legalität" der ausgeführten Verbrechen sorgte, war ebenfalls der Struktur der eigenen Familie entlehnt, wo alles doch im Namen der guten Erziehung geschah: die Abtötung der Gefühle und die Unterdrückung aller Bedürfnisse des Kindes, ja beinahe jeder menschlichen Regung.