Auszüge aus David Riesman's
"Die einsame Masse"

Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters

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Einführung von Helmut Schelsky

Das Buch Die einsame Masse (The Lonely Crowd), das David Riesman mit zwei Mitarbeitern 1950 veröffentlichte, ist so etwas wie ein Bestseller in den Vereinigten Staaten geworden, ein Schicksal, das soziologische Bücher nur äußerst selten zu haben pflegen. Bereits 1953 erschien eine 2. Auflage, 1954 eine "Volksausgabe", von der in einigen Monaten über 50.000 Exemplare verkauft wurden; die Time brachte David Riesman als Titelbild und widmete seinem Buch eine breite Darstellung. So wurde Riesman in den USA sehr schnell "der Liebling der Intellektuellen" und derer, die sich dafür halten.

Die Erklärung für diesen Erfolg des Buches und seine so erstaunlich breite Leserschaft liegt zunächst in seinem Untertitel verborgen: "Eine Untersuchung über die Wandlungen des amerikanischen Charakters". Verschiedene, sehr offen erkennbare Zeichen deuten darauf hin, daß der Amerikaner sich selbst heute Problem Nr. 1 geworden ist. Die führende Rolle, die den Vereinigten Staaten in den letzten zwei Jahrzehnten in der Weltpolitik und Weltwirtschaft, in der Wissenschaft und Technik zugefallen ist, steht mit allzu vielen Traditionen ihrer weltpolitisch verhältnismäßig isolierten Vergangenheit im Widerspruch, um sich nun in ein Infragestellen des geschichtlichen, sozialen und geistigen Selbstbewußtseins der Menschen und in einen Appell an ihre innere Wandlungsfähigkeit umzusetzen. Gegenüber dieser nach innen geschlagenen Problematik der weltpolitischen Situation des Amerikaners scheint Riesman Entscheidendes, Überraschendes und Bestätigendes zu sagen gewußt zu haben. Die einsame Masse muß wie ein Spiegel gewirkt haben, in dem der Amerikaner ein neues Antlitz seiner selbst erblickte und nun voller Interesse und nicht ohne eine gewisse Befriedigung die Züge der Reife und die darin liegenden Lebensaussichten studierte.

Also ein Buch über und für Amerikaner? – Wenn Riesmans Werk nur dies wäre, so hätte der Verfasser dieser Zeilen, der Amerika noch nicht einmal von einem Informationsbesuch her kennt, kaum das Recht, dazu eine Einführung zu schreiben. Die Berechtigung dazu stammt eher aus der gegenteiligen Sachlage: gerade weil mich vielleicht keine interne Amerikakenntnis ablenkte, habe ich das Buch Riesmans vor allem als eine gedankenvolle und aufschlußreiche sozialwissenschaftliche Deutung unserer modernen industrialisierten Welt überhaupt verstanden und vielfache Aufklärung über unsere eigene Gegenwart daraus gewonnen. Da die meisten deutschen Leser dies Buch wohl unter dem gleichen Aspekt lesen werden, scheinen mir einige einführende Worte unter dem Gesichtspunkt, was uns an diesem Buche besonders angeht und anspricht, gerechtfertigt zu sein. Übrigens besteht so ein nicht geringer Reiz dieses Buches zur Selbstbesinnung darin, daß einem der Zeitgenosse, der man selber ist, in etwas fremdartiger Tracht gezeigt und damit die Wahrheit über uns selbst nicht so einfach auf den Kopf zugesagt wird.

Ein weiterer Reiz dieses Buches liegt darin, daß es zwar ein wissenschaftliches, nicht aber ein eigentlich gelehrtes Werk ist; dazu ist es zu "literarisch" geschrieben, unter Verwendung vieler Slogans und Formeln der Alltagssprache – es will ja die Wirklichkeit des alltäglichen Menschen erfassen – und mit einem Humor und Witz, der sich erst im sprachlichen Ausdruck konkretisiert. In der Welt der amerikanischen Soziologie fällt dieses Buch offensichtlich dadurch aus dem Rahmen, daß es sich nicht der üblichen empirischen Detailforschung mit Fragebogen, Statistiken usw. bedient, sondern ein Bild des geistigen und sozialen Strukturzusammenhanges seiner Zeit auf Grund durchgehender, prinzipieller Einsichten und Wesensbestimmungen zu entwerfen versucht. Gegenüber der deutschen Tradition ideen- und geistesgeschichtlicher Zeit-, Zukunfts- und Geschichtsphilosophien wirkt es aber durchaus detaillistisch und empiristisch, voller Vorsicht gegenüber weltgeschichtlichen Überfolgerungen oder Systemkonstruktionen. Riesman strebt offensichtlich eine Mittellage zwischen empirisch-detaillistischer und geistesgeschichtlich-verstehender Sozialforschung an oder, besser gesagt, eine Synthese, die sich des notwendigen Zusammenhanges beider Arten der Soziologie lebhaft bewußt ist; man kann sagen, daß er mit dieser wissensmethodischen Einstellung bei der jüngeren Generation der Soziologen, auch gerade in Deutschland, auf Verständnis und Zustimmung trifft.

So stützen sich seine Aussagen über den Charakter des modernen Amerikaners durchaus an vielen und wichtigen Stellen auf empirische sozialwissenschaftliche Forschungen und Befragungen, zum Teil sogar auf die von ihm und seinen Mitarbeitern selbst durchgeführten. Als zweiten Band zu der Einsamen Masse haben er und seine Mitarbeiter daher auch noch einen Band von Materialien Faces in the Crowd (1952) veröffentlicht, in dem die in diesem Werk geschilderten Wesenszüge des Amerikaners in Monographien einzelner Personen und der Schilderung ihres Lebensalltages individuelles Gesicht gewinnen. So wie sich Riesman durch diesen dauernden Rückgriff auf die empirische Erhebung vor der ideengeschichtlichen Gefahr subjektiver Spekulation und Überfolgerung einzelner Erlebnisgehalte schützt, so weiß er umgekehrt auch um die Nichtigkeit aller übertriebenen methodischen Exaktheit, die auf unserem Wissensgebiet dann sehr schnell in einem aussagelosen Skrupulantentum endet. Er hat in einem Artikel "Some Observations on Social Science Research" (in Individualism Reconsidered, p. 467 ff.) die in den USA mit großem Aufwand an Geld und Methode durchgeführten sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte auf ihre geistige Aussage hin kritisiert und ihre Erkenntnisse zwar nicht als belanglos, aber gemessen am Aufwand doch als relativ unerheblich beurteilt; in einigen Fällen konnte er ironisch darauf hinweisen, daß die von der Methode eigentlich nicht eingeplanten Nebenerfolge der Untersuchungen die bei weitem geistvollsten und erkenntnisreichsten Aussagen über die Wirklichkeit geliefert hätten. Wir werden dieser Ironie über Tests, soziometrische Erhebungen usw. auch in dieser Schrift öfters begegnen; sie beruht darauf, daß ein Soziologe die Methoden seines Faches selbst als einen sozialwissenschaftlich bedeutsamen Gegenstand zu sehen und zu deuten vermag.

Riesman geht es um Aussagen, die sich in ihrer Allgemeinheit der bloß statistischen Exaktheit und Konfiguration weitgehend entziehen. Wir müssen seine soziologischen Wahrheiten eher als eine Art Feldmassierung einleuchtender Gedanken an Hand empirisch erhobener Tatbestände betrachten, als darin etwa abmeßbare Figuren, sei es statistischer oder logisch-systematischer Herkunft, zu suchen. Obwohl er in seiner Analyse von amerikanischem Material ausgeht und die volle Verantwortung seiner Aussagen – laut Titel – auch auf den Amerikaner von heute eingeschränkt wissen will, tun wir ihm doch kein Unrecht, wenn wir seine Erkenntnisse überall dort als zutreffend ansehen, wo die gleichen sozialen Bedingungen wie im modernen Amerika zum Zuge kommen, d.h. wo wir die Auswirkungen der durchgesetzten Industrialisierung und der sie begleitenden Wohlstands- und Konsumerhöhungen, der Vergroßstädterung und Verwissenschaftlichung der Lebensführung usw. antreffen; in diesem Sinne meint er selbst, daß seine Untersuchung "eine Analyse sowohl des Amerikaners als auch des heutigen Menschen überhaupt darstellt". Über die notwendige Ignorierung der darin liegenden methodischen Bedenken, die ja nur dem fachkundigen Leser kommen werden, bittet Riesman durch die Mottos des 1. Kapitels den Kenner um stillschweigendes Einverständnis.

Diese methodische Unbekümmertheit dessen, der etwas Wahres, Wichtiges und Neues auszusagen hat, kommt bereits in dem Grundschema zum Ausdruck, das Riesman seiner Untersuchung zugrunde legt: in der Dreiteilung der Verhaltensformen in traditions-geleitete, innen-geleitete und außen-geleitete. Aus den schwierigen und keineswegs einheitlichen psychologischen und sozialpsychologischen Definitionen des "Charakters" greift sich Riesman ein Bruchstück oder einen Aspekt heraus: die soziale Verhaltensdetermination, die zu einer Verhaltensgleichheit der Zeitgenossen führt, "die Art und Weise, wie die Gesellschaft einen gewissen Grad von Verhaltenskonformität der ihr zugehörigen Individuen garantiert". Diese sozialbedingte Verhaltenskonformität nennt er für seine Zwecke "Charakter" und findet nun an Hand der europäisch-amerikanischen Gesellschaftsentwicklung drei Typen solcher "Charaktere" oder sozialer Verhaltenskonstanten: Eine "traditions-geleitete" Gesellschaft lenkt die Einzelindividuen durch überkommene, sehr konkrete, oft kasuistische [spitzfindige] soziale Werte, die durch ihre institutionelle Veräußerlichung in Sitte, Brauchtum, Zeremoniell usw. auf den Einzelnen in lange gleichbleibenden Situationen einwirken; die "innen-geleitete" Gesellschaft bestimmt die Individuen durch persönliche, verinnerlichte Werthaltungen prinzipieller Art, die dem dynamischen Wechsel der sozialen Situationen gegenüber durch ihre Abstraktheit anwendbar bleiben; in einer "außen-geleiteten" Gesellschaft wird die Anerkennung der "anderen", das Sich-Richten nach der öffentlichen Meinung und ihren "Signalen", d.h. den Informationen der Massenpublizistik, nach Kollegen, Alters- und Standesgenossen usw. zum entscheidenden Maßstab, mit dem die Einzelnen ihre Handlungen messen und bewerten. Für die beiden letzten Typen hat Riesman ein einprägsames Bild gefunden: Der "innen-geleitete" Mensch handle so, als ob er ein moralisches Gyroskop oder einen Kreiselkompaß in sich eingebaut habe, während der "außen-geleitete" Mensch sein Verhalten sozusagen durch ein Meinungs-Radargerät dauernd orientiere.

Riesman verknüpft diese Typologie des Verhaltens nun soziologisch-historisch mit der Bevölkerungsgeschichte und den Bevölkerungsgesetzlichkeiten, weil er darin mit Recht eine der vitalsten Grundlagen des sozialen Geschehens erblickt. Die traditions-geleitete Verhaltensweise scheint ihm zu der Epoche des hohen Bevölkerungsumsatzes, d.h. der hohen Geburts-, aber auch Sterberate vorindustrieller Gesellschaftsformen zu gehören. Die erste Epoche der Industrialisierung wiederum wird in Europa und Amerika getragen von einer geschichtlich einmaligen Bevölkerungsvermehrung oder Bevölkerungswelle, die aus dem Absinken der Sterbefälle bei gleichbleibender Geburtenhöhe resultiert; ihr ist der "innen-geleitete" Verhaltenstyp zuzuordnen. Mit der Konsolidierung des industriellen Gesellschaftssystems – in Europa-Amerika etwa in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts – setzt nun auch jene Beschränkung der Geburtenzahlen ein, die als Anpassung an die moderne Gesellschaftsstruktur, z.B. an deren gesunkene Sterblichkeitsrate, anzusehen ist und zu einer neuen Konstantheit, ja sogar zu einer gewissen Schrumpfung der Bevölkerungszahlen der industrialisierten Gesellschaften führt; mit diesem Vorgang scheint für Riesman die Geburt des "außen-geleiteten" Menschentyps verbunden zu sein. Indem er so die Entwicklung seiner Verhaltenstypen mit dem Wandel der Bevölkerungsgesetzlichkeiten verbindet, von dem die Demographie beweisen zu können glaubt, daß er in allen Völkern gleichmäßig vor sich ginge, die von einer primär agrarischen Wirtschaftsstufe zu einem industriellen System übergehen (vgl. in der deutschen Literatur dazu Gerhard Mackenroth, Bevölkerungslehre, 1953), gewinnt Riesman für seine Aussagen eine über die soziale Entwicklung Amerikas oder auch noch Europas hinausreichende Beweiskraft.

Diese Schematik oder Typologie der Traditions-, Innen- und Außen-Lenkung des Verhaltens stellt das Grobgerüst dieser Analyse dar, in das der Verfasser nun die vielfältigsten Beobachtungen und Deutungen des Zeitgeschehens und der Zeitgenossen einträgt. Indem das Schema seine Konkretisierung auf den verschiedensten Lebensgebieten erfährt, in der Kindererziehung, in der Haltung zur Literautur und Publizistik, in den Verbrauchergewohnheiten, in der Einstellung zur Berufsarbeit, im politischen Leben usw., gewinnt es die Fülle der Aussage im Detail, die den wissenschaftlichen Gewinn dieses Buches ausmacht. Wie bei Pareto oder Spengler dient eine sehr einfache und schematische Hypothese dazu, die Erscheinungen eines kulturellen Zusammenhanges – hier unserer Gegenwart – unter neue Blickwinkel zu stellen und ihnen so bisher wenig bemerkte Eigenschaften und überraschende Einsichten abzugewinnen. Dieses Grundschema mag also in seiner Einfachheit und Einseitigkeit kritisiert oder gar – wie Spenglers Kulturkreislehre – mit der Zeit widerlegt und abgeschrieben werden, seine Fruchtbarkeit, zu einem tieferen Verständnis unserer Zeitwirklichkeiten geführt zu haben, würde damit wenig berührt. Es wäre daher zu bedauern, wenn die Wirkung dieses Buches allzu sehr darin bestünde, daß diese dreiteilige Verhaltenstypologie, zur Formel erstarrt, nun wie eine gängige Münze von Hand zu Hand ginge. Sie wäre schnell abgegriffen und der Verfasser, um den Rang seiner Wahrheiten zu wahren, zum Widerruf genötigt.

Viel wichtiger erscheint es mir, an Hand seiner Aussagen über den Amerikaner nachzuspüren, wie weit diese auch für unsere eigene soziale und menschliche Wirklichkeit zutreffen. Nehmen wir als Beispiel seine wichtigste Aussage über den Zeitgenossen: daß dieser ein "außen-geleiteter" Mensch sei. Verifiziert wird diese Behauptung vornehmlich an dem mittelständisch-bürgerlichen Typ, der in den Wohnvororten der amerikanischen Großstädte zuhause ist, der eine College-Erziehung genossen oder wenigstens seine alten Vorurteile durch die von den Colleges ausgehenden wissenschaftlichen ersetzt hat; sein Verhalten unterliegt, wenn er von seiner Büroarbeit in seine Wohnsiedlung kommt, stark dem Normierungsdruck seiner Nachbarschaft, der Clubs und der sozial harmonisierenden Veranstaltungen, die ihm Gemeinde, Schule und andere um seine Persönlichkeit bemühte Institutionen unvermeidlich aufdrängen. Vor allem aber wird dieser Verhaltenstyp bereits von einem Grundschulsystem geprägt, das die Erziehung des Menschen zur reibungslosen sozialen Kooperation gegenüber aller Erziehung zur Leistung in den Vordergrund stellt, durch dauernde soziometrische Tests sichert und in seinen pädagogischen Methoden von einer geradezu neurotischen Ängstlichkeit davor ist, Spannungen zu erregen. Ist das alles nicht sehr spezifisch amerikanisch und für uns mehr kurios, als daß es uns selbst beträfe?

Ich glaube es nicht: schüttelt man dieses Kaleidoskop der Eigenschaften des amerikanischen Zeitgenossen auch nur ein wenig, so erhält man sehr bald Gestaltkonfigurationen, die uns selbst gleichen. Ist nicht auch unsere Schule mit ihrer Betonung der Persönlichkeits- und Charaktererziehung des Kindes und in ihrer Ablehnung des Lern- und Leistungsprinzips der älteren Pädagogik auf einem Wege, dessen Endstationen in dem amerikanischen Beispiel sichtbar werden? Breitet sich nicht auch bei uns eine mittelständische Mentalität immer mehr aus, die aus dem Anwachsen von Büro- und Funktionärberufen jeder Art stammt und vergleichbare Bedürfnisse des sozialen Prestiges auf Teilnahme an den kulturellen und wissenschaftlichen Gütern entwickelt? Vor allem aber scheint mir hier der Einfluß der Massenkommunikationsmittel – Zeitungen, Illustrierten, des Radios und Kinos usw. – auf die tieferen Verhaltensschichten des Menschen, auf seine Art der Weltsicht und -orientierung, prinzipieller erfaßt zu sein, als dies bisher in irgendeiner psychologischen oder anthropologischen Analyse sonst der Fall war. Riesman macht ernst mit einem Bilde des Menschen, dessen Welt primär aus Zeitungspapier und sonstigen publizistischen Informationen besteht.

Zum Kern eines Vergleichs stoßen wir aber wohl erst vor, wenn wir die "Außen-Lenkung" des modernen Menschen als die Konstituierung und ständige Regelung seiner moralischen Normen durch die Meinung seiner Umwelt oder der Öffentlichkeit begreifen und darin eine Abwendung des neuen Typs von einer älteren Moralität sehen, die darin bestand, daß der Einzelne die moralische Verantwortung für seine Handlungen nur in den ein Leben lang festgehaltenen prinzipiellen Grundsätzen seines eigenen Innern und Gewissens fand. "Außen-Lenkung" als eine neue Form des Gewissens! Nun, ich finde, damit treffen wir auf eine keineswegs unaktuelle oder unwichtige deutsche Wirklichkeit. Die Erfahrung, daß sich durch Veränderungen der sozialen Umwelt und der öffentlichen Meinung die Standards dessen, was als "gut" und "anständig" nicht nur galt, sondern auch von dem Einzelnen empfunden wurde, ebenfalls wandelten, und zwar in einem Maße, daß derjenige, der seine eigenen innerlichen Prinzipien der "Anständigkeit" durchhalten wollte, immer im Unrecht oder mindestens in der sozialen Isolierung war, – diese Erfahrung sollte uns nicht fremd sein.

Und weiter: Riesman sieht diesen Wandel vom prinzipiellen und individualistischen Gewissen zum "sozialen Gewissen" keineswegs nur als eine ethische Korruption an, sondern als die Folge einer Entwicklung, in der der Mitmensch und die Rücksicht auf den anderen Menschen immer mehr in den Vordergrund der moralischen Ansinnen getreten sind. Also nicht nur der kollektivistische Terror, sondern auch die betonte und geplante demokratische Kooperation, die Sucht nach "human relations", führen zu einer Haltung, in der Nivellierung ("Gut-sein" heißt "Wie-der-andere-sein") und Opportunismus ("wenn der Held siegt, ist er sittlich") zur gebilligten moralischen Grundausstattung des Menschen gehören. Bei uns nannte man und nennt dies noch: Gesinnung, in eben der Bedeutung, die ihr Hegel in der Analyse des Tugendterrors Robespierres gegeben hat: "Die Gesinnung aber kann nur von der Gesinnung erkannt und beurteilt werden" (Philos. der Weltgeschichte), d.h. sie erfährt ihre Rechtfertigung nur in der Zustimmung, ihre Verurteilung bereits im Verdacht der anderen, und nicht des eigenen Gewissens. Wenn Riesman das Kapitel, in dem er diese Erscheinungen beschreibt, mit dem Titel "From Morality to Morale" versieht, so muß man, um dem Zeittenor dieser Begriffe zu hören, etwa davon wissen, daß es eine "Morale Division" in der amerikanischen Wehrmacht gab, die die politische und militärische Standfestigkeit der Soldaten dauernd testete und für ihre Stärkung oder ihren Schutz durch propagandistische Intoxikation sorgte, daß weiterhin zu den wichtigsten Anliegen der, ebenfalls unter Kriegsnotwendigkeiten entstandenen amerikanischen Betriebssoziologie das Problem "Management and Morale" gehörte und damit keineswegs die Frage des Arbeitsethos, sondern der Arbeits- und Betriebsgesinnung, also der sozialen Rechtfertigung und Motivierung der Arbeit, des Arbeitsfriedens und der Produktionswilligkeit, gemeint war usw. Wir glauben also ein Recht gehabt zu haben, jenen Titel im Deutschen mit den Begriffen "Von der Sittlichkeit zur Gesinnung" wiederzugeben. Gewiß: die Erscheinungen des politischen Gesinnungsterrors, des "NS-Führungs-Offiziers" oder "Kommissars" usw. gehören anderen politischen Systemen an als die amerikanischen Beispiele und bedeuten daher politisch etwas anderes; die Frage ist doch aber, ob nicht unterhalb der Verschiedenheit der politischen Systeme – eine Verschiedenheit, die in ihrer Bedeutung nicht verkleinert oder beiseite geschoben werden soll – eine Gleichheit der menschlichen Haltungen und Welteinstellungen in unserer Zeit und modernen Gesellschaft erwächst, die dann wiederum erklärt, weshalb auch ein radikaler politischer Systemwechsel nur die jeweiligen Richtungspunkte und materiellen Gehalte, nicht aber die Reaktionsform selbst dieses "Gewissens von außen" zu verändern vermag. Sind wir Deutschen heute weniger "außen-geleitet" in unserem Verhalten als etwa unter dem Nationalsozialismus? Welche neue Art von Moralität bahnt sich unter uns an, wenn wir heute in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw. immer wieder der Versicherung begegnen, daß "der Mensch" im Mittelpunkt des Geschehens und der Programme zu stehen habe? So etwa müßten die Fragen lauten, die Riesmans Analyse des "außengeleiteten Verhaltens" uns für unsere Selbsterkenntnis nahelegt – und zum Teil wohl auch schon beantwortet, obwohl er nur von Amerikanern spricht.

In anderen Punkten seiner Analyse ist unser Mit-Betroffensein offenkundiger: etwa in der Bedeutung, die er dem Konsum- und Freizeitverhalten für ein Verständnis des modernen Menschen und seiner Gesellschaft zumißt. Quer durch alle Aussagen Riesmans über einzelne Lebensgebiete zieht sich als eine Grundeinsicht die These, daß die Verbraucherhaltung zur dominanten Reaktionsform des Zeitgenossen geworden ist. Wir in Deutschland empfinden den Materialismus des Lebensgenusses, den wir überall beobachten, als einen Rückschlag gegenüber dem getäuschten Idealismus politischer Hingabe einerseits und als Folge der materiellen Notzeiten andererseits; Riesman sieht weiter: nach ihm muß jede industrielle Gesellschaft an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung – nach der Durchsetzung der Massenproduktion jeder Art – eine Höhe des Güterausstoßes erreichen, die sie zwingt, unter allen Umständen die Bedürfnisse und den Verbrauch zu erhöhen. Das Konsumpotential einer Gesellschaft wird in diesem Stadium wichtiger als etwa das Rohstoff-, Bevölkerungs- oder Arbeitspotential. Die wegen des Bestandes und der Erweiterung der industriellen Grundlage wirtschaftlich aufgedrungene Steigerung des Verbrauchs, die erhöhte Konsumpflicht der Gesellschaft, dringt als das primäre soziale Ansinnen in alle Verhaltensschichten des Menschen ein: in seine Stellung zur Kultur, zur Freizeit, zum Sport, zur Politik; sie bestimmt die Art der Kindererziehung und prägt die Rolle von Mann und Frau neu; sie wird zur Grundlage des sozialen Selbstbewußtseins und des sozialen Prestiges. Hier erst wird die Soziologie entwickelt, die zu den ökonomischen Lehren eines J. M. Keynes gehört.
Da die Verbraucherhaltungen ihrer Natur nach vor allem in der Freizeit des Menschen aktuell werden (obwohl sie auch in die Formen der Berufsarbeit eindringen, worüber z.B. das Kapitel "Vom Bankkonto zum Spesenkonto" einen auch für unsere Verhältnisse einleuchtenden Aufschluß gibt), gilt Riesmans Interesse vor allem einer soziologischen Deutung der Freizeitbeschäftigungen. Wie kein anderer Soziologe der Gegenwart hat er sowohl in diesem Werk als auch in der Aufsatzsammlung Individualism Reconsidered (1954) die Formen der "Freizeit-Kultur" untersucht: die moderne Schlagermusik, das Kino und Fernsehen, die Formen der Erholung, das Fußballspiel und seine gesellschaftlichen Zusammenhänge, die soziale Bedeutung der Kitschliteratur, ja des Lesens bei Jung und Alt überhaupt usw. Indem er so wichtige Erscheinungen wie das Ineinanderfließen von Arbeit und Spiel im Leben des Erwachsenen, von Schule und häuslicher Freizeit beim Kinde oder das ängstliche Ernstnehmen der Erholung und der Hobbies durch den modernen Menschen und den unkritischen Anspruch der Intellektuellen auf die Freizeit der anderen beobachtet und im kultur- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang deutet, wird ihm der Wandel des Freizeitverhaltens zum entscheidenden Prozeß der sozialen Anpassung des Zeitgenossen an die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur ("Some Observations in Leisure Attitudes" heißt der zentrale Aufsatz in Individualism Reconsidered, p. 202 ff., deutsch übersetzt in der Zeitschrift Perspektiven, Heft 5, 1953). In dieser Betonung und Auswertung der Freizeit oder "Muße" zur sozialwissenschaftlichen Analyse der Gegenwart hat Riesman nur einen Vorgänger oder Ahnen in der Geschichte der Soziologie: Thorstein Veblen, dessen Hauptwerk The Theory of the Leisure Class (1899) auch als eine Art "Altes Testament" in diese Analysen Riesmans eingegangen ist (und dem er ein eigenes Buch gewidmet hat: Thorstein Veblen: A Critical Interpretation, 1953). Alle anderen Soziologen von Hegel und Marx über Max Weber bis hin zu Burnham und sonstigen modernen Popularisatoren klassisch-sozialwissenschaftlicher Einsichten haben die gesellschaftliche Struktur und das soziale Verhalten vornehmlich von der Arbeits- und Berufssphäre des Menschen her gedeutet; mit Riesman und seinem Rückgriff auf Veblen (und vielleicht noch Simmel) scheint sich mir ein neues Grundthema im sozialwissenschaftlichen Verständnis der Zeit durchgesetzt zu haben, was übrigens der unwiderlegbarste Beweis für die Richtigkeit der Riesmanschen Behauptung wäre, daß man Arbeit und Beruf dem "innen-geleiteten" Menschentyp, Freizeit und Konsum aber dem "außen-geleiteten" Zeitgenossen als zentralen Lebenssinn zuzuordnen hat.

Zu den wertvollsten Einsichten des Buches, auch oder gerade für unsere deutschen Verhältnisse, scheint mir das Aufspüren der "Verbraucherhaltung" im Bereich der Politik zu gehören. Allerdings ergeben sich zunächst in den Äußerlichkeiten, die Riesman in diesem Zusammenhang berichtet, vielleicht die auffälligsten Unterschiede und daher Schwierigkeiten des Verständnisses: Wenn er z.B. die moderne amerikanische Verhaltensform des außen-geleiteten Menschen zur Politik als die des "Inside-Dopester" bezeichnet, so steht uns für unsere Verhältnisse kein gleichermaßen prägnanter Tatbestand und daher auch Begriff zur Verfügung. Unsere Übersetzung des "Inside-Dopester" als "Informationssammler" klärt nur mangelhaft die hier gemeinte passive Haltung zum politischen Geschehen, die im bloßen "Verbrauch" von Nachrichten, besonders der nicht allen zugänglichen Kulisseninformationen, ein Gefühl des "Dabeiseins" und der Informiertheit erzeugt und darin eine politische Pseudoaktivität, ein bloßes Interesse, absättigt. Immerhin brauchen wir diesen Typ nur ein wenig zu verallgemeinern und wir befinden uns in durchaus vertrauten Verhaltenslandschaften: das politische Geschehen des eigenen Landes und die Informationen und Verlautbarungen darüber werden als ein Schauspiel aufgefaßt, das andere aufführen und dem man ganz berechtigt als Zuschauer gegenübersteht, als Zeitungsleser, Wochenschaubetrachter, Radiohörer, vielleicht mit einem lebendigen Interesse, was da geschieht, und einem Rest von eigenem "Standpunkt", die aber keineswegs so weit gehen, daß man sich zu irgend einer Aktivität aufgerufen fühlt, zum Beitritt zu einer Partei, zur ehrenamtlichen politischen Mitarbeit oder zur Propagierung eines politischen Programms usw.; das bleibt Sache "der anderen", deren "Geschäft" die Politik ist. Die ideologische Identifikation oder Aktivität im Bereich der Politik erweist sich als eine spezifische Haltung des "innen-geleiteten" Menschen, die die Quellen einer prinzipiellen Moral voraussetzt, eines Dranges, abstrakte Wahrheiten und Überzeugungen in der Außenwelt zu realisieren. Ein Appell daran gegenüber dem sozial gezähmten Menschen von heute "zieht" einfach nicht mehr. So brauchen wir uns nicht zu wundern, daß sich bereits auch in Deutschland Partei- und Wahlversammlungen mit Kaffee, Kuchen und Unterhaltungsmusik gratis als zugkräftiger erweisen als solche mit ideologischen Programmreden.

Das in unserer politischen und sozialwissenschaftlichen Literatur genügend diskutierte und strapazierte Thema der "Ohne-mich"-Haltung der Deutschen, des "sozialen Defaitismus", gewinnt hier eine neue Dimension. Ich habe in meinem Buch Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart (1953) diese Haltung eines politischen und gesamtgesellschaftlichen Desinteressements als die Folge und Verarbeitung der Erfahrungen einer enttäuschten politischen Mobilisierung durch ein totales System und einer kollektiven politischen Schuldzurechnung auf der einen und der Rückwendung auf die privaten Interessen durch die Notlagen der Zeit auf der anderen Seite beschrieben. Meiner Behauptung, daß sich hier eine tiefgehende dauerhafte Wandlung in der Haltung der Menschen zur Politik und den öffentlichen Angelegenheiten vollzöge, haben meine Kritiker mir mit Unrecht entgegengehalten, daß die angegebenen Ursachen dafür mit der Zeit ihre Wirksamkeit verlieren müßten, und daher die Dauerhaftigkeit der "Ohne-uns"-Haltung bezweifelt. Riesman sieht nun aber das gleiche politische Desinteressement, die Apathie gegenüber den politischen Appellen und Ansprüchen, in den Vereinigten Staaten wachsen; er nennt diesen Verhaltenstyp "den Gleichgültigen neuen Stils" (the new-style indifferent) und unterscheidet ihn von dem politisch Indifferenten der alten traditionsgebundenen Gesellschaftsform (dessen Gleichgültigkeit gegenüber dem politischen Geschehen daher rührte, daß die Politik als eine Angelegenheit der Oberschichten über seinen Kopf hinweg vor sich ging) durch folgende Kennzeichnung: Diese politische Apathie neuen Stils "ist im hohen Grade die Gleichgültigkeit von Menschen, die genug von der Politik erfahren haben, um sie abzulehnen, genügend politische Information besitzen, um sie sich vom Leibe zu halten und genug über ihre Pflichten als Staatsbürger wissen, um sich ihnen zu entziehen". Ausdrücklich erkennt Riesman in dieser Art des politischen Desinteressements die Wahrscheinlichkeit "einer historisch weittragenden Wandlung des politischen Verhaltensstiles": je mehr sich die "Verbraucherhaltung" gegenüber der Politik durchsetzt, um so stärker wird sich die Gruppe derer vermehren, die in der Konkurrenz des Angebotes von sonstigen Freizeit- und Konsumgütern die politischen nicht genügend attraktiv findet, um ihre Nachfrage darauf zu richten.

Übrigens beurteilt auch Riesman diese Entwicklung nicht nur als negativ: obwohl er den hohlen Skeptizismus und Zynismus, der diese Haltung zur Politik begleitet, genau so durchschaut wie wir bei uns, erkennt er doch eine "oft recht nützliche Immunität gegenüber der Politik" als einen Gewinn dieser politischen Teilnahmslosigkeit für die Zeitgenossen an: "sie beraubt sie (zwar) der Fähigkeit zum Enthusiasmus und zu echtem politischem Einsatz, aber sie hilft ihnen auch, sich davor zu schützen, auf viele der politischen Illusionen hereinzufallen, die in der Vergangenheit die Menschen in politische Abenteuer gestürzt haben". Die Dinge haben immer zwei Seiten, und jede soziale Entwicklung bringt gleichzeitig Erwünschtes und Unerwünschtes.

Diese nüchterne Feststellung drückt übrigens am besten die Werthaltung aus, die Riesman den von ihm analysierten sozialen Wandlungen gegenüber im allgemeinen einnimmt. Er versucht ständig, was die Zukunftsaspekte seiner Analysen betrifft, eine Position jenseits von Optimismus und Pessimismus zu gewinnen; dafür ist heute der alte Fortschrittsglaube weniger ein Hindernis als der sehr moderne Pessimismus der intellektualistischen Kulturkritik. So sehr Riesman also auf der einen Seite die Werte und Leistungen des alten "innengeleiteten" Lebensideals, soziologisch also des kapitalistischen Hochbürgertums, gegen die leichtfertigen Verdammungsurteile moderner Sozialkritik, Psychologie und sonstiger Reformgesinnungen in Schutz nimmt, so ist andererseits nicht zu übersehen, daß er bei aller geschichtsphilosophischen Vorsicht in den neuen Strukturen der "außen-geleiteten Gesellschaft" eine Epoche neuer sozialer Stabilisierung erblickt. Seine häufigen Hinweise, daß sich diese neueste Gesellschaftsstruktur funktionell wieder an Verhältnisse der stabilen traditionsgeleiteten Sozialverfassung annähert, sind kaum anders zu interpretieren. Diese Haltung bedeutet kein bloßes Ja zu dem, was gerade ist; im Gegenteil: "der status quo erweist sich als das illusionärste aller Ziele". Aber diese Haltung richtet sich gegen die intellektuelle Wankelmütigkeit der jeweiligen Zeitgesinnungen, gegen die aus sozialen Depressionen oder Euphorien stammenden spekulativen Überfolgerungen, mit der nüchternen Tapferkeit eines sozialwissenschaftlichen Realismus, der um die Grenzen seiner Erkenntnisweise ebenso Bescheid weiß wie um die aller wissenschaftlichen Determination sich entziehende Ursprünglichkeit und Unzerstörbarkeit des Menschen. So sind alle seine wissenschaftlichen Aussagen bewußt in der Reichweite und Dauer ihrer Wahrheit begrenzt, dafür aber auf eine Situation und auf einen Adressaten gezielt. In diesem – Riesman nennt es selbst so – "moralischen Experimentalismus" einer Sozialwissenschaft, die ihre Methoden, ihre Kategorien, ja ihre Aussagen wechselt und widerruft, um immer da zu stehen, wo Wahrheiten und Werte "im Verlieren" sind, scheint sich mir eine neue wissensmethodische Grundlage unserer Disziplin zu ergeben: indem diese die zeitgeschichtliche Relativität ihrer Aussagen und ihre Mitspieler-Rolle im sozialen Geschehen der Gegenwart so bewußt realisiert, tritt das in unaufhörlicher Selbstkritik sich vor Selbstgerechtigkeit bewahrende und ständig sich erneuernde personale Gewissen des Aussagenden als letzte Garantie der Wahrheit deutlich zutage. Sozialwissenschaftliche Aussagen besitzen letzten Endes nur so viel Allgemeingültigkeit, wie die in ihnen erscheinende moralische Verantwortlichkeit der Person wissenschaftliche Kommunikation und geistige Gemeinschaft hervorruft. In wissensmethodischer Hinsicht steht es mit der Allgemeingültigkeit der Aussagen der Soziologie also nicht schlechter als mit den ewigen Wahrheiten des Christentums.

Dieser personalen Verantwortlichkeit, von der aus Riesman seine wissenschaftlichen Aussagen bewußt steuert, gilt nun auch der letzte Teil seines Buches. Bei allen soziologischen Zeitanalysen wird ja immer ein System gesellschaftlicher Determination für das Handeln des Menschen entwickelt, ein Geflecht sozialer Beziehungen, in das er völlig eingespannt zu sein scheint; ebenso selbstverständlich erhebt sich aber gegenüber dieser soziologischen Reduktion die Frage: Was ist der Mensch denn noch? Oder philosophischer formuliert: Wo ist der Raum der Freiheit der Person gegenüber dieser sozialen Determiniertheit? An dieser Frage verlassen Philosophen und Theologen gern die Soziologie, um sich unbeschwert von deren Aussagen im Spekulationsraum menschlicher Freiheiten zu ergehen, während die Soziologen häufig, um bei sich zu Hause bleiben zu können, achselzuckend auf die Beantwortung der Frage verzichten. Nicht so Riesman: er gibt auf die Frage nach der Freiheitschance der Person, die er mit dem Begriff der "Autonomie" oder "Eigenständigkeit" des Menschen zu fassen sucht, eine interessante, und zwar soziologische Antwort: die Sozialstruktur der modernen Gesellschaft ist in sich nicht so homogen, daß sich nicht überall Spannungen und Widersprüche z.B. zwischen dem jeweiligen Zeittrend zur Konformität und den Sachansprüchen der Institutionen oder den in älterer Tradition verharrenden menschlichen und sozialen Beziehungen ergäben; in diesen Spannungen, Widersprüchen und Lücken der sozialen Gesetzlichkeiten liegt die Chance zur Autonomie der Person.

Mit dieser soziologischen Ortsbestimmung der personalen "Eigenständigkeit" sind die positiven und direkten Aussagen der Soziologie über die Autonomie allerdings zunächst erschöpft, denn Riesman ist sich der Unmöglichkeit einer Kausaldetermination des Schöpferischen oder der realisierten Freiheit durchaus bewußt. Nur der Verfall ist voll determiniert; so gelingt es Riesman auch, wesentlich ausführlicher die sozialen Hindernisse für eine Autonomie der Person in der Gegenwart aufzuweisen oder den Charakter der von der "Autonomie" abgeglittenen, defizienten [unvollständigen] Verhaltensformen zu bestimmen. Unfrei ist zunächst der "Anomale", der aus irgendwelchen Ursachen unfähig ist, den Normen seiner Gesellschaft zu gehorchen und durch diese Anomalität in irgendwelche Zwangsgesetzlichkeiten des Verhaltens, Neurosen, Hysterien, Verwahrlosung, Kriminalität usw., abgedrängt wird. Unfrei und ohne Autonomie ist aber auch der nur oder voll "Angepaßte"! Mit dieser These tritt Riesman einem in der amerikanischen Psychologie und Soziologie weitverbreiteten Verhaltensideal und anspruch entgegen: der "Anpassung" als einer unbedingt positiven Verhaltensform. Für ihn ist der voll Angepaßte immer zugleich "überangepaßt" (overadjusted), jemand, "der versucht, sich den Charakter anzueignen, den man von ihm erwartet", also ein Mensch, den die Gesellschaft geschaffen, der aber sich selbst noch nicht geschaffen hat. Das Verharren in der bloßen sozialen Konformität wird also als ein defizienter Verhaltenstyp bestimmt.

So liegt die Chance zur Autonomie der Person zwischen Anomalie und Angepaßtheit: der "Autonome" ist der Mensch, der fähig ist, auf die Ansprüche der Gesellschaft einzugehen – was der Anomale nicht kann –, der aber zugleich die Kraft findet, sich zu Zeiten und in bestimmten Bereichen diesem sozialen Konformitätsdruck zu entziehen, was dem Angepaßten und Anpassung Suchenden nicht gelingt. In dieser Definition ist ohne Zweifel ein Ratschlag verborgen: das Ansinnen, sich zu einer, wenigstens teilweisen Nonkonformität und Distanzierung gegenüber den Zeittendenzen und dem sozialen Anpassungs- und Zähmungsdruck zu erheben. Es ist der Ratschlag eines Gebildeten, ein – wie man bei etwas tieferem Schürfen leicht feststellen wird – in das weltliche Moderato übersetzter religiöser Vorschlag zu einer verdünnten Askese gegenüber den Sozialansprüchen und -exzessen unserer "Welt". Riesman steht mit diesem Ratschlag nicht allein; bei Paul Tillich finden wir den Satz: "Die Person als Person kann sich nur bewahren durch eine partielle Nicht-Partizipation an den vergegenständlichten Strukturen der technisierten Gesellschaft" (Christian Thought and Social Action, New York: 1953); Eugen Rosenstock-Huessy spricht in seinem jetzt auch deutsch vorliegenden Buch Des Christen Zukunft (München 1955) von der Notwendigkeit von Haltungen, "die gegen die allgemeine Tendenz gehen", und sieht in den modernen kollektiven Verhaltensformen geradezu die neue Art der Sünde, die das Christentum vor eine neue Aufgabe der Bekehrung stellt; in der deutschen Soziologie mehren sich die Bemerkungen über "Konsumaskese", über den Rückzug ins Private, über die Person-Chancen der zwecklosen Muße in der Freizeit, der unorganisierten Hobbies usw. (und der Verfasser dieser Zeilen weiß sich an solchen Hinweisen durchaus mitschuldig). Diese Art Ratschläge finden sich offenbar immer da, wo die Soziologie ernstgenommen und doch zugleich transzendiert wird; sie scheinen vorläufig der soziologischen Weisheit letzter Schluß zu sein.

Aber es sind Wahrheiten, von denen zumindest der Soziologe nur mit Bedenken und innerem Widerspruch die Schleier lüftet; solche Ratschläge tragen für ihn die Gefahr in sich, daß daraus eine "Predigt der Soziologie" wird. Vorschläge von Soziologen werden allzu leicht zum sozialen Programm – und damit zur "organisierten Freiheit". Auch Riesman hätte sich widersprochen, wenn seine "autonome Persönlichkeit" zum sozialen Anspruch würde. So gilt seine letzte intensive Analyse gerade dem Nachweis, daß die als soziale Rolle aufgedrungene Individualität, der mit der Mode der "Pflege der menschlichen Beziehungen" in der Arbeit und den ebenso modischen Ansprüchen auf Menschen- und Personbildung in der Freizeit einhergehende Abbau der Sachlichkeit im Beruf und der bloßen Müßigkeit und Zwecklosigkeit der arbeitsfreien Zeit zu unechten übertriebenen "Verpersönlichungen" führen und heute geradezu als die entscheidenden Hindernisse der Sozialstruktur auf dem Wege zur Autonomie der Person angesehen werden müssen. Diese Kritik der "Verpersönlichung" und Humanisierung als eines sozialen Programms, ja als des pseudoethischen Ideals schlechthin der außengeleiteten Gesellschaft, ist wiederum explizit und beweiskräftig vorgetragen; daß die darin liegenden Andeutungen oder Schlußmöglichkeiten e contrario zum Verständnis und zur Einsicht über die echte Autonomie der Person führen, entzieht sich der soziologischen Demonstration und bleibt Hoffnung des Verfassers. So scheint mir Riesmans Buch zu zeigen, daß das Höchste, was die Soziologie als Analyse der Zeit und des Zeitgenossen zu erreichen vermag, nur eine indirekte Morallehre ist.

Charaktertypen und Gesellschaftsformen. Versuch einer Zuordnung zur Bevölkerungsbewegung

... auch wird sich der gebildete Leser darüber im klaren sein, daß die menschliche Natur, selbst wenn sie hier unter einem Sammelnamen gefaßt wird, von so wunderbarer Vielfalt ist, daß ein Koch eher sämtliche Spezialitäten der internationalen Kochkunst kennenlernen als ein Autor ein derartig weitläufiges Thema erschöpfen kann. Fielding, Tom Jones

Ich spreche von dem Amerikaner in der Einzahl, als gäbe es deren nicht Millionen im Norden, Süden, Osten und Westen, beiderlei Geschlechts, aller Altersklassen und verschiedener Rassen, Berufe und Religionen. Natürlich ist der eine Amerikaner, von dem ich spreche, legendär; aber bei einem solchen Thema muß man unweigerlich in Parabeln sprechen; und vielleicht ist es von Nutzen, dies in aller Offenheit zu tun. Santayana, Character and Opinion in the United States

Gegenstand des vorliegenden Buches sind der soziale Charakter und die unterscheidenden Merkmale im sozialen Charakter von Menschen verschiedener Länder, Zeiten und Gruppen. Dabei beschäftigt uns die Art und Weise, in der verschiedene soziale Charaktertypen, nachdem sie einmal im Schoße der Gesellschaft geformt wurden, sich in der Arbeit, in der Freizeit, in der Politik und in der Kindererziehung durchsetzen. Insbesondere geht es um einen Charaktertyp, der im 19. Jahrhundert in Amerika dominierte, und um seine allmähliche Ablösung durch einen sozialen Charakter vollkommen anderer Art. Weshalb und wie diese Ablösung vor sich ging und wie sich diese in einigen hauptsächlichen Lebensbereichen auswirkt, ist das Thema dieses Buches.

Was meinen wir nun, wenn wir von "sozialem Charakter" sprechen? Wir sprechen nicht von "Persönlichkeit", einem Terminus, wie er in der modernen Sozialpsychologie zur Bezeichnung des ganzen Selbst mit seinen ererbten Temperamenten und Anlagen, seinen biologischen und seelischen Komponenten, seinen flüchtigen und auch seinen mehr oder weniger permanenten Eigenschaften benutzt wird. Wir meinen auch nicht Charakter an sich, wie der Begriff gegenwärtig vielfach gebraucht wird, als einen Teil der Persönlichkeit, geformt durch Erfahrung und nicht durch Vererbung (womit nicht gesagt sein soll, daß es leicht wäre, eine Grenze zwischen diesen beiden zu ziehen). Charakter in diesem Sinne ist die mehr oder weniger sozial und historisch bedingte Struktur der individuellen Triebe und Befriedigungen: die Verfassung, in der der Mensch der Welt und seinen Mitmenschen gegenübertritt.

"Sozialer Charakter" dagegen ist der Teil des "Charakters", wie er bestimmten Gruppen gemeinsam ist, und der, wie er von den meisten zeitgenössischen Sozialwissenschaftlern definiert wird, das Produkt der Erfahrungen dieser Gruppen darstellt. Der so verstandene Begriff des sozialen Charakters erlaubt uns, wie es in diesem Buch durchgehend geschieht, von dem Charakter von Klassen, Gruppen, Völkern und Nationen zu sprechen.

Es ist nicht meine Absicht, die vielen Zweideutigkeiten des Begriffes "sozialer Charakter" zu erörtern – etwa, ob er eher der Erfahrung als der Vererbung zuzurechnen ist, ob es empirisch nachweisbar ist, daß er tatsächlich existiert, und ob er "wesentlicher" ist als jene Elemente von Charakter und Persönlichkeit, die alle Menschen auf der ganzen Welt miteinander verbinden, oder als jene anderen Elemente des Charakters und der Persönlichkeit, die selbst ganz nahestehende Individuen voneinander trennen. Die Annahme, daß ein sozialer Charakter existiert, war von jeher, mehr oder weniger unausgesprochen, eine Voraussetzung allgemeiner Erörterungen; heute ist diese Annahme, mehr oder weniger sichtbar, zu einer Prämisse der Sozialwissenschaften geworden.

Ihr wird der Leser deshalb unter dem einen oder anderen Namen in den Schriften von Erich Fromm, Abram Kardiner, Ruth Benedict, Margaret Mead, Geoffrey Gorer, Karen Horney und vieler anderer, die über den sozialen Charakter im allgemeinen und den sozialen Charakter verschiedener Völker verschiedener Epochen gearbeitet haben, bereits begegnet sein.

Die meisten dieser Autoren unterstellen – ebenso wie ich –, daß die Kindheit von größter Wichtigkeit für die Charakterbildung ist. Fast alle stimmen ferner darin überein, wie auch ich es tue, daß diese ersten Jahre nicht unabhängig von der Gesellschaftsstruktur gesehen werden dürfen, da diese einerseits die Eltern, die die Kinder aufziehen, andererseits auch die Kinder direkt beeinflußt. Auf der Grundlage dieser weitgehenden Übereinstimmung fußen meine Mitarbeiter und ich, wobei weder untersucht werden soll, in welchen Punkten die genannten Autoren untereinander, noch wo wir von diesen Autoren abweichen.

Charakter und Gesellschaft

Welche Beziehung besteht nun zwischen sozialem Charakter und Gesellschaft? Wie kommt es, daß jede Gesellschaft mehr oder weniger immer gerade den sozialen Charakter zu erhalten scheint, den sie "braucht"? So schreibt Erik H. Erikson in einer Untersuchung über den sozialen Charakter der Yurok-Indianer, daß "... die Methoden der Kindererziehung ... unbewußte Versuche sind, aus dem menschlichen Rohmaterial das Verhaltensschema zu gestalten, das das Optimum in Anbetracht der besonderen naturbedingten Umstände und ökonomisch-historischen Erfordernisse des Stammes darstellt (oder dargestellt hat)".

Von "ökonomisch-historischen Erfordernissen" zu "Methoden der Kindererziehung" ist nun allerdings ein weiter Weg. Eine ganze Reihe von sozialwissenschaftlichen Arbeiten über den sozialen Charakter ist der Aufgabe gewidmet, diese Lücke zu füllen und zu zeigen, wie die Befriedigung der dringlichsten Bedürfnisse der Gesellschaft auf irgendeinem fast mysteriösen Weg durch ihre intimsten Gebräuche bewerkstelligt wird. Von Erich Fromm wird kurz die Richtung angedeutet, in der vielleicht diese Verbindung zwischen Gesellschaft und Charakterbildung zu suchen ist: "Wenn eine Gesellschaft gut funktionieren soll, müssen sich ihre Mitglieder einen Charakter aneignen, aus dem heraus sie so handeln wollen, wie sie auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft oder einer besonderen Klasse innerhalb dieser handeln müssen. Sie müssen genau das zu tun wünschen, was sie notwendigerweise tatsächlich zu tun haben. Äußerer Druck wird durch inneren Zwang und durch eine besondere Art menschlicher Energie ersetzt, die in die Charakterzüge einfließt."

So findet sich die Verbindung zwischen Charakter und Gesellschaft in der Art und Weise, wie die Gesellschaft einen gewissen Grad von Verhaltenskonformität der ihr zugehörigen Individuen garantiert. Gewiß ist sie nicht die einzige Verbindung, sicherlich aber eine der wesentlichsten und jene, die hier hervorgehoben werden soll. In jeder Gesellschaft wird eine derartige Form der Sicherung konformen Verhaltens in das Kind eingepflanzt, die später dann durch die Erfahrungen als Erwachsener entweder gefördert oder unwirksam wird. (Keine Gesellschaft, so scheint es, ist jedoch weitblickend genug, um zu gewährleisten, daß die Art der von ihr in den Individuen angelegten Verhaltenskonformität jedem Lebensstadium angemessen ist.) Die Termini "Art der Verhaltenskonformität" und "sozialer Charakter" werden von mir wechselweise gebraucht, obwohl die Verhaltenskonformität sicherlich nicht die Gesamtheit des sozialen Charakters ausmacht: "die Art der schöpferischen Leistung" ist gleichermaßen einer seiner Bestandteile. Während jedoch Gesellschaften und Individuen ohne schöpferische Leistung, wenn auch in Eintönigkeit, ihr Leben zubringen können, ist nicht anzunehmen, daß sie ohne irgendeine Art von Verhaltenskonformität – und sei es die der Rebellion – leben können.

Ich werde mich in diesem Buch mit zwei Revolutionen, die die "Verhaltenskonformität" oder den "sozialen Charakter" des Menschen der westlichen Welt seit dem Mittelalter beeinflußt haben, befassen. Die erste dieser Revolutionen schnitt uns ziemlich radikal in den letzten vierhundert Jahren von der familien- und sippen-orientierten traditionellen Lebensweise ab, in der sich die Geschichte der Menschheit im wesentlichen vollzogen hat. In dieser Revolution sind die Renaissance, die Reformation, die Gegenreformation, die Industrielle Revolution und die politischen Revolutionen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts eingeschlossen. Selbstverständlich ist sie auch noch nicht abgeschlossen, doch beginnt in den fortgeschrittensten Ländern der Erde, insbesondere in Amerika, bereits eine andere Revolution, die mit einer Reihe sozialer Entwicklungen und dem Übergang aus dem Zeitalter der Produktion in das Zeitalter des Konsums verbunden ist. Die Vorgänge der ersten Revolution sind uns einigermaßen verständlich, unter verschiedenen Bezeichnungen ist sie in unsere Lehrbücher und Terminologie eingegangen. Zu ihrer Darstellung wird dieses Buch nichts Neues hinzufügen, zu ihrer Auslegung aber vielleicht doch etwas beitragen können. Für die zweite Revolution, die gerade anhebt, interessieren sich inzwischen viele zeitgenössische Beobachter, einschließlich der Sozialwissenschaftler, Geisteswissenschaftler und Journalisten. Sowohl Darstellung wie Auslegung sind heftig umstritten. Tatsächlich haben sich viele dieser Beobachter gedanklich noch nicht von diesem ersten Komplex von Revolutionen lösen können, und für eine Auseinandersetzung mit der zweiten sind die entsprechenden Kategorien noch nicht gefunden worden. Ich werde hier versuchen, die Unterschiede herauszuarbeiten, die zwischen den grundlegenden Bedingungen und dem Charakter der heute von der zweiten Revolution ernstlich betroffenen Schichten einerseits und den Grundbedingungen und dem Charakter analoger Schichten der ersten Revolution andererseits bestehen. Unter diesem Gesichtspunkt sollen die kurzen Ausführungen über die traditionellen und feudalen Gesellschaften, die durch die erste Revolution abgelöst wurden, nur eine Art Hintergrund für die Behandlung dieser neuerlichen Veränderungen abgeben.

Da ich versuchsweise gewisse soziale und charakterologische Entwicklungen mit gewissen Bevölkerungsvorgängen der abendländischen Gesellschaft seit dem Mittelalter ursächlich in Beziehung setzen will, werden einige der von mir verwendeten Begriffe der Bevölkerungslehre entnommen, jener Wissenschaft, die sich mit Geburts- und Sterblichkeitsziffern, mit der absoluten Anzahl von Menschen und den prozentualen Zahlenverhältnissen in einer Gesellschaft sowie ihrer Aufteilung nach Alter, Geschlecht und anderen Variablen befaßt.

Es läßt sich mit einiger Sicherheit nachweisen, trotz fehlender verläßlicher Zahlen aus früheren Jahrhunderten, daß die Kurve der Bevölkerungsbewegung seit dem Mittelalter in den westlichen Ländern in einer S-Form besonderer Art verlaufen ist. (Entsprechend dem Hineinwachsen anderer Länder in das Netz der westlichen Zivilisation zeigen auch diese Völker eine Tendenz, sich nach der S-förmigen Bevölkerungskurve zu entwickeln.) Die untere Horizontale des S stellt einen Zustand dar, wo die Gesamtbevölkerung überhaupt nicht oder nur sehr langsam wächst, da die Geburtenziffer ungefähr der Sterblichkeitsziffer gleich ist und beide sehr hoch sind. In solchen Gesellschaften ist ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung jung, die Lebenserwartung ist niedrig und die Generationsfolge äußerst schnell. Man bezeichnet solche Gesellschaften als in einer Phase "hohen Bevölkerungsumsatzes" befindlich. Treten jedoch irgendwelche Ereignisse ein, wodurch die sehr hohe Sterblichkeit abnimmt (erhöhte Nahrungsmittelproduktion, neue hygienische Maßnahmen, Entdeckung von Krankheitsursachen u.ä.), so setzt eine "explosive Bevölkerungszunahme" ein, die Bevölkerung wächst sehr schnell. Am markantesten war ein solches plötzliches Anwachsen in Europa und den im 19. Jahrhundert von Europäern besiedelten Ländern. Die Vertikale des S kennzeichnet diesen Vorgang, der von den Bevölkerungswissenschaftlern als die "Bevölkerungswelle" bezeichnet wird. Dann gleichen sich die Geburtenziffern und die rückläufigen Sterblichkeitsziffern wieder einander an. Das Bevölkerungswachstum stagniert, und die Bevölkerungswissenschaftler stellen eine stärkere Besetzung der mittleren und hohen Jahrgänge in der Bevölkerung fest, worin sie die Kennzeichen einer dritten Phase, der "beginnenden Bevölkerungsschrumpfung", sehen. Die obere Horizontale des S kennzeichnet Gesellschaften, die sich in diesem Stadium befinden, wobei wiederum, wie in der 1. Phase, das Wachstum der Gesamtbevölkerung gering ist, was jetzt jedoch darauf zurückzuführen ist, daß die Geburten- und Sterblichkeitsziffern gleich niedrig sind.

Diese S-Kurve soll nun nicht als Theorie über das Bevölkerungswachstum, sondern als empirische Darstellung der Vorgänge dienen, die sich in Europa und in den in der Einflußsphäre Europas liegenden Ländern abgespielt haben. Was geschieht nun, wenn die Phasen der S-Kurve durchlaufen sind? Die in den letzten Jahrzehnten vor sich gegangene Entwicklung in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern westlicher Zivilisation scheint eine so bequeme und einfache Zusammenfassung nicht mehr zuzulassen. Die "beginnende Bevölkerungsschrumpfung" ist nicht zu einer Bevölkerungsschrumpfung schlechthin geworden, und die Geburtenrate zeigt eine unbestimmte Tendenz, wieder anzusteigen, was die meisten Bevölkerungswissenschaftler allerdings als vorübergehend bezeichnen.

Es wäre nun wirklich sehr erstaunlich, wenn Veränderungen in den Grundbedingungen der Fortpflanzung, Lebenshaltung und Lebenserwartungen den Charakter unbeeinflußt ließen. Eine Veränderung der Versorgungslage und der Nachfrage nach Arbeitskräften wird zur Folge haben, daß sich der Lebensraum der Bevölkerung, die Größe der Märkte, die Rolle der Kinder, die Gefühle für Vitalität und Senilität in der Gesellschaft und viele andere, nicht ohne weiteres faßbare Faktoren ebenfalls ändern. So geht meine These in der Tat dahin, daß jedem dieser drei Stadien der Bevölkerungskurve eine Gesellschaft entspricht, die jeweils eine bestimmte Art von Verhaltenskonformität erzwingt und einen bestimmten sozialen Charakter formt, und zwar jeweils auf ganz verschiedene, aber durchaus erkennbare Art und Weise.

Die dem "hohen Bevölkerungsumsatz" entsprechende Gesellschaft wird in ihren typischen Vertretern einen sozialen Charakter formen, dessen Verhaltenskonformität durch die Tendenz, der Tradition zu folgen, gesichert wird. Es sind Menschen, die ich im folgenden als "traditions-geleitet" bezeichnen werde, und die Gesellschaft, in der sie leben, ist eine auf "Traditions-Lenkung" beruhende Gesellschaft.

Die Gesellschaft der "Bevölkerungswelle" dagegen entwickelt in ihren typischen Vertretern eine Verhaltenskonformität, die durch die Tendenz, sich frühzeitig ein Schema von verinnerlichten Lebenszielen anzueignen, gesichert wird. Dieser Typ wird von mir als "innen-geleitet" bezeichnet, und die entsprechende Gesellschaft beruht auf "Innen-Lenkung".

Die in der Phase der "beginnenden Bevölkerungsschrumpfung" befindliche Gesellschaft schließlich formt in ihren typischen Vertretern eine Verhaltenskonformität, die durch die Tendenz, für die Erwartungen und Wünsche anderer empfänglich zu sein, gesichert wird. Diese Menschen werde ich mit "außen-geleitet" bezeichnen, die Gesellschaft, in der sie leben, beruht auf "Außen-Lenkung".

Bevor ich auf eine nähere Behandlung dieser drei charakterologischen und gesellschaftlichen "Idealtypen" eingehe, möchte ich darauf hinweisen, daß es mir an dieser Stelle nicht darum geht, eine eingehende Analyse zu liefern, die notwendig wäre, um zu beweisen, daß diese Verbindung zwischen Bevölkerungsdynamik und Charaktertypen besteht. Die Theorie der Bevölkerungskurve dient mir lediglich als eine Art Symbolschrift für unzählige institutionelle Elemente, die allgemein – allerdings in leidenschaftlicherem Ton – durch Worte wie "Industrialisierung", "Ländliche Gesellschaft", "Monopolkapitalismus", "Verstädterung", "Rationalisierung" u.ä. symbolisiert werden. So dürfen die von mir verwendeten Begriffe wie "Bevölkerungswelle" oder "beginnende Bevölkerungsschrumpfung" in Verbindung mit Wandlungen von Charakter- und Verhaltensstrukturen weder als magische noch als alles umfassende Formeln aufgenommen werden.

Ich beziehe mich bei meiner Zuordnung sowohl auf den Gesamtkomplex der technologischen und institutionellen Faktoren, wie er – als Ursache oder Wirkung – mit der Bevölkerungsbewegung zusammenhängt, als auch auf die demographischen Fakten im einzelnen. Es wäre für meine Zwecke mindestens ebenso dienlich, die Gesellschaften entsprechend dem von ihnen erreichten ökonomischen Entwicklungsstadium einzuteilen. Der Gliederung nach demographischen Merkmalen entspräche etwa die von Colin Clark in "primäre", "sekundäre" und "tertiäre" Wirtschaftsbereiche. (Der erste bezieht sich auf Landwirtschaft, Jagd, Fischfang und Bergbau, der zweite auf die Fertigung, und der dritte umfaßt Handel, Verkehr und alle Dienstleistungsbetriebe.) So ist in jenen Gesellschaften, die sich in der Phase des "hohen Bevölkerungsumsatzes" befinden, der "primäre" Wirtschaftsbereich vorherrschend (z.B. in Indien), in solchen, die in dem Stadium der "Bevölkerungswelle" stehen, herrscht der "sekundäre" Bereich vor (z.B. in Rußland), und in der Phase der "beginnenden Bevölkerungsschrumpfung" dominiert der "tertiäre" Bereich (z.B. in den Vereinigten Staaten). Schließlich ist es wohl selbstverständlich, daß kein Volk aus einem Guß ist, weder in bezug auf seine Bevölkerungsweisen noch in bezug auf seine Wirtschaft – Gruppen und Landschaften zeigen spezifische Entwicklungsstadien, die sich im sozialen Charakter widerspiegeln.

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