Das Fremde in uns

Der Fremde in uns, das ist der uns eigene Teil, der uns abhanden kam und den wir zeit unseres Lebens, jeder auf seine Weise, wiederzufinden versuchen. Manche tun dies, indem sie mit sich selbst ringen, andere, indem sie andere Lebewesen zerstören. Der Widerstreit zwischen diesen zwei Ausrichtungen des Lebens, die beide von derselben Problematik bestimmt sind, wird über die Zukunft unseres Menschseins entscheiden. Meine Hoffnung ist es, mit diesem Buch dazu beizutragen, daß der zerstörerische Anteil zurückgedrängt werden kann, bevor er so stark wird, daß er uns überrollt. Dabei geht es weniger um große revolutionäre Antriebe. Ich möchte vielmehr Mut machen für das tägliche Engagement, sich immer wieder und bei jeder Gelegenheit dem Herzen zu widmen. (Arno Gruen in "Der Fremde in uns", ISBN 3-608-94282-3)

Fremdenhaß verbreitet sich. Immer mehr Menschen reagieren auf Fremde – ob Ausländer oder Andersartige – mit offener Feindseligkeit und Gewaltbereitschaft. Wie die Geschichte gezeigt hat, führen solche Tendenzen früher oder später zu Totalitarismus und Faschismus.

Fremdenhaß ist immer Selbsthaß

Wir alle lernen teilweise schon im Kindergarten, spätestens jedoch in der Schule, daß Mitgefühl mit vermeintlich Andersartigen nicht angebracht ist, weil es nicht belohnt wird. So gibt es in jeder Schule – ohne Ausnahme – mindestens einen Prügelknaben, meist hat aber jede Klasse ihren eigenen. Dieser Prügelknabe ist häufig ein stiller, wenig aggressiver Junge (selten ein Mädchen), der sich aus welchen Gründen auch immer lieber zurückzieht statt mit den Wölfen zu heulen. Dafür wird er gemobbt, häufig auch geschlagen und angefeindet. Die meisten Schüler verachten diesen Jungen, ohne sich je darüber klar zu werden, daß sie ihn aus der Angst, selbst so verachtet und behandelt zu werden, verachten. Dabei werden eventuelle Ähnlichkeiten mit dem "Sündenbock", egal in welcher Hinsicht, spontan abgewehrt, bevor sie recht bewußt werden können. Die Angst, "so" zu sein oder werden zu können, sorgt dafür, daß dieser Junge immer mehr isoliert und ausgegrenzt wird.

Doch woher kommt diese uneingstandene Angst, deren Abwehr meist als Stärke erlebt und präsentiert wird? Sie hängt damit zusammen, daß wir bereits als Kleinkinder, nicht selten sogar schon als Säuglinge entsprechend konditioniert wurden. Wir wurden dazu gebracht, wesentliche Teile unseres sich gerade entwickelnden Selbst am Wachsen zu hindern, Selbstanteile, die von den Eltern als zu bedrohlich und chaotisch wahrgenommen wurden, um sie zulassen und aushalten zu können.

Menschen übernehmen die Werte ihrer Peiniger aus Angst vor dem Terror, den ein Erleben eigener Impulse nach sich ziehen würde. Bedürftigkeit und Hilflosigkeit machen uns als Säuglinge abhängig von unseren Eltern. Um seelisch zu überleben, brauchen wir ein gewisses Vertrauen darauf, daß die Eltern uns Liebe, Geborgenheit und Schutz geben werden. Kein hilfloses Wesen kann in dem Bewußtsein existieren, daß die Menschen, auf die es physisch und psychisch angewiesen ist, seinen Bedürfnissen kalt und gleichgültig gegenüberstehen. Diese Angst wäre unerträglich – tödlich. Unser Überleben als Kind hängt deshalb davon ab, daß wir uns mit unseren Eltern arrangieren – und zwar auch und vor allem dann, wenn die Eltern tatsächlich kalt und gleichgültig oder grausam und unterdrückend sind. Als Folge davon wird das Eigene als etwas Fremdes abgespalten. Denn das Kind kann die Eltern nur unter der Voraussetzung als liebevoll erleben, daß es ihre Grausamkeit als Reaktion auf sein eigenes Wesen interpretiert – die Eltern sind grundsätzlich gut; wenn sie einmal schlecht sind, dann ist es unsere eigene Schuld. So wächst in uns die Scham, daß wir so sind, wie wir sind. Damit übernimmt das Kind die lieblose Haltung der Eltern sich selbst gegenüber. Vieles, was ihm eigen ist, wird abgelehnt und entwickelt sich zur potentiellen Quelle eines inneren Terrors. Seine Gefühle, seine Bedürftigkeit, seine Art der Wahrnehmung werden zu einer existentiellen Bedrohung, weil sie die Eltern dazu veranlassen könnten, ihm die lebensnotwendige Fürsorge zu entziehen. Das führt zur Identifikation mit den Eltern. Das Eigene wird als etwas Fremdes verworfen, statt dessen übernehmen wir die kinderfeindliche Haltung der Eltern.

Stellt euch eine Sozialarbeiterin vor, die mit Emigranten arbeitet. Hin und wieder, wenn diese Menschen nicht unterwürfig genug sind und etwas fordern, sei es nur formal wie "ich will aber arbeiten" oder "ich will eine Lehrstelle", empfindet diese Frau ihr Klientel als anmaßend, ja regelrecht arrogant. Der Gedanke "überhebliche Ausländer" blitzt in ihr auf, und sie schämt sich dafür, weil sie nicht weiß, woher dieser Gedanke kommt. Da ich ihre Geschichte kenne, weiß ich um ihre dominante Mutter und daß sie noch heute als erwachsene Frau in Anwesenheit ihrer Mutter nicht "ich will" sagen darf, ohne von ihr zurechtgewiesen zu werden: "Das heißt: ich möchte gerne ..." Und diese Ausländer nehmen sich einfach die Freiheit und sagen frech "ich will"!

In der Individualpsychologie herrscht längst Konsens darüber, daß wir im anderen das bekämpfen, was uns in uns selber Angst macht. Häufig sind es daher Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und weniger die Unterschiede, die zu feindseligen Reaktionen führen. Das betrifft z.B. auch die Feindseligkeiten zwischen den Geschlechtern: Warum wohl stellen Frauen und Männer stets ihre Verschiedenheit heraus, obwohl sie doch weitaus mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen? Warum empfinden wir kleine Unterschiede als bedrohlich? Wie können sich Brüder mit größerer Leidenschaft hassen als Fremde?

Die Angst vor dem Fremden ist die Angst vor den eigenen unterdrückten Selbstanteilen. Dazu gehört z.B. das heute nur noch selten anzutreffende Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und die eigene Urteilkraft. Wir modernen Industriestaatbewohner glauben das, was man uns vormacht und übersehen gewöhlich alle Anzeichen dafür, daß z.B. ein Auftritt mehr Show als Authentizität beinhaltet. Wenn's in der Zeitung steht, wird's schon stimmen. Wenn eine wichtige Person (ein starker Sender) dies und das kundtut, dann muß da was dran sein. Wenn der Firmenpatriarch von seinen Angestellten als einer großen Familie spricht, vergessen wir den Hungerlohn, den er uns zahlt. Wir lieben die reduzierten glatten Charaktere der Leinwand (des Fernsehens), weil wir selbst reduziert und verstümmelt sind. Und ... wir glauben uns unsere eigenen Auftritte, unsere Statements und zusammenphantasierten Fähigkeiten, unsere konstruierte Persönlichkeit. Wir müssen das glauben, weil wir uns unsicheres Auftreten offenbar nicht leisten können ...

Ob Völkermord, Folter oder die alltägliche Erniedrigung von Kindern durch ihre Eltern – eines haben all diese Beispiele für Gewalt und Haß gemeinsam: das Gefühl der Abscheu vor dem anderen, dem "Fremden". Die Täter stufen sich selbst als "Menschen" ein, doch das Gegenüber verdient diese Bezeichnung nicht. Der andere wird zum Unmenschen degradiert. Es ist, als würde man sich durch diesen Vorgang selber reinigen. Indem man andere abtut und sie peinigt, befreit man sich vom Verdacht des Beschmutztseins. Das Reinsein oder Beschmutztsein wird so zum Merkmal, das den Menschen vom Nicht-Menschen unterscheidet. Dabei verlagert sich die Wahrnehmung auf eine abstrakte Ebene. Der andere wird nicht mehr in seiner individuellen Menschlichkeit gesehen. Er ist nur noch Bestandteil einer Gruppe. Seine konkreten Gefühle, Einstellungen und Verhaltensweisen verschwinden aus dem Blickfeld, statt dessen wird seine Persönlichkeit auf eine einzige Eigenschaft reduziert: die Zugehörigkeit zur Gruppe. Diese Abstrahierung macht ein empathisches Erleben des anderen unmöglich.

Empathie – die Bereitschaft, sich in andere hineinzuversetzen – ist aber eine grundsätzliche Fähigkeit vieler höher entwickelter Lebewesen, insbesondere des Menschen. Wir können uns in andere hineinversetzen, je besser wir uns in uns selber hineinversetzen können, je besser wir uns selbst verstehen und je weniger wir von unserem Selbst ablehnen oder gar verleugnen. Empathie ist die Schranke zur Unmenschlichkeit, sie ist der Kern des Menschlichen, der Kern unseres Selbst. Wird das Eigene jedoch verachtet, weil es sich nicht gehört und deshalb abgespalten werden mußte, können wir auch keine rechte Empathie entwickeln, so daß unsere Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen, schon bald verkümmert. Mit anderen Worten: der Vorgang, durch den das eigene zum Fremden wird, verhindert, daß Menschen sich menschlich begegnen – mit Anteilnahme, Einfühlungsvermögen und gegenseitigem Verstehen. Statt dessen wird die Abstraktion zur Basis unserer Beziehungen ...

Pädagogik ist noch immer eine Ideologie, die – wenn auch in verhüllter Form – typisch ist für alle sogenannten großen Zivilisationen. Kurz gefaßt besagt diese Ideologie, daß die Natur der Beziehung zwischen Kindern und Eltern die eines Machtkampfes ist, in dem verhindert werden soll, daß sich der "unreife" Wille des Kindes durchsetzt. Im Kampf der sogenannten Sozialisation muß das Kind dazu gebracht werden, sich dem Willen der Eltern zu unterwerfen, und daran gehindert werden, seinen eigenen Bedürfnissen und Genüssen nachzugehen. Der Konflikt ist unvermeidlich, und er muß – angeblich zum Wohle des Kindes – durch die Beharrlichkeit der Eltern gelöst werden.

Verschleiert wird dabei aber, daß es nicht um ein "Zivilisieren", sondern um die Festschreibung von Herrschaft geht. Die angebliche Sozialisation des Kindes soll in Wirklichkeit dafür sorgen, daß die Motivation zum Gehorsam gegenüber den Mächtigen tief in der menschlichen Seele verankert wird. Das geht aber nur, indem man die Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle, die dem Kind eigen sind, so früh und nachhaltig wie nur möglich zum Schweigen bringt.