22. April 2005
Philosophische Betrachtungen zum Egoismus
oder: die moderne Befindlichkeit

Gewöhnlich wird Egoismus als eine menschliche Haltung definiert, die danach Ausschau hält, möglichst viele Vorteile unter Einsatz möglichst geringen Aufwandes zu ergattern – jedem das seine und mir das meiste. Es gibt aber noch einen völlig anderen Aspekt des Egoismus, auf den die meisten Menschen niemals von alleine stoßen.

Wir alle sind doch Gesellschaftstiere. Das heißt, wir leiden im Grunde unter der zunehmenden Versingelung, Vereinsamung und dem, was man fälschlicherweise Individualisierung nennt. Ohne den Anderen, den Nächsten sind wir nichts, können wir unsere sozialen Fähigkeiten nicht entwickeln und deshalb unsere sozialen Bedürfnisse nicht ausleben. Der heutige Trend zeigt jedoch eindeutig einen Rückzug aus dem sozialen Gefüge, der aber eher früher als später zu unserem Untergang führen wird (u.a. auch durch fehlende Nachkommen), wenn wir ihn fortsetzen. Der Egoismus, den ich nun meine, stellt ein Vorteilsdenken dar, daß nicht am eigenen Tellerrand aufhört, sondern dort erst richtig beginnt.

Die allermeisten Menschen Ausnahmen sind mir nicht mal eine Handvoll begegnet neigen dazu, sich über den Umweg der Bewertung anderer zu definieren. Das heißt, sie machen ihr Selbstwertgefühl fast ausschließlich an der jeweiligen Position in der gesellschaftlichen Hierarchie fest, benötigen also immer, um nicht in Depressionen und Selbstzweifel zu verfallen, mindestens einen, der sich "unter ihnen" befindet, am liebsten aber so viele wie nur möglich. Diese Haltung ist Resultat unserer Erziehung, die noch immer weitgehend auf Belohnung und Strafe basiert, ebenso wie sollte es auch anders sein? die Gesellschaft der sog. Erwachsenen.

Ankerkennung, die sehr häufig nicht mehr an erbrachte Leistungen gebunden ist, sondern vielmehr einzig aus der erreichten Position heraus gewährt wird, spielt bei uns längst die wichtigste Rolle unter allen sonstigen Motiven, vorwärts zu kommen. Selbstverwirklichung, Wissensdurst und wissenschaftliche Neugier sind dagegen relativ selten als Motive anzutreffen. So gut wie jedes Mitglied irgend einer Gesellschaftsschicht schaut mit einer gewissen Verachtung auf die "unter ihm" befindlichen Menschen, die aber, weil noch immer als moralisch bedenklich gewertet, wohlweislich verborgen wird. Je höher die erreichte Position ist, desto geringer wird aber die Scham über diese Verachtung, und desto dreister wird sie dann auch ausgelebt.

Das Schlimmste, was die meisten neben Tod, Krankheit und Verkrüppelung fürchten, ist der Verlust dieser Anerkennung: die Angst, ausgelacht und herabgewürdigt zu werden. Tatsächlich geschehen aber solche Diskriminierungen jeden Tag und überall und werden geleugnet. Mobbing z.B. hat hier seinen Ursprung: ist erst einmal ein Verachtenswürdiger ausgemacht, reiht sich gewöhnlich die jeweilige Mehrheit ein in den Mob, um dem als Opfer gebrandmarkten Individuum täglich seine angebliche Unterlegenheit zu demonstrieren.

Menschen, die ihre Selbstachtung aus einem gesunden inneren Kern beziehen, würden da niemals mitspielen, empfinden solches Verhalten nicht allein auf Mobbing bezogen als zu abscheulich und haben meist auch Mut genug, dagegen mit allen verfügbaren Mitteln vorzugehen. Doch leider besteht die Masse heute hauptsächlich aus entmutigten Feiglingen, die sich nur dann sicher und stark wähnen, wenn sie auf eine genügende Anzahl anderer herabsehen können bzw. wenn sie die Mehrheit hinter sich wähnen, weil sie den Common Sense predigen (Populismus, nicht zu verwechseln mit Popperismus, obwohl da gewisse Ähnlichkeiten bestehen).

Auch meine Bestrebungen, solche und andere Zusammenhänge aufzudecken und meinen Lesern bewußt zu machen, haben im Grunde einen Egoismus zur Grundlage doch einen, der weiter blickt, in der Gewißheit, daß ich als Egozentriker (oder gar Narziß) mich selber von der Freude am Leben abschneide, weil ich mir nie sicher sein kann, daß das Wohlwollen, das man mir entgegenbringt, nicht aus taktischen Gründen simuliert wird, um einen Vorteil zu ergattern. Erst wenn wir alle gleichviel wert sind, wenn niemand mehr auf einen anderen verächtlich herabschaut, darf man sich sicher wähnen, daß die ausgedrückte Achtung und Wertschätzung auch wirklich echt ist.