Auszüge aus Serge Moscovici's
"Das Zeitalter der Massen"

Eine historische Abhandlung über die Massenpsychologie

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Vorbemerkungen des Autors

Das vorliegende Buch beruht auf einer Reihe von Vorträgen, die ich im Rahmen der Franqui-Professur an der Universität Louvain-la-Neuve (Belgien) halten konnte, stellt allerdings eine beträchtliche Erweiterung des Vortragsmanuskriptes dar. Ich bin meinem Kollegen Jean-Philippe Leyens, der mich bei dieser Gelegenheit so freundlich aufgenommen hat, aber auch den Wissenschaftlern und Studenten, die diese Vorträge verfolgt und mich von ihrer Kritik haben profitieren lassen, sehr verbunden.
Seither habe ich Gelegenheit gehabt, eine Reihe von Lücken in der Darstellung schließen zu können, insbesondere während eines Aufenthalts am Churchill College in Cambridge, wo ich zahlreiche in englischer Sprache publizierte Arbeiten zum Thema einsehen konnte.

Mein aufrichtiger Dank gilt Nelly Stéphane, die sich die Mühe gemacht hat, das Manuskript gegenzulesen, und mir wertvolle Anregungen gegeben hat.

Einleitung

0.1

Die Idee, über die Massenpsychologie zu schreiben, ist mir an dem Tag gekommen, an dem ich mich damit abgefunden hatte, die Unleugbarkeit einer Tatsache zu akzeptieren, die – im Guten oder im Schlechten – alle anderen verblassen läßt. Diese Tatsache ist die folgende: Am Anfang dieses Jahrhunderts war man sich des Sieges der Massen sicher; an seinem Ende findet man sich ganz und gar im Bann der Führer. Eine nach der andern sind die gesellschaftlichen Umwälzungen, die die meisten Länder der Welt erschüttert haben, in ein Regime eingemündet, an dessen Spitze ein Führer steht, der die Menschen in seinen Bann schlägt. Ein Mao, ein Stalin, ein Mussolini, ein Tito, ein Nehru, ein Castro und zahlreiche ihrer Nacheiferer haben eine totale Herrschaft über ihr Volk ausgeübt (und tun es noch), das ihnen dafür einen inbrünstigen Kult weiht. Gehen wir eine Stufe tiefer, um zu beobachten, was sich nun nicht mehr in den Nationen, sondern in den Parteien, den Kirchen, den Sekten oder den Denkschulen abspielt: Überall das gleiche Phänomen, das sich durch Nachahmung im Sozialkörper ausbreitet und dem keine Bewegung zu widerstehen scheint.

So triumphieren die Revolutionen, wechseln die Regime, versinken die Institutionen der Vergangenheit im Staub, und doch setzt sich der Aufstieg der Führer unaufhaltsam fort. Gewiß, sie haben in der Geschichte schon immer eine Rolle gespielt, aber niemals ist diese Rolle so entscheidend gewesen, niemals ist das Verlangen nach Führern so groß gewesen. Das Problem, das sich zu stellen beginnt, ist also das folgende: Ist ein solcher Aufstieg mit dem Gleichheitsprinzip (in den zivilisierten Ländern Grundlage einer jeden Regierung), mit dem Fortschritt der Massen in machtpolitischer und kultureller Hinsicht und mit der Verbreitung der Wissenschaft zu vereinbaren? Ist er das zwangsläufige Ergebnis dieser Eigentümlichkeiten der modernen Gesellschaft, mit denen man ihn unvereinbar glauben würde? Sobald die Mehrheit die Macht ergreift, geht diese für eine gewisse Zeit in die Hände einer Minderheit über, bis ein Mann sie allen anderen entreißt. Dieser Ausnahmemensch verkörpert für sich selbst das Gesetz. Er besitzt die Fähigkeit, die Massen in heroische Kämpfe, in gigantische Projekte hineinzuziehen. Sie opfern ihm ihre augenscheinlichen Interessen, ihre anerkannten Bedürfnisse bis hin zu ihrem Leben. Man sieht den Führer seinem Trupp von Anhängern unermeßliche Zerstörungen und das Vorstellungsvermögen übersteigende Verbrechen befehlen: sie führen sie aus ohne jede Diskussion. Eine solche Autorität übt man nicht aus, ohne die Menschen ihrer Verantwortung und ihrer Freiheiten zu berauben. Darüber hinaus fordert sie deren aufrichtige Zustimmung. Wir mögen uns schon so sehr an diese paradoxen Effekte gewöhnt haben, daß ihr gehäuftes Auftreten uns kalt läßt, aber nichtsdestotrotz hören sie nicht auf, uns zu überraschen und zuweilen auch zu schockieren, ganz nach den Vorstellungen, die wir uns von ihren Ursachen machen.

Man ging also davon aus, nahm es als Axiom, daß das Gesetz eines einzelnen endlich überholt sei und daß man es nur noch vom Hörensagen kenne. Es war dazu bestimmt, eine Kuriosität zu werden wie der Heldenkult oder die Hexenjagd, von denen die alten Bücher berichten. Aber es scheint schwer zu sein, zu diesem Thema, einem der ältesten der Welt, etwas Neues beizusteuern. Weit davon entfernt, etwas Neues zu tun, haben wir, was die anderen Epochen mit ihren Tyrannen und ihren Cäsaren nur im Keim entworfen hatten, bis zur äußersten Perfektion getrieben. Wir haben den Ausnahmefall zum Vorbild genommen und den empirischen Rohentwurf zum System gemacht. Stellen wir schon jetzt fest: Quer durch die Verschiedenartigkeit der Kulturen, Gesellschaften und Gruppen hat sich eine immer gleiche Macht etabliert, die durch alles ermuntert wird, und deren Konturen sich mehr und mehr festigen, nämlich die Macht der Führer. Leader im Englischen, Lider massimo, presidente oder caudillo im Spanischen, duce im Italienischen, Führer im Deutschen: auf den Namen des Führers kommt es nicht an. Er beschreibt jedesmal eine identische Realität, und das Wort entspricht exakt der Sache. Zweifellos ist es ein Unterschied, ob man unter der Autorität eines Mussolini oder eines Hitler, eines Tito oder eines Stalin, eines Castro oder eines Pinochet lebt, oder ob man einem Gandhi oder einem Mao folgt. Jede Situation ist per definitionem einzigartig und unterscheidet sich von den anderen in ihrer konkreten Ausprägung – so wie ein Kind sich von seinen Brüdern und Schwestern unterscheidet. Aber mit den Führern kommt eine neue Qualität der Politik, also ein Kulturmerkmal, zum Vorschein, und dieses Kulturmerkmal ist von einer bislang unbekannten Intensität und Verbreitung, so daß es müßig wäre, nach Parallelen in der Vergangenheit zu suchen.

Diese relative Neuheit ist ein erster Punkt. Der zweite ist folgender: Historiker und Soziologen haben uns gelehrt, hinter den Ereignissen und den Handlungen der Menschen verborgene und unpersönliche Ursachen zu entdecken. Sie erklären uns die Herrschaft mit den objektiven Gesetzen von Ökonomie und Technik. Sie lassen uns hinter dem Gepränge der sogenannten großen Männer die Arbeit des Volkes, das Werk der Herren der Industrie und des Geldes sehen. Sie warnen uns vor dem Mythos des Heros, diesem von der Vorsehung geschickten Menschen, dessen Auftreten ausreichen soll, um den Lauf der Geschichte zu ändern. Wie aber sieht die Wirklichkeit aus? Wenn wir unsere Augen statt in ihre Bücher auf die Bühne der Geschichte richten, sehen wir, daß dieser Mythos weiterhin sein Spiel treibt, und zwar mit Erfolg. Dank eines wohlgeregelten Rituals von Zeremonien, Paraden und Reden erhebt er sich wie der Phönix aus seiner Asche. Die Massen nehmen an gigantischen Inszenierungen in den Stadien oder um die Mausoleen herum teil, die die Feste der Kaiser von Rom oder China weit hinter sich lassen. Diese Spektakel, sagt mir mein Verstand, sind Illusionen, auch wenn die ganze Welt ihnen vor der Kinoleinwand oder am Bildschirm beiwohnt. Aber wie die ganze Welt, so glaube auch ich, was ich sehe. Dieses fesselnde Ritual, diese grandiose Inszenierung, welche zu einem Grundbestandteil unserer Zivilisation geworden ist, wie die Zirkusspiele Grundbestandteil des alten Rom waren, haben eine Funktion. Sie sind ebenso für die Psychologie wie das Überleben dieser Zivilisation von Bedeutung. Nun, auf der Bühne der Geschichte hat alles, was geschieht, eine personale Ursache, wird alles auf außergewöhnliche Vorgänge und auf die Eigenschaften des großen Mannes zurückgeführt: der Triumph der Revolutionen, der Fortschritt der Wissenschaft, die unterschiedlichen Produktionsleistungen, ja auch der Fall des Regens und das Heilen von Krankheiten, der Heldenmut der Soldaten und die Beflügelung der Künste. Man erklärt so die gesellschaftlichen Erscheinungen und die Entwicklungen der Geschichte mit den subjektiven Gesetzen des Genies – das war der Fall bei Stalin und Mao – und beklagt die Dürftigkeit der Worte, die Erbärmlichkeit der Superlative, die nicht ausreichen, dessen Großartigkeit Ausdruck zu verleihen.
In den meisten Fällen – die von mir genannten sind keineswegs Ausnahmeerscheinungen – haben die Führer eine außergewöhnliche Mission zu erfüllen. Sie gelten als lang ersehnte Messiasse, die gekommen sind, ihr Volk ins Gelobte Land zu führen. Trotz der Warnungen einiger aufgeklärter Köpfe findet sich die Masse in ihnen wieder und sieht sich von ihnen repräsentiert. Sie verehrt sie und feiert sie als allmächtige und allwissende Übermenschen, die den Menschen dienen können, indem sie sie beherrschen. Verführt und terrorisiert, verwandelt sie diese modernen Zarathustras in Halbgötter, deren Urteile alle unfehlbar, deren Handlungen alle richtig, deren Worte alle wahr sind. Die Macht der Führer, die sich anfangs dem Druck der Umstände verdankte, sich dann aufgrund von Bequemlichkeit weiterentwickeln konnte, wird fortan zum System. Dieses System funktioniert automatisch und universell. So entsteht aus sich selbst heraus inmitten der großen Gesellschaft eine kleinere, aber energischere und entschlossenere Gesellschaft von einflußreichen (oder, wenn man das vorzieht, von charismatischen) Führern. Und die hat keine Mühe, die Welt zu lenken, ohne daß diese sich dessen bewußt wäre.

0.2

Mit seinen Ausmaßen hat das Phänomen die meisten Theorien und Wissenschaften von der Gesellschaft völlig unvorbereitet getroffen. Als es zum ersten Mal in Europa, genauer gesagt in Italien und in Rußland auftauchte, glaubten die Denker ihren Augen nicht zu trauen. Die einen hielten es für eine pathologische Verirrung des menschlichen Geistes, die anderen für eine ephemere Abweichung vom normalen Lauf der Dinge. Vor allem aber sah man darin einen Notbehelf – in der kapitalistischen Welt zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, in der sozialistischen Welt zur Schaffung einer neuen Ordnung. Einen Katalysator, denn die Diktatur wird ja als die Regierungsform angesehen, mit der "die Veränderung die meisten Möglichkeiten hat, leicht und rasch vor sich zu gehen" (Plato). Freilich gibt es keine Diktatur, auch keine der Mehrheit, ohne Diktator, und keinen Diktator, mag er nun Mao Tse-Tung heißen oder Pol Pot, ohne Mißbrauch und ohne Verbrechen. Man beeilt sich hinzuzufügen, daß es sich dabei um Ausrutscher, um Entgleisungen handelt, die auf lange Sicht der Sache des Fortschritts und der Freiheit der Nationen gedient haben und dienen werden.
Nur eine Wissenschaft hat sich von Anfang an an das heiße Thema der Macht der Führer herangewagt, sie ist sogar eigens geschaffen worden, um diese zum ausschließlichen Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen: die Massenpsychologie. Sie hat den Aufstand der Massen vorhergesehen, als noch kein Mensch auch nur im Traum daran dachte. Sie hat – ohne das immer zu wollen – das praktische und geistige Rüstzeug für die Zunahme von deren Macht geliefert und, einmal siegreich, hat sie sie bekämpft. Sie hat in dieser Macht und in deren Erscheinungsformen eines der Charakteristika der modernen Gesellschaft, das Vorzeichen eines neuen Lebens der Menschheit gesehen. Ich wundere mich, daß man noch heute glaubt, ihre Konzepte ignorieren und sich über sie hinwegsetzen zu können. Sie müssen gleichwohl einen gewissen Wert haben, denn sie haben nachzuweisen und zu beschreiben gestattet, was die anderen Wissenschaften übersehen haben, eine Wirklichkeit, welche diese noch immer vernachlässigen, weil sie sie für undenkbar halten. Und ihre Wirkung bleibt, wie ich in diesem Buch noch ausführlich darlegen werde, weiterhin beträchtlich. Ich behaupte ganz offen, daß die Massenpsychologie neben der politischen Ökonomie eine der beiden Humanwissenschaften ist, deren Ideen Geschichte gemacht haben. Ich meine, daß sie den Ereignissen unserer Epoche ganz konkret ihren Stempel aufgedrückt haben. Im Vergleich dazu bleiben die Soziologie, die Anthropologie oder die Linguistik Wissenschaften, die von der Geschichte gemacht worden sind.

Für diese Psychologie leisten die ökonomischen oder technischen Faktoren zweifellos einen Beitrag zur Macht der Führer. Doch gibt es ein magisches Wort, das allein für sie die wahre Ursache bezeichnet: das Wort "Masse". Seit der französischen Revolution ist es in der gängigen Rede häufig zu finden. Dennoch hat es bis zum zwanzigsten Jahrhundert gedauert, bis man seinen Sinn präzisiert und ihm eine wissenschaftliche Bedeutung verliehen hatte. Eine Masse ist ein transitorisches Ensemble von gleichrangigen, anonymen und ähnlichen Individuen, innerhalb dessen die Ideen und Emotionen eines jeden dazu neigen, sich spontan auszudrücken.

Eine Masse, das ist das soziale Tier, das sich von der Leine gerissen hat. Die Verbote der Moral sind hinweggefegt und mit ihnen die Lehren der Vernunft. Der Einfluß gesellschaftlicher Rangordnungen schwindet. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Typen von Menschen verwischen sich, und die Menschen leben in ihrem oft gewaltsamen Tun ihre Träume und Leidenschaften aus, vom Brutalsten bis zum Heroischsten, vom Delirium bis zum Martyrium. Eine brodelnde Ansammlung von Menschen, ein permanentes Gewimmel, das ist die Masse. Und auch eine unbändige und blinde Gewalt, die alle Hindernisse überwinden, Berge versetzen oder das Werk von Jahrhunderten zunichte machen kann.

Die Auflösung der sozialen Bindungen, die Geschwindigkeit der Nachrichtenverbreitung, die ständige Vermischung verschiedener Bevölkerungen, der beschleunigte, entnervende Lebensrhythmus in den Städten bilden unaufhörlich neue Kollektivitäten und lösen sie wieder auf. Einmal atomisiert, schließen sich diese Kollektivitäten in Gestalt von instabilen und immerzu wachsenden Massen neu zusammen. Dieses Phänomen spielt sich in bis dahin unbekannten Dimensionen ab, was seine absolute historische Neuheit ausmacht. Es bewirkt, daß in einer Zivilisation, in der die Massen eine entscheidende Rolle spielen, das Individuum seine raison d’être [Existenzberechtigung] ebenso wie sein Selbstgefühl verliert. Es findet sich als Fremder inmitten des Getriebes der anderen Individuen, zu welchen es nur mechanische und unpersönliche Beziehungen hat. Daher die Unsicherheit, die diffuse Angst in jedem Menschen, der sich als Spielball feindlicher und unbekannter Mächte fühlt. Daher auch sein Suchen nach einem Ideal oder einem Glauben, sein Bedürfnis nach einem Vorbild, welches ihm ermöglicht, die Unversehrtheit, nach der er sich sehnt, wiederherzustellen. Dieses, wie Freud sagt, "psychologische Elend der Massen" nimmt universelle Dimensionen an. Es liefert das Bühnenbild, vor dem die betörenden oder charismatischen Führer, die berufen sind, Menschen um sich zu scharen, von neuem machtvolle gemeinsame Bindungen schaffen. Sie bieten ein Beispiel und ein Ideal, eine Antwort auf die Frage: Was macht das Leben die Mühe wert, gelebt zu werden? Eine eminent politische Frage in einer Zeit, in der die einheitliche Sicht der Natur verschwunden ist. Einer Zeit, in der kein Vorbild in der Gesellschaft wie in den verblassenden Religionen einen triftigen Grund für die simple Tatsache, daß man existiert, liefern kann.

Fassen wir all das zusammen: Die Entstehung einer neuen Form kollektiven Lebens ist schon immer einhergegangen mit dem Auftreten eines neuen Menschentyps. Umgekehrt ist der Untergang einer dieser Formen stets mit dem Verschwinden eines Menschentyps verbunden. Wir befinden uns in der Epoche der Massengesellschaften und des Massenmenschen. Neben den Qualitäten, die allen, die die Völker lenken und verbinden, gemeinsam sind, müssen die Führer auch über die eher magischen Eigenschaften eines Propheten verfügen, die Bewunderung und Enthusiasmus hervorrufen. Man könnte die Massen mit einem ohne Fundament und ohne Mörtel aufgeschichteten Haufen Backsteine vergleichen, der aufgrund des fehlenden Bindemittels vom geringsten Windstoß zum Einsturz gebracht wird. Indem der Führer jedem einzelnen den Eindruck einer persönlichen Beziehung vermittelt, indem er ihn an jeweils derselben Idee, an einer jeweils identischen Weltsicht teilhaben läßt, bietet er ihm einen Ersatz für die Gemeinschaft, den Anschein einer direkten Verbindung von Mensch zu Mensch. Es bedarf nur einiger treffender Bilder, einer oder zweier wohltönender und das Herz ansprechender Formulierungen oder der Erinnerung an einen großen kollektiven Glauben: Solcherart ist das Bindemittel, das die Individuen verbindet und das Gebäude der Massen zusammenhält. Grandiose Zeremonien, häufige Versammlungen, Manifestationen der Stärke oder des Glaubens, Zukunftsprojekte, denen jeder zustimmt usw., der ganze Pomp um die Verschmelzung von Energien und die Unterwerfung unter den kollektiven Willen schafft eine theatralische und überschwengliche Atmosphäre.

Der Führer hebt sich ab von der menschlichen Flut, welche ihn mit ihren Beweihräucherungen und ihren Huldigungen überhäuft. Er fasziniert durch sein Bild, verführt durch seine Rede und übt einen bestrickenden Schrecken aus. In den Augen der atomisierten Mengen, der massenweise überwältigten isolierten Individuen ist er die Individuum gewordene Masse. Er gibt ihr seinen Namen, sein Gesicht und seinen aktiven Willen.

Napoleon hat es auf bewundernswerte Weise verstanden, diesen Eindruck für die Soldaten der Armee der französischen Revolution zu schaffen. Und Stalin ist es gelungen, für die Kommunisten der ganzen Welt zu verwirklichen, was Michelet den "Einklang des Volkes in einem Manne" genannt hatte. Der eine wie der andere haben sich die grenzenlose Ergebenheit der Mengen gesichert, denen als Vorbild zu dienen sie sich vorgenommen hatten. Die Verwandlung der vielköpfigen Masse in ein einziges Wesen verleiht dem Führer eine ebenso sichtbare wie unerklärliche Anziehungskraft. Aus dieser außergewöhnlichen Verbindung resultiert ein Ganzes, eine verführerische Persönlichkeit, die einnimmt und fesselt, sobald sie spricht oder handelt. Aber die Kunst, die zu solchen Zwecken aufgeboten wird, erfaßt zuerst die Emotionen, dann die Saiten des Glaubens und wendet sich schließlich an die Hoffnungen der Wünsche. Die Mittel der Vernunft spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Genau betrachtet ist in unseren Massengesellschaften die Kunst, die Massen aufzupeitschen, die Politik, eine auf die Füße gestellte Religion.

0.3

Für die Massenpsychologie geht es also darum, herauszufinden, was den Führer an das Volk bindet wie an seinen Schatten. Es ist offensichtlich die Macht. Das Volk hat sie erobert und hält an ihr fest. Den Führer dürstet nach ihr ebensosehr wie den Gläubigen nach dem Leben nach dem Tode. Tatsächlich beginnt der Kampf, den er zu ihrer Eroberung führt, als aufrichtiges Streben nach Gerechtigkeit. Er will die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit beseitigen, sich die Mittel an die Hand geben, eine verschwenderische und ineffiziente Wirtschaft zu sanieren, den Benachteiligten zu dem Wohlstand verhelfen, ohne den das Leben elend ist, und auch das Ansehen der Nation wiederherstellen. Ausgehend von einer Periode der Krise, des Krieges oder der Revolution fordert dieses Programm Sinn für Effizienz, eine bessere Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten.

Man glaubt gemeinhin, daß das Chaos herrscht, wo – im strikten Sinne des Wortes – Anarchie herrscht: Fehlen jeglicher Autorität, der eines Menschen wie der einer Partei. Das ist ein Irrtum. Aber dank dieses Irrtums kann der Führer, wer immer er sein mag, seine Macht im Innern auf Kosten seiner Rivalen festigen, indem er in den Institutionen und in der Produktion die Ordnung wiederherstellt. Diese Erfolge erlauben es ihm, die Massen für sich zu gewinnen, sie mit seinen Kämpfen zu identifizieren und ihnen die erforderlichen Opfer abzuverlangen.

Das erste Opfer besteht darin, auf die Kontrolle der Macht und auf die Befriedigungen, welche die Freiheit verschafft, zu verzichten, damit er, seine Vertrauten und seine Anhänger besser befehlen und besser gehorchen lassen können – auf dem kürzesten und schnellsten Wege. So wird die Inbeschlagnahme der Autorität unter Rückgriff auf unerlaubte Tricks beschleunigt. Und das Volk in seinem grenzenlosen Vertrauen gestattet und billigt die abnormen Methoden der Überwachung, der Verdächtigung und der Unterdrückung. So geht das in vielen Bereichen: Man beginnt unter Achtung der Grundregeln und endet damit, sie zu unterlaufen. Was anfangs nur ein vorübergehendes Zugeständnis an die Umstände zu sein schien, stellt sich als Abdankung auf Dauer heraus: die der gesetzgebenden Versammlungen vor Napoleon, die der Sowjets vor Stalin, wie sie in den Arbeiten der Historiker belegt sind.

All diese Umtriebe gehen einher mit einer um den Führer zentrierten Neuorchestrierung der Ideen, die ihn an die Spitze getragen haben. Denn ohne solche Ideen sind die Schwerter von Pappe, ist die Macht ein Strohfeuer. Alle Wahlen, alle Handlungen des täglichen Lebens, die Arbeit, die Liebe, die Suche nach der Wahrheit, die Zeitungslektüre usf. werden ebenso zu Plebisziten über seinen Namen. Seine Autorität, die er durch Zustimmung der Massen oder durch Erpressung im Nachhinein erhalten hat, leitet sich aus allgemeinen Wahlen her, das heißt, sie hat eine demokratische Form. Vergessen wir nicht, daß selbst Hitler und Mussolini nach ordnungsgemäßen Wahlen, die sie später in Staatsstreiche umwandelten, Regierungschefs geworden sind. Kurz, in all diesen Fällen vertreibt man die gesellschaftliche Anarchie, um so besser die Gewalt und Subordination einführen zu können.

Was man im Osten Personenkult und im Westen Personalisierung der Macht nennt, das sind trotz der enormen Unterschiede nur zwei extreme Varianten ein und desselben Tauschgeschäfts. Das Volk verzichtet alltäglich auf die Lasten der Souveränität und bestätigt diese Geste bei jeder Umfrage, bei jeder Wahl. Im Austausch dafür ist die Eroberung des Rechtes, diese Souveränität auszuüben, durch den Führer nicht minder alltäglich, sie ist diesem niemals endgültig sicher. Die "Massenführer", wie sie Le Bon nannte, vollziehen diesen Tausch auf geschickte Weise und bringen die Masse dazu, dessen Bedingungen enthusiastisch zu akzeptieren. Darin befolgen sie auf den Buchstaben die Grundregel der politischen Gesellschaft, die besagt, daß die Masse zwar herrscht, aber nicht regiert.

0.4

Es gibt ein Mysterium der Massen. Die Zaghaftigkeiten des gegenwärtigen gesellschaftlichen Denkens hemmen unsere Neugierde. Die Lektüre der klassischen Autoren dagegen hält sie wach. Man mag dieses Mysterium wohl mit Stillschweigen übergehen, es verfälscht darstellen oder es sogar vergessen, aber es ist unmöglich, es endgültig zu beseitigen, es zu vernichten. Erst kürzlich schrieb der sowjetische Philosoph Sinowjew in seinem Buch Ohne Illusionen:

Normalerweise entgehen solche Phänomene der Massenpsychologie der Aufmerksamkeit der Historiker, die sie für unwesentlich halten und für etwas, das keine sichtbaren Spuren hinterläßt. Aber ihre Rolle ist dennoch sehr groß.

Besser und knapper könnte man es nicht sagen. Die Massenpsychologie ist entstanden, als sich ihre Pioniere die Fragen stellten, die jedem auf der Zunge lagen: Wie üben die Führer eine solche Macht auf die Massen aus? Ist der Massenmensch aus einem anderen Holz geschnitzt als der Einzelmensch? Verlangt ihn nach einem Führer? Was ist es schließlich, was unser Zeitalter zu dem der Massen macht? Der Erfolg der auf diese Fragen gegebenen Antworten war so überwältigend, daß man sich das heute kaum vorstellen kann. Diese Psychologie hat großen Einfluß auf die Politik, die Philosophie und sogar die Literatur ausgeübt, und ihr Vormarsch hält unvermindert an. Gewiß, sie wiederholte schon bekannte Tatsachen, Ideen, die schon die Dichter, die politischen Denker und die Philosophen popularisiert hatten. Aber sie warf ein neues Licht auf sie und enthüllte überraschende Aspekte der menschlichen Natur. Aus ihren Analysen ist das Profil der Massengesellschaft hervorgegangen, wie wir es heute kennen. Zu einem Zeitpunkt, da diese Gesellschaft vielleicht ihrem Niedergang entgegengeht.

Ich kann die Tragweite der Analysen, die Le Bon, Tarde und Freud, die drei Pioniere dieser Wissenschaft, der Lösung des Mysteriums gewidmet haben, gar nicht genug betonen. Und doch habe ich sie, als ich dieses Buch in Angriff nahm, wie alle Welt ignoriert. Anfangs habe ich sie studiert wie ein wißbegieriger Liebhaber alter Bücher, habe versucht sie zu präzisieren, ihre Ursprünge zu rekonstruieren und sie auf die Zeit zu beziehen, in der jeder Autor sie durchgeführt hat. Indem ich den Staub, welcher ein Gutteil dieser Schriften, namentlich die Le Bons und Tardes, bedeckte, abklopfte, gedachte ich, wenn man so will, ein Versäumnis wieder wettzumachen, eine Lücke in unserem Wissen zu schließen. Aber mit dem Fortschreiten meiner Arbeit ist mir klar geworden, daß ich, wenn ich der gängigen Meinung folgte, einen falschen Weg einschlug. Es wurde mir klar, daß diese Schriften nicht nur die Überreste eines Werkes sind, das die Prüfung der Zeit nur schlecht überstanden hat, Relikte, denen man zu Recht die neueren, die, wie man sagt, an der Spitze des Fortschritts stehenden Schriften vorzieht.

In Wahrheit hat man sich seit fast einem Jahrhundert häufig darauf beschränkt, sie zu wiederholen und zu paraphrasieren, in einer weniger derben, gewählteren, also vergleichsweise heuchlerischen Sprache. Gewiß, man hat in der Zwischenzeit Fortschritte gemacht, hat neue Perspektiven eröffnet, aber das in einem Rahmen, den sie vorgezeichnet hatten. Ich habe die augenscheinliche Übereinstimmung von Fragen und Antworten der Massenpsychologie, die enge Beziehung, die die Arbeiten ihrer Autoren verbindet, feststellen können. Das verpflichtet, sie gemeinsam zu behandeln, jeden von ihnen ausgehend von den anderen zu begreifen. So habe ich mich ihnen letzten Endes genähert wie ein Reisender, der einen unbekannten Ort betritt, ein Haus nach dem andern besucht, eine Straße nach der andern erforscht, um plötzlich zu entdecken, daß er eine nach einem bestimmten Plan gebaute Stadt durchstreift und diesen Plan mit einem einzigen Blick erfaßt.

Es ist also der Plan der Wissenschaft von den Massen, den ich hier herauszuarbeiten versuche. Ich präzisiere: Es geht nicht darum, die Ideen eines jeden Autors darzulegen, sondern darum, eine Verbindung zwischen ihnen zu suchen und die Grundlagen, auf denen sie beruhen, herauszuarbeiten. Ich habe mich zunächst gefragt, wie wohl die klassische Architektur der Massenpsychologie aussieht und welcher Wert den wissenschaftlichen Baustoffen, mit denen man sie konzipiert hat, zuzumessen ist. Dann habe ich für jede Theorie das unternommen, was man eine logische Rekonstruktion nennt, um die Fortschritte aufzuzeigen, die ihr Schöpfer erzielt hat, indem er auf die von seinen Vorgängern offengelassenen Fragen eine Antwort gab. Ich muß sogleich hinzufügen, daß diese Fortschritte auf ein kohärentes System verweisen, das man übernehmen oder ablehnen kann, dessen Existenz aber nicht zu leugnen ist. Um dieses System zu erstellen, bin ich schließlich auf Auswirkungen eingegangen, die diese Wissenschaft gehabt hat, und habe ihr so eine Aktualität verliehen, welche sie nur scheinbar verloren hatte.

Ich mußte so vorgehen, denn die der Massenpsychologie gewidmeten Werke von Le Bon, Tarde und Freud sind alle bunt gemischt, fragmentarisch, wiederholend und unvollendet. Keiner dieser Begründer hat sein Vorhaben zu Ende gebracht, sei es wegen der Schwierigkeit der Aufgabe, sei es wegen der Grenzen, die ihnen das eigene Leben setzte. Oft hat man es eher mit Gedankenblitzen als mit strenger Begrifflichkeit zu tun. Aus diesem Grund habe ich, um die Aufgabe der logischen Rekonstruktion, welche immer eine Neuschaffung bedeutet, zu erfüllen, die Grundprinzipien vereinfacht. Ich habe auf diese Weise die Überlegungen eines jeden Autors auf die Spitze getrieben und den Verbindungen zwischen diesen Überlegungen mehr Kohärenz verliehen, als sie tatsächlich hatten. Hier und da mußte ich gar Begriffe schaffen, die aus diesen Überlegungen nur abgeleitet sind. Ohne sie wäre die Theorie unvollständig geblieben. Mit diesem Vorgehen habe ich sie, so glaube ich, neu gestaltet. So wie man sich vorgenommen hat, die Mechanik oder die Ökonomie zu vollkommen analytischen Wissenschaften zu machen, so habe ich durchweg versucht, aus der Massenpsychologie eine analytische Wissenschaft zu machen (was bisher niemand unternommen hat und was die Gegebenheiten schwierig erscheinen lassen). Der Leser wird hier also weniger die Ideen Le Bons, Tardes oder Freuds als vielmehr die Architektur der von ihnen gemeinsam errichteten Wissenschaft finden.

0.5

Ich komme damit zum letzten Punkt, den ich hier anführen muß: zur Position des Verfassers. Das System der Massenpsychologie zu rekonstruieren ist trotz der Fülle des Materials keine leichte Aufgabe. Darüber hinaus ist es eine mühevolle Aufgabe. Bei jedem Schritt stößt man auf eine – gelinde gesagt – wenig schmeichelhafte Schilderung des öffentlichen Lebens, der Führer und der Massen. Man findet dabei all die Qualitäten als notwendig beschrieben, die die Macht unerträglich machen: die Geringschätzung der Vernunft, die hinterlistige Gewalt und den Despotismus.

Nicht weniger trostlos erscheint das Bild der Massen: nach Unterwerfung lechzend, von ihren Trieben beherrscht und, per definitionem, unbewußt. Zudem läßt diese Wissenschaft bei ihren Hypothesen die ökonomischen, historischen und technischen Faktoren außer acht, die den Inhalt der Macht bestimmen und die Entwicklung der Gesellschaften erklären, Faktoren, die uns selbstverständlich sind. Was auch immer ihre politischen Positionen sind, die Massenpsychologen vertreten den Primat des Psychischen im kollektiven Leben. Sie kritisieren die herrschenden Theorien von Durkheim und Marx, weil sie die affektiven und unbewußten Kräfte unberücksichtigt lassen. Das ist ihre Achillesferse, wenn sie von der Welt der Ideen in die Welt der Tatsachen übergehen wollen. Überdies geben sie auf die alte Frage: Ist der Mensch gut? Ist er schlecht? die Antwort, daß er in der Masse eher schlecht sei, als sei dies wissenschaftlich erwiesen. Das heißt, man glaubt, das sicherste Mittel, der Falle der großen Gefühle zu entgehen und klaren Kopf zu bewahren, bestünde darin, der Maxime des Philosophen Bradley zu folgen: "Wenn eine Sache schlecht ist, ist es gut, das Schlimmste zu kennen." Also sich nicht die geringsten Illusionen machen. Eine glückliche Überraschung ist besser als eine sichere Enttäuschung.

Das ist, man kann es sich denken, weit entfernt von der gewohnten Ehrfurcht vor einer Wissenschaft, die inspiriert ist von der Philosophie der Aufklärung und der Gewißheit, daß jedes Drama der Gegenwart ein happy end in der Zukunft findet. Und doch habe ich, selbst nach beharrlichem Nachdenken über die Grundlagen der Massenpsychologie, große Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Eben weil ich mich gegen ihre Sicht des Menschen und der Gesellschaft sträube, die so sehr im Widerspruch steht zu den Überzeugungen, die ich in mehreren meiner Bücher vorgebracht habe. Es gelingt mir nicht, in ihre Musik einzustimmen, die mit dem Titel eines Liedes von Schubert charakterisiert werden könnte: "In die tiefsten Felsengründe." Gewiß, auch ich bin ganz und gar der Ansicht, daß man sich davor hüten muß, den Menschen und die Gesellschaft zu idealisieren. Und daß es in Anbetracht unserer Erfahrungen in der jüngeren Geschichte heilsam ist, die Illusionsfabriken niederzureißen. Aber es scheint mir schwer, gewissen Idealen von Demokratie und Freiheit eine Notwendigkeit, ja eine gesellschaftliche Macht abzusprechen. So hat man schon immer Menschen dafür kämpfen sehen, diesen Idealen zum Sieg zu verhelfen und einen Zustand zu verändern, der aufgrund seiner Dauer sogar zum Schicksal unserer Gattung geworden zu sein scheint: oben die Führer, unten die Geführten.

Darin liegt die eigentliche Schwierigkeit: Je mehr man die Massenpsychologie untersucht, desto offenkundiger wird es, daß sie ihre Macht eben aus ihrer Weigerung, die Menschen durch die Brille der gängigen Moral zu betrachten, und aus der Hartnäckigkeit bezieht, mit der sie in Anbetracht der Tatsache, wie wir sind, wiederholt, daß unsere Ideale noch lange Zeit unerreichbar sein werden. Man kann ihren Pionieren diese Sicht der Dinge vorwerfen und sie wegen ihres konservativen Charakters, aus dem niemand ein Geheimnis macht, ablehnen. Damit betrachtete man sie allerdings als Durchschnittsmenschen, die nicht über den Zaun ihrer sozialen Klasse und ihrer Epoche hinausgesehen haben. Nun muß man aber verstehen, daß ihre Theorien aus dem Nachdenken über die liberale Demokratie, deren Anhänger sie waren, und über den Verlauf der Revolutionen, deren Zeugen sie in unserem Jahrhundert waren, entstanden sind. Und ihr Nachdenken schöpft aus dem uralten Quell des common sense, den die Herren der Welt und die Völker sehr gut kennen. Aus dieser Komplizenschaft mit dem common sense bezieht die Massenpsychologie ihren Reiz, und zwar so stark, daß sie den Eindruck vermittelt, sie rühre an unveränderliche Tendenzen der menschlichen Gesellschaften.

Das Beunruhigendste bleibt indes die Praxis, das heißt der Erfolg der Anwendung ihrer Ideen. Sie mögen bald trivial sein, bald die Grenzen des Lächerlichen streifen, sie haben gleichwohl in den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit und sogar der Gegenwart eine fast zu perfekte Bestätigung erfahren, wie mehrere scharfsinnige Beobachter hervorgehoben haben.

Dieser Erfolg läßt sie am Ursprung zu vieler Dinge in unserer Gesellschaft stehen, als daß wir sie ignorieren könnten. Die Massenpsychologie hält zumindest einen der Schlüssel zur Macht der Führer in unserer Epoche in Händen. Und Pläne für die Demokratie zu schmieden, bleibt so lange leichtfertig, solange man nicht zu erfahren sucht, wie und warum diese Macht sie einschränkt oder aus den Angeln hebt. Das ist die Absicht, die mit diesem Buch verfolgt wird: So weit wie möglich in eine Wissenschaft einzudringen, die unsere Epoche ohne Milde betrachtet, die Beherrschung des Menschen durch den Menschen unnachsichtig beim Namen genannt und die Rezepte für die Ausübung dieser Herrschaft in den Massengesellschaften entdeckt hat. Ich lehne ihre Sicht der Geschichte ab, ich bezweifle deren Richtigkeit, aber ich akzeptiere sie als eine Tatsache.

Hier nun also der Aufbau dieses Buches: Im ersten Teil lege ich die Gründe für die Entstehung der Wissenschaft von den Massen und die von ihr behandelten Themen dar. Der zweite und dritte Teil sind ihrer Begründung durch Le Bon gewidmet, zunächst der Beschreibung der Massen, dann der des Führers und schließlich der Methode, die er zur Beherrschung der Massen propagiert hat. Eine Methode, die durch die moderne Propaganda und Werbung zum Gemeingut geworden ist. Im vierten und fünften Teil zeige ich, wie Tarde diese Beschreibung auf die Gesamtheit der Formen gesellschaftlichen Lebens übertragen und die Macht der Führer über die Massen analysiert hat. Sein entscheidender Beitrag bleibt seine stets aktuelle Theorie der Massenkommunikation. Dabei wird eine verborgene Seite der Humanwissenschaften in Frankreich zum Vorschein kommen. In den letzten vier Teilen schließlich rekonstruiere ich, von mehreren Entwürfen ausgehend, die Erklärung, die Freud den Massenphänomenen gegeben hat. Synthese und Krönung der Arbeiten seiner Vorgänger, verwandelt sie – allerdings von einem anderen Standpunkt aus – deren Hypothesen in Ableitungen aus einem System. Sie ist in Wirklichkeit die einzige Erklärung dieser Psychologie, über die wir verfügen. Man kann sie mithin für klassisch halten.

Die Wissenschaft von den Massen

Das Individuum und die Masse

1.1.1

Wenn man mich nach der bedeutendsten Erfindung der Neuzeit fragte, antwortete ich ohne zu zögern: das Individuum. Und das aus einem einleuchtenden Grund: Vom ersten Auftreten unserer Spezies bis zur Renaissance hat der Mensch als Horizont immer nur das Wir gehabt, seine Gruppe oder seine Familie, an die ihn starke Verpflichtungen banden. Aber von dem Augenblick an, da die großen Reisen, der Handel und die Wissenschaft dieses von der Menschheit unabhängige Atom, diese mit eigenen Gedanken und Gefühlen ausgestattete Monade, die Rechte und Freiheiten hat, freigelegt hat, von diesem Augenblick an hat sich der Mensch in die Perspektive des Ich gestellt. Das ist keine einfache Situation. Ein Individuum, das diesen Namen verdient, muß sich seiner Vernunft entsprechend verhalten. Es muß, so nehmen wir an, die Geschöpfe und die Dinge ohne Leidenschaft beurteilen und im vollen Bewußtsein seiner Verantwortung handeln. Es kann die Ansichten anderer nicht guten Gewissens akzeptieren, wenn es sie nicht zuvor überprüft und unvoreingenommen wie ein Gelehrter Für und Wider abgewogen hat, ohne sich dem Urteil der Autorität oder der Mehrheit zu unterwerfen. Wir erwarten also von jedem, ob er nun allein oder in Gesellschaft mit seinesgleichen sei, daß er überlegt handelt, geleitet von seinem Verstand und seinem Interesse.

Doch die Erfahrung zeigt, daß dem nicht so ist. In dem einen oder dem anderen Augenblick unterwirft sich jedes Individuum passiv den Entscheidungen seiner Führer, seiner Vorgesetzten. Ohne nachzudenken akzeptiert es die Ansichten seiner Freunde, seiner Nachbarn oder seiner Partei. Es übernimmt die Einstellungen, die Sprache und den Geschmack seiner Umgebung. Was noch schwerer wiegt: Wenn eine Person sich einer Gruppe anschließt, wenn sie einmal von einer Masse geschluckt ist, wird sie zu Exzessen von Gewalt oder Panik, von Enthusiasmus oder Grausamkeit fähig. Sie begeht Handlungen, die ihr Gewissen mißbilligt, und die ihren Interessen widersprechen. Unter diesen Umständen geschieht alles so, als habe sich der Mensch völlig verändert, als sei er ein anderer geworden. Das also ist das Rätsel, auf das wir immer wieder stoßen, und das nicht aufhört, uns zu verwundern. Der englische Psychologe Bartlett zitiert in einem klassischen Werk die Äußerung eines Staatsmannes, der es klipp und klar formuliert:

Das große Mysterium allen Verhaltens ist das soziale Verhalten. Mein Leben lang habe ich es studieren müssen, aber ich kann nicht behaupten, es zu verstehen. Ich mag den Eindruck haben, einen Menschen durch und durch zu kennen, und doch wagte ich nicht, das Geringste darüber zu sagen, was er in einer Gruppe tun wird.

Worauf läßt sich diese Unsicherheit zurückführen? Warum ist es nicht möglich, das Verhalten vorherzusagen, das ein Freund oder ein Verwandter an den Tag legt, wenn er sich auf einem Kongreß, in einer Parteiversammlung, in einer Geschworenenjury oder in einer Masse befindet? Seit eh und je gibt man auf diese Frage die folgende Antwort: Das kommt daher, daß die Individuen in einer sozialen Situation nicht mehr in vollem Bewußtsein handeln, daß sie nicht mehr ihre Fähigkeiten ausschöpfen. Im Gegenteil! Weit davon entfernt, sich zu addieren und einander zu verbessern, haben ihre Qualitäten das Bestreben, sich gegenseitig abzuschwächen und zu beeinträchtigen. Das Niveau einer menschlichen Kollektivität liegt in Wirklichkeit bei dem ihrer schwächsten Mitglieder. So können alle an der gemeinsamen Aktion teilnehmen und sich auf gleicher Stufe fühlen. Es gibt also keine Grundlage für die Behauptung, die Handlungen und Gedanken pendelten sich im "Durchschnitt" ein, sie treffen einander vielmehr auf der untersten Ebene. Das Gesetz der Zahl wäre das der Mittelmäßigkeit: Das was allen gemein ist, mißt sich an der Elle derer, die am wenigsten besitzen. Kurzum, in einer Kollektivität werden die ersten die letzten sein.

Man hätte keine Mühe, eine umfangreiche Sammlung zusammenzutragen, die zeigte, daß diese Auffassung bei allen Völkern weit verbreitet ist. So behauptete Solon, daß ein Athener für sich genommen ein schlauer Fuchs sei, daß man es aber, wenn man die Athener zur Versammlung auf dem Pnyx zusammenbrachte, mit einer Herde von Schafen zu tun habe. Friedrich der Große hatte die beste Meinung von seinen Generälen, wenn er sich mit jedem einzeln unterhielt. Aber er sagte von ihnen, daß sie, sobald sie im Kriegsrat versammelt seien, nichts als ein Haufen von Schwachsinnigen seien. Grillparzer behauptete, daß der Mensch als einzelner erträglich sei, sich in der Masse dagegen allzusehr der Tierwelt nähere, und Schiller dichtete:

Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig; sind sie in corpore, gleich wird ein Dummkopf daraus.

Die deutschen Dichter sind nicht die einzigen, die zu diesem Urteil kamen. Lange vor ihnen hatten die Römer ein Sprichwort geprägt, das sich außergewöhnlicher Bekanntheit erfreuen sollte: Senatores omnes boni viri, senatus romanus mala bestia, die Senatoren sind alle gute Männer, der römische Senat ist eine Bestie. So charakterisierten sie den Kontrast zwischen den mutmaßlichen Qualitäten eines jeden einzelnen Senators und dem Mangel an Klugheit, Überlegung und moralischer Festigkeit, der die gemeinsamen Beschlüsse der erlauchten Versammlung befleckte, von denen dann Krieg und Frieden in der antiken Welt abhingen. Albert Einstein bezog sich auf dieses Sprichwort mit dem Ausruf: "Wieviel schweres Leiden bringt der Menschheit diese Tatsache, Kriege und Unterdrückungen jeder Art, die die Erde mit Schmerz, Seufzern und Erbitterungen erfüllen."

Der italienische Philosoph Gramsci, der über vielfältige Erfahrungen mit Menschen verfügte und lange über das Wesen der Massen nachgedacht hat, gab dem Phänomen eine sehr scharfsinnige Interpretation. Nach ihm hat das Sprichwort die folgende Bedeutung:

Daß eine Menge von Personen, von unmittelbaren Interessen beherrscht, oder von Leidenschaften, die durch augenblickliche, unkritisch von Mund zu Mund gehende Eindrücke hervorgerufen wurden, sich zu der schlimmsten gemeinsamen Entscheidung zusammenfindet, die den niedrigsten tierischen Instinkten entspricht. Die Beobachtung ist richtig und realistisch, solange sie sich auf die zufällige Volksmenge bezieht. Sie ist wie eine "zufällige Menschenansammlung unter einem Regendach während eines Wolkenbruchs", ohne Verantwortung gegenüber anderen Menschen oder Menschengruppen oder gegenüber einer konkreten ökonomischen Wirklichkeit, deren Zusammenbruch sich im Unglück der Individuen niederschlägt.

Diese Interpretation hebt die zwei Aspekte einer einzigen fundamentalen und sich immer wieder aufdrängenden Tatsache hervor: Für sich genommen, ist jeder von uns letzten Endes vernünftig; zusammen mit anderen, in einer Masse, bei einer politischen Versammlung, aber auch in einer Gruppe von Freunden, sind wir alle bereit, die schlimmsten Dummheiten zu begehen.

1.1.2

Immer wenn sich Individuen versammeln, kann man beobachten, wie sich alsbald eine Masse herausbildet. Sie brauen sich zusammen, sie vermischen sich, sie verwandeln sich. Sie erlangen eine gemeinsame Natur, die die jeweils eigene erstickt, sie erleben, wie sich ihnen ein kollektiver Wille aufdrängt, der ihren Einzelwillen zum Schweigen bringt. Ein solcher Druck stellt eine echte Bedrohung dar, und nicht wenige Menschen haben das Gefühl, verschlungen zu werden. Angesichts dieses leibhaftigen sozialen Tieres, das sich bewegt und krabbelt und kribbelt, denken manche Individuen an Rückzug, bevor sie sich dann blindlings hineinwerfen, andere durchleben eine regelrechte Phobie. All diese Reaktionen bezeugen die Macht der Masse, ihren psychischen Widerhall, und quer durch dessen verschiedene Formen die Auswirkungen, die man auf sie zurückführt. Maupassant hat uns davon eine wunderbare Beschreibung gegeben, deren Präzision nur wenige Gelehrte erreicht haben. Er schreibt:

Im Übrigen stoßen mich die Massen auch noch aus einem anderen Grund ab. Ich kann weder ein Theater betreten noch an einem Volksfest teilnehmen. Ich verspüre dort sogleich ein seltsames, unerträgliches Unbehagen, eine gräßliche Nervosität, so als ob ich mit all meiner Kraft gegen einen unwiderstehlichen und unerklärlichen Einfluß ankämpfte. Und ich kämpfe tatsächlich gegen die Massenseele, die in mich einzudringen versucht. Wie oft habe ich festgestellt, daß die Intelligenz zunimmt und sich hebt, sobald man alleine lebt, während sie abnimmt und absinkt, sobald man sich wieder unter andere Menschen mischt. Die Berührungen, die Ideen, die verbreitet werden, alles, was man sagt, alles was man zu hören, zu verstehen und zu beantworten gezwungen ist, wirkt auf das Denken. Ein Hin und Her von Ideen geht von Kopf zu Kopf, von Haus zu Haus, von Straße zu Straße, von Stadt zu Stadt, von Volk zu Volk, und für die ganze vielköpfige Ansammlung von Individuen pendelt sich ein gemeinsames Niveau, ein Intelligenzdurchschnitt ein. Die Qualitäten der intellektuellen Initiative, des freien Willens, der verständigen Überlegung und selbst der Klarsichtigkeit, die jeder besitzt, wenn er für sich ist, verschwinden im allgemeinen, sobald er sich in einer großen Menge von Menschen befindet.

In diesen Zeilen steckt zweifellos ein ganzer Katalog Maupassant’scher Vorurteile; man spürt seine Voreingenommenheit gegenüber der Masse und seine Überschätzung des Individuums. Diese Vorurteile sind die seiner Zeit und seiner Klasse. Doch seine Beschreibung der sich entwickelnden Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv (bzw. zwischen Künstler und Menge) mit ihren drei Phasen – instinktive Furcht, ängstliches Schwanken, gefolgt von einer unwiderstehlichen Neigung zur Selbstaufgabe, schließlich die gewaltige Zirkulation mysteriöser, fast spürbarer, wenn nicht gar sichtbarer Beeinflussungen – ist von einer unüberhörbaren Wahrheit.

Das Eintauchen in die Masse soll eine Nivellierung der Intelligenzen, die Lähmung der Initiativen, die Kolonialisierung der individuellen Seele durch die kollektive haben. Das sind nicht die einzigen Effekte, aber die am häufigsten genannten. Das Gefühl des Abgestoßenseins, das Maupassant verspürt, läßt ihn zwei Ursachen für das erlebte Unbehagen bestimmen: Er glaubt seine Vernunft nicht mehr gebrauchen zu können, und seine Reaktionen erscheinen ihm emotional exzessiv und übertrieben. Er beginnt sich Fragen zu stellen, eben die, die sich auch die Wissenschaftler, die sich mit dem beschriebenen Phänomen befassen werden, stellen werden. Er schreibt:

Ein Sprichwort behauptet, daß die Masse "nicht denkt". Aber warum denkt die Masse nicht, wo doch gleichzeitig jeder einzelne in der Masse denkt? Warum hat eine Masse unwiderstehliche Impulse, unbändige Willensregungen, törichte, durch nichts aufzuhaltende Anwandlungen, und warum begeht sie, von diesen unüberlegten Anwandlungen fortgerissen, Handlungen, die keines der ihr angehörenden Individuen beginge? Ein Unbekannter gibt einen Schrei von sich, und schon werden alle von einer Art Raserei erfaßt und werden sich in ein und demselben Impuls, dem keiner zu widerstehen versucht, und fortgerissen von ein und demselben Gedanken, der ihnen trotz der unterschiedlichen Kasten, Meinungen, Anschauungen und Sitten augenblicklich gemeinsam wird, ohne Grund und auch so gut wie ohne Vorwand auf diesen Menschen stürzen, ihn massakrieren, ihn ersäufen, während jeder einzelne, wäre er allein gewesen, unter Einsatz seines Lebens sich beeilt hätte, den zu retten, den er gerade tötet.

Die Treffsicherheit des Tons und die Genauigkeit des Denkens, die aus diesen Zeilen sprechen, bedürfen keines Kommentars. Man könnte es wirklich nicht besser formulieren. In einem Punkt allerdings irrt Maupassant. Nicht nur in besagtem Sprichwort wird den menschlichen Kollektiven und Gruppen die Vernunft abgesprochen. Auch Philosophen sind dieser weit verbreiteten Ansicht. Als Beleg zwei Kostproben: "Wahre und profunde Ideen", schreibt Sinowjew, "sind individuell, falsche und oberflächliche sind für die breiten Massen. In seiner Masse neigt das Volk zu Irrtümern und Sensationen." Simone Weil, die französische Philosophin, die für ihren moralischen Eifer allgemein bekannt ist, bekräftigt diese Ansicht:

Aber in Wirklichkeit gibt es eine einzige Ausnahme: den Bereich des Denkens. Hier ist die Beziehung umgekehrt; das Individuum ragt über das Kollektiv, wie etwas über nichts hinausragt, denn das Denken entsteht nur in einem Geist, der mit sich allein ist. Kollektive denken nicht.

Diese Beispiele machen deutlich, daß man sich über einen Grundgedanken weitgehend einig ist: Gruppen und Massen leben unter dem Druck von starken Emotionen, von extremen Gefühlsbewegungen. Und das um so mehr, als ihnen zur Beherrschung ihrer Affekte die Mittel der Intelligenz nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Ein einzelnes Individuum findet seine Persönlichkeit in der Masse entsprechend verändert. Ohne sich dessen übrigens immer bewußt zu sein, wird es ein anderes. Über sein "Ich" hinweg spricht die Stimme des "Wir".

Ich habe mir (und dem Leser) etwas Zeit genommen, um auf diese Ideen einzugehen, denn im allgemeinen geht man unter dem Vorwand, sie seien Gemeingut, allzu leicht darüber hinweg. Man verliert letztlich kein Wort über sie; dabei sind sie die Grundlage so vieler sozialer Beziehungen und Handlungen.

1.1.3

Das Problem, das sich stellt, ist das folgende: Am Anfang gibt es nur Individuen. Wie gelangt man, ausgehend von diesen sozialen Atomen, zu einer kollektiven Gesamtheit? Wie kann sich jeder einzelne seine Meinung bilden und zugleich die äußern, die von außen an ihn herangetragen wird? Nun, das Individuum verleibt sich, ohne es zu wollen, die Gesten und Gefühle ein, die man ihm souffliert. Es läßt sich zu gewalttätigen oder orgiastischen Aktionen hinreißen, deren Ursprung es so wenig kennt wie ihr Ziel, auch wenn es überzeugt ist, beides zu kennen. Es meint sogar, Dinge zu sehen, die gar nicht existieren, und schenkt jedem Gerücht Glauben, das an sein Ohr dringt, ohne es auf seinen Wahrheitsgehalt zu überprüfen. So verfallen zahllose Menschen in sozialen Konformismus. Sie halten, was in Wahrheit der Konsens aller ist, für das Werk der Vernunft jedes einzelnen.

Das Phänomen, das für eine derart ungewöhnliche Metamorphose verantwortlich ist, ist die Suggestion oder der Einfluß. Es handelt sich dabei um eine Art Einwirkung auf das Bewußtsein: Eine Anordnung oder eine Mitteilung führen dazu, daß eine Person, die eigentlich keinen triftigen Grund dazu hat, eine Idee, eine Emotion oder eine Handlung mit voller Überzeugung übernimmt. Die Individuen sind sich dabei nicht bewußt, daß sie beeinflußt worden sind oder daß ihnen etwas suggeriert worden ist, und haben die Illusion eines eigenständigen Entschlusses. Freud hat die Besonderheit dieses Phänomens sehr schön herausgearbeitet:

Ich möchte sagen, die Suggestion kennzeichnet sich vor anderen Akten der psychischen Beeinflussung, dem Befehl, der Mitteilung oder Belehrung und anderen dadurch, daß bei ihr in einem zweiten Gehirn eine Vorstellung erweckt wird, welche nicht auf ihre Herkunft geprüft, sondern so aufgenommen wird, als ob sie in diesem Gehirne spontan entstanden wäre.

Das Rätsel besteht auch in der sich als Konsequenz ergebenden Verkehrung: Jeder glaubt die Ursache dessen zu sein, dessen Wirkung er nur ist, die Stimme zu sein, der er doch nur Echo ist; jeder hat die Illusion, alleine zu besitzen, was er in Wahrheit doch mit allen teilt. Und schließlich entwickelt jeder eine zweite Existenz und verwandelt sich. In Gegenwart anderer wird er ein anderer als der, der er alleine ist. Sein öffentliches Verhalten ist nicht dasselbe wie sein privates.

Ich möchte diesen Überblick mit einer Analogie beschließen: Die Suggestion (oder der Einfluß) ist beim Kollektiv das, was die Neurose beim Individuum ist. Beide setzen voraus:

  • eine Abkehr vom logischen Denken, ja sogar seine Vermeidung, und eine Neigung zum nicht-logischen Denken;
  • eine Spaltung des Individuums in seinen rationalen und in seinen irrationalen Teil, in sein inneres und in sein äußeres Leben.

Im einen wie im andern Fall beobachtet man einen Verlust des Realitätskontakts und des Vertrauens in sich selbst. Als Konsequenz unterwirft sich das Individuum bereitwillig der Autorität der Gruppe oder des Führers (der auch der Therapeut sein kann) und befolgt die Anweisungen des Suggerierenden. Es befindet sich im Krieg mit sich selbst, in einem Krieg, der sein individuelles gegen sein soziales Ich wendet. Das, was es unter der Einwirkung der Kollektivität tut, steht in krassem Widerspruch zu dem, was es für vernünftig und moralisch hält, wenn es sich seiner bewußt ist und seinem Anspruch auf Wahrhaftigkeit Genüge leisten will. Um bei der Analogie zu bleiben: So wie die Beeinflussung das Individuum überfallen und verschlingen kann, bis es in der undifferenzierten Masse aufgegangen ist, wo es nur noch ein Bündel von Nachahmungen ist, so zernagt die Neurose die bewußte Schicht des Individuums, bis seine Worte und seine Gesten nur noch lebendige Wiederholungen seiner traumatischen Kindheitserinnerungen sind.

Die Auswirkungen, die Suggestion und Neurose jeweils nach sich ziehen, sind allerdings offenkundig entgegengesetzter Art. Erstere versetzt das Individuum in die Lage, in der Gruppe zu existieren und nimmt ihm mit der Zeit die Fähigkeit, alleine zu leben. Letztere hindert das Individuum am Zusammenleben mit anderen, sie trennt es von der Masse, um es in sich einzuschließen. Kurz, die Beeinflussung macht sozial, die Neurose asozial. Man könnte endlos die Spannungen aufzählen, die aus diesen beiden antagonistischen Tendenzen, das heißt der, in der Gruppe aufzugehen, und der, sie abzuwehren, resultieren. In der modernen Gesellschaft sind beide überspannt und auf die Spitze getrieben. Sicher ist – und dessen müssen wir uns bewußt sein – der sogenannte kollektive "Wahnsinn" etwas anderes als der sogenannte individuelle "Wahnsinn", und man darf nicht leichtfertig vom einen auf den anderen schließen. Daraus ergibt sich, daß ersterer auf ein Übermaß an Soziabilität zurückzuführen ist, das sich entwickelt, wenn die Individuen in den Sozialkörper eintauchen. Der zweite resultiert aus der Unfähigkeit, mit den anderen zu sein und die für ein Leben in der Gemeinschaft notwendigen Kompromisse zu finden.

Es versteht sich von selbst, daß dieser ganze Vergleich nicht von ungefähr kommt. Von Anfang an waren es dieselben Menschen, die die Suggestion oder den sozialen Einfluß und auch die Neurose untersucht haben. Das erste hat man mit der kollektiven, das zweite mit der individuellen Hysterie in Verbindung gebracht. Man muß einmal mehr den Mut Le Bons und Freuds bewundern, die es gewagt haben, diesen Phänomenen eine wissenschaftliche Bedeutung zu verleihen, der eine, indem er die Suggestion ins Zentrum der Massenpsychologie, der andere, indem er die Neurose in den Mittelpunkt der Individualpsychologie gestellt hat.

Niemand hat diese Hypothesen über den Einfluß oder die Suggestion ernsthaft verifiziert. Man ist immer davon überzeugt, daß im sozialen Leben die am wenigsten edlen Schichten des Psychischen an die Stelle der edleren Schichten treten, daß die heißen Instinkte die kühle Vernunft zurückdrängen, so wie in der Natur die edelsten Energien (Schwerkraft, Elektrizität) sich in die am wenigsten edle Energie, nämlich in Wärme, herabwandeln. Diese Überzeugung trifft sich mit dem Glauben, daß im Kampf der Vernunft gegen die Leidenschaft immer die Leidenschaft den Sieg davonträgt. Und zwar aus dem Grund, daß wir soziale Wesen sind.

Seit Jahrtausenden hegen die Völker derartige Vorstellungen und versuchen zu ergründen, warum die Menschen, für sich genommen, logisch und berechenbar sind, während sie in einer Masse unlogisch und unberechenbar werden. Von dem Augenblick an jedoch, da man daraus eine Wissenschaft machen will, muß man die Ursachen, die für diese Effekte möglicherweise verantwortlich sind, genauestens untersuchen. Nur so kann man dort weiterkommen, wo die Weisheit der Nationen, ihrer Dichter und ihrer Philosophen, auf der Stelle tritt. Das Objekt der Neugierde bleibt dabei unverändert. Es fasziniert uns ebenso wie es jene fasziniert hat.

Der Aufstand der Massen

1.2.1

Zur Entstehung einer Wissenschaft braucht es mehr als das Vorhandensein eines Phänomens – das kennt man bereits seit Jahrtausenden. Es genügt auch nicht, daß seine Absonderlichkeit ein paar Gelehrte anzieht, die sich für das Ungewöhnliche begeistern. Es muß sich darüber hinaus erst, vom Episodischen oder Harmlosen, ausbreiten und auswachsen, bis es einen Punkt erreicht hat, da es jedermann den Schlaf raubt, bis es ein Problem geworden ist, das gelöst werden muß. Wer hat sich mit dem Tausch von Waren gegen Geld beschäftigt, bevor die Waren die Gesellschaft überschwemmten? Wer hat sich um die Hysterie gekümmert, bevor die Geisteskranken eingesperrt wurden und die Geisteskrankheiten sich ausbreiteten? Niemand, oder so gut wie niemand. Ebenso kommt der Suggestion bzw. dem Einfluß die Fähigkeit zu, die Individuen in Masse zu verwandeln. Aber sie wird erst dann aus dem Dunkel des common sense gezogen und ins Rampenlicht gestellt, wird erst dann zum zentralen Thema der Massenpsychologie, als die Massen sich vervielfachen und vergrößern. Jeder meint, überall etwas davon zu entdecken, wenn er die Verwandlung beobachtet, die die Individuen durchmachen, wenn sie in der Menge aufgehen, in der Menge auf den Straßen, in den Büros, bei den politischen Versammlungen etc. Ja, gegen Ende des letzten Jahrhunderts wird die Suggestion, begünstigt durch eine Serie von Krisen, die die Gesellschaft radikal verändern, zu einem allgemeinen Phänomen. Die Symptome sind die folgenden.

Da ist zunächst der Zusammenbruch des Ancien Régime [alte Regierungsform], das den wiederholten Schlägen von Kapital und Revolutionen erliegt. Bei seinem Fall zieht es die traditionellen religiösen und politischen Einheiten ebenso mit sich wie die geistigen Institutionen. Die stabile Welt der Familien, der Nachbarschaften, der ländlichen Gemeinschaften wird brüchig und bröckelt auseinander. Herausgerissen aus der Erde, in der sie verwurzelt waren, aus dem Schutz ihres Kirchturms, werden die Menschen in Massen in die unsichere Welt der sich entwickelnden Städte gespült. Der Übergang von der Tradition zur Moderne wirft eine große Zahl von Individuen, von miteinander unverbundenen sozialen Atomen, auf den Markt. Diese Veränderung beschreibt der deutsche Soziologe Toennies mit seiner berühmten Metapher vom Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft. Genauer gesagt, es findet ein Übergang statt von einer heißen, natürlichen und spontanen Kollektivität, die sich auf die Verbindung des Blutes, auf das Zusammenleben der Nachbarn und auf die Bindekraft der Anschauungen gründet, zu einer kalten, künstlichen und erzwungenen Kollektivität, welche auf dem Kontrakt der Interessen, auf den Vorteilen, die die einen aus den anderen ziehen können, und auf der Logik der Wissenschaft beruht. Diese Metapher hat großen Widerhall gefunden, denn sie illustriert einen der bedeutsamen Aspekte des Bruchs, den es zwischen der Gesellschaft von gestern und der heutigen gegeben hat.

Die rapide Mechanisierung der Industrie – symbolisiert durch die Erfindung der Dampfmaschine – und die geballte Anhäufung von Männern, Frauen und Kindern, die von der Fabrik wie Teig verrührt werden, die von der Maschine diszipliniert und von den Unternehmern ausgebeutet werden, verwandeln die Städte in Schlachtfelder, auf denen die neuen Armen den neuen Reichen gegenüberstehen. In allen Ländern führen diese Effekte zu einem virulenten und massiven Anwachsen der Arbeiterklasse. Sie rüstet sich mit neuen Kampfmethoden aus, etwa dem Streik, und gibt sich neuartige Formen der Organisation, die Gewerkschaften und die Parteien, welche den Menschenstrom kanalisieren, ihn in geordnete Bahnen bringen und dem politischen Spiel neue Regeln geben. Wenn der "Mob" in dieser Epoche auf die Straße geht, dann nicht mehr, um einen Schutzheiligen oder den Karneval zu feiern oder um einen Bauernaufstand zu machen: Er kämpft gegen seine Herren, pfeift die Patrons aus, die sich nicht wie Schutzpatrone benehmen, und fordert sein Recht. Der englische Historiker Hobsbawm vermerkt die Permanenz dieser Forderungen:

Der klassische Mob begann seine Tumulte nicht nur aus Protest, sondern weil er dadurch etwas zu erreichen hoffte. Er nahm an, daß die Behörden seinen Schritten gegenüber empfindlich seien und ihm irgendwelche augenblicklichen Konzessionen machen würden; denn der "Mob" war nicht nur eine zufällige Menschenansammlung, die lediglich durch einen ad hoc bestimmten Zweck verbunden war, sondern als ein permanent existierendes Wesen anerkannt, das sich zwar kaum als solches organisierte.

Dieser Text führt die Existenz der Masse oder des Mobs, den Ort ihrer Zusammenkunft, die Straße, und den fordernden Charakter ihrer Aktion gut vor Augen. Er betont vor allem ihren bedrohlichen Charakter, der die Autoritäten durch seine bloße Gegenwart ins Wanken bringen kann.

Mehr und mehr begeistert sich die Arbeiterklasse für die Ideen einer kommenden Revolution, deren Generalprobe ihre Führer schon inszenieren. Der Sozialismus mag eine neue Idee gewesen sein, den man auf einen unsterblichen Mythos, den Mythos der Gerechtigkeit gepfropft hat. Nichtsdestotrotz weckte er bei vielen Erinnerungen an Terror und Subversion. Und das besonders in Frankreich, wo seit der Großen Revolution Revolutionen und Gegenrevolutionen aufeinander gefolgt waren, ohne daß ein Ende abzusehen gewesen wäre. Hat nicht Auguste Comte erklärt, das Hauptproblem der sozialen Reform sei das des Konsens, der wiedergefundenen moralischen Einheit? So wie die Dinge laufen, sind nicht der Konsens und die Einheit das Problem, sondern die Barrikaden, die sich regelmäßig wiederholenden blutigen Straßenschlachten. Sie sind die Vorboten der kommenden Zeit und sichtbare Zeichen dafür, daß die Massen in die Umlaufbahn der Geschichte eingetreten sind.

Schließlich gibt es noch ein Merkmal der damaligen Epoche: Im Gedränge der großen Städte bildet sich ein neuer Mensch heraus. "Wimmelnde Stadt, Stadt voller Träume" ist die Großstadt für den Dichter, für den Arbeiter dagegen steckt sie voller Ernüchterungen. Auf ihrem riesigen Markt werden am laufenden Band Konsumkultur und Konsumgewohnheiten geschaffen. Nacheinander erscheinen auf der Bühne der Gesellschaft der kollektive Bürokrat, der kollektive Intellektuelle und der kollektive Konsument: Gedanken und Gefühle werden standardisiert. All diese "Zyklotronen", diese gesellschaftlichen Beschleuniger, reduzieren die Individuen zu immer winzigeren Partikeln. Sie zwingen ihnen eine anonyme und ephemere Existenz auf. Die Massenpresse erfüllt schon ihre Rolle als Kommunikationsfabrik: Sie gießt die Gehirne in eine Einheitsform und gewährleistet die Übereinstimmung einer jeden menschlichen Parzelle mit dem vorgeschriebenen Modell. Diese Entwicklung ist auch Gramsci nicht entgangen, der eine "Tendenz zum Konformismus in der gegenwärtigen Welt" konstatiert, "ausgedehnter und tiefgreifender als in der Vergangenheit: Die Standardisierung der Denk- und Handlungsweisen dehnt sich auf ein ganzes Land oder geradezu einen ganzen Kontinent aus".

Er zeigt hiermit das Auftauchen eines neuen Typs Mensch an: des Massenmenschen. Eines Menschen, der ganz und gar von den anderen abhängig ist, und der geformt wird von der Strömung eines außerordentlich verbreiteten Konformismus. In Wahrheit sind es zwei Arten von Konformismus, die auf ihn einwirken: Der eine kommt von oben, von der Minderheit, der andere von unten, von der Mehrheit. Zwischen diesen beiden herrscht ein ständiger Kampf:

Es handelt sich heute um einen Kampf zwischen "zwei Konformismen", das heißt um einen Kampf um die Hegemonie, um eine Krise der bürgerlichen Gesellschaft.

Wenn man den Gedanken Gramscis zuende denkt, gelangt man zu dem Schluß, daß es im Zeitalter des Massenmenschen bei den Konflikten, die die Gesellschaft zerrütten, nicht ausschließlich und vor allem um die Macht geht, die man je nach Kräfteverhältnis ergreift oder abgibt. Es geht vielmehr um den Einfluß, denn er ist das, was, je nachdem, welcher der beiden Konformismen den Sieg über den anderen davonträgt, erlangt oder verloren wird.

1.2.2

Das Bild, welches uns das vergangene Jahrhundert hinterlassen hat, ist eindeutig: ein Jahrhundert der Explosion des gewalttätigen und knetbaren mobile vulgus [mobile Masse]. Der außenstehende Betrachter sieht darin eine Konzentration amorpher menschlicher Materie, in die jedes einzelne der einer Art sozialen Delirs verfallenen Individuen eingeschmolzen ist. Flaubert hat seinen, von dem kollektiven Taumel, der der Revolution von 1848 folgte, erfaßten Helden Frédéric schon vorgestellt:
Der Magnetismus begeisterter Massen hatte ihn ergriffen.

Es ist wohl diese Überschwenglichkeit, die fasziniert und beunruhigt, wenn die sich bewegende Menge die Gestalt eines kollektiven Frankenstein annimmt. So beschreibt Flaubert die Menge, die in das Palais-Royal eindringt, als eine wimmelnde Masse, "die immerzu stieg wie ein von einer Sturmflut der Tag- und Nachtgleiche gestauter Fluß, mit einem langen Aufheulen unwiderstehlich getrieben".

Diese starken Impressionen verleihen dem allgemeinen Bild Dichte: zusammengeschart in sozialen Monaden, intoxiniert durch die mysteriöse Kraft, die jede übererregte Gruppierung absondert, verfallen die Menschen in einen Zustand der Suggestibilität, welcher dem durch Drogen oder Hypnose hervorgerufenen gleicht. Solange die Menschen in diesem Zustand bleiben, werden sie alles glauben, was man ihnen sagt, und alles tun, was man ihnen zu tun befiehlt. Sie werden jeder Aufforderung, so sinnlos sie auch sein mag, Folge leisten. In solchen Fällen werden die Reaktionen der Individuen extremer als sonst, was man bei Wallfahrten und patriotischen Paraden, bei Musikfestivals und politischen Versammlungen beobachten kann. Flaubert entdeckt bei seinem Helden die dem Zustand des Massenmenschen eigenen Symptome:

Dabei schauerte ihn, überströmt von einer ungeheuren Liebe, einer erhabenen, weltumfassenden Rührung, als ob das Herz der ganzen Menschheit in seiner Brust schlüge.

Bis zur modernen Epoche tauchten die Massen allerdings nur sporadisch auf und spielten eine ganz und gar untergeordnete Rolle. Sie bildeten somit kein eigenständiges Problem und erforderten keine eigene Wissenschaft. Von dem Augenblick an, da ihr Auftreten nichts Ungewöhnliches mehr ist, ändert sich die Situation. Wenn man Le Bon glauben darf, ist die Macht der Massen – über Wahlen oder Revolte –, auf den Gang der Ereignisse einzuwirken, eine Neuheit in der Geschichte. Sie ist ein Zeichen für die Veränderung der Gesellschaft. Tatsächlich erscheint diese mehr und mehr als eine Art Zerstäuber: Sie zerreißt die religiösen Glaubensformen, löst die traditionellen Bindungen auf und zerbröselt die Solidarität der Gruppen. Pulverisiert, sind die Individuen ihrer Einsamkeit überlassen: im Kampf mit ihren eigenen Nöten, im Dschungel der Städte, in der Wüste der Fabriken, im Grau der Büros. Diese mannigfaltigen Atome, diese Körnchen, die die Menge ausmachen, vermengen sich zu labilen und gewalttätigen Mischungen. Sie bilden eine Art Gas, das im Vakuum der ihrer Autoritäten und Werte beraubten Gesellschaft zu explodieren droht – ein Gas, dessen Explosivkraft mit dem Volumen zunimmt und überall wirkt. "Während alle unsere alten Anschauungen schwanken und verschwinden", schreibt Le Bon als interessierter Augenzeuge, "und die alten Gesellschaftsstützen eine nach der andern einstürzen, ist die Macht der Massen die einzige Kraft, die durch nichts bedroht wird und deren Ansehen immer mehr wächst. Das Zeitalter, in das wir eintreten, wird in Wahrheit das Zeitalter der Massen sein.

1.2.3

Man kann dieses Bild immer wieder nachzeichnen. Das ist sogar notwendig, um es besser an die Realität anzupassen. Aber darüber, daß die Massen das Symptom eines neuen Zustands der Menschheit sind, einer Revolte von unten, die die gesellschaftliche Ordnung bedroht, besteht Einigkeit. Einigkeit über die Fakten bedeutet indes noch nicht Einigkeit über deren Erklärung. Es ist also keineswegs erstaunlich, daß die Umwälzungen der Geschichte Wasser auf die Mühlen zweier diametral entgegengesetzter Konzeptionen gießen: die Konzeption der Klassengesellschaft und die Konzeption der Massengesellschaft.

Erstere erhielt ihre theoretische Fassung von Marx und Weber, welche sich auf den gemeinsamen Fundus der politischen Ökonomie stützten. Hier sind die Massen die augenfälligen Anzeichen einer neuen Gesellschaftsform, welche von eben diesen entwurzelten und verarmten Menschenmengen bloßgestellt wird, die sich gegen die Unterdrückung durch Bürokratie und Kapital mobilisiert haben. Indem dieses die Menschen zusammentreibt und die Maschinen konzentriert, macht es die Produktivkräfte gesellschaftlich verfügbar und verwandelt die Gesellschaft in einen riesigen Markt, auf dem alles, einschließlich der Arbeit, gekauft und verkauft wird. Es schafft damit eine bis dahin unbekannte Klasse, das Proletariat. Man mag diese Konzeption akzeptieren oder ablehnen, eins steht fest: Sie betrachtet die Klassen als Akteure der Geschichte. Und unter den Klassen hebt sich eine besonders hervor, das Proletariat, Verkünder der neuen Zeit und Sinnbild der kommenden Revolution. Die Mengen, die man in die Städte drängen, im Bürgerkrieg kämpfen und an all den Rebellionen teilnehmen sieht, sind also das Rohmaterial und die Formen der arbeitenden Masse. Diese befindet sich auf unterschiedlichen Stufen des Bewußtseins, die vom passiven Subproletarier bis zum wahren, dem aktiven und heroisierten Proletarier reichen.

Je größer also diese Mengen sind, desto klarer ist ihr Wissen um ihre Kräfte und ihre Ziele, und desto größer wird ihr Einfluß auf die Entwicklung der Gesellschaft sein. Indem sie der Vergangenheit den Rücken kehren und ihre tausend Ketten zerreißen, welche sie an die Religion, an die Nation und an den Aberglauben der herrschenden Klassen binden, heben sie sich empor zu einer neuen, von Wissenschaft und Technik beseelten Welt, während die alte ihrem Schicksal entgegengeht. Erleuchtet von der Sonne der Geschichte, verleiht dieses Modell den kollektiven Bewegungen einen Sinn. Außerdem erklärt es ihre Herkunft von den ersten Anfängen an. Alles übrige sind nur Epiphänomene und Abfallprodukte einer entfremdeten Ideologie.

Die zweite Konzeption hat mehrere Ausarbeitungen erfahren, die sich nach und nach vom Original entfernten, welches mit und innerhalb der Massenpsychologie entstanden ist. Sieht man einmal von ihren Vorläufern, von Taine oder von Toqueville ab, so muß man vor allem Le Bon und Tarde nennen, die das Modell in seinen Grundzügen entworfen haben. "Man kann sagen, daß das wahrscheinlich die heute einflußreichste soziale Theorie in der westlichen Welt ist", bemerkt ein Soziologe zur Hypothese von der Massengesellschaft.

Für diese Hypothese sind die Epiphänomene und die Abfallprodukte, von denen oben die Rede war, die Hauptsache. Ihrer Bindungen beraubt, ohne Privilegien von Geburt oder Rang, desorientiert durch die unaufhörlichen Veränderungen, verleihen die agglutinierten [zusammengeballten] Individuen dem Aufsteigen dieser menschlichen Nebel, welche die Massen sind, in der Tat eine außerordentliche Energie. Gewiß, es hat immer Massen gegeben, unsichtbare, unhörbare. Aber durch eine Art Beschleunigung der Geschichte haben sie ihre Fesseln zerrissen. Sie haben sich empört, sind sichtbar und hörbar geworden. Und wegen ihrer Neigung, alles zu vermengen und gleichzumachen, sind sie sogar zu einer Bedrohung für die Existenz von Individuen und Klassen geworden. Nachdem die Verkleidungen gefallen sind, erkennen wir sie, wie sie sind. Canetti schreibt:

Seit der Französischen Revolution haben diese Ausbrüche eine Form bekommen, die wir als modern empfinden. Vielleicht, weil sich die Masse vom Gehalt der traditionellen Religionen so weitgehend freigemacht hat, ist es uns seither leichter, sie nackt, man möchte sagen, biologisch zu sehen, ohne die transzendenten Sinngebungen und Ziele, die sie sich früher einimpfen ließ.

Schauen wir uns um: Auf den Straßen oder in den Fabriken, in den Parlamentsversammlungen oder in den Kasernen, selbst in den Ferienorten sehen wir nichts als Massen, die sich in Bewegung oder in Ruhe befinden. Manche Individuen gehen durch sie hindurch, als seien sie das Fegefeuer. Andere gehen darin unter, um nie mehr wieder aufzutauchen. Nichts könnte die Tatsache, daß die moderne Gesellschaft zuerst und vor allem eine Massengesellschaft ist, besser umschreiben. Man erkennt das an der Zahl, an der Unbeständigkeit der Bindungen zwischen Eltern und Kindern, zwischen Freunden und Nachbarn. Man wird Zeuge der Verwandlung, die jedes anonym gewordene Individuum durchmacht: Die Wünsche, die Leidenschaften, die Interessen, die in ihm noch schlafend weiterleben, erfordern zu ihrer Realisierung eine große Anzahl von Personen. Man sieht, wie dieses Individuum den Anfällen sozialer Angst und dem Druck, sich einem kollektiven Modell anzupassen und anzugleichen, ausgesetzt ist.

Nach dieser Konzeption ist die Veränderung keineswegs das Resultat einer Proletarisierung des Menschen oder einer Vergesellschaftung der Ökonomie. Im Gegenteil, man wird Zeuge einer Vermassung, das heißt der Vermengung und Verknetung der gesellschaftlichen Gruppen. Ob Proletarier oder Kapitalisten, Gebildete oder Ungebildete, die Herkunft hat wenig zu sagen: Gleiche Ursachen erzeugen gleiche Effekte. Ausgehend von diversen heterogenen Fragmenten bildet sich ein homogener menschlicher Komplex: die Masse, bestehend aus Massenmenschen. Sie sind die Akteure der Geschichte, die Helden unserer Zeit. Die Gründe für diesen Stand der Dinge hat man nicht, wie das die Konzeption der Klassengesellschaft möchte, in der Konzentration der Produktionsmittel und im Warentausch zu suchen, sondern in den Kommunikationsmitteln, den Massenmedien, Zeitungen, Radio etc. und in dem Phänomen des Einflusses. Dadurch, daß sie in jedes Heim dringen, auch am Arbeitsplatz nicht fehlen, sich an jedem Badestrand einschmeicheln, dadurch, daß sie die Meinungen lenken und uniformieren, verwandeln diese Mittel die individuellen Hirne in Massenhirne. Durch eine Art sozialer Telepathie werden für Millionen von Individuen die gleichen Gedanken und die gleichen Bilder hervorgerufen, die sich dann wie Radiowellen weiterverbreiten. Auf diese Weise ist jeder ständig darauf eingestellt, sich in der Masse wiederzufinden. Wenn dieser Fall eintritt, kann man das unheimliche und unvergeßliche Spektakel einer Menge von Unbekannten erleben, die, ohne sich jemals gesehen zu haben, ohne sich abgesprochen zu haben, von ein und derselben Emotion erfüllt werden, auf eine Musik oder ein Schlagwort wie ein Mann reagieren und spontan zu einem einzigen Kollektivwesen verschmelzen. Marcel Mauss hat diese Metamorphose in extenso beschrieben:

Der ganze soziale Körper wird von einer einzigen Bewegung belebt. Es gibt keine Individuen mehr. Sie sind sozusagen die Einzelteile einer Maschine oder, besser noch, die Speichen eines Rades, dessen magischer, tanzender und singender Rundlauf das ideale, vielleicht urtümliche Bild wäre, welches auch heute noch in den genannten Fällen und auch anderswo wiederkehrt. Seine rhythmische, gleichmäßige und kontinuierliche Bewegung ist der unmittelbare Ausdruck eines Geisteszustandes, in dem das Bewußtsein jedes einzelnen von einem einzigen Gefühl, einer einzigen halluzinatorischen Idee, nämlich der des gemeinsamen Ziels übermannt wird. Alle Leiber haben dieselben Schwingungen, alle Gesichter tragen dieselbe Maske und alle Stimmen sind ein einziger Schrei, ganz abgesehen von dem tiefen Eindruck, den der Takt, die Musik und der Gesang hinterlassen. Um in allen Gestalten das Bild seines Verlangens zu sehen, um aus allen Mündern den Beweis seiner Gewißheit zu vernehmen, fühlt sich ein jeder ohne irgend möglichen Widerstand von der Überzeugtheit aller mitgerissen. In der Bewegung ihres Tanzes und im Fieber ihrer Erregung durcheinandergewürfelt bilden sie nur noch einen einzigen Leib und eine einzige Seele. Erst dann ist also der soziale Körper wahrhaft realisiert, denn in diesem Augenblick sind seine Zellen, die Individuen, vielleicht ebenso wenig voneinander isoliert wie die des individuellen Organismus. Unter solchen Bedingungen (die in unseren Gesellschaften nicht mehr, nicht einmal mehr von den erregtesten unserer Massen realisiert werden, die man anderswo aber durchaus noch antreffen kann) vermag die universelle Übereinstimmung Realitäten zu schaffen.

Eine äußerst packende Darstellung.

Es wird Zeit, den Konsequenzen ins Auge zu sehen. Der Gedankengang, auf den sich die Urheber dieser Konzeption eingelassen haben, ist einfach und kühn. Für jeden dieser Autoren ist die Masse die entfesselte Masse, instinktbeherrscht, ohne Bewußtsein, ohne Führer und ohne Disziplin, ganz so, wie sie sich der Stubengelehrte auf den Barrikaden vorstellt. Ein derart riesiges, brüllendes, hysterisches Monster macht Angst. Freud schreibt dazu:

Um die Sittlichkeit der Massen richtig zu beurteilen, muß man in Betracht ziehen, daß im Beisammensein der Massenindividuen alle individuellen Hemmungen entfallen und alle grausamen, brutalen, destruktiven Instinkte, die als Überbleibsel der Urzeit im Einzelnen schlummern, zur freien Triebbefriedigung geweckt werden.

Glücklicherweise, könnte man hinzufügen, tritt manchmal auch der umgekehrte Fall ein, und man sieht Millionen andere, welche bereit sind, für die höchsten ethischen Werte der Gerechtigkeit und der Freiheit unerhörte Opfer zu bringen, ja sogar ihr Leben zu geben.

Aber von dem Augenblick an, da man in den Massen das Sinnbild unserer Zivilisation entdeckt, hören sie auf, nur das Produkt des Zerfalls der alten Ordnung zu sein. Sie sind nicht länger die Wechselfälle der gesellschaftlichen Klassen oder die spektakulären Nebenerscheinungen des sozialen Lebens, nicht länger Aufhänger für die hochroten Beschreibungen faszinierter oder angewiderter Augenzeugen. Sie werden zu einem allgegenwärtigen Aspekt der Gesellschaft. Sie liefern einen Schlüssel zur modernen Politik ebenso wie zur modernen Kultur und letztlich auch eine Erklärung für die Schwierigkeiten, mit denen unsere Zivilisation zu kämpfen hat. Durch diesen intellektuellen Staatsstreich also hat die Massenpsychologie die Massen in den Brennpunkt einer Totalsicht der Geschichte dieses Jahrhunderts gestellt. Sie hat außerdem der Theorie von der Klassengesellschaft eine Rivalin gegenübergestellt, die bis heute noch niemand mit der Klassentheorie vereinen oder eliminieren konnte.

1.2.4

Ich habe weiter oben zu zeigen versucht, daß, ausgehend von denselben Phänomenen, welche sich noch heute vor unseren Augen wiederholen, zur gleichen Zeit zwei antagonistische und sich gegenseitig ausschließende Erklärungen entwickelt worden sind. Eine solche Dualität ist in der Wissenschaft etwas ganz und gar Alltägliches. Ich gebe zu, daß die Konzeption der Massengesellschaft vergleichsweise simpel, um nicht zu sagen simplistisch ist. Sie postuliert, daß das Individuum eine uneinnehmbare Zitadelle ist, in die die anderen mit Hilfe der Suggestion eindringen, um sie zu zerstören und sie mitten in die Anschwemmungen der kollektiven, impulsiven und unbewußten Flut hineinzuziehen. Diese Vorstellung erscheint uns altmodisch und verkennt die Komplexität der Zeitgeschichte. Es ist indes nicht das erste Mal, daß simple und anscheinend überholte Ideen zur Entdeckung unvermuteter Wahrheiten führen.

Betrachten wir auch die Konsequenzen dieser Dualität der Erklärungen. Was für die eine ein Klassenaufstand ist und eine Zukunftshoffnung verkörpert, nennt die andere Aufstand der Massen – dieser Ausdruck des spanischen Philosophen Ortega y Gasset ist ein Begriff geworden –, ein Aufstand, der beunruhigt und eine Epoche voller Krisen ankündigt. Die Massenpsychologen halten diesen Aufstand für entscheidend: Er liefert die politische Macht dem Wohlwollen der Massen aus, welche nicht in der Lage sind, sie auszuüben. Und davor fürchten sie sich. Diese Furcht hat ausgereicht, um den Wunsch zu wecken, sie kennenzulernen, um sie zu exorzieren und zu regieren, aber auch um sie wissenschaftlich zu untersuchen. Man sieht den Splitter im Auge des Nachbarn besser als den Balken im eigenen. So haben auch ihre erklärten Gegner die Massen ernst genommen und sich alle Mühe gegeben, ihre verborgenen Triebfedern bloßzulegen, um sie dann umso besser bekämpfen zu können. Die Anhänger der Massen dagegen gaben sich meist damit zufrieden, sie zu glorifizieren und von ihnen in abstrakter und idealisierender Manier zu reden. So kam es, daß sie sie verkannt haben.
Auf die Gefahr hin zu schockieren, streitet die Massenpsychologie den Massen in aller Schärfe und Deutlichkeit jeden Anspruch und jede Fähigkeit ab, die Welt zu verändern oder den Staat zu regieren. Sie sind per definitionem nicht imstande, vernünftig zu denken, es fehlt ihnen jede Fähigkeit zur Disziplin, sie sind so sehr Sklaven des momentanen Drangs und vom Erstbesten zu beeinflussen, daß sie die für das Überleben und für die Kultur notwendigsten Leistungen gar nicht vollbringen können.
Unsere Gesellschaft durchlebt den Untergang des Individuums und den Zenith der Massen. Sie wird mithin beherrscht von den irrationalen und unbewußten Kräften, welche aus ihrem Versteck hervorkommen und von selbst ihr unverhülltes Gesicht präsentieren. Le Bon erklärt lapidar:

Die unbewußte Wirksamkeit der Massen, die an die Stelle der bewußten Tatkraft der einzelnen tritt, bildet ein wesentliches Kennzeichen der Gegenwart.

Wer könnte heutzutage noch eine derart pauschale und grobe Erklärung abgeben? Die Erfahrung hat uns gelehrt, zurückhaltender zu sein. Aber schließlich hat diese Erklärung historische Auswirkungen gehabt – und hat sie noch immer –, die niemand ungeschehen machen könnte. Überdies ist ihre Bedeutung von jedermann unmittelbar verstanden worden. Diese Bedeutung ist die folgende: Die Antwort auf den Aufstand der Massen muß auf deren Psychologie zurückgreifen. Diese wird einmal mehr, wie Nietzsche sagt, der Weg, der zu den Grundproblemen führt. Ihre Soziologie und ihre Ökonomie dagegen erklären sie nur nebenbei und in besonderen Situationen.
Was Nietzsche da früher als alle anderen vorausgesehen hat, tendiert dazu, allgemeine Überzeugung zu werden. Eine Überzeugung, die die Schöpfung einer neuen Wissenschaft erklärt: der Massenpsychologie. Ob sie gerechtfertigt ist, ist eine andere Frage. Doch in dem Maße, in dem die Massen an Bedeutung gewinnen, gewinnt auch sie. Der große deutsche Schriftsteller Hermann Broch sieht in den dramatischen Ereignissen, welche Europa zwischen den beiden Weltkriegen erschüttern, einen Wechsel zu ihren Gunsten. Er verteidigt die Notwendigkeit dieser Psychologie mit folgenden Worten:

Die neuen politischen Wahrheiten werden sich im Psychologischen begründen. Die Menschheit schickt sich an, die ökonomische Epoche ihrer Entwicklung zu verlassen und in ihre psychologische einzutreten.

Es ist also nicht verwunderlich, daß in dieser immensen Bewegung des Zeitbewußtseins – welches wechselhafter ist als die Jahreszeiten oder als das Meer –, diese Wissenschaft von allen so aufgefaßt wurde, als besäße sie eine universelle Berufung. Wenn Le Bon, Freud oder Reich in die Titel ihrer Werke den Begriff "Massenpsychologie" und nicht "Sozialpsychologie" oder "Kollektivpsychologie" aufnehmen, dann ist das kein Zufall. Jeder zeigt an, daß er eine Sichtweise unserer Zivilisation vorstellt, welche durch eine definierte Form der Gruppierung charakterisiert wird: die Masse. Ihre Pioniere fassen sie mithin keineswegs als eine Hilfswissenschaft für andere, bedeutendere Wissenschaften auf – zum Beispiel die Soziologie oder die Geschichtswissenschaft –, sondern ausdrücklich als deren Rivalin. Und sie haben sich ein einziges Ziel gesetzt: "Das Rätsel der Massen zu lösen" (eine Formulierung, die von Freud stammt). Dies zu erreichen, kann nur eine eigenständige Wissenschaft von sich behaupten.

Was tun, wenn die Massen da sind?

Ich glaube, daß die politischen Umwälzungen der jüngsten Jahre nichts anderes als ein Imperium der Massen bedeuten. J. Ortega y Gasset

1.3.1

Das Individuum ist tot, es lebe die Masse! Das ist die nackte Tatsache, auf die der Beobachter der heutigen Welt stößt. Die Massen haben, so scheint es, nach einem hartnäckigen und gewaltsamen Kampf überall einen überwältigenden und endgültigen Sieg davongetragen. Sie sind es, die neue Fragen aufwerfen und zu neuen Antworten zwingen. Denn ihre Stärke ist eine Tatsache, mit der man von nun an rechnen muß. Der deutsche Philosoph Ernst Cassirer konstatiert:

In den letzten dreißig Jahren, in der Periode zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg, sind wir nicht nur durch eine ernste Krise unseres politischen und sozialen Lebens gegangen, sondern wir wurden auch vor neue theoretische Probleme gestellt. Wir erlebten einen radikalen Wechsel in den Formen des politischen Denkens.

Ohne Zweifel wird man in dieser Periode, die mit dem Ersten Weltkrieg beginnt und heute noch andauert, Zeuge eines radikalen Umbruchs. Was ihn hauptsächlich kennzeichnet, ist das Einfallen der Massen, die ihnen eigene Art des Denkens, ihre unwiderstehlichen Anschauungen. Die Massenpsychologie hat den grundsätzlichen Charakter dieses Umbruchs begriffen. Aber damit ist ihr Beitrag noch nicht erschöpft. Gewiß ist sie wie jede Wissenschaft bemüht, die Phänomene zu beschreiben, Ursachen zu untersuchen und ihre Wirkungen vorherzusehen. Nichtsdestotrotz mußte sie sich offensichtlich aber auch Methoden ausdenken und Programme vorschlagen, um auf die Ereignisse einzuwirken. Was nutzt das Wissen, wenn man es nicht anwenden kann? Was hilft es, Leiden zu entdecken, die man nicht kurieren kann? Wenn wir die Ursachen aufdecken, antworten wir auf ein "Warum?". Aber wenn wir eine Lösung vorschlagen, antworten wir auf die Frage "Was tun?". Diese Frage ist von größerer Tragweite als die erste. Denn die Wißbegierde wird nur in den Augenblicken der Ruhe aktiv, während das Handeln eine Notwendigkeit aller Augenblicke ist.

Die Massenpsychologie ist ins Leben gerufen worden, um auf beide Fragen zugleich eine Antwort zu geben. Zunächst verkündet sie ihre Absicht, das Warum der Massengesellschaft zu erklären. Dies aber will sie, um den herrschenden Klassen sagen zu können, was zu tun ist angesichts dieser Massen, die das politische Spiel auf den Kopf stellen – ein Spiel, aus dem sie in absehbarer Zeit nicht mehr aussteigen werden. Mit einem Wort, sie will das Rätsel der Entstehung der Massen lösen, um zur Lösung des noch gefürchteteren Rätsels, wie sie beherrscht werden können, zu gelangen. Sie wendet sich an die Männer der Macht ebenso wie – wenn nicht gar mehr als – an die Männer der Wissenschaft. Le Bon schreibt im Manifest der neuen Wissenschaft:

Die Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel für den Staatsmann, der diese nicht etwa beherrschen – das ist zu schwierig geworden –, aber wenigstens nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden will.

1.3.2

Die Massenpsychologie ist also die Wissenschaft einer neuen Politik. Ihre Pioniere sind allesamt davon überzeugt, darin den Ariadnefaden für das Labyrinth der Machtbeziehungen zu finden, in welchem sich, in Ermangelung eines solchen Führers, so viele Herrschende und Beherrschte verlaufen. Von Anfang an bekämpfen sie die alte politische Sichtweise, welche vom Einzelmenschen ausgeht, und für die eine Masse lediglich eine Ansammlung von tausend oder zehntausend Individuen ist. Eine Sicht des Menschen also, der von seinen spezifischen Interessen als Arbeiter, Industrieller oder Familienvater getrieben wird, und der, nachdem er überlegt und kalkuliert hat, einzig und allein in deren Dienst handelt und so seine Anschauungen und Gefühle unterdrückt.

Die Massenpsychologie lehnt eine auf das Interesse und die Vernunft gegründete Politik ab. Sie glaubt nicht, daß der Mensch einer Partei beitritt, für einen Kandidaten stimmt und ganz allgemein handelt, um den größtmöglichen persönlichen Vorteil zu erzielen. Sie glaubt nicht, daß er sich dessen, was er gewinnen oder verlieren kann, bewußt ist. Sie glaubt nicht an das Bild von Käufern und Verkäufern auf dem Markt. Das ist eine Illusion, sagt sie. Diese Illusion entsteht, weil die Massen für die klassische Politik nur das Nebenprodukt der Entfremdung sind, das mit den unaufhaltsamen Fortschritten in der Bildung und in der Technik, mit dem Triumph der Wissenschaft und der gerechten Verteilung der Früchte der Erde verschwinden wird.

Die klassische Politik glaubt also, den Graben zuschütten zu können, der das Handeln in der Gesellschaft vom Handeln in der Natur trennt. Auf welche Weise? Indem sie auf beide dieselben Methoden und dieselben Praktiken anwendet. Gewiß, Wissenschaft und Technik erringen tagtäglich beispiellose Siege. Sie demonstrieren so die Macht ihrer Logik. Und man nimmt sie sich in jedem Lebensbereich zum Vorbild. Wenn wir den auf rationalen Prinzipien gegründeten Weg der Wissenschaft einschlagen, glauben wir, in der Politik einen ähnlichen Fortschritt wie in der Industrie erzielen zu können. Wir glauben, Herren und Besitzer der Gesellschaft werden zu können, so wie wir Herren und Besitzer der Natur geworden sind. Über kurz oder lang gelänge es uns so, Beziehungen zwischen Individuen, zwischen Herrschenden und Beherrschten zu schaffen, die so frei wären von deren Leidenschaften, von Liebe und Haß, wie es unsere Beziehungen zu Gegenständen sind. Mit einem Wort, wir gingen, um die berühmte Formulierung Saint-Simons zu gebrauchen, von der Herrschaft der Menschen zur Herrschaft der Dinge über.

Eckpfeiler dieser klassischen und vertrauten Sicht sind die Rationalität des politischen Handelns und deren Fortschreiten, das Hand in Hand geht mit dem Fortschreiten unseres Wissens und der Gesellschaft, in der wir leben. Aus dieser Perspektive gesehen, neigen die Massenphänomene dazu, ihre Bedeutung zu verlieren. Sie fallen unter die anderen Überreste menschlicher Unreife, wie sie in den weniger entwickelten und weniger kultivierten Gesellschaften zu finden sind. Daraus leitet sich eine politische Praxis ab. Mit ganz wissenschaftlicher Objektivität trennt sie Logik und Glauben, Tatsachenurteile und Gefühle, um zu entscheiden, welche Mittel für die von ihr angestrebten Zwecke die geeignetsten sind. Sie wendet sich an die Vernunft, gewappnet mit Zahlen und Argumenten; sie verweist auf Tatsachen und bemüht sich, die Individuen dahingehend zu überzeugen, daß sie die am meisten ihren Interessen entsprechende Lösung wählen. Sie glaubt die Menschen um so besser mobilisieren zu können, je mehr sie ihnen die Zusammenhänge ihrer Situation bei ihrer Arbeit, in ihrer Klasse, in ihrer Partei usw. bewußt macht. Und damit – Einigkeit macht stark – auch Ziele, die sie gemeinsam verwirklichen können.

Die Massenpsychologie wirft dieser klassischen Sicht vor, daß sie die Bedeutung der Massen, welche eine Tatsache sind, und deren Natur verkennt. In der Masse aufgegangen, vergessen die Individuen ihre persönlichen Interessen, um den gemeinsamen Wünschen nachzugehen, den Wünschen, die ihnen die Führer als gemeinsame darstellen. Arbeiter oder Arbeitslose, sie sind Gefangene der Hektik der Städte, den Aufregungen der städtischen Existenz ausgesetzt und besitzen nichts, nicht einmal die Zeit, nachzudenken. Sie sind permanent von anderen abhängig: bei ihrer Wohnung, ihrer Ernährung, ihrer Beschäftigung, ihren Vorstellungen oder ihren Träumen. Infolgedessen haben ihre Interessen zu wenig Kraft und Gewicht, als daß sie die von allen Seiten aufgereizten Antriebe hemmen könnten.

"Die Gattung Mensch kann nicht viel Realität ertragen", schrieb der englische Dichter T. S. Eliot. Die Massen können davon noch weniger ertragen. Einmal zusammengeschart und miteinander vermengt, verlieren die Menschen einen Großteil ihrer Urteilskraft – aus Furcht und auch aufgrund eines Bedürfnisses nach Konformität. Ihr Bewußtsein weicht dem Ansturm der Illusionen wie ein Damm, der von einem anschwellenden Fluß hinweggeschwemmt wird. So werden die die Masse bildenden Individuen geführt von einer grenzenlosen Einbildung, aufgepeitscht von starken, aber auf kein bestimmtes Objekt gerichteten Gefühlen. Die einzige Sprache, die sie verstehen, ist die, welche den Verstand ausschaltet, das Herz anspricht und die Wirklichkeit ganz in rosa oder ganz in schwarz ausmalt.

Gewiß, man kann sich die Massen anders wünschen, als sie sind, man kann hoffen, daß ihre Bedeutung abnimmt und wieder so gering wird wie in der Vergangenheit. Dann würden sie dazu gebracht, die Macht in voller Kenntnis der Sache zu wählen und zu unterstützen. Im Augenblick ist eine solche Möglichkeit ausgeschlossen. Es wäre müßig, sie bessern zu wollen, sie für anders zu erklären als sie sind, ihre Psychologie zu ändern zu suchen oder auf die der Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen, zu reduzieren. Man ändert sie ebensowenig wie die Naturgesetze, die andere sind für ein isoliertes Atom, das auf einem gewöhnlichen Energieniveau steht, als für eine Ansammlung von Atomen, die auf ein sehr hohes Energieniveau gebracht wurde.

Diese elementaren Gegebenheiten stellen die Menschen der Macht vor die Wahl zwischen zwei gleichermaßen berechtigten, aber einander ausschließenden Sichtweisen ihres Handelns: Die eine bezieht sich auf die Individuen, die andere auf die Massen. Wer die erstere wählt und auf die Interessen und die Vernunft des Menschen baut, muß wissen, daß eine solche, von den Prinzipien der Wissenschaft konzipierte und geleitete Politik sich nur für eine Minderheit von Staatsmännern, Wissenschaftlern oder Philosophen eignet. Sie hatte ihren Wert, solange die Massen von der politischen Gesellschaft ausgeschlossen waren, also vor dem Zeitalter der Massen. Doch ihre Verfechter weisen die leidenschaftlichen Ambitionen der großen Nationengründer oder Religionsstifter von sich. Und sie können nicht einmal die dringlichsten ihrer Pflichten erfüllen. Denn sie sind durch die klassische Schule der Parlamente und Verbände gegangen und haben gelernt, die Macht der Leidenschaften und der Anschauungen zu ignorieren. Sie vertrauen einzig auf die Intelligenz, wenn sie überzeugen wollen, auf das Kalkül, wenn sie eine Entscheidung beeinflussen wollen. Die Gewalt der kollektiven Gefühle bestürzt sie, die Zügellosigkeit des Benehmens der versammelten Individuen bringt sie aus der Fassung, und die Maßlosigkeit der Worte und Taten stößt sie ab wie eine Geschmacklosigkeit. Ihr Denken läßt nur List zu oder einen Kompromiß zwischen Leuten aus der guten Gesellschaft. Charakter? Sie übersehen oder verspotten ihn. Aber wenn es ihnen an Mut fehlt, erweisen sie sich als wankelmütig und konfus, als unentschlossen oder geschwätzig und scheitern an ihrer Aufgabe. Sie räsonnieren ohne Überzeugung und Prinzipien. Sie beraten, ohne zu entscheiden, und handeln nur halb, wobei sie den Rest den Ereignissen überlassen. Obgleich Demokraten, pflastern sie oft einem Tyrannen den Weg, rufen nach einem Cäsaren, nach einem starken Mann, der die Rolle des Befreiers spielen soll, und läuten die Unterdrückung als eine Befreiung ein. Man sieht dann, wie sich ein Paradox herausbildet: Die Freiheit appelliert an den Despotismus. So zeigt es sich, daß die Vernunft die Politik verurteilt und umgekehrt.
Kurz, was diesen Menschen der Macht fehlt, ist der Instinkt, der es ermöglicht, die Massen zu verstehen, im Gleichklang mit ihren Hoffnungen zu schwingen, anstatt des Geflüsters der Berater und der Schmeichler die laute Stimme der Menge zu hören. Sie finden niemals das richtige Wort oder die richtige Geste, und wenn, dann nicht im richtigen Augenblick. Sie geben den Unsicherheiten nach, die sie angesichts der Relativität der Dinge zernagen, werden von den Ereignissen, die sie überraschen, überrannt und verlieren so zuerst die Fassung, dann die Macht. Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand: Es gibt keinen großen politischen Führer ohne den Instinkt für die Massen.

Die Massen, behauptet die Massenpsychologie, lassen in der zivilisierten Welt eine Irrationalität wiederaufleben, die man als chaotisches Element aus einer primitiven Epoche voller Wahnsinn und voller Götter schon im Verschwinden glaubte. Anstatt in dem Maße, in dem die Zivilisierung fortschreitet, abzunehmen, wird ihre Bedeutung von Tag zu Tag größer. Von Technik und Wissenschaft aus der Ökonomie verdrängt, konzentriert sich die Irrationalität in der Macht und wird zu deren Angelpunkt. Sie wird dies um so mehr, als die Menschen weniger Zeit haben, die sie den öffentlichen Angelegenheiten widmen könnten, weniger Möglichkeiten, dem kollektiven Druck zu widerstehen. Die Vernunft jedes einzelnen weicht vor den Leidenschaften aller. Sie erweist sich als unfähig, diese zu zügeln, denn eine Epidemie läßt sich nicht nach Belieben stoppen.
Aus diesem Grunde muß, wer sich den Staatsgeschäften widmen und die Menschen regieren will, sich mehr an deren Gefühle von Liebe und Haß, von Rache oder Schuld als an ihren Verstand wenden. Statt ihrer Intelligenz ruft man besser ihre Erinnerung wach. Denn sie erkennen in der Gegenwart weniger die Konturen der Zukunft als die Spuren der Vergangenheit. Sie nehmen nicht wahr, was sich verändert, sondern was sich wiederholt. Kurz, der künftige Regierende muß sich einprägen, daß die Psychologie der Massen der Psychologie der Individuen den Rücken zukehrt. Letztere kommen durch Analyse oder durch ein Mehr an Erfahrung ans Ziel. Erstere gebrauchen ein nicht minder wirksames Mittel, das Herz, welches einem Ideal und einem Menschen, der es verkörpert, leidenschaftlich ergeben ist:

Die Logik, von der sie sich leiten lassen, liegt vollkommen in ihrem Innern und wird unaufhörlich durch die Leidenschaft neu produziert wie diejenige von Menschen, die sich in einem Streit unter Liebenden oder in einem häuslichen Zwist gegenüberstehen, der Auseinandersetzung eines Sohnes mit dem Vater, einer Köchin mit ihrer Dienstherrin, einer Frau mit ihrem Mann.

Ich insistiere und ich wiederhole mich. Die klassische Politik gründet sich auf die Vernunft und auf die Interessen. Sie verurteilt sich zur Ohnmacht, weil sie der Logik der Wissenschaft folgt und die Massen als eine Summe von Individuen behandelt. Es ist nicht so, daß es diesen an intellektuellen Fähigkeiten oder an Willen fehlte, daß sie so sehr beherrscht würden, daß sie nicht verstünden, was ihr Interesse sei oder keinen Gebrauch von der Vernunft machen könnten. Im Gegenteil, jeder von ihnen wäre in der Lage, die Demokratie im besten Sinne des Wortes einzuführen, und würde das sogar gerne tun. Denn sonst hätte man sie ja nicht konzipiert und zu verwirklichen gesucht. Wenn den Individuen das nicht überall gelingt, wenn ihre Bemühungen oft auf das Gegenteil hinauslaufen, dann deshalb, weil sie in der Masse gefangen sind. Sie unterliegen den Gesetzen menschlicher Ansammlungen. Da nimmt alles einen anderen Lauf. Nichts verläuft wie vorhergesehen oder unter den gleichen psychischen Voraussetzungen. Zusammengefaßt heißt das: Das Individuum überzeugt man, die Masse beeinflußt man.

Rekapitulieren wir kurz den Gang der Argumentation. Die Massen werfen die von den liberalen Bürgerlichen eingeführten und von den Sozialdemokraten übernommenen Grundlagen der Demokratie über den Haufen. Die Sozialdemokraten wollen mittels einer nach dem allgemeinen Wahlrecht gewählten Elite regieren. Ihre Politik kennt nur die ökonomischen und technischen Realitäten. Sie lehnt es ab, die psychologischen Realitäten zu sehen. Sie mag sich wohl auf hehre Ideale berufen und unbestreitbare Verdienste haben, aber ihre Blindheit hindert sie ausnahmslos daran, eine stabile politische Ordnung zu schaffen. Sagen wir, daß diejenigen, die sie praktizieren, sich über die Gesellschaft oder über das Volk, in jedem Fall aber über die Epoche täuschen. Diese Epoche zeichnet sich durch ein spezifisches Charakteristikum aus: Die die Massen mitreißenden Revolutionen und Gegenrevolutionen. Aus diesem Grund erfordert sie eine neue Politik.

1.3.3

Wenn die Massen da sind, ist es die Aufgabe der Politik, sie zu organisieren. Zwei Dinge treiben die Massen an, die Leidenschaft und die Anschauungen, also muß man beiden Rechnung tragen. Jedesmal, wenn Menschen sich versammelt haben, sind sie von ähnlichen Emotionen durchdrungen. Sie sind eins in einem höheren Glauben. Sie identifizieren sich mit einer Person, die sie aus ihrer Einsamkeit reißt, und widmen ihr eine totale Bewunderung. Das ist, in wenigen Worten, die Synthese, die eine Kollektivität von Individuen in ein kollektives Individuum verwandelt. Ihre Interessen sind gleichsam nur die Handschuhe der Leidenschaft. Streift man die Handschuhe ab, bleiben die Hände, hackt man die Hände ab, werden die Handschuhe nutzlos. Ihre Vernunft ist bloß der Gischt auf der Flut starker und dauerhafter Überzeugungen.
Dies erklärt den Charakter der politischen Praxis. Ich könnte es kaum besser formulieren als Gramsci, der gesagt hat:

Die Politik ist eine permanente Aktion und läßt permanente Organisationen entstehen, worin sie sich eben mit der Ökonomie identifiziert. Aber diese unterscheidet sich auch von jener, und deshalb kann man auch getrennt von Ökonomie und von Politik sprechen. Man kann von "politischer Leidenschaft" sprechen als einem unmittelbar zur Aktion treibenden Impuls, der auf dem "permanenten und organischen" Boden des ökonomischen Lebens entsteht, über diesen aber hinausgeht, indem er Gefühle und Hoffnungen ins Spiel bringt, in deren glühender Atmosphäre eben diese Berechnung des individuellen menschlichen Lebens anderen Gesetzen als denen der individuellen Buchführung gehorcht.

Folglich gibt es im politischen Leben tatsächlich eine tiefgehende Asymmetrie, die es unmöglich macht, jemals einen Punkt von Gleichgewicht und Stabilität zu finden. Wenn die Menschen, um zu produzieren und zu überleben, auf die Materie einwirken, folgt ihr technisches und ökonomisches Handeln einem rationalen Gesetz. Man beobachtet, daß im Laufe der Zeit die Rationalität der dabei leitenden Methoden und Kenntnisse zunimmt. Entscheidend für den Erfolg dabei ist es, die Mittel dem angestrebten Zweck unterzuordnen und stets den Ergebnissen der Erfahrung zu folgen. Daß das möglich ist, beweisen die Computer, weshalb sie auch mehr und mehr eingesetzt werden.
Die Beziehungen zwischen Menschen zeichnen sich dagegen durch einen Faktor von Irrationalität aus. Dem kann man sich unmöglich entziehen, vor allem dann nicht, wenn man die Massen für ein – positives oder negatives – Ideal mobilisieren will. Wilhelm Reich, und er ist nicht der einzige, hat die verheerenden Folgen einer derartigen Fehleinschätzung aufgezeigt und dargelegt, wie sehr diese zum Sieg des Nazismus in Deutschland beigetragen hat:

Die wirtschaftlichen Bedingungen der Entwicklung vorwärts waren dank Marx, Engels und Lenin bedeutend besser erkannt als die Kräfte, die bremsten. Vom Irrationalismus der Massen war keine Rede. Daher kam es zuerst zum Halten und dann zur autoritären Degeneration der ursprünglich so vielversprechenden freiheitlichen Entwicklung.

In der Tat macht die gesellschaftliche Vermassungsmaschine die Menschen immer irrationaler und verbietet es, sie mittels der Vernunft zu regieren, ganz gleich, welche Absichten – und seien es auch die nobelsten – diejenigen haben mögen, die an ihrem Hebel sitzen. Diese Asymmetrie der Politik hat drei Aspekte:

  • Zunächst eine Kluft, welche die zwei Bereiche des menschlichen Lebens trennt. Das rationale Denken und die rationale Praxis sind auf die Verwaltung von Sachen und Ressourcen beschränkt. Sie erfinden Werkzeuge und Instrumente, die immer ansehnlicher, wirkungsvoller und automatischer werden. Die Regierung von Menschen, die politische Macht also, erfährt dagegen einen Rückgang dieses Denkens und dieser Praxis. In diesem Bereich schafft die Gesellschaft einzig Anschauungen und Leitideen. Manche davon sind wunderbar und rühmen die Gerechtigkeit und die Emanzipation. Andere sind grausam und propagieren Vergeltung und Unterdrückung. Sie dienen dazu, die Menschen zu mobilisieren und zu vereinheitlichen. Zu diesem Zweck gießt man sie in die schon vorgefertigte Form einer dogmatischen Religion. Nur zu diesem Preis kann eine Idee die Massen mitreißen. Ein Preis, den selbst der Marxismus hat zahlen müssen.
  • Ein zweiter Aspekt ist, schlicht und einfach, die Irrationalisierung der Massen. Sie äußert sich in einer Entladung emotionaler Kräfte, die in unterirdischen Regionen auf eine Gelegenheit warten, mit der Gewalt eines Vulkans hervorzubrechen. Diese nie bezwungenen Kräfte lauern auf den geeigneten Augenblick, das ihnen zustehende Reich wieder in Besitz zu nehmen. Er ist gekommen, sobald die Menschen sich unter dem Druck einer Krise zusammenscharen. Das Bewußtsein der Individuen verliert dann an Kraft und vermag deren Impulse nicht mehr zu kontrollieren. Die unbewußten Emotionen, diese regelrechten Maulwürfe der Geschichte nutzen die Gelegenheit, um sich des freigewordenen Feldes zu bemächtigen. Was da aufsteigt, ist nicht etwas Neues, sondern etwas, das in agglutinierter [geballter] Form schon existiert, bisher aber nicht zum Ausdruck gebracht worden ist. Es sind latente Kräfte, die mehr oder weniger komprimiert und unterdrückt, mehr oder weniger ausgeformt und bereit sind. Unter dem Zauberstab eines Führers, der sich an ihre Spitze gestellt hat, werden die Massen fortgerissen von der Flut dieser Kräfte, aufgepeitscht von Panik oder Enthusiasmus. Und der faszinierte Beobachter kann mit Shakespeare ausrufen: "Es ist die Geißel der Zeit, wenn die Narren die Blinden führen." Eine hinreißend treffende Formulierung. Man denke nur an Hitler, an Pol Pot und tutti quanti, diese Rasenden an der Spitze der Massen, denen Furcht und Hoffnung die Augen verkleistern. Im übrigen bringt ihr extremes Beispiel – gerade so, wie die Krankheiten uns über den Zustand der Gesundheit aufklären – uns zu Bewußtsein, was in alltäglichen Situationen geschieht: Die Macht wird mittels des Irrationalen ausgeübt.
  • Der dritte und letzte Aspekt ist der folgende. In vielen Bereichen, in der Technik, der Ökonomie, der Demographie usw. verläuft der beobachtete Fortschritt von weniger nach mehr: Die Arbeitsmethoden werden besser, die Geschwindigkeiten werden höher, die Umsätze vervielfachen sich, die Bevölkerungen nehmen zu usf. In der Politik gibt es, nicht anders als in der Kunst oder bei der Moral, keinen Fortschritt. Die Geschichte lehrt, daß die Macht in jeder Generation anscheinend mittels derselben Methoden und unter denselben Bedingungen ausgeübt wird und sich so wiederholt. Die Herrschaft der kleinen Zahl über die große Zahl wird unablässig erneuert und perpetuiert. "Es ist ein Stück der angeborenen und nicht zu beseitigenden Ungleichheit der Menschen", schreibt Freud, "daß sie in Führer und in Abhängige zerfallen. Die letzteren sind die übergroße Mehrheit, sie bedürfen einer Autorität, welche für sie Entscheidungen fällt, denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen."

Es wäre also müßig, von einer Fortentwicklung zu einer Gesellschaft ohne Götter und ohne Herren zu reden, denn jeden Augenblick werden mitten unter uns neue Führer geboren. Was die Eigengesetzlichkeit der Politik erklärt und sie zu allem anderen in Gegensatz stellt, ist also dieses Fehlen von Fortschritt. Die historischen Entwicklungen lassen sie relativ gleichgültig. In allen, selbst in den fortgeschrittensten Gesellschaften beherrscht die Vergangenheit die Gegenwart, verhext die tote Tradition die lebendige Moderne. Und wenn man wirken will, muß man die Menschen in den archaischen Schichten ihres Unterbewußtseins beeinflussen. Dieser Gegensatz läßt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen: Ökonomie und Technik folgen den Gesetzen der Geschichte, die Politik muß sich nach den Gesetzen der menschlichen Natur richten.
Die moderne Gesellschaft, die so viele Unausgewogenheiten der materiellen und der geistigen Ordnung kennt, verschärft jeden dieser drei Aspekte. Alles, was man tun kann, ist, die Mittel und die Kenntnisse, über die man verfügt, den überdauernden Gegebenheiten des äußeren und des inneren Lebens der Menschen anzupassen. Im wesentlichen und immer schon ist die Politik die rationale Form der Ausbeutung der irrationalen Tiefenschicht der Massen. Die Massenpsychologie bestätigt das. Alle von ihr vorgeschlagenen Propagandamethoden, alle Suggestionstechniken, die ein Führer auf die Masse anwenden kann, sind daraus abgeleitet. Sie zielen auf die Emotionen der Individuen, um diese in ein kollektives und uniformes Material zu verwandeln. Und wir wissen, daß ihnen das vortrefflich gelingt.

1.3.4

Die Entfesselung der irrationalen Kräfte läßt den Führer zur Lösung des Massenproblems werden. Manche glauben an eine ganz andere Lösung. Sie schlagen vor, politische Parteien, ideologische Bewegungen oder Institutionen zu schaffen, die in der Lage sind, die Massen zu kontrollieren. Nichtsdestoweniger gibt sich jede Partei, jede Bewegung, jede Institution früher oder später einen Führer, sei es einen lebenden oder einen toten. Diese zweite Lösung unterscheidet sich also weder von der ersten noch schließt sie sie aus. Beiden ist ein Königselement gemeinsam, welches für die Autorität das ist, was der Wasserstoff für die Materie ist: ihr universelles Grundelement. Seine Herkunft zu erforschen und seine Zusammensetzung aufzudecken, ist eines der schwierigsten Kapitel der Wissenschaft. Jede Wissenschaft bringt eine Erklärung vor, die sich auf die von ihr untersuchten Fakten stützt. Die Massenpsychologie entwickelt seit Tarde ihre eigene. Der Vater ist Ursprung und Prototyp jeder Art von Autorität. Seine Macht ist in grauer Vorzeit mit der Familie entstanden. Sie wird fortgesetzt und erweitert in den modernen Massen von aus ihrer Familie herausgerissenen Individuen. Die Geschichte der politischen Ordnungen stellt uns also lediglich die allmählichen Veränderungen der patriarchalischen Ordnung dar. Sobald man versucht, die Mechanik dieser Geschichte aufzudecken, sieht man in der Bürokratie, den Parteien, den Staaten usw. nur Ausläufer der ursprünglichen Macht des Familienoberhaupts, welches Urbild und Ideal darstellt.

Als die Massen nur sporadisch in Erscheinung traten, erregte diese Lösung Anstoß. Man wollte nicht eingestehen, daß der Führer ebenso zwangsläufig die Lösung des Problems der Massen war, wie der Vater die Lösung des Problems der Familie war. Aber was sehen wir Abend für Abend auf dem Bildschirm? Hier feiern die mohammedanischen Massen jubelnd die Rückkehr des Imam Khomeini, dort strömen die christlichen Massen zusammen, um Papst Johannes Paul II. zu sehen und zu hören, der im Hubschrauber gekommen ist, um ihnen das Wort Gottes zu verkünden, und anderswo drängen sich die weltlichen Massen enthusiasmiert um einen ihrer Führer, um ihm zu huldigen.

Die Massenmedien haben uns zu Teilnehmern und Zeitgenossen aller Menschenaufläufe auf diesem Planeten, von deren Manifestationen von Bewunderung und deren ekstatischen Kniefällen gemacht. Es liegt nichts Exotisches mehr in der Götzenanbetung, nichts Überraschendes mehr in der Abfolge der Ereignisse. Ein Volk geht mit Überschallgeschwindigkeit von der enthusiastischen Befreiung zur strengen Unterdrückung über. Seine aufgeweichte Struktur verwandelt sich in eine Struktur, die um einen Menschen herum zentriert ist. Nur wenige widersetzen sich dem, was da geschieht, oder werden sich dessen auch nur bewußt. Man muß glauben, daß die Massen ihr Glück in der Befriedigung einer Art unbewußten Triebes, das Rückgrat zu beugen, finden. Was Tarde angeht, so behauptet er es ganz offen:

Man hat oft gesagt – es war ein bei Rednern beliebtes Thema –, daß es nichts Berauschenderes gäbe, als sich frei zu fühlen, jeder Unterwerfung unter andere, jeder Verpflichtung an andere ledig. Gewiß, ich würde dieses sehr edle Gefühl niemals leugnen, aber ich halte es für unendlich weniger verbreitet, als es zum Ausdruck gebracht wird. In Wahrheit steckt für die meisten Menschen eine unwiderstehliche Süße im Gehorsam, in der Leichtgläubigkeit, in der quasi-verliebten Willfährigkeit gegenüber einem bewunderten Herrn. Was die Verteidiger der gallisch-römischen Städte nach dem Zusammenbruch des Reiches waren, sind heute die Retter unserer demokratischen und revolutionären Gesellschaften, nämlich der Gegenstand einer enthusiastischen Götzenanbetung, eines leidenschaftlichen Kniefalls.

Warum diese Ergebenheit gegenüber dem Führer? Weil er den Massen in einfachen Begriffen und Bildern eine Antwort auf ihre Fragen, ihrer Anonymität einen Namen gibt. Nicht aufgrund von Nachdenken, nicht aufgrund eines Kalküls, sondern aus tiefster Intuition heraus greifen sie danach als nach einer absoluten Wahrheit, einem Geschenk einer neuen Welt, einer Verheißung eines neuen Lebens. Indem sie ja sagt zum Führer, konvertiert die Masse und wandelt sich im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre affektive Energie wirft sie nach vorn und gibt ihr ebenso den Mut, das Martyrium zu ertragen, wie die zur Anwendung von Gewalt erforderliche Brutalität. Als Beleg seien hier die Revolutionsarmeen genannt, die Napoleons Legionsadlern wie behext durch ganz Europa gefolgt sind.

Die Energie, die die Massen aus ihren Träumen und ihren Illusionen schöpfen, machen sich die Führer zunutze, um das Rad der Staaten zu drehen und die Mengen auf ein Ziel hinzuführen, das die Vernunft, zuweilen auch die Wissenschaft diktiert hat. General de Gaulle, wie wir noch sehen werden, einer von denen, die sich die Lehren der Massenpsychologie am besten angeeignet haben, hat die praktische Anwendung davon erkannt:

So schwierig die Realitäten waren, vielleicht konnte ich sie meistern, denn es war mir ja möglich, wie Chateaubriand sagt, "die Franzosen durch die Träume dorthin zu führen".

Die Erfahrung der Völker bestätigt diese Gewißheit: Der kürzeste Weg von einer großen Idee zu einer konkreten Aktion, von der Intelligenz eines Individuums zu einer Massenbewegung führt über die Träume. Wenn die Illusionen schwinden oder fehlen, zerfallen die Kollektivitäten und ihre Anschauungen, sie sterben ab und haben noch so viel Substanz wie ein Körper ohne Blut. Die Menschen wissen nicht mehr, wem sie folgen, worauf sie hören und wofür sie sich aufopfern sollen. Nichts und niemand zwingt sie mehr zu der für die Werke der Zivilisation notwendigen Disziplin. Nichts und niemand schürt den Enthusiasmus oder die Leidenschaft. Die Welt der Bewunderung, der Treue bleibt unbesetzt. Dann mehren sich die Zeichen von Panik. Man fürchtet sich vor dem Rückfall in die tote Gleichgültigkeit von Steinen in der Wüste oder in deren moderne Version, den Staat. Dort ist niemand mehr niemandes Freund oder Feind.

Die Grenzen zwischen Gruppen oder Gemeinwesen sind praktisch verschwunden. Eine amorphe Anhäufung von Individuen tritt an die Stelle des Volkes. In einer Massengesellschaft wie der unseren ist das Heilmittel für das "psychologische Elend der Massen" der Führer. Vorausgesetzt, er beseitigt die Gefahr der Panik. So hat Napoleon den Massen am Ende der französischen Revolution wieder den Gegenstand ihrer Verehrung, der ihnen gefehlt hatte, gegeben und ihnen das Ideal geboten, für das sie bereit waren, alles zu opfern, einschließlich ihres Lebens und ihrer Freiheit. "Der Führer", konstatiert Broch, "ist der Exponent und der Träger der Dynamik dieses Systems. Er erscheint, wie gesagt, vor allem als Symbol des Systems. Seine rationalen Züge und Handlungen sind von untergeordneter Bedeutung."

1.3.5

Was also tun, wenn die Massen da sind? Zwei Dinge, antwortet die Massenpsychologie: Einen Führer finden, der aus ihrer Mitte stammt, und sie führen, indem man sich an ihre Leidenschaften, ihre Anschauungen und ihre Einbildungskraft wendet. Vor ersterem mag man zurückschrecken, weil man der Meinung ist, die Individuen spielten nur eine zweitrangige oder gar überhaupt keine Rolle in der Geschichte. Aber gerade die Kenntnis dieser Psychologie verbietet es, sie von der Liste der Lösungen zu streichen. Zuerst und vor allem deshalb, weil jeder an diese Lösung glaubt, einschließlich derer, die es nicht müßten. Tito, der verstorbene Chef der jugoslawischen KP, gab einem Gesprächspartner, der die entscheidende Rolle der Massen betonte, heftig zur Antwort:

Alles Geschwätz, die historischen Prozesse hängen oft von einer einzigen Person ab.

Folglich beantwortet die Massenpsychologie das Was tun? unserer Epoche mit dem Vorschlag einer neuen Politik. Diese ringt sie der Erfahrung ab, wobei sie sich bemüht, eine konkrete Lösung für ein nicht minder konkretes Problem zu finden. Daher rührt die Bedeutung, die die Suggestion bei der Schaffung einer Masse hat, und die Rolle des Führers, der diese in Bewegung setzt. Ich präsentiere diese Lösung hier vorerst, ohne sie groß zu begründen. Die Gründe, aus denen man sich für sie entschieden hat, werde ich in den folgenden Kapiteln darlegen. Dennoch möchte ich, um das außergewöhnliche Interesse, das diese Wissenschaft einer solchen Lösung geschenkt hat, besser verständlich zu machen, einen dieser Gründe sofort anführen: Die Massen neigen von sich aus nicht zur Demokratie, sondern zum Despotismus.

...

Le Bon und die Furcht vor den Massen

Wer war Gustave le Bon?

2.1.1

Die Massenpsychologie ist von Le Bon ins Leben gerufen worden, das weiß jeder. Aber es gibt auch ein Rätsel Le Bon. Die in Frankreich publizierten Werke erwähnen seinen außerordentlichen Einfluß auf die Gesellschaftswissenschaften seit fünfzig Jahren nicht mehr, während sie Gelehrten von geringerem Rang und Denkschulen, die ebenso verbreitet wie unbestimmt sind, unverhältnismäßig viel Platz einräumen. Was aber ist der Grund für diese ungerechte Behandlung? Wie ist es möglich, einen Mann zu ignorieren, der zu den zehn oder fünfzehn zählt, deren Ideen, vom Standpunkt der Sozialwissenschaften gesehen, eine entscheidende Wirkung auf das zwanzigste Jahrhundert gehabt haben? Sprechen wir offen: Von Sorel und selbstverständlich Tocqueville einmal abgesehen, hat kein französischer Gelehrter einen Einfluß ausgeübt, der dem Le Bons gleichgekommen wäre. Keiner hat Bücher mit vergleichbarer Resonanz geschrieben. Sehen wir uns also zuerst an, wer diese Persönlichkeit war, welchen Platz sie in ihrer Epoche eingenommen hat. Das wird uns helfen zu verstehen, unter welchen Umständen die Massenpsychologie entstanden ist und warum gerade in Frankreich.
Gustave Le Bon wurde 1841 in Nogent-le-Rou in der Normandie geboren. Er starb 1931 in Paris, und sein Leben ist in mancherlei Hinsicht bemerkenswert. Der Zufall ließ ihn das Licht der Welt in einem Moment erblicken, da die Keime des Fortschritts zu sprießen begannen. Seine reifsten Werke entstanden während des zweiten Empire, einer Periode der industriellen Revolution, der militärischen Niederlage und des Bürgerkriegs. Schließlich hat er lange genug gelebt, um den Sieg der Wissenschaft zu erleben, die Krisen der Demokratie, den Aufstieg des Sozialismus, dieser Volksbewegungen, deren Ansteigen er beunruhigt verfolgte, und deren wachsende Macht er ankündigte.

Er scheint in seiner Person diese lange Reihe von Amateurgelehrten und Pamphletisten, deren berühmte Vertreter Mirabeau, Mesmer und Saint-Simon gewesen sind, wieder aufleben zu lassen. Er setzt eine Tradition fort, aber das mitten in einer Umgebung, die von rapiden Veränderungen bestimmt ist. Dieser kleingewachsene Provinzarzt, der das gute Leben liebte, hatte schnell seine Praxis hinter sich gelassen, um sich in die Populärwissenschaft zu stürzen. Der Erfolg seiner Werke erlaubt es ihm, vom Schreiben zu leben und seinen Weg in der gelehrten Welt zu machen, wo er mit den Größten verkehrt. Wie erklärt sich dieser Erfolg, diese überragende Position? Kann man sagen, daß sich ein außergewöhnliches Talent in einem Milieu durchgesetzt hat, das ihm anfangs abträglich, ja feindlich war? Muß man in seinem Werk die Verbindung neuer und fortschrittlicher Ideen mit einer alten Tradition der Schreibkunst sehen? Oder im Gegenteil dem Mann einen außerordentlichen Spürsinn zugestehen, der es ihm erlaubt, die Tendenzen des Denkens, eine ganze in der Epoche verborgene Empfindungsweise zu entdecken und ihr Ausdruck zu verleihen? Ohne Zweifel gab es bei Le Bon von all dem etwas, aber ganz besonders eine überragende Fähigkeit, Ideen, die in der Luft waren und die andere nicht zu verkünden wagten oder sie nur vereinzelt zum Ausdruck brachten, in eine abgeschlossene und aussagekräftige Form zu bringen. Und es gab auch ein Zusammentreffen von Umständen, das diesen Stubengelehrten zum Schöpfer einer Wissenschaft, zum Konstrukteur einer neuen Politik machte.

2.1.2

Nach der demütigenden Niederlage ihrer Armee von 1870 offenbart die französische Nation und vor allem die französische Bourgeoisie innerhalb weniger Monate ihre Schwäche und ihre Unfähigkeit, das Land zu regieren, dessen sozialer Kräfte Herr zu werden. Unter Napoleon dem Dritten hatte sie begonnen, den Operetten von Offenbach zu applaudieren, wobei sie sich von der Musik bezaubern ließ, ohne den Text zu verstehen. Sie spielte auf der Bühne die schwächsten Rollen, ohne sich darin wiederzuerkennen und ohne darin die Anzeichen einer bevorstehenden Explosion und der Versäumnisse zu erkennen, die das Debakel eingeleitet haben. Armand Lanoux unterstreicht dieses Bild:

Wenn man heute Offenbach aus der historischen Perspektive betrachtet, kann man nicht umhin, sein Werk als einen makabren Tanz zu begreifen, der nach Sedan geführt hat.

Und von Sedan zur Pariser Commune, die dessen unmittelbare Fortführung bedeutet. Die Ursachen für diese Debakel findet die Bourgeoisie wie immer in den Unruhen auf den Straßen, im Ungehorsam der Arbeiter und in der Disziplinlosigkeit der Soldaten, im Gebrodel der sozialen Bewegungen, die in Paris einfallen wie einst die Hunnen in Europa; vor sich nichts als die Schwäche der Regierungen und die Uneinigkeit der politischen Parteien, die nicht in der Lage sind, die Aufrührer in Schach zu halten.

Natürlich mußte die Lösung von einer starken Regierung kommen, die die Autorität wiederherzustellen vermochte. "Das einzig Vernünftige", schrieb Flaubert am 29. April an George Sand, "ist eine Regierung von Mandarins, das Volk ist eine ewige Bedrohung." Aber ja doch! Und die Pariser Commune mit ihrem unverschämten Anspruch, die Welt zu verändern, mit ihrer Verheißung einer rosigen Zukunft in einem Augenblick, da Frankreich am Boden, das Territorium amputiert, die Armee besiegt ist; die Commune verkörpert ganz gut das Band, das die Niederlage mit dem Volksaufstand, den Sturz der Staatsmacht mit der Rebellion der Bürger verknüpft. Die Intellektuellen waren vor der Demütigung im Einklang mit der Bourgeoisie – waren sie nicht deren Söhne? Zur gleichen Zeit haben sie die Stimme gegen die Gefahr erhoben, die von außen der Erbfeind Deutschland darstellte und von innen das feindliche Erbe, die Französische Revolution, unvollendet seit fast einem Jahrhundert und immer wieder besiegt. François Furet schreibt:

Denn man kann die Geschichte des ganzen 19. Jahrhunderts in Frankreich als Geschichte eines Kampfes zwischen der Revolution und der Restauration betrachten, dessen Etappen die Jahre 1815, 1830, 1848, 1851, 1870, die Kommune, der 16. Mai 1877 wären.

Man braucht nur Taine oder Renan zu lesen, um eine Vorstellung von dem Ausmaß der Beunruhigung durch die beiden letzten Episoden zu bekommen und dem Echo, das sie im Denken der Epoche gefunden hat. Und man kann ihren Widerhall in der Gesellschaft ermessen, wenn man das neue Interesse sieht, das den sozialen Bewegungen und den unteren Klassen entgegengebracht wird. Die Romane von Zola bezeugen das ebenso wie die der Historiker. Diese Klassen hat jeder in Aktion gesehen. Jeder hat – je nach seinen politischen Überzeugungen – ihre Bedeutung oder ihre Gefährlichkeit gespürt. Beunruhigung? Furcht müßte man sagen, Furcht vor der "suspekten und unberechenbaren Bevölkerung", dem "antisozialen Gesindel", wie es damals hieß.

Um die Gefahr zu überwinden, mußte man eine Erklärung für die Ereignisse finden, und möglicherweise noch mehr, nämlich den Schlüssel entdecken, der das Tor zur modernen Epoche öffnete. Jedermann in Frankreich blickte auf die soziale Ordnung und beobachtete die Instabilität der Macht. Die Bemühungen der Restauration, die Reetablierung des Ancien Regime mit seiner Monarchie und seiner Kirche hatten nicht die erhofften Ergebnisse gebracht. Zwar florierten die Doktrinen, die die Anschauungen der modernen Welt verurteilten – die Anmaßungen der Wissenschaft, das allgemeine Wahlrecht, das Prinzip der Gleichheit usf. – und die diejenigen verdammten, die sie propagierten. Aber das verhinderte nicht, daß die Parteien wie Pilze aus dem Boden schossen, daß die Bourgeoisie sich wie eine Klette an die Machtpositionen hängte, und daß die revolutionären Ideen ihren Weg machten. Es bedurfte also schon eines drakonischen Mittels, um ans Ziel zu gelangen – einer kühnen Idee, die die Gemüter läuterte. Einer einfachen und klaren Idee, die die Energien mobilisierte. Man mußte eine Antwort auf den Sozialismus geben, zeigen, daß die Revolution nicht unausweichlich war, und daß Frankreich die Kraft, sein Schicksal zu meistern, wiederfinden konnte. Das Programm schien ehrgeizig, aber jeder wußte, was auf dem Spiel stand und war sich über die Notwendigkeit einer neuen Lösung im klaren.

2.1.3

Schließlich kam Le Bon, wäre man versucht zu schreiben. Dieser verkrachte Wissenschaftler, dieser Tribun ohne Tribüne hatte begriffen, worum es ging. Die Idee, die Gesellschaft von ihren Leiden zu befreien, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, ja er war besessen davon. Seit dem Ende seines Medizinstudiums stand er in Verbindung mit zahlreichen gelehrten Schriftstellern, Staatsmännern und Philosophen, die sich mit diesen Fragen beschäftigten. Begierig danach, Karriere zu machen, in die Akademie aufgenommen oder an die Universität berufen zu werden, stürzt er sich in äußerst verschiedenartige Untersuchungen, die von der Physik bis zur Anthropologie, von der Biologie bis zur Psychologie reichen. Die letztere ist eine Wissenschaft in den Kinderschuhen, und Le Bon gehört zu den ersten, die ihren Nutzen vorausahnen. Sagen wir gleich, daß seine großen Hoffnungen, trotz des weitgespannten Netzes seiner Beziehungen und der Verbissenheit, mit der er sein Ziel verfolgt, unerfüllt bleiben. Die Tore der Universität und selbst die der Akademie der Wissenschaften bleiben ihm hartnäckig verschlossen.

Es ist also in einer Außenseiterposition, außerhalb der offiziellen Zirkel, wo er so unermüdlich arbeitet. Wie andere Geld, so scheffelt er Kenntnisse zusammen. Er entwirft ein intellektuelles Projekt nach dem andern, ohne daß auch nur eine bemerkenswerte Entdeckung all die Anstrengungen belohnt. Aber der dilettierende Forscher, der Populärwissenschaftler vervollkommnet sein Talent der Synthese. Er lernt die Kunst der knappen Darstellung und des Schlagworts. Er entwickelt jenen sechsten Sinn des Journalisten für die Fakten und Ideen, die die Masse der Leser in einem gegebenen Moment begeistern. Der Widerstand, auf den er bei den Universitäten stößt, treibt ihn mehr und mehr dazu, den Erfolg im politischen und sozialen Bereich zu suchen. Mit den Jahren und der Arbeit an Dutzenden von Werken gelingt es ihm immer mehr, biologische, anthropologische und psychologische Theorien in ein und demselben Topf zu kochen. Inspiriert sowohl von Taine als auch Gobineau skizziert er das Gerüst einer Völker- und Rassenpsychologie. Nach dem Urteil der Historiker ist sein Beitrag zu dieser Psychologie so markant, daß sein Name auf die – wenn auch wenig ruhmreiche – Liste der Vorläufer des Rassismus in Europa gehört.

Beim Studium dieser Art von psychologischen Fragen stößt Le Bon natürlich auf das Phänomen der Massen – genauer der Volksbewegungen und des Terrorismus –, das seine Zeitgenossen beunruhigt. Gerade zu dieser Zeit erscheinen auch, vor allem in Italien, mehrere Bücher zu diesem Thema. Der Akzent liegt dabei auf der Furcht, die diese Rückkehr in die Barbarei, wie es einige nannten, überall verbreitete. Geschickt nimmt Le Bon dieses Thema auf, das man bisher nur in allgemeinen und rein juristischen Begriffen diskutiert. Und er entwickelt darüber eine plausible, wenn nicht kohärente Doktrin.

Er beginnt, indem er der parlamentarischen Demokratie die Diagnose stellt: Ihr Leiden ist ihre Unentschlossenheit. Die Kraft zu herrschen führt zur sozialen Ordnung, das Fehlen dieser Kraft hat soziale Unordnung zur Folge. Der Wille zu herrschen führt zu politischer Sicherheit, das Fehlen dieses Willens zieht öffentliche Gefahr nach sich und ermutigt die Revolution. Wohl haben die Klassen, die an der Spitze dieser Demokratie stehen, sich ihre Intelligenz, die Ursache der Unentschlossenheit, erhalten, aber sie haben ihren Willen, die Quelle jeglicher Kraft, verloren. Ihnen fehlt das erforderliche Vertrauen in ihren Auftrag, ohne das die politischen Funktionen und Institutionen in Gezauder und Unverantwortlichkeit versinken. Sie haben nicht einmal das Verdienst der Offenheit: In der Demokratie mag die Mehrheit wählen, aber es ist doch immer eine Minderheit, die herrscht.

Wohlgemerkt, Le Bon wirft den herrschenden Klassen nicht etwa Falschheit oder Mangel an Prinzipien vor. Er hält ihnen vor, der Vergangenheit nicht den Rücken zukehren zu können und nicht leistungsfähig genug zu sein. In einer Epoche der Verwirrung und der Demoralisation liegt die Entscheidung in ihrer Hand. Indem sie sich für eine Demokratie entscheiden, in der sich jakobinische Ideen mit oligarchischen Praktiken mischen – das Ganze gekleidet in allgemeine und vage Phrasen – verurteilen sie sich zur Ohnmacht. Sie laufen Gefahr, von ehrgeizigen, intelligenten und skrupellosen Leuten, die sich auf die von ihnen geführten populären Kräfte stützen können, manipuliert, übertrumpft und überfahren zu werden. Um nicht ihre Mission der Zivilisation und des Fortschritts zu verfehlen, müssen sie die Gegebenheiten der Situation, das Wesen des Konflikts, der die Gesellschaft zerrüttet, erkennen. Und Le Bon liefert ihnen die so ersehnte Antwort: Die Massen sind es, die die Hauptrolle in diesem Konflikt spielen. Nur die Massen liefern den Schlüssel für die Situation in Frankreich und der ganzen modernen Welt. Ein Historiker von heute:

Le Bon, der in einer prophetischen Stimmung schrieb, begann, indem er die Massen exakt ins Zentrum einer jeden möglichen Interpretation der modernen Welt setzte.

Sicherlich empfindet er ihnen gegenüber die Verachtung des Bürgers für den Pöbel. Und die des Sozialisten gegenüber dem Lumpenproletarier. Aber die Massen sind ein Faktum, und ein Wissenschaftler mißachtet die Fakten nicht, er respektiert sie und bemüht sich, sie zu verstehen. Angesichts dieser Tatsache träumt Le Bon nicht von der Wiederherstellung der Monarchie oder des aristokratischen Regimes. Sein Traum ist die patrizische und individualistische Demokratie nach englischem Vorbild.
Der Liberalismus jenseits des Kanals hat von der zweiten bis einschließlich der fünften Republik immer wieder das soziale Denken in Frankreich stimuliert. Dennoch gelang ihm nicht der entscheidende intellektuelle Durchbruch. Ebensowenig gelang dem Großbürgertum aus Finanz und Industrie ein definitiver politischer Durchbruch in einem französischen Staat, den der Mittelstand der Kaufleute, Beamten, Bauern und sogar der Arbeiter für sich konzipiert hatte. Frankreichs stürmische und metaphysische Beziehungen zur Modernität, sein Hin- und Hergerissensein zwischen dem englischen Modell, dem es sich in der Zeit, und der deutschen Macht, der es sich räumlich verbunden fühlte, schließlich seine Treue gegenüber einem missionarischen Nationalismus, der das Bild einer Welt mit französischem Gesicht malte – das achtzehnte Jahrhundert war ihm dafür nostalgisches Beispiel –, all das sind gleichermaßen Gründe für dieses Angeschlagensein.

Besorgt um den Zustand Frankreichs sucht Gustave Le Bon ein Gegenmittel für die Unordnung, die die Massen herbeigeführt haben. Er findet es weder in der Geschichte noch in der Ökonomie, sondern in der Psychologie. Sie lehrt ihn, daß es eine "Massenseele" gibt, die geformt wird von elementaren Trieben, organisiert wird von starken Anschauungen, und die unempfänglich für Erfahrung und Vernunft ist. Ganz wie die "Einzelseele" den Suggestionen eines Hypnotiseurs gehorcht, der eine Person in hypnotischen Schlaf versetzt hat, so gehorcht die "Massenseele" den Suggestionen eines Führers, der ihr seinen Willen aufzwingt. In diesem Zustand der Trance führen alle das aus, was die Individuen im Normalzustand weder tun könnten noch tun wollten. Indem er anstelle von Realitäten Bilder heraufbeschwört und eine Reihe von Anordnungen gibt, ergreift der Führer von dieser Seele Besitz. Die Masse ist ihm ausgeliefert wie der hypnotisierte Patient dem Arzt.

Der Grundgedanke ist also einfach. Alle Katastrophen der Vergangenheit und alle Probleme der Gegenwart lassen sich auf den Einfall der Massen zurückführen. Die Schwäche der parlamentarischen Demokratie erklärt sich damit, daß diese der Psychologie widerspricht. Die herrschenden Klassen haben Fehler begangen, sie haben die Ursachen der Massen verkannt und deren Gesetze ignoriert. Um das Übel zu kurieren und eine lange Zeit gefährliche Situation wieder zu stabilisieren, genügt es, den Irrtum einzusehen und diese Gesetzmäßigkeiten der Massen zu erkennen.

Diese Idee, formuliert in einem direkten und lebendigen Stil und gestützt auf einen, sagen wir: wissenschaftlichen Gehalt, erklärt den Erfolg der Bücher Le Bons, "in bezug auf den kein anderer Denker des Sozialen mit ihm konkurrieren könnte". Von einem Tag auf den andern wurde der Populärwissenschaftler zum Vordenker. Und er behält diese Position bis zum Ende seines sehr langen Lebens. "Den Rest seines Lebens", schreibt sein einziger Biograph (ein Engländer natürlich), "hat sich Le Bon bemüht, die Eliten im Hinblick auf ihre wachsende militärisch-politische Verantwortung zu erziehen."

Eine Erziehung, die dreißig Jahre lang Scharen von Staatsmännern, Literaten und Wissenschaftlern an ihm (ja an ihm, denn er war ein Stubengelehrter) vorbeiziehen ließ. Es seien hier nur die Psychologen Ribot und Tarde genannt, der Philosoph Bergson, der Mathematiker Henri Poincaré, das nicht einzuordnende Genie Paul Valéry, die Prinzessinnen Marthe Bibesco und Marie Bonaparte, die großen Anteil an der Verbreitung seiner Ideen gehabt haben. Ich möchte auch die Politiker nicht vergessen, die ihn gekannt und, wie ich glaube, auch geachtet haben: Raymond Poincaré, Briand, Barthou, Theodore Roosevelt und andere. All diese Bewunderer, muß man hinzufügen, waren von seiner Sicht der menschlichen Natur überzeugt, so schwer sie auch zu akzeptieren war. Sie nahmen in politischen und sozialen Angelegenheiten ernsthaft seine gebieterischen Ratschläge entgegen. In der Tat erreichte die Verbreitung seiner Lehre ihren Höhepunkt in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, zu der Zeit, da "die neue Disziplin den stärksten Eindruck auf die demokratischen Eliten machte, die darin ein begriffliches Werkzeug zur Bestätigung ihrer tiefverwurzelten Furcht vor den Massen sahen, zugleich aber auch einen Satz von Regeln an die Hand bekamen, mit deren Hilfe sie das Gewaltpotential dieser Massen manipulieren und meistern konnten".

Der Machiavelli der Massengesellschaften

2.2.1

Niemand würde bestreiten, daß Le Bons Psychologie der Massen das ist, was man heute einen Bestseller nennt, und daß die Gesamtauflage seines Werkes einer der größten wissenschaftlichen Erfolge aller Zeiten ist. Ich möchte diesen Erfolg nun an der Qualifiziertheit derer, die seine Werke gelesen haben, und an dem von ihm ausgeübten Einfluß messen. Beginnen wir mit dem Augenscheinlichsten: Die Psychologie der Massen ist das Manifest einer Wissenschaft, die unter diversen Namen (Sozialpsychologie, Kollektivpsychologie etc.) bis heute fortbesteht. Diese Tatsache verdient Beachtung, denn es ist nicht jedem Menschen oder jedem Buch gegeben, eine Wissenschaft zu begründen. Zwei amerikanische Forscher bemerken:

Mehr Einfluß auf die Gestaltung des unmittelbaren Hintergrundes, vor dem die moderne Sozialpsychologie entstand, hatten die Schriften von Tarde und Le Bon in Frankreich.

Man nennt die Namen der beiden französischen Gelehrten oft in einem Atemzug, aber es ist klar, daß "Die Psychologie der Massen, wie auch Allport bekannte, "von allen Büchern über Sozialpsychologie, die jemals geschrieben worden sind, dasjenige mit dem größten Einfluß ist". Ein Buch, das bald wieder aufgelegt, kommentiert, kritisiert und offenkundig plagiiert worden ist. Dieses Werk ist zu einem großen Teil Inspirationsquelle und Thema der beiden ersten Lehrbücher der Sozialpsychologie – desjenigen des Engländers Mc Dougall und des des Amerikaners Ross – und sein Einfluß wirkt noch immer fort. Ich selbst zähle mich zu den wenigen Wissenschaftlern, die die Mühe auf sich genommen haben, nicht auf seinem Fundament aufzubauen. Nichtsdestoweniger glaube ich, daß das Urteil zweier erfahrener amerikanischer Wissenschaftler alles in allem zutreffend ist: "Le Bons Werk", schreiben Milgram und Toch, "traf auch den Nerv der Sozialpsychologie. Es gibt kaum eine Erörterung in seinem Buch, die nicht ihren Widerhall in der experimentellen Sozialpsychologie dieses Jahrhunderts fände ... Und Le Bon liefert nicht nur eine sehr allgemeine Diskussion, sondern eine wahre Schatzkammer phantasievoller, prüfbarer Hypothesen."

Auch wenn man das leicht vergißt, seine Rolle in der Soziologie war nicht weniger bedeutend. Selbst einige oberflächliche Stichproben lassen die außergewöhnliche Verbreitung, fast könnte man sagen, die modische Beliebtheit seiner Wendungen und Thesen etwa in Deutschland erkennen. So bedeutende Denker wie Simmel, von Wiese oder Vierkandt entwickeln sie weiter, präzisieren sie und integrieren sie in ihr jeweiliges System.

Die Massenpsychologie findet auf diese Weise Einlaß in die Lehre und wird zum integralen Bestandteil des universitären Pensums. Der Boden für ihre Verbreitung im politischen Milieu ist damit vorbereitet. Sie genießt in der Tat die Autorität der Wissenschaft. Und sie findet auch in einer von der deutschen Soziologie doch sehr abgehobenen Strömung, nämlich der Frankfurter Schule, ein Echo. In den Schriften von Adorno und Horkheimer taucht der Name des französischen Psychologen des öfteren auf. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die Massengesellschaft steht im Zentrum ihres Denkens. Auch das relativ aktuelle Handbuch dieser Schule widmet ihm ein Kapitel, in dem man lesen kann:

Nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte wird man zugestehen müssen, daß, zumindest oberflächlich, ein erstaunliches Maß der Aussagen von Le Bon auch unter den Bedingungen der modernen technischen Zivilisation, in der man doch mit aufgeklärten Massen rechnete, sich bestätigt hat.

Ich werde noch des öfteren Gelegenheit haben, auf die Beziehungen zwischen der Frankfurter Schule und der Massenpsychologie, auf die Le Bon und "seinem berühmten Werk" erteilte Aufmerksamkeit zurückzukommen. Im Augenblick begnüge ich mich damit, eine Bilanz zu ziehen. Bis zur Machtergreifung Hitlers, also bis zum Schiffbruch der deutschen Soziologie, ist diese Bilanz eindeutig. "Noch heute", schreibt einer ihrer bekanntesten Vertreter, "hat unbegreiflicherweise Le Bons Psychologie des foules klassischen Ruf; ihre Halbwahrheiten spuken in nahezu allen soziologischen Arbeiten, die sich mit dem Massenproblem beschäftigen."

Die Arbeiten der amerikanischen Soziologen eingeschlossen. Deren Zahl ist zu groß, als daß man davon auch nur eine adäquate Kostprobe geben könnte. Aber das Beispiel Robert Park, eines der Begründer der berühmten Chicagoer Schule, steht keineswegs allein. Von seiner in Deutschland abgeschlossenen Dissertation, die eben über die Masse bzw. die Öffentlichkeit handelte, bis hin zu seinen letzten Schriften findet man den Stempel Le Bons und seines "Buches über die Masse, das Epoche gemacht hat".

Diese Schule hat bedeutende Arbeiten über die Masse und das kollektive Verhalten hervorgebracht. Auf diesem Gebiet wird Le Bon, zusammen mit Tarde, noch immer als Pionier anerkannt. Selbst wenn viele von denen, die davon sprechen, ihn nur flüchtig oder aus zweiter Hand gelesen zu haben scheinen und ihn ebenso oberflächlich kritisieren, so müssen sie doch anerkennen, daß er einen Einfluß ausübt. Was für Deutschland und die Vereinigten Staaten gilt, trifft auch auf die übrige Welt zu. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, zum Beispiel das enzyklopädische Werk von H. Becker und H. E. Barnes: Social Thought from Lore to Science durchzublättern. Man wird dabei bemerken, wie sehr Le Bon ein im landläufigen Sinne klassischer Autor geworden ist. Und nach der Durchsicht einer gewissen Anzahl von "Geschichten der Soziologie" – die selbstverständlich im Ausland publiziert wurden – kann ich bestätigen, daß sein Name (mit dem von Tarde) bis zum Zweiten Weltkrieg ebenso oft, wenn nicht öfter, zitiert wird wie der von Durkheim, und daß seine Ideen eine größere Verbreitung gefunden haben.

2.2.2

Aber die Verbreitung der Massenpsychologie erreichte auch die Nachbardisziplinen und inspirierte eine ganze Reihe von Arbeiten der Politologie und Geschichtswissenschaft. Man findet ihre Konzepte selbst in Arbeiten der Psychoanalyse. Robert Michels verdankt man, was man das klassische Werk über die politischen Parteien nennt. Wenn man seine Thesen analysiert, findet man darin eine Synthese aus der auf Max Weber zurückgehenden Beschreibung von Herrschaftsformen und aus den psychologischen Erklärungen Le Bons. Das ist um so offensichtlicher, als der Autor kein Hehl daraus macht. Selbst die Idee, die politischen Parteien als Massen aufzufassen und ihre Entwicklung mit Hilfe der Psychologie zu erklären, leitet sich in direkter Linie von Le Bon her.

Die Geschichtswissenschaft hat sich der Schwärmerei für seine Ideen nicht enthalten können. Ich will darauf nicht weiter eingehen, sondern möchte es hier bei einem Zitat und einem Kommentar belassen. Im Jahre 1932, ein Jahr nach Le Bons Tod, organisiert man anläßlich der "Woche der Synthese" ein der Masse gewidmetes Treffen. Das ist für die Universität eine Möglichkeit, des Mannes, den sie ignorieren wollte, dessen Ideen sie sich aber nicht entziehen konnte, zu gedenken und ihn zugleich zu begraben.
Mit seiner manchmal etwas heftigen Kritik, die im Gewand der damals dominierenden Durkheimschen Diktion Ideen verbreitete, die alles andere als Durkheimsche waren, zollt ihm der berühmte Historiker Georges Lefèbvre eine seltene Anerkennung:

Der Terminus der Masse ist von Dr. Le Bon in die Geschichte der Französischen Revolution eingeführt worden. Dieser Begriff implizierte die Existenz eines Problems, um das man sich vor ihm überhaupt nicht gekümmert hatte. Aber wenn das Verdienst dieses Autors in dieser Hinsicht auch unbestreitbar ist, so geht es doch nicht darüber hinaus.

Dieses Urteil ist gerecht und keineswegs kleinlich. Einen Begriff einzuführen, ein ungeahntes Problem in einer so ehrwürdigen und so wenig abenteuerlichen Wissenschaft wie der Geschichte zu entdecken, ist kein geringes Verdienst. Was Georges Lefèbvre angeht, so hat er ihm noch mehr Anerkennung gezollt, indem er selbst "darüber hinaus" ging und indem er den Begriff der Masse sowohl auf seine eigenen Forschungen als auch auf bereits vorhandenes Material anwendete. Daraus ist ein noch immer einzigartiges Werk entstanden, La Grande Peur de 1789, worin er eine Brücke zwischen Massenpsychologie und Geschichte schlägt.

An dieser Stelle müßte ich mehr auf das eingehen, was die Psychoanalyse von der Massenpsychologie übernommen und weiterentwickelt hat und welche von beiden dabei mehr Bedeutung hat. Da aber ein nicht geringer Teil meines Buches Freud gewidmet ist, beschränke ich mich hier darauf, eine Einschätzung wiederzugeben, in der das Wesentliche gesagt wird, und in der es sehr gut gesagt wird: "Die Methode des Freudschen Buches", schreibt Adorno in bezug auf Massenpsychologie und Ich-Analyse, "besteht in einer dynamischen Interpretation von Le Bons Beschreibung der Massenseele."

Bei dieser Art von Ideen darf Jung nicht fehlen. Seine Vorstellung vom kollektiven Unbewußten gehört mit in die vorderste Reihe derer, die der französische Psychologe intuitiv erfaßt, die er gebraucht und mißbraucht hat. Hierzu überlasse ich noch einmal einem Historiker das Wort:

Es gibt keinen Bereich, in dem zwischen Freud und Jung soviel Übereinstimmung zu herrschen scheint wie in den Fragen der Massenpsychologie. Beide akzeptieren Gustave Le Bons klassische Beschreibung der Masse und sind sich einig, daß das Individuum in der Masse in einen primitiveren und emotionalen geistigen Zustand absinkt.

Zugegeben, die Andeutung dieser Herleitungen und diese äußerst knappen Vergleiche können nur ein sehr unvollständiges Bild vermitteln von einem Einfluß, der sich über die Grenzen der Wissenschaft hinaus bis in die Kultur im allgemeinen auswirkte. So sehr, daß eine der geistigen Strömungen dieses Jahrhunderts sich definieren konnte als "durchdrungen von der darwinistischen Biologie und der wagnerianischen Ästhetik, vom Rassismus Gobineaus und von der Psychologie Le Bons, von den Baudelaireschen Anathemen, den dunklen Prophezeiungen Nietzsches und Dostojewskis und später von der Philosophie Bergsons und der Freudschen Psychoanalyse".

Das ist eine zugegebenermaßen düstere Gesellschaft, aber eine Gesellschaft, zu der nur wenige Namen gehören. Ob uns das gefällt oder nicht, der von Le Bon ist darunter. Diese Tatsache sagt mehr als alle Zeugnisse, die ich für die außergewöhnliche Bedeutung seines Werkes, für dessen große Resonanz noch anführen könnte. Um so weniger kann man sich vorstellen, daß er in der großen Familie der Psychologen und Soziologen nur die Rolle des Stiefbruders spielt. Alle haben ihn gelesen, aber keiner will ihn gelesen haben. Das weist jeder von sich, während er seine Schriften ohne die geringste Scham benutzt, so wie die Erben des Cousin Pons dessen Sammlungen zerstörten und auseinanderrissen, um daraus Profit zu schlagen. Wollte ich, um das zu belegen, dem Leser alle Dokumente zukommen lassen, von denen ich Kenntnis habe, benötigte ich allein dafür mehr als einen Band.

2.2.3

Den Leser von heute schrecken etliche Absonderlichkeiten in den Schriften Le Bons. Doch was uns verblüfft, ist sein Vorauswissen. Alle psychologischen und politischen Entwicklungen unseres Jahrhunderts sind darin vorweggenommen. Wenn seine Analysen und Vorahnungen mit soviel Leidenschaft durchsetzt sind, rührt das daher, daß er sich in der Rolle eines Machiavelli der Massengesellschaften sieht und sich berufen glaubt, das Werk seines berühmten Vorgängers auf anderer Grundlage neu schaffen zu müssen: "Die meisten Regeln der Kunst der Menschenführung, die Machiavelli gelehrt hat", schreibt er 1910, "sind schon seit langem unbrauchbar, und doch sind vier Jahrhunderte über den Staub dieses großen Verstorbenen hinweggezogen, ohne daß jemand versucht hätte, sein Werk wiederaufzunehmen".

Er für seinen Teil versucht es – mit Erfolg, wie er glaubt – und wendet sich an Staatsmänner, Parteichefs, die modernen Fürsten als seine direkten oder indirekten Schüler. Und an Schülern hat es ihm nicht gefehlt. Indem er die Regeln des politischen common sense, die Maximen eines Robespierre und vor allem eines Napoleon mit einem psychologischen Gerüst versah, durchbrach Le Bon eine intellektuelle Sperre, er verletzte die Tabus des liberalen und individualistischen Denkens. Er gestattete es den Staatsmännern, die Existenz der Massen mit einem unerwarteten Winkelzug anzugehen, und ermöglichte ihnen, sich in Führer zu verwandeln. In der Tat waren es vor allem die Parteien und die Emporkömmlinge, die sich mit dem Übereifer der Bekehrten seine Ideen zu eigen machten und seine Bücher für sich auslegten. Zumindest waren sie gezwungen, sie zur Kenntnis zu nehmen und Stellung zu beziehen. Das galt, über alle ideologische Schattierungen und politische Positionen hinweg, ohne Ausnahme für Rechte wie für Linke.

Beginnen wir mit den sozialistischen Bewegungen. Man hätte glauben können, daß sie keine Beziehung zur Massenpsychologie gehabt haben, ja gänzlich unempfänglich dafür gewesen seien. Aber die Arbeiterparteien waren die ersten, die sich mit dem Problem der Massen konfrontiert sahen. Ihre Politik gründete sich, ganz wie die der liberalen und der bürgerlichen Parteien, auf ein Postulat der Rationalität und des Klasseninteresses. Die ihnen allen gemeinsame philosophische Grundlage führt die einen wie die anderen dazu zu glauben, daß das Handeln der Menschen von einem Bewußtwerden ihrer gemeinsamen Ziele und einer entsprechenden Erziehung abhinge.

Die Thesen Le Bons treffen allerdings die sozialistischen Denker, da sie den ihren widersprechen. So vor allem sein Betonen der unbewußten Faktoren und der entscheidenden Rolle der amorphen, nicht organisierten Massen. Aber diese Thesen berühren sie auch, weil sie auf eine Realität verweisen, die sie selbst wahrnehmen, auf die sie aber noch nicht reagiert haben. Vertraut mit den Klassenphänomenen, mit einer relativ beschränkten und abgegrenzten Arbeiterklasse, sind sie von den Erscheinungen der Massen überrascht worden.

Die lebhafteste Reaktion auf diese Thesen kam von Georges Sorel, dem Autor der berühmten Reflexions sur la violence. Seine Rezension der Psychologie der Massen enthält eine Reihe von Bedenken bezüglich des konservativen Charakters der Massen und der mangelnden soziologischen Grundlage der neuen Psychologie. Aber im ganzen ist sie positiv, ja enthusiastisch. Man kann beobachten, wie sich Sorel im Laufe der Jahre der Position Le Bons nähert und dessen Ideen zustimmt. Auch läßt er sich davon inspirieren. Die Idee, daß die Arbeiterklasse einen mächtigen, also irrationalen Mythos annehmen muß, um revolutionär zu werden, ist ein Beleg dafür. Ebenso haben wir viele Belege für seine Bewunderung. Das führt dazu, daß die Massenpsychologie über die Vermittlung Sorels, dessen Schriften und Konzeptionen großen Einfluß auf das damalige politische Denken haben, bei den Sozialisten eindringt. Ein Echo darauf findet sich bei dem Kommunisten Gramsci. Dieser hat die Werke von Sorel und Michels – den beiden Männern, die, jeder mit dem ihm eigenen Genius, sich die Ideen Le Bons am besten zu eigen gemacht haben – gelesen und kritisch darüber reflektiert.

Über einen Kanal, der noch zu entdecken bleibt, tauchen Le Bons Ideen sogar im Zentrum einer Debatte auf, die die deutschen Sozialdemokraten erregt. Vor der russischen Revolution galt diese Partei als Modell für alle Arbeiterparteien. Die Frage, die man diskutierte, war die folgende: Wie soll die Beziehung zwischen der bewußten, organisierten Klassenpartei und den unorganisierten Massen, dem Lumpenproletariat, der "Straße" aussehen? Es liegt auf der Hand, daß der französische Psychologe die Aufmerksamkeit auf die wachsende Bedeutung der letzteren gelenkt hat. Der große deutsche Theoretiker Karl Kautsky erkannte die Bedeutung dieser Entwicklung: "Es ist eine Binsenwahrheit geworden", schreibt er, "daß die politischen und ökonomischen Kämpfe unserer Zeit immer mehr zu Massenaktionen werden".

Zur gleichen Zeit nimmt er eine regelrechte Zurückweisung der Erklärung der Massenphänomene mit Hilfe von Suggestion und psychologischen Ursachen überhaupt in Angriff. Was ihn nicht hindert, die Theorie Le Bons, wenngleich etwas gezwungen und widerwillig, so doch zu akzeptieren. Die Massen sind immer gleich, welcher sozialen Klasse sie auch angehören mögen: Sie sind unberechenbar, destruktiv und, zumindest teilweise, konservativ. So kommt er anhand der Beispiele der Judenpogrome und des Lynchmordes an Schwarzen zu der Schlußfolgerung:

Man sieht, die Aktion der Masse dient nicht immer dem Fortschritt. Das, was sie zerstört, sind nicht immer die schlimmsten Hemmnisse der Entwicklung. Sie hat ebenso oft reaktionären wie revolutionären Elementen dort in den Sattel geholfen, wo sie siegreich war.

Auch wirft einer seiner Gegenspieler, Pannekoek, ihm heftig vor, er gestehe den Massen eine von der historischen Periode und ihrem Klassencharakter unabhängige Eigendynamik zu. Kurz, er ignoriere, daß eine Masse sich entweder aus Proletariern oder aus Bürgerlichen zusammensetze. Für Kautsky handelt es sich nur um ein Epiphänomen, das die Arbeiterparteien nicht zu berühren brauche. "Gegen diese Verschiedenheit im Grundcharakter", behauptet er, "wird der Gegensatz zwischen organisierten und unorganisierten Massen zwar nicht bedeutungslos – denn Schulung und Erfahrung machen bei gleich veranlagten Mitgliedern der Arbeiterklasse viel aus –, aber doch zu seiner Nebensache". Meines Wissens ist diese Debatte ohne Abschluß geblieben. Keiner der Kontrahenten hat einen neuen Gesichtspunkt oder eine neue Taktik hinsichtlich der unorganisierten städtischen Massen präsentiert.

Ich habe mich viel zu knapp über diese entscheidende Episode ausgelassen. Doch genügt das, um eine Vorstellung von den Auswirkungen zu bekommen, die die Massenpsychologie innerhalb so kurzer Zeit nach sich gezogen hat. Da es an genaueren historischen Arbeiten fehlt, läßt sich nicht abschätzen, welches Gewicht diese Auswirkungen im sozialistischen und revolutionären Lager hatten. Dieses Gewicht war wohl nicht groß genug, um den Demokraten aller Richtungen die Augen zu öffnen, als die ganz offen despotischen Regime, allen voran der Faschismus, mit der enthusiastischen Unterstützung der Massen von der Bühne der modernen Geschichte Besitz ergriffen. Sie waren von der Unmöglichkeit eines auf solch "primitive" Weise errungenen Sieges derart überzeugt, daß sie die Massen sozusagen überhaupt nicht wahrnahmen. Der italienische Schriftsteller Silone bestätigt diesen Eindruck:

Andererseits läßt sich nicht leugnen, daß die Sozialisten ihr Augenmerk ausschließlich auf den Klassenkampf und die traditionelle Politik gerichtet hatten und deshalb vom Ausbruch des Faschismus überrumpelt wurden. Sie begriffen weder die Ursachen noch die Folgen seiner höchst ungewöhnlichen Worte und Symbole und konnten sich auch nicht vorstellen, daß eine so primitive Bewegung die Macht einer derart komplizierten Maschinerie, wie der moderne Staat sie darstellt, an sich zu reißen und in der Hand zu halten vermöchte. Die Sozialisten waren auf die Wirkung der faschistischen Propaganda geistig nicht vorbereitet, denn ihre Lehre wurde von Marx und Engels im vorigen Jahrhundert geschaffen und hat sich seither nicht weiterentwickelt. Marx konnte die Entdeckungen der modernen Psychologie nicht ahnen und die politischen Formen und Folgen der modernen Massenzivilisation nicht voraussehen.

Den deutschen Sozialisten ging es nicht anders.

Am Vorabend des Geschehens hält alle Welt das Mögliche für unmöglich: Kriege ebenso wie wissenschaftliche Entdeckungen. Die Kurzsichtigkeit der Sozialisten (und der Kommunisten) hat sie von den arbeitenden Massen abgeschnitten und wird es, unter den gleichen Bedingungen, auch weiterhin tun. Selbst dann, wenn die Massen für sie stimmen. Das ist sehr wahrscheinlich. Wenn eine Masse Wassers nicht sehr tief ist, hat sie nicht die Kraft, ein großes Schiff zu tragen. Wenn eine Masse von Menschen nicht begeistert ist, hat sie nicht die Kraft, eine große Idee zu leben. Und das ist eingetreten.

2.2.4

Die Werke Le Bons sind in alle Sprachen übersetzt worden. Gerade die Psychologie der Massen wurde ins Arabische von einem Justizminister und ins Japanische von einem Außenminister übertragen. Theodor Roosevelt, der Präsident der Vereinigten Staaten, zählte sich zu seinen ständigen Lesern und hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn im Jahre 1914 zu treffen. Und ein anderer Staatschef, Arturo Alessandri, schrieb 1924:

Sollten Sie eines Tages die Gelegenheit haben, Gustave Le Bon kennenzulernen, sagen Sie ihm, der Präsident der Republik Chile sei sein eifriger Bewunderer. Ich habe aus seinen Werken gelernt.

Das gibt zu denken. Es läßt sich auch belegen, daß die Massenpsychologie und die Ideen Le Bons zu den dominierenden intellektuellen Kräften der Dritten Republik gehören. Sie liefern uns sogar den Schlüssel dazu. Man muß nur verfolgen, wie diese Lehren über die Vermittlung derer, die sie gut kannten und die die Ratschläge ihres Autors befolgten, in die politische Welt eindrangen. Von denen, die bei Le Bon verkehren und seine Reden hören, ist zuerst Aristide Briand zu nennen. Louis Barthou kennt Le Bon und erklärt: "Ich halte Dr. Le Bon für einen der schöpferischsten Köpfe unserer Zeit." (La Liberté, 31. Mai 1931.) Raymond Poincaré zögert nicht, sich bei seinen öffentlichen Reden auf seinen Namen zu berufen. Dann Clemenceau. Im Vorwort zu seinem Buch La France devant l’Allemagne, das mitten im Krieg erschien, erwähnt er einen einzigen lebenden Autor: Le Bon. Ich schließe diese zwangsläufig unvollständige Liste mit dem Namen Herriot: "Ich gestehe", schreibt er 1931, "daß ich für Dr. Gustave Le Bon schon seit langem die lebhafteste und zugleich überlegteste und treueste Bewunderung hege. Ich halte seinen Geist für einen der größten und scharfsinnigsten, die es gibt." Zweifellos muß man von dem Gesagten die Höflichkeiten und Übertreibungen abziehen. Aber diese fünf Männer haben die Macht in ihren Händen gehalten. Sie haben die Republik geformt. Zusammen mit anderen Zeugnissen bestätigen diese Erklärungen die Realität dessen, was ich als Eindringen in die politische Welt bezeichnet habe.

Die Massenpsychologie ist auch in andere Bereiche tief eingedrungen. Zum Beispiel in das Militär. In den verschiedenen Armeen der Welt wird sie studiert. Nach und nach wird sie zum integralen Bestandteil ihrer Praxis und ihrer Doktrin. Zu Beginn dieses Jahrhunderts wird die Theorie an der Ecole de Guerre von den Generälen Bonnal und Maud’huy und anderen gelehrt. Einige, so etwa der General Mangin, bezeichnen sich als seine Schüler. Und man bedenke, daß er mehrere Befehlshaber, so vor allem Foch beeinflußt hat. Sie bewunderten wahrscheinlich seine Vision von der Macht eines Führers, der sich auf den direkten Willen der Nation stützte. Auch mußten sie mit seiner Kritik einverstanden sein, die er an einer Demokratie übte, die, uneins in Wort und Tat, ohne Überzeugung regierte, und die sich, um nicht in die Schlacht gehen zu müssen, in die Niederlage schickte. Nach dem Debakel von 1870 fand eine solche Sprache offene Ohren.

Da sie das Gütesiegel der Wissenschaft trug, war man bereit, daran zu glauben. Und während des 1. Weltkrieges unterstellte man ihr die Macht, die erforderlichen Energien zu mobilisieren. Man wandte sich in der Tat wiederholt an Le Bon, und dieser erarbeitete Papiere, die für die politischen und militärischen Führer bestimmt waren.
Man glaubte an seine Psychologie um so mehr, als sie eine geeignete Methode mit sich brachte, die Menschen zu mobilisieren und die Disziplin der Truppe zu fördern, jenes zerbrechliche und kostbare Gut, das zu bewahren und zu entwickeln Anliegen eines jeden klugen Militärs ist. Es war das Genie des General de Gaulle, dieses Bündel von Ideen aus den Mauern der Kriegsakademien herauszuholen und ihnen in der politischen Arena eine systematische Gestalt zu geben. Ohne Zweifel hat er ihnen einen Stil, eine besondere Größe verliehen. In der Stunde der Gefahr hat er sich ihrer bedient, um den Mythos Frankreichs wieder auferstehen zu lassen und den Franzosen patriotischen Geist einzuhauchen. Ich stelle bei allem gebotenen Vorbehalt fest, daß die Ideen Le Bons uns noch immer einen Schlüssel liefern, diesmal zur Fünften Republik allerdings. Auch deren Grundformel: ein auf nationale Einheit bedachter Präsident und ein Parlament von Ja-Sagern hat er vorausgesehen. Seit 1925 hat er sie wie folgt propagiert:
Die wahrscheinlichste Form (der Regierung) wird zweifelsohne durch die autokratische Macht der Premierminister charakterisiert sein, die praktisch, wie schon Lloyd George in England und Poincaré in Frankreich, über eine absolute Macht verfügen. Die Schwierigkeit besteht darin, einen Mechanismus zu finden, der es ermöglicht, daß die Premierminister, wie in den Vereinigten Staaten, von den Stimmen des Parlaments unabhängig sind.

Man weiß, daß General de Gaulle diese Schwierigkeit überwand und diesen Mechanismus entdeckte. Und mehr noch. Er verkörperte – ganz bewußt – den Führer, der Le Bon vorgeschwebt hatte. Und er wußte diese Vision an die Gegebenheiten der Demokratie und an die französischen Massen anzupassen. Als Beweis dafür nehme man Die Schneide des Schwertes. Darin findet sich eine Anhäufung von Le Bonschen Aphorismen, namentlich all jene, die sich auf die Natur der Massen und das Prestige des Führers beziehen. M. Mannoni hat diese Anleihe vermerkt:

General de Gaulle hat diese Idee (des Führers) Wort für Wort wiederholt. So verrufen er sein mag, Le Bon ist viel geplündert worden.

Zwei Politiker haben Le Bon vor allen anderen geplündert. Sie haben seine Prinzipien in die Praxis umgesetzt und ihre Anwendung peinlich genau kodifiziert: Mussolini und Hitler. Halten wir ein interessantes Detail fest: Le Bons Anschauungen dringen über den Kanal revolutionär-sozialistischer Publikationen nach Italien. Dort werden sie im Handumdrehen populär. Man werfe einen Blick auf die Ursprünge des Faschismus, und man wird sehen, daß diese Anschauungen dort gut hinpassen.

Bei Mussolini mußten die Ideen von Pareto, Mosca, Sorel, Michels, Le Bon und Corradini ihren Ausdruck finden. Das waren die entscheidenden Ideen für sein jugendliches soziales und politisches Denken. Das waren die Ideen, die die ersten doktrinären Aussagen des Faschismus begründen mußten, und die darin enden mußten, die erste rationelle Doktrin des ersten in unserer Zeit verkündeten totalitären Nationalismus vorbereitet zu haben.

Wenn man bedenkt, daß Sorel und Michels von dem französischen Psychologen beeinflußt waren, und daß Pareto bei ihm große Anleihen gemacht hat, so muß man folgern, daß jede seiner Schriften in der italienischen Konterrevolution doppelt wog. Mussolini jedenfalls kennt ihn und bezieht sich voller Wohlwollen auf ihn. Im Jahr 1932 erklärt er, wohl mit leichter Übertreibung:

Indes kann ich Ihnen sagen, daß ich, was das Philosophische angeht, einer der eifrigsten Anhänger Ihres berühmten Gustave Le Bon bin, dessen Tod ich nicht genug bedauern kann. Ich habe sein ganzes umfangreiches und tiefsinniges Werk gelesen, seine Psychologie der Massen und seine Psychologie der Neuen Zeit. Das sind die beiden Werke, in denen ich, neben seiner Abhandlung über die politische Psychologie des öfteren nachschlage. Auch habe ich einige der Prinzipien, die darin enthalten sind, aufgegriffen, um die heute in Italien bestehende Ordnung aufzubauen.

Das sind Worte, die dem alten Mann geschmeichelt hätten. Auf andere Ehrungen aus dem Vaterlande Machiavellis hatte er ja schon mit kompromittierender Dankbarkeit geantwortet. Wohl war man noch bei den Höflichkeiten, beim Horsd’œuvre, dem dann die beiden düstersten Dekaden der Geschichte folgen sollten. Und man hatte in dieser Epoche auch noch keine Ahnung, daß diese Konzentrationen der Massen mit Massen in Konzentrationslagern endeten.

Aber derjenige, der Le Bon – mit einer gut deutschen Anwendung – am systematischsten gefolgt ist, sollte erst nach dessen Tod an die Macht kommen: Adolf Hitler. Dessen Mein Kampf ist den Überlegungen des französischen Psychologen stark verhaftet und zeichnet sich durch eine Reformulierung Le Bonscher Sätze aus, die weder Stil noch Weitblick verrät. Man hat mit Recht gesagt, daß dieses Werk und die auf Beeinflussung der Massen gerichteten Erklärungen Hitlers sich "wie eine billige Kopie Le Bons" lesen.

Diese langjährige Anhängerschaft hat glauben lassen, daß letzterer eine viel entscheidendere Rolle gespielt habe als auf den ersten Blick vermutet. Eine deutsche historische Studie belehrt uns in der Tat, daß

die Theorie Le Bons – immer wieder kritisch an der Wirklichkeit überprüft – ... ihm (Hitler) die Gewißheit gegeben (hatte), die richtigen Kategorien revolutionären Denkens zu besitzen ... Le Bon hatte ihm die Erkenntnis von den notwendigen Eigenschaften einer revolutionären Gegenbewegung erst ermöglicht, Le Bon hatte ihm die Grundprinzipien der Massenbeeinflussung an die Hand gegeben.

Zweifelsohne bedürften diese doch recht starken Behauptungen einer kritischen Überprüfung, denn auch andere intellektuelle und politische Traditionen haben den späteren Diktator beeinflußt. Aber es scheint, daß sie doch ein Gutteil Wahrheit enthalten. Wenn Hitler die Ideen Le Bons in Klischees verwandelt hat, dann hat er sicher an ihren wissenschaftlichen Wert geglaubt. Als geschickter Seelentechniker hat er sie in die Praxis umgesetzt. Und zwar so, daß

Hitlers wichtigste Quellen im Zusammenhang mit seinen Vorstellungen über Propaganda relativ mühelos aus Mein Kampf herauszulesen sind: Le Bons Psychologie der Massen und McDougalls The Group Mind. Daß er die Werke beider Autoren gut kannte, wurde von eingeweihten und sachkundigen Zeugen bestätigt. Viele Ausführungen in Mein Kampf bezeugen darüber hinaus, daß Hitler Le Bon und McDougall nicht nur gelesen und registriert, sondern auch konsequent umgesetzt hat.

Aber wenn wir noch eine weitere Bestätigung brauchen, so gibt sie uns Hitlers Propagandaminister, der schreckliche Goebbels. Als unterwürfiger Diener entlehnte er seine Theorien und Praktiken den Quellen seines Herrn. Er hat also auch die Psychologie der Massen studiert und sich ihre Halbwahrheiten eingeprägt. Bis zum Ende seines Lebens faßt er sie zusammen, paraphrasiert sie und träufelt sie seiner Umgebung ein. Einer seiner Assistenten notiert in sein Tagebuch, daß Goebbels glaubt, seit Le Bon habe keiner den Geist der Massen so gut verstanden wie er.

In einem totalitären Land wird, was das große Hirn denkt, für hunderttausend kleine zum Evangelium. Ein amerikanischer Autor hat hervorgehoben, daß die gesamte nationalsozialistische Propaganda – eine der wirkungsvollsten, die die Welt erlebt hat – zusammen mit der dazugehörenden politischen Theorie im Grunde die Umsetzung der Le Bonschen Thesen in die Praxis war; und man glaubt es ihm.

Diese Ansicht steht weder allein, noch ist sie besonders extrem. Die meisten Historiker, die die Entwicklung der totalitären Bewegung studiert haben, erwähnen bei der einen oder anderen Gelegenheit seinen Namen und belegen seinen Einfluß. Der amerikanische Historiker Mosse gibt eine gute Zusammenfassung dieser Einschätzung:

Faschisten und Nationalsozialisten waren lediglich die jüngsten Massenbewegungen, die die Theorien von Männern wie Le Bon wieder lebendig werden ließen. Es wäre erfreulicher, könnte man die neue Richtung der Politik als Fehlschlag bezeichnen. Verfolgt man aber ihren Lauf über eine so lange Periode, kann man dies nicht feststellen.

Meiner Meinung nach verdanken wir die Konzeption, die sich am engsten an die Le Bons anlehnt, noch immer Charles de Gaulle. Mit jeder Faser seines Herzens der Demokratie verbunden, leidenschaftlich verliebt in die republikanischen Freiheiten, enttäuscht, daß Frankreich nicht England war – ein rechtes England, versteht sich – träumte der Autor der Psychologie der Massen, wie alle seiner Klasse und darüber hinaus von einer Macht, die stabil wäre, ohne autoritär zu sein. Die Geschichte hat darüber anders verfügt. Gewiß, eine stattliche Anzahl von Demokraten hat sich von seinen Büchern inspirieren lassen, hat sich hie und da eine Idee ausgeborgt. Aber es waren die cäsarischen Diktatoren, die seine Vorschläge wörtlich nahmen und sie in starre Handlungsvorschriften umwandelten. Man wird einwenden, daß sie auch ohne Le Bon nun schon mit jahrtausendealter Klugheit die Menschen zu beherrschen wissen. Es mag allerdings sein, daß jener zu deren Zeit die Gabe besessen hat, diese Klugheit in ein System zu bringen und in die Formeln zu kleiden, die man von ihm kennt. In diesem Sinne, behaupte ich ohne zu zögern, ist er deren Erfinder. Ein Erfinder, der, wie viele seinesgleichen, keine Ahnung von der Tragweite seiner Erfindung, von deren Explosivkraft hatte.

2.2.5

Der Leser wird vielleicht den Eindruck haben, daß ich bei gewissen Einzelheiten zu lange verweile, daß ich andere übertreibe, und dabei all das, was ich nicht erwähne, unberücksichtigt lasse. Aber diese Arbeit zielt keineswegs auf Endgültigkeit ab. Wenn wir einen Blick zurück werfen, werden wir einerseits sehen, daß die Hypothesen Le Bons über die Massen wiederholt, ausgefeilt, vermischt und verbreitet wurden, bis sie Gemeingut in Psychologie oder Soziologie geworden sind, und all das innerhalb eines Jahrhunderts. Wenigen Forschern war dieses Privileg vergönnt, auch wenn die, die davon profitierten, vorgaben, die Quelle dieses Gemeinguts, die Mine, aus der sie ihren Reichtum bezogen, vergessen zu haben.

Andererseits ist die Methode, die er propagiert und als tüchtiger Fabrikant wissenschaftlicher Erkenntnis zurechtgebastelt hat, trotz ihrer widersprüchlichen politischen Verwendungen wesentlicher Bestandteil unserer Praxis geworden. Ich möchte hier von der Propaganda sprechen. Mehr als anderswo ist in diesem Bereich das, was er vorausgesagt hat, zu einer offensichtlichen Realität geworden. Jeder, der die Massengesellschaft betrachtet, wird sogleich erkennen, daß jede Regierung, ob demokratisch oder autokratisch, von einer Propagandamaschine an die Macht getragen wurde, die in einem zuvor unbekannten Maßstab operierte. Nur die Kirche hatte bis dahin, zeitweise, eine derartige Leistung vollbracht. Die Mittel der Suggestion und der Beeinflussung auf die Politik und auf alle Formen der Kommunikation zu beziehen, Individuen und Klassen zu einer Masse zu verschmelzen, das ist das völlig Neue für diese Epoche – ausgedacht von dem französischen Psychologen. Die Rudimente, die man bereits kannte, hat er systematisiert und in Form von Regeln gefaßt, die das Etikett der Wissenschaftlichkeit trugen: "Die Beschreibung der Mittel der Führer, wie sie Le Bon gibt", schreibt Rewald in seiner Studie über die Massenpsychologie, "hat die moderne, auf die Massen gerichtete Propaganda beeinflußt und nicht zuletzt auch auf ihren Erfolg eingewirkt."

Ohne Zweifel steht alles, was hinsichtlich der Einwirkung auf die öffentliche Meinung sowie der Kommunikation (einschließlich der Werbung, versteht sich) entdeckt und angewendet wurde, auf diesem Fundament, das sich seither wenig verändert hat. Man stellt lediglich eine zunehmende Angleichung der Methoden fest, die – uniformiert und standardisiert – inzwischen auf der ganzen Welt ebenso verbreitet sind wie Coca-Cola oder das Fernsehen. Man hat den Gesellschaftswissenschaften oft ihren Mangel an praktischem Wert vorgeworfen. Sie seien nicht in der Lage, auf den Gang des kollektiven Lebens einzuwirken, klagt man. Dieser Vorwurf trifft die Massenpsychologie nicht. Von Beginn an hat sie auf das historische Geschehen gewirkt und einen Gebrauchswert – der uns ebensowenig gefällt wie die Atombombe! – gehabt, welcher den der meisten bekannten Theorien übertrifft. Die wenigen Fakten, die ich im Zusammenhang mit dem Werk Le Bons erwähnt habe, beweisen das unwiderlegbar.

Vier Gründe für ein Schweigen

Es ist die Pflicht des Forschers, auch den unangenehmen Tatsachen ins Auge zu sehen und eine Situation so darzustellen, wie sie ist. Der Leser wird fragen: Wenn Le Bon eine solche Bedeutung hat, wie kommt es, daß man nie über ihn oder die Massenpsychologie im allgemeinen gesprochen hat? Also, warum ist sein Werk so gering geschätzt, wenn nicht gar verrufen? Ich habe weder die Absicht, Le Bon vor dem Untergang zu bewahren, noch seinen Ideen wieder in den Sattel zu helfen – das haben sie gar nicht nötig. Aber ich will darlegen, welches, meiner Meinung nach, die Gründe für das Schweigen sind.

Der erste Grund ist die mittelmäßige Qualität seiner Bücher. Die meisten sind von einem Tag auf den andern geschrieben, mit der Absicht zu gefallen, die Vorstellungskraft des Lesers anzusprechen, ihm das zu sagen, was er hören will. Um ein breites Publikum zu fesseln, muß man das Problem in zwei Worten formulieren, in zwei Worten diskutieren und in zwei Worten lösen können. Das heißt, man muß alle Risiken eingehen, einschließlich dessen, oberflächlich zu sein. Sagen wir es frei heraus: Le Bon hat das Talent für Entdeckungen, es fehlt ihm das Genie, sie auszubeuten. Seine Überlegungen sind zu einseitig, seine Beobachtungen zu dürftig. Das Ganze entbehrt der Tiefe. Und man kann schwerlich seine beißenden Urteile über die Massen, die Revolution, die Arbeiterklasse lesen, ohne angewidert zu sein angesichts einer solchen Flut von Vorurteilen und Gehässigkeiten gegenüber dem, was ihn ansonsten fasziniert.

Der zweite Grund ist subtilerer Art. Seiner sozialen Herkunft nach steht Le Bon in einer liberalen und bürgerlichen Tradition. Und in deren Namen richtet er seine in einer rauhen, ungehobelten Sprache gehaltenen Analysen gegen die Revolution, den Sozialismus und die Schwächen des parlamentarischen Systems. Heute sehen die Dinge anders aus. Was zu Beginn des Jahrhunderts eine vage Möglichkeit war, ist offenkundige Realität geworden. Dieselbe Tradition muß die Probleme, die die Revolution, der Sozialismus und dergleichen mehr aufgeben, viel ökumenischer und mezzo voce angehen. Sie verdrängt also die Le Bons und die Tardes und ersetzt sie durch feinsinnigere Gelehrte: die Webers, die Durkheims, die Parsons, um nur von den Toten zu sprechen und die Lebenden nicht vor den Kopf zu stoßen. Diese kleiden dieselben Analysen in raffiniertere Formulierungen. Ihre Wissenschaft ist kosmetischer und, pointiert gesagt, auch ideologischer.

In jedem Fall aber akzeptabler in einem intellektuellen und universitären Milieu, das sich in einem Land, in dem die Macht immer in den Händen der Rechten und der Mitte geblieben ist, an der Linken orientiert. Und dieses Milieu hat eine Entwicklung der Ideen und der Sozialwissenschaften durchgemacht, die einen solchen Kompromiß nicht wieder in Frage stellt. Was Le Bon angeht, so hat man ihn von vornherein aus diesem Milieu ausgeschlossen. Also existiert er nicht.

Er war ein Gegner in erster Linie für den französischen Universitätsbetrieb, der niemals die Bedeutung einer seiner ehrgeizigen wissenschaftlichen Arbeiten anerkannt hat (mit Ausnahme der Psychologie der Massen): Er hatte sich dafür entschieden, ihn totzuschweigen.

Der dritte Grund ist, daß alle Parteien, ebenso wie die Spezialisten in den Medien, in der Werbung oder in der Propaganda seine Prinzipien, ich würde sagen seine Rezepte und seine Tricks, anwenden. Dennoch ist niemand bereit, ihn anzuerkennen. Täte man das nämlich, so erschienen alle Propagandaapparate der Parteien, der Aufmarsch der Führer auf den Bildschirmen und die Meinungsumfragen als das, was sie sind: als Elemente einer Massenstrategie, die auf der Irrationalität der Masse aufbaut. Man neigt dazu, die Massen zu behandeln, als seien sie ihrer Vernunft beraubt, aber man muß das nicht zugeben, da man ihnen ja das Gegenteil erzählt.

Andererseits trennt man Psychologie und Politik radikal voneinander. In allen Tonarten verkündet man, daß die erstere nur von geringer Bedeutung für die zweite sei. Im Klartext: es gibt also eine Politik, für die die Psychologie nicht existiert, ebenso wie es eine Psychologie gibt, für die die Politik nicht existiert. Von daher ist sowohl eine Politik, die eine Psychologie ist, als auch eine Psychologie, die eine Politik ist, den Advokaten einer klassischen Konzeption der Revolution und der Demokratie, aber auch den Advokaten einer reinen Wissenschaft ein Dorn im Auge. Und Le Bon, der verbindet, was alle auseinanderhalten wollen, ist ein solcher Dorn. Er konfrontiert mit einigen recht unangenehmen Tatsachen, was auch der große deutsche Ökonom Schumpeter bezeugt:

Das eine (die Bedeutsamkeit irrationaler Elemente in der Politik) mag ... noch mit dem Namen von Gustave Le Bon verknüpft werden, dem Begründer oder jedenfalls dem ersten wirksamen Exponenten der Psychologie der Mengen (psychologie des foules). Indem er, allerdings übertreibend, die Tatsachen des menschlichen Verhaltens unter dem Einfluß der Agglomeration [Anhäufung] zeigt ... hat er uns grauenhaften Fakten gegenübergestellt, von denen jedermann wußte, die aber niemand sehen wollte, und er hat hierdurch dem Bild der menschlichen Natur, das der klassischen Lehre der Demokratie und der demokratischen Sage von den Revolutionen zugrunde liegt, einen gefährlichen Schlag versetzt.

Den vierten Grund schließlich wollen wir in seinem politischen Einfluß suchen. Von Frankreich aus sind seine Ideen in die faschistische Ideologie und Praxis eingeflossen. Zwar hat man sie hier und dort systematisch zur Eroberung der Macht genutzt, aber in Deutschland und Italien, und nur da, hat man sich offen dazu bekannt. Das erklärt einiges. Wenn man fragt, warum man Le Bon ignorieren müsse, wird man zur Antwort bekommen: "Er ist ein Faschist." Ach was! Wollte man die Bücher, in denen den seinen vergleichbare Ideen ausgedrückt sind, einem Autodafé [öff. Bücherverbrennung] ohne Feuer und Flammen opfern, so müßte man etwa die von Freud und Max Weber dazunehmen. Alles was gegen den letzteren angeführt werden kann, gilt auch für Le Bon. So sehr, daß er die zweifelhafte Ehre hatte, von Mussolini und Hitler gelesen zu werden. Flaubert hat gesagt: "Die Ehrungen entehren." Und sie führen zur Exkommunikation.

Unter diesen Umständen ist es das Normalste von der Welt, den Schöpfer der Massenpsychologie zu verdammen. Auch wenn wir aus seinen Schriften wissen, daß er die Mühsal der Demokratie der bequemen Gleichgültigkeit der Diktaturen vorgezogen hat. Während er jene predigte, sah er in diesen nur einen Notbehelf. Seiner Ansicht nach ist jede Diktatur die Antwort auf eine Krisensituation und hat mit der Krise wieder zu verschwinden. "Ihr Nutzen ist vorübergehend, ihre Macht muß vergänglich sein."

Wird sie über das Maß des Notwendigen hinaus aufrecht erhalten, so bringt sie jede Gesellschaft in zwei tödliche Gefahren: das Abbröckeln der Werte und das Aufweichen ihrer Eigenarten. Entsprechend warnt er die Franzosen, die innerhalb eines Jahrhunderts schon die Herrschaft zweier Napoleons erlebt haben, vor den Versuchungen und Risiken einer neuen Diktatur. Kurzum, er will die Freiheiten bewahren in einem Frankreich, für das die einzige Revolution darin bestünde, keine Revolutionen mehr zu machen. Er verurteilt unwiderruflich alle Formen der Diktatur, einschließlich der, die man ihm anlastet: der faschistischen Diktatur. Man hat ihm also ein völlig unzutreffendes Etikett angeheftet, und das ist das mindeste, was man sagen kann. Ich gestehe allerdings, daß ich das doch beträchtliche Risiko, jenes Schweigen zu brechen, nicht eingegangen wäre, hätte ich nicht entdeckt, daß es nur für Frankreich zutrifft. Deutsche Denker von erstem Rang, deren antinazistische Einstellung außer Zweifel steht – Broch, Schumpeter, Adorno –, beziehen sich ohne Hemmungen auf Le Bon, um das Phänomen des Totalitären zu verstehen und zu bekämpfen. Adorno geht so weit, die ausschließliche Verbindung der Massenpsychologie mit dem Faschismus als allzu bequemes Vorurteil zu kritisieren, und fragt sich:

Warum ist die angewandte Psychologie der Gruppe, die hier diskutiert wird, spezifischer für den Faschismus als für die meisten anderen Bewegungen, die die Unterstützung der Massen suchen? ... weder Freud noch Le Bon haben eine solche Unterscheidung ins Auge gefaßt. Sie sprechen von Massen "als solchen", ... ohne die unterschiedlichen politischen Ziele der betreffenden Gruppen zu berücksichtigen.

Ein Mensch kann nicht über seinen Schatten springen, und eine Generation kann Ideen nur unter Bezug auf die eigenen Ideen und Erfahrungen verstehen und beurteilen.102 Diese haben uns dazu geführt, Le Bon und die Massenpsychologie überhaupt aus unserem Denken auszuschließen. Die Motive dafür mußte ich darlegen und von unbegründetem Ballast befreien. Ich werde sie ebenso wie die Vorbehalte, die ich ihnen gegenüber hege, nicht weiter diskutieren. Mein Auftrag als Biograph endet hier.

Die Entdeckung der Massen

2.4.1

Als die Massen an dem einen oder anderen Ort Europas auftauchten und das soziale Gefüge zu erschüttern drohten, fragte man sich: Was ist das, eine Masse? Es gab drei ebenso oberflächliche wie allgemeine Antworten:

1.      Die Massen sind vorübergehende Ansammlungen von Individuen, die sich außerhalb der Institutionen und gegen sie zusammentun. Mit einem Wort, die Massen sind asozial und werden von Asozialen gebildet. Sie sind das Ergebnis einer zeitweiligen oder permanenten Auflösung von Gruppen oder Klassen. Ein Arbeiter oder Lohnabhängiger, der die Werkstatt oder das Büro verläßt, um nach Hause zu gehen und bei seiner Familie zu sein, entflieht für ein, zwei Stunden dem normalen, festgefügten Rahmen der Gesellschaft. Er findet sich auf der Straße oder in der Metro als ein Atom einer vielköpfigen, wimmelnden Masse wieder. Als Spaziergänger oder Schaulustiger fühlt er sich von jeder Menschenansammlung angezogen und geht schwelgerisch darin auf. Baudelaire beschreibt dieses Schwelgen im Spleen de Paris als "eine Kunst":

Der einsame und nachdenkliche Spaziergänger schöpft aus dieser allumfassenden Gemeinschaft eine merkwürdige Trunkenheit. Der, der sich der Masse leicht vermählt, kennt die fieberschweren Genüsse, die dem Egoisten, verschlossen wie ein Koffer, und dem Trägen, eingesperrt wie eine Auster, auf ewig verwehrt bleiben.

Mit der Masse verbindet man auch den "Pöbel", den "Mob", das "Lumpenproletariat", kurz das, was man zu allen Zeiten die plebs genannt hat. Männer und Frauen, die, ohne anerkannte Identität, in den Maschen des sozialen Netzes, abgeschoben in Ghettos oder die Vororte, ohne Arbeit und ohne Ziel, außerhalb der Gesetze und Sitten leben. Oder von denen man es jedenfalls behauptet. Die Masse repräsentiert also eine Anhäufung auseinandergerissener sozialer Elemente, menschlicher Abfälle, die man vor die Tür der Gesellschaft gekehrt hat und die dieser darum feindlich gesinnt sind. Für den Soziologen ist sie deshalb weder eine Sache für sich noch ein bedeutsames oder neues Phänomen, sondern lediglich ein Epiphänomen. Die Masse ist kein Thema der Wissenschaft. Er behandelt sie einzig und allein als eine Störung, die auf eine Unterbrechung des normalen Ablaufes der Dinge zurückzuführen ist. Die Gesellschaft, das ist Ordnung, die Masse steht für die Unordnung und ist letzten Endes eher ein kollektives denn soziales Phänomen.

2.      Die Massen sind verrückt, so lautet die zweite Antwort. Hartnäckig wie Unkraut hangelt sich diese Scheinwahrheit von Generation zu Generation. Craze nennen die Engländer die Anbetung, die die Scharen von Bewunderern, von tobenden Fans einem populären Sänger entgegenbringen, oder den Enthusiasmus von Tausenden von Zuschauern im Stadion, die, wenn ihre Fußballmannschaft ein Tor geschossen hat, sich erheben wie ein Mann und Fahnen und Transparente schwingen. Wahnsinn auch die tumultuöse Bewegung der Massen, die eine Berühmtheit vorbeigehen sehen wollen, oder die sich auf einen Einzelnen stürzen, um ihn zu lynchen, ihn, den sie verurteilt haben, ohne zu wissen, ob er schuldig ist. Wahnsinn auch der Sturmlauf der Gläubigen auf die Orte, an denen sich ein Wunder ereignen könnte, auf Lourdes oder auf Fatima.

Unzählige Geschichten oder Bücher, die Titel haben wie Memoirs of Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds und gespickt sind mit deftigen Details, handeln von der grenzenlosen Begeisterung oder der unaufhaltsamen Panik der Volksmassen, die singend und sich geißelnd die Kontinente überziehen. Süchtig nach einer Religion oder einem Menschen, folgen sie ihnen wie die Juden ihrem falschen Messias, wie die Christen ihren fanatischen Mönchen – bis in die Katastrophe. Sie verbrennen heute, was sie gestern angebetet haben, ganz nach Laune. Sie wechseln die Ideen wie das Hemd und machen aus der seriösen Geschichte je nach den Umständen einen grotesken Karneval oder ein blutiges Gemetzel.

Farbenprächtige und ausschweifende Massen haben schon immer auch die wie durch ein Wunder nüchtern gebliebenen Beobachter inspiriert und deren Vorstellungskraft strapaziert. Sie beschreiben ihre Taten bald als das Umherirren eines Narrenschiffs, bald als die Raubzüge einer Bande von Kriminellen. Die Berichte erreichen danteske Züge, wenn die Autoren uns haarklein, "so als seien wir dabeigewesen", die gewaltigen Kolonnen von Zigtausenden und Hunderttausenden von Menschen schildern, von mittelalterlichen Kreuzfahrern oder Häretikern, die, fasziniert von einem kollektiven Wahnbild, Familie, Heim und Hof verlassen und, ungeachtet ihres Glaubens, ohne das geringste Zögern und ohne auch nur einen Gewissensbiß sich den schlimmsten Zerstörungen und entsetzlichen Blutbädern hingeben. Wenn ihr Glaube erlischt, klammern sie sich an einen anderen und verfolgen die neue Illusion mit derselben Hartnäckigkeit. Sie bringen ihr die gleichen sinnlosen Opfer und begehen in ihrem Namen ebenso große Verbrechen.

Im Geiste der Erzähler wie in dem der Leser sind diese Massenanwandlungen Anwandlungen von Wahnsinn, die dunkle Träume nähren, den Schleier über der Nachtseite der menschlichen Natur lüften und diese Seite exorzieren, indem sie sie als Spektakel aufführen. Ihr ungewöhnlicher, deliranter, pathologischer Charakter verzückt, denn, wie Claudel sagt, "die Ordnung ist das Vergnügen der Vernunft, aber die Unordnung ist der Rausch der Imagination". Aber von dieser spektakulären Seite einmal abgesehen, würde man sagen, daß die Massen überhaupt kein Interesse aufzuweisen haben. Sie haben nichts als die Unbeständigkeit des Traums und haben keinen Einfluß auf die eigentliche Geschichte.

3.      Die dritte Antwort geht noch weiter als die beiden anderen: Die Massen sind kriminell. Pöbel und Pack, sie setzen sich zusammen aus rasenden Menschen, die alles, ganz gleich was, attackieren, verletzen und zerstören. Sie verkörpern die ohne ersichtliches Motiv entfesselte Gewalt, die unkontrollierte Wallung der ohne Genehmigung zusammengeströmten Mengen. Auf ihr Konto gehen Gewalttaten und Plünderungen. Sie widersetzen sich den Autoritäten und mißachten jedes Gesetz. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts vervielfachen sich die Massen. Ihre unvorhergesehenen Aktionen fangen an, die Autoritäten zu beunruhigen. Damals sprach man vor allem von den "kriminellen Massen", diesen zusammengerotteten Kollektivverbrechern, die die Sicherheit des Staates und die Ruhe der Bürger bedrohen. Die Unmöglichkeit, ihrer habhaft zu werden, sie zu bestrafen, oder einer einzelnen Person die Gesamtverantwortung anzulasten, bringt die Juristen aus der Fassung und läßt jedes Gesetz, das man auf sie anwenden wollte, zur Willkür geraten. Nur mit Mühe kann man einige vom Zufall bestimmte Individuen verhaften, bloße Statisten oder zuweilen auch völlig unbeteiligte Zuschauer, die mit dem wütenden Monstrum ebenso wenig gemein haben wie die friedliche Welle mit dem entfesselten Sturm.

Es ist kein Zufall, daß zu den ersten, die die Verhaltensweisen der Massen zu erklären suchten, Lombroso gehört, dessen Theorie des "geborenen Kriminellen" berühmt geworden ist. Nach Lombroso setzen sich die Massen aus Individuen mit krimineller Neigung zusammen, oder sie folgen derartigen Individuen. Er behauptet, daß die Massenpsychologie schlicht und einfach als ein Teil der "Anthropologie des Kriminellen" behandelt werden könne, da die Kriminalität ja "das innere Charakteristikum einer jeden Masse" sei. Das fügt sich ein in eine noch allgemeinere, für diese Epoche neue Tendenz. Man sucht nach einer juristischen Doktrin mit dem Ziel, die kollektiven Verstöße gegen das Gesetz zu bestrafen. "Modern", schreibt Fauconnet 1920, "ist das Bemühen, das Prinzip, daß die Masse kriminellen Charakter und damit auch Verantwortlichkeit besitzt, in das Strafrecht einzuführen, welches ja solche Begriffe voraussetzt.

Der Italiener Sighele arbeitet die Theorie seines Landsmanns Lombroso weiter aus. Er gibt als erster dem Terminus der "kriminellen Massen" einen technischen Sinn. Diese Massen umfassen für ihn alle sozialen Bewegungen, die politischen Gruppen von den Anarchisten bis zu den Sozialisten und, wohlgemerkt, die streikenden Arbeiter, die Versammlungen auf der Straße und dergleichen mehr. Seine Analyse bereitet den Boden für den Aufbau eines repressiven Apparats, indem sie den Politikern, wo nicht den Juristen Überzeugung, Argumente und Rechtfertigung liefert.

Die Massen finden also über den Umweg der Kriminalität Einlaß in die Wissenschaft. Einer Kriminalität, die man beschreiben und verstehen muß, denn sie erklärt die Gewalttätigkeit, ihre terroristischen Handlungen und ihre destruktiven Instinkte. Man ist sich überhaupt einig, daß es sich um Gruppierungen handelt, die vorgehen wie Diebesbanden oder Straßenräuber, wie Killer-Mafias oder sonst eine Vereinigung von gewissen- und gesetzlosen Verbrechern.

Eine Gesellschaft, die sicher auf dem Boden ihrer Realität und ihres Rechts steht, verhält sich gegenüber abweichenden oder nonkonformen Bewegungen relativ tolerant. Sie übt eine gewisse Nachsicht gegenüber denen, die den Verstand verloren oder gar das Gesetz übertreten haben; und wenn sie sie manchmal bestraft, so tut sie das sehr gelassen. Der asoziale Charakter, die Anomalität der Abweichenden bedroht nicht die etablierte Ordnung. Man hält sie für ungefährlich oder überhaupt für ganz und gar erfunden. Aber wenn die Gesellschaft in ihren Fundamenten wankt, wenn man sie von außen angreift, dann läßt die Gefahr, die auf der inneren und äußeren Sicherheit lastet, die Bedrohung, die diese Bewegungen darstellen, größer werden. Und man beginnt, sie als schädlich und anormal anzusehen. So sind die Massen in den Städten, die Arbeitermassen von Anfang an psychiatrisiert und kriminalisiert worden. Man sah in ihnen pathologische Symptome bzw. Symptome der Abweichung vom normalen kollektiven Leben. Man hielt sie also für krankhafte Auswüchse an einem gesunden Körper, der sich nach Kräften bemüht, sie loszuwerden. Kurz, plebejisch, verrückt oder kriminell, die Massen gelten als Abfall, als Krankheit der bestehenden Ordnung. Aus sich selbst heraus haben sie weder Existenz noch Interesse.

2.4.2

Die kühne Idee Le Bons, sein Geniestreich, bestand darin, diese Sichtweise aufzugeben. Die drei Antworten auf die Frage, die sich jedermann immer wieder stellt, nämlich "Was ist das, eine Masse?", weist er zurück. Seine Überlegung ist einfach und direkt. Das Hauptmerkmal der Massen ist die Verschmelzung der Individuen in einem gemeinsamen Gedanken und einem gemeinsamen Gefühl, die die Persönlichkeitsunterschiede verwischt und die intellektuellen Fähigkeiten herabsetzt. Jeder bemüht sich, seinem Nachbarn zu folgen. Durch ihre Masse reißt ihn die Ansammlung mit sich, so wie die Brandung die Kiesel am Strand. Soziale Klasse, Bildung oder kulturelle Herkunft der Teilnehmer spielen dabei keine Rolle. Le Bon:

Die geistige Beschaffenheit der einzelnen, aus denen die Masse besteht, widerspricht nicht diesem Grundsatz. Denn diese Eigenschaften sind bedeutungslos. In dem Augenblick, da sie zu einer Masse gehören, werden der Ungebildete und der Gelehrte gleich unfähig zur Beobachtung.

Anders gesagt, das Verschwinden der individuellen Eigenarten, die Verschmelzung der Persönlichkeiten in der Gruppe sind immer gleich, unabhängig vom finanziellen oder kulturellen Status ihrer Mitglieder. Es wäre falsch, zu glauben, daß die gebildeten oder höheren Schichten der Gesellschaft dem kollektiven Einfluß besser widerstünden als die ungebildeten oder unteren Schichten, und daß sich vierzig Akademiker anders verhielten als vierzig Haushälterinnen. Ein Kommentator hebt dies ausdrücklich hervor:
Die Beispiele und auch die systematischen Erörterungen über den Begriff zeigen bei Le Bon, daß er nicht nur an Straßenaufläufe und Volksversammlungen, sondern auch an Kollegien, Parlamente, Kasten, Klassen eines Volkes, ebenso auch an die breiten Massen der höheren Völker, ja endlich auch an die Träger der nationalen geistigen Bewegungen und Tendenzen, also an das Volk als Kulturgemeinschaft denkt. Masse ist für ihn nahezu der ausschließende Gegensatz zum Individuum.

Massen, die sich aus Aristokraten oder Philosophen zusammensetzen, aus Lesern von Le Monde oder des Nouvel Observateur, also aus Leuten, die nonkonformistisch und sich ihrer Individualität wohl bewußt sind, reagieren genauso wie die anderen auch. Der Romancier der Education sentimentale denkt ebenso, wenn er im Abstand von wenigen Seiten einmal vom "erhabenen Volk" und dann vom "allgemeinen Wahn" spricht und die Unterdrückung mit den folgenden Worten beschreibt:

Zügellos wütet jetzt die Furcht ... Und dem Sieg zum Trotz triumphierte jetzt (wie zur Strafe für ihre Verteidiger und als Verhöhnung ihrer Feinde) die Gleichheit, eine Gleichheit gewalttätiger Bestien und blutrünstiger Scheußlichkeiten; denn der Fanatismus des Eigennutzes hielt nun den Rasereien der Not die Waage, die Aristokratie gab dem Mob an Greueln nichts nach, und die baumwollene Mütze benahm sich ebenso abscheulich wie die rote Mütze.

Die Universalität der Wirkungen, die gleichartige Verwandlung, die die in einer Gruppe vereinten Individuen durchleben, erlauben uns also, zu schließen, daß die Masse nicht die "plebs", der "Pöbel", die Armen, die Unwissenden, das Proletariat, hoi polloi ist, die sich der Elite, der Aristokratie entgegenstellte. Die Masse, das ist jedermann, Sie, ich, wir alle. Sobald sie zusammenkommen, bilden die Menschen unterschiedslos eine Masse.

Was man andererseits für die Kriminalität der Massen gehalten hat, ist nichts als Illusion. Sicherlich, sie lassen sich leicht gewalttätig und anarchisch von einer zerstörerischen Wut davonreißen. Man sieht sie geschlossen plündern, demolieren, lynchen, sich Handlungen hingeben, die kein Einzelner zu begehen wagte. Und Le Bon läßt es sich nicht nehmen, ihr eine äußerst negative Rolle in der Geschichte zuzuweisen:

Bisher wurden die Kulturen von einer kleinen, intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet, niemals von den Massen. Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung.

Und auch das Vorspiel zu einer neuen Ordnung, das ist seine tiefe Einsicht.

Im übrigen können die Massen sich heldenhafter, gerechter erweisen als jeder Einzelne. Sie haben den Enthusiasmus und den Edelmut schlichter Gemüter. Ihre Selbstlosigkeit kennt keine Grenzen, wenn man ihnen ein Ideal gibt, wenn man ihren Glauben weckt. Le Bon:

Ihre Unfähigkeit zu denken ermöglicht ihnen eine starke Ausbildung von Altruismus, eine Eigenschaft, die der Verstand stark abschwächt, und die eine sehr nützliche soziale Tugend darstellt.

Akribisch und erbittert kritisiert er all die, die die Kriminalität zum Wesensmerkmal der Massen erheben. Diesbezüglich zeigt er, daß sie, selbst in voller Aktion, während der Revolution, auch in den schlimmsten Augenblicken sich bemühten, Tribunale einzurichten, über ihre späteren Opfer gerecht zu urteilen. Auch ihre Ehrlichkeit war nicht gering, denn Geld und Schmuck der Verurteilten zum Beispiel lieferten sie an die Komitees ab. Ihre Verbrechen bilden also nur einen Einzelaspekt ihrer Psychologie. Und wenn sie sie begehen, dann in der Hauptsache auf Veranlassung eines Anführers.

Mit einem Wort, es gibt nicht mehr kriminelle Massen als tugendhafte. Die Gewalt ist ebensowenig ihr Kennzeichen wie es ihr Heroismus ist. Sie können gewalttätig und heroisch zur gleichen Zeit sein.

Das haben die Schriftsteller, die die Masse nur vom kriminellen Gesichtspunkt studiert haben, vollständig verkannt. Gewiß ist die Masse oft verbrecherisch, oft aber auch heldenhaft. Man bringt sie leicht dazu, sich für den Triumph eines Glaubens oder einer Idee in den Tod schicken zu lassen, begeistert sie für Ruhm und Ehre, daß sie sich, wie im Zeitalter der Kreuzzüge, fast ohne Brot und Wasser, zur Befreiung des göttlichen Grabes von den Ungläubigen, oder wie im Jahre 1793 zur Verteidigung des vaterländischen Bodens fortreißen läßt. Gewiß ein unbewußtes Heldentum, aber durch solche Heldentaten vollzieht sich die Geschichte. Wollte man nur die mit kalter Überlegung ausgeführten Großtaten auf das Aktivkonto der Völker schreiben, so würden in den Weltannalen nur wenige verzeichnet sein.

Fügen wir jedoch hinzu, daß man die Massen besser motiviert, wenn man an ihren kollektiven Idealismus appelliert.

Schließlich ist nichts Verrücktes und nichts Pathologisches an den vorgeblichen Tollheiten, crazes oder Verblendungen der Massen. Wenn wir von der Hypothese ausgehen, daß sie sich aus normalen Individuen, aus Menschen wie Du und Ich, zusammensetzen, dann fühlen, denken und reagieren diese zu einer Masse vereinigten Individuen einfach auf einer anderen geistigen Ebene. Gewiß, ihre Gedanken und Reaktionen laufen denen eines einzelnen Menschen zuwider, aber dieser Grundsatz bedeutet noch keine Anomalie. Und nichts berechtigt uns, in diesem Zusammenhang streng zu urteilen, es sei denn in extremen Fällen von erwiesener Geisteskrankheit. Selbst dann wissen wir nicht, ob es sich tatsächlich um "Wahnsinn" handelt oder um ein Stereotyp, das es uns erlaubt, uns dem zu entziehen, was sich uns entzieht und was uns Angst macht. Es ist einfacher, den bizarren oder exzessiven Verhaltensweisen einer Masse – den Krawallen nach einem Fußballspiel, der Panik bei einer Katastrophe, den ungeordneten Bewegungen einer Masse auf zu engem Raum etc. – ein Etikett wie "Hysterie" oder "kollektiver Wahnsinn" anzuheften. Das Etikett kann falsch sein, das Verhalten mißverstanden werden. Was Georges Lefèbvre über revolutionäre Versammlungen geschrieben hat, gilt auch sonst:

Es ist allerdings sehr oberflächlich, diese Exzesse dem "kollektiven Wahnsinn" einer "kriminellen Masse" zuzuschreiben. In einem vergleichbaren Fall handelt die revolutionäre Versammlung durchaus bewußt und fühlt sich nicht schuldig: Im Gegenteil, sie ist überzeugt, daß sie zu Recht und wissentlich und willentlich bestraft.

Ebenso oberflächlich, wie den Machtmißbrauch eines despotischen Fühers, Hitlers zum Beispiel, auf "individuellen Wahnsinn" oder ein "kriminelles Individuum" zurückzuführen. Dieser handelt, um seine Autorität zu bewahren und sein Gesetz anzuwenden. Überhaupt, wenn wir eine Masse aus der Nähe und über längere Zeit beobachten, verflüchtigt sich der Eindruck von Hysterie. Wir stellen schlicht und einfach fest, daß die Psychologie der Individuen und die Psychologie der Massen miteinander nichts gemein haben. Was für die eine "anormal" ist, ist für die andere völlig "normal".

Diese diversen Antworten auf die Frage nach der Natur der Massen sind noch sehr geläufig: Man spricht und denkt stets in dem von ihnen vorgegebenen Rahmen. Doch die von mir angeführten Gründe verbieten es, sie zu akzeptieren. In Wahrheit sind die Massen eine Wirklichkeit für sich. Die Frage, ob sie plebejisch oder bürgerlich, kriminell oder heldenhaft, verrückt oder vernünftig sind, stellt sich nicht mehr. Sie sind eine kollektive Form, die Form kollektiven Lebens schlechthin, und das genügt.

Was ist daran, wird man fragen, eine Entdeckung? Die gängigen Konzeptionen verschleiern die Tatsache, daß die Masse an der Basis der Gesellschaft steht, etwa so, wie das Tier am Anfang des Menschen oder das Holz am Anfang der Skulptur steht. Die Masse stellt alles in allem den Urstoff aller politischen Institutionen, die virtuelle Energie aller gesellschaftlichen Bewegungen, den Urzustand aller Zivilisationen dar. Das hat man, behaupten Tarde und Le Bon, erst in der heutigen Epoche erkannt. Es brauchte Zusammenbrüche und Umwälzungen der Gesellschaft, um die Massen ins Bewußtsein dringen zu lassen. Es gab sie schon in der Vergangenheit, in Rom, Alexandria, Karthago. Im Mittelalter tauchten sie mit den Kreuzzügen wieder auf, in der Renaissance fand man sie in den Städten. Schließlich traten sie bei den Revolutionen in Aktion, vor allem bei der französischen, bei der sie sozusagen ihre zweite Geburt erlebten. Von diesem Augenblick an haben sie sich wie eine Epidemie durch Ansteckung und Nachahmung ausgebreitet, die Staaten erschüttert und die Gesellschaften verändert.

Solange sie eine Randerscheinung blieben, waren sie den Herrschenden gleichgültig. Die Moralisten und die Historiker ergötzten sich an ihnen. Die Theoretiker verwiesen nur nebenbei auf sie. Sie waren die Statisten in einem Theaterstück, erfüllten kleine Aufgaben, hatten nichts oder so gut wie nichts zu sagen. Aber ihre Rolle ist größer geworden und hat auf der Bühne der Staaten beeindruckende Dimensionen angenommen. Sie beanspruchen die zentrale Position, die Hauptrolle, die Rolle der herrschenden Klasse. So behauptet Le Bon:

Die Geburt der Macht der Masse entstand zuerst durch die Verbreitung gewisser Gedankengänge, die langsam von den Geistern Besitz ergriffen, sodann durch die allmähliche Vereinigung der einzelnen zur Verwirklichung der bisher theoretischen Anschauungen. Die Vereinigung ermöglichte es den Massen, sich, wenn auch nicht sehr richtige, so doch wenigstens ganz bestimmte Ideen von ihren Interessen zu bilden und das Bewußtsein ihrer Kraft zu erlangen. Sie gründen Syndikate, denen sich alle Machthaber unterwerfen, Arbeitsbörsen, die allen Wirtschaftsgesetzen zum Trotz die Bedingungen der Arbeit und des Lohnes zu regeln suchen. Sie entsenden in die Parlamente Abgeordnete, denen aller Unternehmungsgeist, alle Selbständigkeit fehlt, und die oft nur zu Wortführern der Ausschüsse, die sie gewählt hatten, herabgewürdigt wurden.

Das also sind die Arbeiter für Le Bon: Massen. Aber warum muß man ihrer Macht entgegentreten? Welchen Grund gibt es für eine solche Verurteilung? Nun, für ihn läuten diese von den Fluten der Ideen aufgewühlten und fortgerissenen Menschenfluten die Totenglocke der Zivilisationen und zerstören diese wie Wasser, das in den Rumpf eines Schiffes dringt und es zum Sinken bringt. Sich selbst überlassen, sind die Massen der böse Geist der Geschichte, die Kräfte, die alles zerstören, was eine Elite entworfen und geschaffen hat. Nur eine neue Elite, genauer gesagt, ein Führer, vermag sie in Kräfte zu verwandeln, die ein neues gesellschaftliches Gebäude errichten können. Die Arbeitermassen bilden dabei keine Ausnahme. Nicht ihrer Arbeit, ihrer Armut, ihrer Feindseligkeit gegenüber den anderen sozialen Klassen oder einer intellektuellen Minderwertigkeit wegen, sondern weil sie Massen sind. Die angeführten Gründe sind also psychologischer und nicht gesellschaftlicher Art.

Wenn die Massen zuweilen den entgegengesetzten Eindruck vermitteln, wenn sie den Anschein erwecken, sie besäßen eine Meinung, richteten sich nach einer Idee, respektierten die Gesetze, dann stammt das niemals von ihnen selbst: All das ist ihnen von außen eingetrichtert worden – ich zitiere wieder Le Bon:
Die Massenpsychologie zeigt, wie außerordentlich wenig Einfluß Gesetze und Einrichtungen auf die impulsive Natur der Massen haben und wie unfähig diese sind, Meinungen zu haben außer jenen, die ihnen eingeflößt wurden; Regeln, welche auf rein begrifflichem Ermessen beruhen, vermögen sie nicht zu leiten. Nur die Eindrücke, die man in ihre Seele pflanzt, können sie verführen.

Das sind sehr starke Behauptungen in einer apodiktischen Sprache. Der Autor spricht den Massen ganz unverblümt jede Rationalität ab. Er setzt sie auf das Niveau von Kindern oder von Wilden herab.

Die Vorstellung, daß das Bewußtsein der Massen von außen an sie herangetragen wird und daß sie ein solches nicht von sich aus erwerben können, ist übrigens weit verbreitet. Man findet sie selbst in einer bolschewistischen Konzeption von der Partei der Arbeiterklasse. So schreibt der sowjetische Psychologe Portschnew:
In Lenins Werken stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Ideologie oft als die von Spontaneität und Bewußtsein ... Die beiden Pole sind dabei die blinde Unbewußtheit im menschlichen Verhalten auf der einen und das wissenschaftliche Bewußtsein auf der anderen Seite.

Und wie man weiß, ist es eben die Aufgabe der Partei und der Elite von Revolutionären, der Gesamtheit der Massen dieses Bewußtsein einzuflößen, sie zu diszipliniertem Denken und Handeln zu bringen.

2.4.3

So tritt eine Klasse von Phänomenen in den Vordergrund, der man bisher kaum Beachtung geschenkt hat – die Massen. Die Wissenschaft betrachtete diese Anhäufungen von Menschen als Anomalien, als uninteressante Ausnahmezustände ohne jede Einheit. Allein die Klassen, die sozialen Bewegungen und deren Institutionen, welche in ihren Augen wirkliche Vereinigungen, Normalzustände der Gesellschaft darstellten, verdienten es, untersucht zu werden. Von nun an ist das eher umgekehrt. Über die "Anormalität" der Massen gewinnt man Einblick in das geheime Laboratorium der Geschichte, bricht die Kraft des wirklichen Lebens hervor, welche die Kruste einer in der Wiederholung erstarrten Zivilisation durchstößt. So sind die Massen nicht länger bloße Kuriosa, eine Kette von Fieberanfällen und Unfällen der Geschichte, ein Vorwand für spannende Erzählungen. Sie werden zu einer Kategorie unseres Denkens, zu einem Gegenstand der Wissenschaft und zu einem Aspekt der Gesellschaft.

Vergleiche mit historischen Parallelen hinken immer. Aber der folgende ist nicht ohne Wahrheit. Mit Freud verwandeln sich die Träume, die unbewußten Handlungen, welche bis zu jenem Zeitpunkt unergründlich waren wie Zufälle oder Nicht-Tatsachen, in Symptome des psychischen Lebens und in wissenschaftliche Fakten. Ebenso werden mit Le Bon die Massen, ihre eigenartigen Denk- und Verhaltensweisen zu wissenschaftlichen Phänomenen. Man kann sie beschreiben und muß sie erklären. Man könnte sie nur dann verleugnen, wenn man von der modernen Welt, deren Hauptmerkmal die Vermassung der Gesellschaften und deren Hauptakteure die Massen sind, nichts begriffen hätte.

Man kann es nicht genug betonen: Es handelt sich um die Entdeckung eines bislang ignorierten Forschungsgebietes. Nein, die irrationalen Verhaltensweisen, die affektiven Ausbrüche, die sogenannten Verwirrungen des Denkens und der Massen sind nicht länger Verirrungen oder Irrtümer, Mißbildungen der menschlichen Natur. Sie sind die Periskope, die an der Oberfläche die submarinen Bewegungen nachzeichnen, welche in jedem von uns verborgen sind, während wir unseren täglichen Beschäftigungen nachgehen und die Gesellschaft ihren tristen Alltagstrott trottet. Aber wenn die Massen weder "kriminell" noch "hysterisch", also keine pathologischen Erscheinungen der Psychologie des Individuums sind, dann muß man, um sie zu erforschen, eine neue Wissenschaft, eine andere Art von Psychologie schaffen. Le Bon schreibt:
Wir kennen diese Massen, von denen man jetzt so viel spricht, recht wenig. Die Psychologen vom Fach, die nicht in ihrer Nähe leben, haben sie stets ignoriert und sich mit ihnen nur in Bezug auf die Verbrechen beschäftigt, zu denen sie fähig sind.

Diese andere Art ist selbstverständlich die Massenpsychologie, welcher unser Autor eine große Zukunft vorhersagt.

Aber da ist noch etwas anderes. Diese Wissenschaft könnte für das durch die Massen aufgeworfene Problem keine psychiatrische oder juristische Lösung suchen, wie das die meisten tun. Die Massen sind im Grunde weder verrückt noch kriminell. Es bleibt nur die politische Lösung. Das einzige Ziel, das man dieser Wissenschaft vorgeben muß, ist, eine Regierungsmethode zu entdecken, welche der Psychologie der Massen entspricht. Das kann sie erreichen, indem sie zunächst eine ganze Reihe von Alltagsbeobachtungen sammelt und diese zu wissenschaftlichen Beobachtungen macht. Die Ergebnisse dieser Arbeiten ermöglichen es dann Staatsmännern und Praktikern zu lernen, wie man die Massen führt. Man wird auf diese Weise in der Politik die Alltagspsychologie durch eine wissenschaftliche Psychologie ersetzen, so wie man in der Medizin die Hausmittel ersetzt hat. Das sind die ehrgeizigen Pläne, die Le Bon mit der neuen Wissenschaft verfolgt: Eine Lösung und eine praktische Methode für das Problem der Regierung der Massengesellschaften zu liefern.

Die Massenhypnose

2.5.1

Hat man eine neue Klasse von Phänomenen entdeckt, muß man sie erklären. Worauf lassen sich die Veränderungen zurückführen, die das Individuum durchmacht, wenn es sich in eine Masse begibt? Von jeher hat man die Verfassung eines in die kollektive Flut eingetauchten Menschen mit einem Dämmerzustand verglichen. Sein gedämpftes Bewußtsein läßt ihn in mystische Ekstase, in den Traum abdriften; oder es verdunkelt sich und liefert ihn der Panik oder dem Alptraum aus.

Die Massen scheinen von der Strömung eines Traumes davongetragen zu werden, das ist eine altbekannte Wahrheit, die sich so sehr aufdrängt, daß Philosophen und Politiker aller Völker und aller Epochen immer wieder darauf zurückgekommen sind. Man könnte sagen, daß diese Dämmerzustände zwischen Wachen und Schlafen die eigentliche Ursache für die Furcht sind, welche die Massen hervorrufen, und auch für die Faszination, welche sie auf die Beobachter ausüben, die frappiert feststellen, mit welcher Kraft Menschen auf die Realität einwirken können, die jeden Kontakt mit ihr verloren zu haben scheinen. Eine weitere, nicht minder unerhörte Tatsache ist die folgende: Dieser Zustand ist die Voraussetzung, die es dem Individuum ermöglicht, sich der Masse anzuschließen. Das Gefühl der totalen Einsamkeit läßt es nach einem unbewußten Leben suchen, das ihm das Gefühl gibt, mit der Masse verbunden zu sein.

Die Psychologen haben diese Tatsachen nichtsdestoweniger als grundlegend und charakteristisch für die Massen angesehen. Das Nachdenken darüber hat Le Bon zu einer zweiten Einsicht oder Entdeckung geführt, deren Wirkung auf Wissenschaft und Politik sich als beträchtlich erweist. Er nimmt an, daß die psychischen Veränderungen des Individuums in der Gruppe in allen Punkten denen gleichen, die es in der Hypnose erfährt. Die kollektiven Zustände sind den hypnotischen analog. Dieser Vergleich hatte sich schon anderen, und zuerst Freud aufgedrängt. Le Bon führt ihn zuende und leitet alle, auch die unbequemsten Folgerungen daraus ab.

Zu eben der Zeit, da Le Bon sich für die Massen interessiert, feiert die Hypnose mit Liébeault, Bernheim und Charcot einen spektakulären Einstand in der Welt der Medizin und der Psychologie. Diese Koinzidenz ist nicht ganz zufällig. Vor allem dem ersten dieser drei Gelehrten kommt das Verdienst zu, die verbale Suggestion zum ersten Mal systematisch und in großem Stil angewendet zu haben. Man wußte damals nicht – und weiß es noch immer nicht – warum der Blick des Arztes oder ein glänzender Gegenstand, auf den er den Blick des Patienten richtete, eine Art "magnetischen" Zustands, eine Art Trance beim Kranken hervorrief. Doch die therapeutischen Effekte waren ebenso gesichert wie die beobachteten psychischen Veränderungen. Das gebildete Publikum, wie die Öffentlichkeit überhaupt, hatte die faszinierenden Erfahrungen mit dem tierischen Magnetismus noch nicht vergessen und sah in der Hypnose eine neue Variante dieses Phänomens. Sie konnte die Leiden lindern und befriedigte das im Innern eines jeden schlummernde Bedürfnis nach magischer Heilung. Von dieser direkten Wirkung von Mensch zu Mensch war alle Welt intellektuell wie affektiv fasziniert. Wurde sie über Distanz durch die Kraft des Wortes oder allmählich durch eine Art in uns und um uns zirkulierenden elektromagnetischen Fluidums übertragen? Das wußte man nicht.

Wie dem auch sei, es ist schwer, sich heute die Erregung vorzustellen, die die Hypnose hervorrief, die Faszination, die sie auf die populäre und die wissenschaftliche Phantasie ausübte. Diese Begeisterung erinnert an die Furore, welche seinerzeit die Entdeckung der Elektrizität gemacht hatte. Jeder wollte einer hypnotischen Séance beiwohnen, so wie hundert oder hundertfünfzig Jahre zuvor jeder den Schock des elektrischen Funkens austeilen oder verspüren wollte, ja sogar sehen wollte, wie die Probanden unter der Wirkung der Entladung in die Luft sprangen.

2.5.2

Wenn die Massenpsychologie in Frankreich entstanden ist und nicht in Italien oder in Deutschland, dann liegt das an der Verbindung zwischen den Wellen von Revolutionen und den Hypnose-Schulen, zwischen den Nachwirkungen der Pariser Commune und denen der Krankenanstalten von Nancy oder der Salpêtriére. Die einen warfen das Problem auf, die anderen schienen eine Lösung dafür zu bieten. Man könnte denken, daß Le Bon beim Vergleich des kollektiven Zustandes mit dem hypnotischen individuelle Verhältnisse über Gebühr auf soziale Verhältnisse übertragen hätte. Ganz und gar nicht. Die Praxis der Hypnose war nämlich in Wirklichkeit eine Gruppenpraxis. So beschreibt sie uns Freud in seinem Bericht über seine Beobachtungen in der Klinik von Bernheim und Liébeault:

Jeder Kranke, der zur ersten Hypnose ankommt, sieht eine Weile zu, wie ältere Patienten einschlafen, während der Hypnose gehorchen und nach dem Erwachen das Verschwinden ihrer Krankheitssymptome zugeben. Er gerät dadurch in einen Zustand psychischer Bereitschaft, der ihn seinerseits in tiefe Hypnose versinken läßt, sobald an ihn die Reihe kommt. Der Übelstand dieses Verfahrens liegt darin, daß die Leiden jedes einzelnen vor einer großen Menge erörtert werden, was bei den Kranken der besseren Stände nicht anginge.

Freud kritisiert an dieser Praxis, eben daß sie kollektiv ist, daß sie sich öffentlich vollzieht und jede private Beziehung von Individuum zu Individuum ausschließt. Bernheim dagegen sieht das als eine Voraussetzung für Durchführung und Erfolg der Hypnose an. In seinem klassischen Werk über das Thema rühmt er sich, er habe in seiner Klinik "recht eigentlich eine suggestive Atmosphäre" schaffen können, welche bewirkt habe, daß "die Verhältniszahl der Somnambulen noch höher" sei als anderswo.

Die "hypnotische Masse" konnte also als eine Art verkleinertes, in einem geschlossenen Raum befindliches Modell der großen, frei unter freiem Himmel agierenden Masse erscheinen. Die im Mikrokosmos der als Laboratorium aufgefaßten Klinik beobachteten Phänomene standen für die im Makrokosmos der Gesellschaft festgestellten Erscheinungen. Derartige Analogien sind in der Wissenschaft gang und gäbe, und ihr Wert hängt von ihrer Fruchtbarkeit ab.

Aber wir müssen noch ein wenig bei diesen Phänomenen verweilen, müssen untersuchen, wie sie zustandekommen. Wir werden so sowohl ihren spektakulären Charakter, durch den sie das Vorstellungsvermögen beeindruckten, als auch die Erklärungen, die man für sie gegeben hat, verstehen. Das Wesen der Hypnose, die Art und Weise, in der sie auf das Nervensystem einwirkt, sind uns noch immer weitgehend unbekannt. Wir wissen aber zumindest, daß es sehr einfach ist, gewisse Personen in Trance zu versetzen. In diesem Zustand zwingt irgendein Teil ihres Geistes ihren Körper, den vom Hypnotiseur – in der Regel ein Arzt – gegebenen Suggestionen Folge zu leisten. Der Hypnotiseur übermittelt die Suggestionen in einem äußerst entschiedenen Ton. Damit sein Patient darin nicht die geringste Spur eines Zögerns entdeckt, welche einen hemmenden Effekt hätte, vermeidet er es absolut, sich zu widersprechen. Er bestreitet ganz entschieden die Beschwerden, über die der Patient klagt. Er versichert ihm, daß er etwas tun könne und befiehlt ihm, es auszuführen.

Jede hypnotische Sitzung schließt also zwei Aspekte ein: die affektive Beziehung und die physische Manipulation. Erstere ist eine Beziehung des absoluten Vertrauens, der Unterwerfung des Hypnotisierten unter den Hypnotiseur. Die Manipulation dagegen besteht in einer Einschränkung des Blicks, der Empfindungen auf eine sehr kleine Anzahl von Reizen. Sie ist eine sensorische Deprivation [Mangel an Außenreizen], die den Kontakt mit der Außenwelt einschränkt und zur Folge hat, daß der Proband in einen hypnoiden Zustand des Wachtraums fällt. Der Patient, der vom Hypnotiseur affektiv abhängig ist und sein Empfindungs- und Vorstellungsfeld durch diesen begrenzt sieht, findet sich in Trance getaucht. Er gehorcht vollkommen den ihm gegebenen Befehlen, führt die von ihm verlangten Handlungen aus, spricht die Worte aus, die man ihm auszusprechen befiehlt, ohne sich dessen, was er tut oder sagt, im mindesten bewußt zu sein. Unter den Händen des Hypnotiseurs wird er zu einer Art Automat, der den Arm hebt, läuft, schreit, ohne dessen gewahr zu sein oder zu wissen warum.

Es sind schon recht außergewöhnliche Dinge, zu denen die Hypnotiseure ihre Patienten gebracht haben wollen. Sie sagen, daß sie einer Person die Empfindung von Eiseskälte oder von Hitze vermittelt haben. Einen andern bringt man dazu, eine Tasse Essig zu trinken, indem man ihn glauben macht, es sei ein Glas Champagner. Wieder ein anderer hält einen Besenstiel für eine schöne Frau usf. Bei öffentlichen Demonstrationen suggeriert man dem Probanden, daß seine Persönlichkeit sich in die eines Säuglings, einer jungen Frau, die sich für einen Ball ankleidet, oder eines Straßenredners verwandelt hat, und bringt ihn dazu, sich entsprechend zu benehmen. "Man könnte fast sagen", schreiben Binet und Féré in einem wissenschaftlichen Werk, "daß die Suggestion alles erschaffen kann."

Die Mannigfaltigkeit der alle Sinne erfassenden Halluzinationen und der unterschiedlichen Illusionen ist in der Tat beträchtlich und muß beeindrucken. Zwei davon sind für das Problem der Masse von besonderer Bedeutung. Die eine besteht darin, den Hypnotisierten ganz und gar auf den Hypnotiseur auszurichten, wobei man ihn inmitten einer Gruppe von allen anderen Individuen isoliert. Einmal in Trance, ist der Proband blind und taub für alle um ihn herum, ausgenommen den Hypnotiseur und die eventuellen Teilnehmer, die dieser ihm ausdrücklich nennt. Die andern können noch so sehr versuchen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, er bemerkt sie nicht. Dagegen gehorcht er dem kleinsten Wink des Hypnotiseurs. Wenn dieser eine Person berührt oder auf sie auch nur mit einer kaum wahrnehmbaren Geste hinweist, reagiert der Hypnotisierte auf der Stelle. Man erkennt hier eine mögliche Analogie zu der direkten Beziehung, die zwischen dem Führer und jedem Mitglied einer Masse aufgebaut wird. Der jeweils ausgeübte Einfluß ist durchaus vergleichbar.

Die zweite Illusion entsteht durch die Suggestion einer Handlung, die der Proband ausführen soll, wenn die Trance vorüber ist, zu einem späteren Zeitpunkt also und im Wachzustand. Der Hypnotiseur hat ihn verlassen, der Hypnotisierte hat keinerlei Erinnerung an die erhaltene Anordnung, und doch kann er nicht anders, als diese auszuführen. In diesem Fall vergißt er die Umstände der in der vorangegangenen Hypnose stattgefundenen Suggestion. Er glaubt, selbst der Urheber jener Handlung zu sein, und wenn er sie ausführt, erfindet er nicht selten eine Rechtfertigung, mit der er sie den Zeugen erklären will. Er handelt also seinem normalen Gefühl von Freiheit und Freiwilligkeit entsprechend, so als ob er nicht den in seinen Kopf gesetzten Instruktionen folgte:

Man kann die Gedanken und die Entschlüsse des Hypnotisierten im voraus und während einer Zeit bestimmen, zu der der Hypnotiseur nicht mehr anwesend ist. Man kann darüber hinaus den suggerierten Entschlüssen den Anschein von Freiwilligkeit geben. Mehr noch, man kann eine Suggestion so geben, daß der Hypnotisierte in keiner Weise argwöhnen wird, daß der Anstoß vom Hypnotiseur gekommen ist.

Solche Verzögerungseffekte simulieren alle in einer Gesellschaft beobachteten Einflußformen. Wie oft sieht man nicht, wie eine Person, ohne es zu wollen und ohne sich dessen bewußt zu sein, Gesten oder Worte wiederholt, die sie lange zuvor gesehen oder gehört hat, oder wie sie Ideen übernimmt, die ihr jemand ohne ihr Wissen auf suggestive Weise eingeprägt hat? Sie zeigen außerdem, daß viele Gedanken und Verhaltensweisen, die freiwillig und bewußt, das Ergebnis einer inneren Entscheidung zu sein scheinen, in Wirklichkeit die automatische Ausführung eines von außen gekommenen Befehls sind.

Es wäre müßig, sich noch länger bei den von Hypnotiseuren erzielten Resultaten aufzuhalten. Aber wir müssen noch kurz auf die psychischen Veränderungen, die der hypnotische Zustand zum Ausdruck bringt, und auf die von ihren Erfindern dafür gegebene Erklärung eingehen. Man vermutet, daß es sich um eine Vorstellung handelt, welche dem Probanden in den Kopf gesetzt und dort weiterentwickelt und verstärkt wird: die Vorstellung, er sei Napoleon, er sei gesund, er müsse frieren usw. Bernheim erklärt:

Die Vorstellung bedingt die Hypnose, es ist ein psychischer, nicht ein physischer Einfluß oder ein fluidistischer, der diesen Zustand herbeiführt.

In der mehr oder weniger in Schlaf versetzten Person arbeitet die Vorstellung weiter. Sie drängt ihm eine neue Sicht seiner selbst und der Dinge auf, ein rasches, direkt mit innerer Überzeugtheit verbundenes Urteil. Es stellt sich die Frage: Wer bringt dieses Wunder zustande, wer gibt der Vorstellung die zu dessen Herbeiführung erforderliche Stärke? Den gewöhnlichen Vorstellungen gelingt so etwas nicht. Aber die hypnotische Vorstellung bezieht ihre Macht aus den Bildern, die sie aufsteigen läßt und die sie suggeriert, also aus ihrem konkreten und nicht aus ihrem abstrakten Anteil. Durch eine Reihe von Umwandlungen löst sie im Geist ein Bündel von Bildern aus. Diese wiederum rufen eine ganze Reihe von elementaren Empfindungen in Erinnerung und erneut hervor. Auf diese Weise vollzöge sich eine regelrechte Metamorphose von einem allgemeinen Begriff zu einer unmittelbaren Wahrnehmung, der Übergang von einem begrifflichen zu einem bildhaften Denken.

Die Hypothese wird gestützt durch die Tatsache, daß die Hypnotisierten sagen, sie seien wie im Traum von deutlich sichtbaren Illusionen durchflutet, und daß sie lebhafte Eindrücke im Zusammenhang mit den suggerierten Vorstellungen empfinden. Darüber hinaus, und das erklärt diese Tatsache, ist das Erinnerungsvermögen einer in Trance versetzten Person sehr reichhaltig und umfassend, viel reichhaltiger und umfassender als das derselben Person im Wachzustand. Zum großen Erstaunen aller, und besonders zum eigenen, erinnert sie sich während der Trance an ansonsten vergessene Orte, Sätze und Lieder. Die Hypnose setzt Erinnerungen frei, steigert das Gedächtnis so sehr, daß "man zuweilen an eine mysteriöse Hellsichtigkeit der Probanden glaubt". Das Fallen in einen mehr oder weniger tiefen Schlaf setzt gleichwohl niemals das bewußte Leben außer Kraft. Es macht lediglich einem andern Platz und verdoppelt es. Die Gedanken bestehen im Hintergrund fort und behalten die Fähigkeit, die Suggestionen zu kommentieren, wenn sie auch nicht in der Lage sind, ihnen Einhalt zu gebieten und deren psychische oder physische Auswirkungen zu verhindern.

2.5.3

Binet und Féré fassen die Entwicklung, die im Innern des hypnotisierten Gehirns vor sich geht, folgendermaßen zusammen:

Es gibt also in jedem Bild, das im Geiste gegenwärtig ist, den Keim eines halluzinatorischen Elements, welches nur entwickelt sein will. Eben dieses Element entwickelt sich während der Hypnose, wo es genügt, dem Probanden irgendeinen Gegenstand zu nennen, ihm lediglich zu sagen "das ist ein Vogel", um das durch die Worte des Versuchsleiters suggerierte Bild sogleich zu einer Halluzination werden zu lassen. So ist der Unterschied zwischen der Vorstellung eines Gegenstandes und der Halluzination desselben nur ein gradueller.

In dieser Formulierung liegt viel Frische und zuviel Klarheit für ein so wenig erklärtes Phänomen, über das wir immer weniger mit Gewißheit sagen können. Aber ich mußte den Leser damit bekannt machen, denn die Hypnose inspiriert, wie wir noch sehen werden, die gesamte Massenpsychologie. Sie verleiht ihr die ganze Autorität der Wissenschaft – der experimentellen ebenso wie der klinischen –, die ja nichts behauptet, was nicht gebührend gesichert ist. Und insbesondere liefert sie die Analogie, daß im Gehirn einer Masse ebenso wie in dem eines Hypnotisierten

alle Ideen ... zu Handlungen (werden), alle Bilder, die man bei ihnen wachruft, zur Wirklichkeit; sie sind nicht mehr imstande, die wirkliche Welt von der durch die Suggestion vorgegaukelten zu unterscheiden.

An dieser Stelle scheint es hilfreich, auf die drei Elemente hinzuweisen, welche in der Massenpsychologie so gut wie invariant bleiben werden: Zuerst die Macht der Idee, von der alles abhängt, dann der unmittelbare Übergang vom Bild zur Handlung, und schließlich die Vermengung von erlebter und suggerierter Wirklichkeit. Was läßt sich aus all dem schließen? In der Hypnose gehen die Ärzte über das persönliche Bewußtsein hinaus, überschreiten den Bereich der Vernunft und der bewußten Gefühle, um in ein Gebiet des unbewußten Seelenlebens zu gelangen. Dort ist der Einfluß der tiefen Schichten des Gedächtnisses lebhaft zu spüren wie ein Strahlen, das sich von einem Punkt aus fortpflanzt. Es ist, als wendete sich das Individuum, einmal in den Schlaf versetzt, von seiner gewohnten Welt ab, um in einer neuen zu erwachen.

Aber eine Analogie zwischen einer Gruppe von Hypnotisierten und einer Gruppe im Wachzustand wäre zu wenig, um das Phänomen von der einen auf die andere zu übertragen. Sie ist dafür lediglich eine förderliche, aber keine entscheidende Bedingung. Denn Zweifel drängen sich unmittelbar auf: Es ist möglich, daß der Hypnotiseur über seinen Blick und nicht über seine Worte Einfluß ausübt. Oder vielleicht ist die Hypnoseauch auf einen spezifischen pathologischen Zustand zurückzuführen, auf die Suggestibilität der Hysteriker, mit der sich die Psychiater befassen, also im Normalzustand nicht möglich. Wenn die Hypnose, wie man sagt, ein "künstlicher Wahn", eine "künstliche Hysterie" ist, wäre es illusorisch, sie auch bei den Massen wiederfinden zu wollen, wo man doch gerade festgestellt hat, daß diese weder "verrückt" noch "hysterisch" sind. Wie könnte man von dem einen Bereich in den andern übergehen, wenn ersterer zur Medizin und letzterer zur Politik gehört? Und das gilt um so mehr, als es ja nur eine Minderheit von "anormalen" Individuen in den Massen gibt, als die Gruppen, denen wir angehören, sich in der Regel aus einer Mehrheit von normalen Individuen zusammensetzen.

Liébeault und Bernheim haben eben diese Art von Zweifeln aufgelöst. Gestützt auf ihre klinische Praxis vertreten sie die Auffassung, daß die Hypnose durch die verbale Suggestion einer Vorstellung auf ganz und gar psychischem Wege hervorgerufen wird, und daß ihr Erfolg allein davon abhängt. Aber ist jedes Individuum für die Suggestion empfänglich? Oder muß der Proband krankhafte Veranlagungen besitzen? Anders gesagt, muß man Neurotiker oder Hysteriker sein, um suggestibel zu sein? Die Antwort lautet ganz eindeutig nein. Alle beim hypnotischen Zustand beobachteten Phänomene resultieren aus der mentalen Prädisposition, auf Suggestion anzusprechen, die wir, zu einem gewissen Grad, alle besitzen. Es gibt die Suggestibilität im Wachzustand, aber wir sind uns dessen nicht bewußt, weil sie durch Urteilsvermögen und Vernunft aufgehoben wird. Im Zustand des provozierten Schlafes tritt sie ungehindert zutage:

Die Phantasie herrscht ohne Einrede, alle anlangenden Sinneseindrücke werden ohne Prüfung aufgenommen und vom Gehirn in Handlungen, Empfindungen, Bewegungen und Sinnesbilder umgesetzt.

Das beseitigt die letzten Hindernisse und gestattet es, von einem Bereich in den andern überzugehen, von der Einzelhypnose zur Massenhypnose. Der Mensch erscheint dann als ein psychischer Automat, der unter einem äußeren Antrieb handelt. Er führt mühelos aus, was man ihm zu tun befiehlt, reproduziert einen Habitus, der in sein Gedächtnis geprägt ist, ohne daß er sich dessen bewußt wäre. Die Psychiater scheinen in ihren Kliniken die Automaten nachzumachen, die Vaucanson in seinen Ateliers hergestellt hat. Jene sind ebenso faszinierend wie diese und haben die Psychologen Le Bon und Tarde, aber auch den Dichter Andre Breton fasziniert. Der Vergleich drängt sich auf: Der Surrealismus überträgt die Entdeckungen der Hypnose auf die Kunst, so wie die Massenpsychologie sie für den Bereich des Gesellschaftlichen nutzbar macht. Das automatische Schreiben und die psychischen Träumereien der Surrealisten verdanken den Meistern aus Nancy viel mehr als dem Meister aus Wien. Freud hat das wohl begriffen, als er ihnen den erbetenen Segen verweigerte.

Gustave Le Bon geht auf diesem Gebiet ebenso vor. Er führt in die Gesellschaftswissenschaften etwas ein, das als Kuriosum und Nicht-Tatsache angesehen wurde. McDougall schreibt:

Die Suggestion ist ein Vorgang, den die Psychologen vollkommen übersehen können, solange sie sich nicht mit dem sozialen Leben befassen. Die Geschichte erweist, daß die Suggestion tatsächlich lange Zeit übergangen wurde. Besonders die schlagenden und höchst lehrreichen Phänomene der Suggestion in ihrer Einwirkung auf das hypnotische Subjekt wurden als Kuriositäten, Ungeheuerlichkeiten oder betrügerische Schaustellungen beiseitegeschoben. Selbst heute gibt es viele Psychologieprofessoren, die sie übergehen, meiden oder sogar in Abrede stellen.

Man erkennt indes, daß es sich um ein allgemeines Phänomen handelt, das sich ständig unter uns vollzieht, und stellt es ins Zentrum der Massenpsychologie. Die Suggestion, behauptet man, beschreibt und erklärt vollkommen, wie bzw. warum sich der Mensch in der Gruppe vom Einzelmenschen unterscheidet: Er tut das ebenso, wie sich der Mensch im hypnotischen Schlaf vom Menschen im Wachzustand unterscheidet. Sieht man eine Masse in Aktion, glaubt man Individuen vor sich zu haben, die in eine Art Rausch verfallen sind. Wie jede andere verbale oder chemische Intoxikation führt auch diese über einen Zustand von Hellsichtigkeit zu einem Traumzustand. Das ist ein Dämmerzustand, in welchem sich viele körperliche und geistige Reaktionen verändert finden. All das läßt uns verstehen, warum die gewöhnliche Theorie von der rationalen und bewußten Natur des Menschen die auf diesen Zustand zurückzuführenden Phänomene leugnet und es ablehnt, ihnen einen Einfluß auf das gesellschaftliche und politische Handeln zuzugestehen. Le Bon dagegen nimmt diese Erscheinungen als gegeben und widerspricht dieser Theorie von da an, wo ihm zufolge die Suggestion zur Verschmelzung des Individuums mit der Masse führt. Seiner Meinung nach ist es wissenschaftlich erwiesen,

daß ein Mensch in einen Zustand versetzt werden kann, der ihn seiner bewußten Persönlichkeit beraubt und ihn allen Einflüssen des Hypnotiseurs, der ihm sein Bewußtsein genommen hat, gehorchen und Handlungen begehen läßt, die zu seinem Charakter und seinen Gewohnheiten in schärfstem Gegensatz stehen. Sorgfältige Beobachtungen scheinen nun zu beweisen, daß ein einzelner, der lange im Schoße einer wirkenden Masse eingebettet war, sich alsbald – durch Ausströmungen, die von ihr ausgehen oder sonst eine noch unbekannte Ursache – in einem besonderen Zustand befindet, der sich sehr der Verzauberung nähert, die den Hypnotisierten unter dem Einfluß des Hypnotiseurs überkommt.

Unter der Wirkung dieses Magnetismus verlieren die Individuen also Bewußtsein und Willen. Sie werden zu Somnambulen oder Automaten – heute würden wir sagen zu Robotern! Sie erliegen den Suggestionen eines Führers, der ihnen allen befiehlt, gleich zu denken, gleich zu sehen und gleich zu handeln. Sofern sie sich nicht schon mechanisch untereinander durch Ansteckung kopieren. Das führt zu einer Art sozialen Automats, der zu schöpferischem Tun und zum Denken nicht imstande ist und sich in alle möglichen verwerflichen Handlungen stürzen kann, gegen die sich das Individuum im Wachzustand empören würde. Wenn die Massen uns so bedrohlich erscheinen, dann weil sie den Eindruck vermitteln, sie lebten in einer anderen Welt. Sie scheinen einem Traum verfallen zu sein, der sie verschlingt.

2.5.4

Für die Massenpsychologie ist die Hypnose das Grundmodell gesellschaftlicher Aktion und Reaktion. Der Führer ist das Epizentrum, von dem aus eine erste Welle sich ausbreitet. Dann wird er von anderen konzentrischen Wellen abgelöst, die dieselbe Idee wie die Erschütterung bei einem Erdbeben immer weiter ausbreiten. Es ist klar, daß diese beiden Formen der Verbreitung, die direkte und die indirekte, die konzentrischen Kreise, die die vom Führer ausgelöste Art hypnotischer Welle immer weiter tragen, zunehmend vergrößern. Das Werk der kollektiven Suggestion vollzieht sich also von selbst, weitergegeben von den Unterführern, beschleunigt durch die Massenmedien – wie eine Verleumdung, die kein Gegenbeweis, kein Dementi zu stoppen vermag.

Doch die Hypnose im großen Stil erfordert eine Regie. Man muß in der Tat außerhalb der medizinischen Praxis die Möglichkeit schaffen, die Aufmerksamkeit der Massen zu fesseln, sie von der Realität abzulenken und ihre Phantasie zu stimulieren. Le Bon – zweifellos von den Jesuiten und dem Beispiel der Französischen Revolution inspiriert – propagiert den Einsatz der Mittel des Theaters in der Politik. Ja, er sieht im Theater ein, wenn auch dramatisiertes Modell gesellschaftlicher Beziehungen und einen Ort, an dem sich diese Beziehungen studieren lassen.

Nun handelt es sich im Sinne der Massenpsychologie um ein hypnotisches Theater. Es ist für die Suggestion zuständig und muß sich, will es die gewünschten Resultate erzielen, an deren Regeln halten. Denn

nichts erregt die Phantasie des Volkes so stark wie ein Theaterstück. Alle Versammelten empfinden gleichzeitig dieselben Gefühle, und wenn sie sie nicht sofort in Taten umsetzen, so geschieht das nur, weil auch der unbewußte Zuschauer nicht im Zweifel sein kann, daß er das Opfer einer Täuschung ist und über eingebildete Abenteuer geweint oder gelacht hat. Manchmal jedoch sind die Gefühle, die durch diese Bilder suggeriert werden, stark genug, um wie die gewöhnlichen Suggestionen danach zu streben, sich in Taten umzusetzen.

Le Bons aufmerksamer Leser Mussolini, um nur ihn zu nennen, muß diese und ähnliche Passagen im Gedächtnis behalten haben. Er hat die glanzvollen Paraden, die Versammlungen auf den monumentalen Plätzen angeordnet und die rhythmische Antwort einer gewaltigen Zuhörerschaft gefordert. Seither sind diese Kunstgriffe zum Grundbestandteil der Kunst der Machtergreifung und Machterhaltung geworden. Überhaupt braucht man sich nur die Dokumentarfilme anzusehen und die einschlägigen Bücher zu lesen. Man wird dann eine zunehmende Vereinheitlichung der Propagandamethoden feststellen. Man nehme nur eine Parade zu Ehren Maos in Peking. Man hat den Eindruck, eine noch gewaltigere Neuauflage einer Massenparade vor Mussolini in Rom oder einer Zeremonie unter den Augen Stalins auf dem Roten Platz zu erleben.
Die Konsequenzen dieses Hypnosemodells im intellektuellen und im praktischen Bereich zu beurteilen, fällt schwer, eben weil sie so selbstverständlich geworden sind. Darüber hinaus spricht man nicht gerne über dieses Modell, auch wenn man weiterhin in seinen Begriffen denkt und in seinem Rahmen handelt. Eins ist sicher: Mit diesem Modell bietet Le Bon der politischen Welt einen Archetyp und eine Methode. Dazu Söllner:

Es war gerade die Parallele von hypnotischer Situation und Autoritätsverhältnis, mit deren Hilfe die Sozialgeschichte das zeitgeschichtlich drängende Problem des neuen Autoritarismus einer neuen und originellen Analyse zuführte.

Diese Analyse hat zur Folge, daß die Figur des Redners durch die des Hypnotiseurs abgelöst wird, daß die Eloquenz [Beredsamkeit] durch die Suggestion, die Kunst der parlamentarischen Rede durch die Propaganda ersetzt werden. Anstatt die Massen zu überzeugen, galvanisiert man sie durch das Theater, diszipliniert sie durch die Organisation und unterjocht sie durch die Presse oder das Radio. Die Propaganda, die die Umkehrung der Perspektiven in sich vereint, hört in Wahrheit auf, ein Kommunikationsmittel, eine erweiterte Form der Rhetorik zu sein. Sie wird zu einer Technik, die es erlaubt, die Individuen zu beeinflussen und in großer Zahl zu hypnotisieren. Anders gesagt, zum Mittel, Massen auf die gleiche Weise in Serie zu produzieren, wie die Industrie Autos oder Kanonen in Serie produziert.
Der Leser versteht nun, warum man sie nicht übergehen kann, und warum sie so furchtbar wirksam ist.

2.5.5

Das Gebiet der Massenpsychologie, das was neu daran ist, wird offensichtlich durch drei Entdeckungen markiert:

A.      Die Massen sind ein gesellschaftliches Phänomen;
B.      die Suggestion erklärt die Auflösung der Individuen in Masse;
C.      die Hypnose ist das Modell für die Einwirkung des Führers auf die Masse.

Diese Entdeckungen haben eine Summe von Kuriositäten, Ausnahmen und untergeordneten Fakten zu zentralen Faktoren der Wirklichkeit und zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gemacht. Sie haben es Le Bon ermöglicht, die erste Version eines Systems der Massenpsychologie zu entwerfen. Dieses enthält mehrere Hauptideen, namentlich die folgenden:

1.       Eine psychologische Masse ist eine Gesamtheit von Individuen, welche eine psychische Einheit besitzt, und nicht eine Anhäufung von an einem Ort versammelten Individuen.

2.       Das Individuum handelt bewußt, die Masse unbewußt. Denn das Bewußtsein ist individuell, das Unbewußte kollektiv.

3.       Die Massen sind trotz ihrer revolutionären Kundgebungen konservativ. Sie errichten letztlich immer wieder das, was sie zuvor gestürzt haben. Denn wie bei jedem hypnotisierten Wesen ist die Vergangenheit unbeschreiblich mächtiger als die Gegenwart.

4.       Ungeachtet ihrer kulturellen Herkunft, ihrer Überzeugung oder ihres gesellschaftlichen Status bedürfen die Massen eines Führers, dem sie sich unterwerfen können. Er überzeugt sie weder mit Vernunft, noch drängt er sich ihnen mit Gewalt auf. Er verführt sie wie der Hypnotiseur durch sein Prestige.

5.       Die Propaganda (oder die Kommunikation) hat eine irrationale Basis, die kollektiven Anschauungen, und ein Instrument, die Suggestion aus der Nähe oder auf Distanz. Die meisten unserer Handlungen gehen auf Anschauungen zurück. Kritische Intelligenz und Mangel an Überzeugung und Leidenschaft sind die beiden Hindernisse für das Handeln. Sie lassen sich mit Suggestion überwinden. Deshalb muß sich die Propaganda, die sich an die Massen wendet, einer allegorischen, lebhaften und bildhaften Sprache, einfacher und gebieterischer Formeln bedienen.

6.       Die Politik, deren Ziel es ist, die Massen (eine Partei, eine Klasse, eine Nation) zu führen, ist notwendigerweise eine Politik der Imagination. Sie muß sich auf eine absolute Idee (Revolution, Vaterland), ja sogar auf eine fixe Idee stützen, die man jedem Massenmenschen in den Kopf setzt und sich dort entwickeln läßt, bis man ihn der Suggestion vollständig unterworfen hat. Dann setzt sie sich in kollektive Bilder und Handlungen um.

Diese Leitideen bringen eine bestimmte Auffassung von der menschlichen Natur zum Ausdruck, welche verborgen bleibt, solange wir alleine sind, und zum Vorschein kommt, wenn wir uns im Verein mit anderen befinden. Die Massenpsychologie will vor allem eine Wissenschaft von den Massen und nicht von der Gesellschaft oder von der Geschichte sein.

...

Die Psychologie des charismatischen Führers

Das Prestige und das Charisma

7.1.1

Der Führer in der Massenpsychologie, das ist die Quadratur des Kreises. Alle, die versucht haben, das Rätsel dieser Psychologie zu lösen, haben sich als unklar oder als zögerlich erwiesen. Einige haben es auf diese Weise sogar zu Ruhm gebracht, wobei sie sich die Worte Pascals zu eigen machten: "Tadelt uns nicht wegen unserer Unklarheit, denn wir bekennen uns dazu." Eine sträfliche und verhängnisvolle Einstellung, denn sie haben nicht versucht, Licht in das Wesen der Phänomene zu bringen, deren sie sich bedient haben, und häuften so Schwierigkeit auf Schwierigkeit. Auf einige davon habe ich bereits an den entsprechenden Punkten unserer Argumentation hingewiesen. Nun ist es an der Zeit, daß wir uns die beunruhigendste von allen vornehmen.

Wenn man sich die Porträts ansieht, die Le Bon, Tarde und Freud vom Führer zeichnen, gewinnt man einen sonderbaren Eindruck. In gewisser Hinsicht erscheint dieses Porträt glaubhaft. Es entspricht den von der Geschichtswissenschaft beschriebenen Fakten. Von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet, ist es nichts als ein überzeichnetes, karikierendes Kalenderbildchen. Mehr als die unpersönliche Beobachtung unserer Zeit spiegelt es die Vorurteile der Epoche wider. In der Tat ist die Verschiedenartigkeit der Führer derart groß und entspricht so vielfältigen Formen der Autorität – man vergleiche nur Roosevelt mit Robespierre, Gandhi mit Mao, Charles de Gaulle mit Valéry Giscard d‘Estaing oder auch Léon Blum mit Marchais oder mit Mitterrand –, daß man sich sträubt, sie in ein und denselben Topf zu stecken. Wie kann man sie in einer Kategorie zusammenfassen, solange man nicht das ihnen gemeinsame Element herausgearbeitet hat – vorausgesetzt, es gibt ein solches?

Bleiben wir weiterhin ratlos. Entsprechen die Führer, von denen die Massenpsychologie handelt, einer gesellschaftlichen Realität oder lediglich einer ganz und gar erfundenen Fiktion? Wenn es sich als unmöglich herausstellte, diese Frage zu beantworten, wäre unsere Arbeit nicht die Mühe wert, unternommen zu werden. Da man nicht erklären kann, was nicht existiert – ganz gleich, ob es sich dabei um ein Fabelwesen oder um eine Chimäre handelt –, wüßte man nicht, worauf sich die gegebenen Erklärungen bezögen. Eine Theorie kann wahr oder falsch sein, und die meisten Theorien sind bald wahr, bald falsch. Aber ohne einen konkreten Gegenstand kann sie weder das eine noch das andere sein. Sie ist nichts als ein Mythos, und mit Mythen allein macht man noch keine Wissenschaft.

7.1.2

Nun gibt es aber in der sozialen Welt eine Art von Autorität, die eine zur psychischen Welt gehörende Art von Herrschaft zu verstehen erlaubt, die weniger kraft einer physischen, anonymen Macht, als vielmehr aufgrund eines geistigen, persönlichen Einflusses ausgeübt wird: die charismatische Autorität. Traditionellerweise bezieht sich das Wort Charisma auf eine heilige Persönlichkeit. Es bezeichnet die Dogmen einer Religion und führt eine Gnade vor Augen, die nämlich, die ein Leid lindert, das Licht, das ins bekümmerte Gemüt des Gläubigen dringt, das lebendige Wort des Propheten, das die Herzen rührt und schließlich die innere Harmonie des Herrn und seiner Jünger.

Folgt man dem Soziologen Max Weber, ist diese Gnade heute den Führern verliehen, die die Massen in Bann schlagen und zum Gegenstand ihrer Verehrung werden. Churchill war sie ebenso gegeben wie Mao TseTung, Stalin, de Gaulle oder Tito. Sie ist auch das Attribut von Papst Johannes-Paul II., dessen Einfluß auf die Millionen von Gläubigen, die voll Inbrunst auf ihn warten und ihm zuhören, die Beobachter beeindruckt hat. Der Reporter des Figaro, der seine Reise nach Polen verfolgt hat, schreibt:
Die große Stärke Johannes-Pauls II. beruht in der Tat ebensosehr auf der Klarheit seiner Reden wie auf seinem Charisma.

Und sein Kollege vom äußerst nüchternen englischen Wochenblatt The Economist geht noch weiter: "Such magnetism is power", ein solcher Magnetismus ist Macht.
Heute ist das Wort Charisma so populär geworden, daß selbst die Massenpresse es benutzt und davon ausgeht, daß es von ihren Lesern verstanden wird. Sein Erfolg geht zu einem Gutteil auf seine Verschwommenheit und seine Ungenauigkeit zurück. Es ruft geheimnisvolle Echos in uns hervor. Im Gegensatz dazu sind die Ideen seines Schöpfers, Max Weber, viel klarer. Ihm zufolge ist dieser Typ der Autorität

spezifisch wirtschaftsfremd. Es (das Charisma, d.Ü.) konstituiert, wo es auftritt, einen "Beruf" im emphatischen Sinn des Worts: als "Sendung" oder innere "Aufgabe".

Anders gesagt, der Einfluß des charismatischen Führers auf die Massen hängt weder vom Reichtum, noch von der Industrie oder der Armee ab – welche aus seiner Perspektive als untergeordnet, als bloße Angelegenheit alltäglicher Verwaltung erscheinen. Genau gesagt, bezeichnet das Charisma eine Gabe, eine gewisse Qualität der Beziehung zwischen den Gläubigen oder den Gefolgsleuten und dem Herrn, an den sie glauben, dem sie gehorchen. Diese Gabe, diese Qualität der Beziehung – ein Beispiel dafür ist die einst den Königen zugeschriebene Fähigkeit zu heilen – werden von einem Glauben, einer gemeinsamen Vision bestimmt.

Ist sie einmal anerkannt, wirkt diese Gabe wie ein Symbolplacebo. Sie ruft bei denen, die mit deren Besitzer in Kontakt treten, den gewünschten Effekt hervor. Genauso, wie das harmlose Medikament, das den Schmerz lindert, heilt, weil es von einem Arzt verschrieben und verabreicht worden ist, obwohl es an und für sich keine entsprechenden physikalischen oder chemischen Eigenschaften besitzt. Trotz aller Fortschritte der Wissenschaft stellt man immer wieder fest, daß der Mensch dem Menschen ein Heilmittel, ja das Allheilmittel schlechthin ist. Ohne Zweifel beruht das Charisma mehr auf dem Glauben der Masse als auf den persönlichen Talenten eines Individuums. Allerdings spielen diese eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Schamane oder Führer wird nicht jeder, der es werden möchte! Warum sonst wären so viele berufen, aber nur so wenige auserwählt? So schwierig es auch sein mag, diese Talente zu definieren, so scheint doch jeder auf der Stelle zu begreifen, daß sie den Führer auszeichnen. Shakespeare hat das in einen exemplarischen Dialog gefaßt:

Lear: Kennst du mich, Alter?
Kent: Nein; aber Ihr habt etwas in Eurem Wesen, das ich gern Herr nennen möchte.
Lear: Was ist das?
Kent: Hoheit.

Wie alle ursprüngliche, irrationale Macht ist das Charisma Gnade und Stigma zugleich. Es verleiht seinem Besitzer das Zeichen eines außergewöhnlichen Wertes, aber auch das Mal des Unmaßes, einer unerträglichen Gewaltsamkeit. Es weist Ähnlichkeiten mit der Fähigkeit afrikanischer Häuptlinge, Strahlen auszusenden, einer ungewöhnlichen Kraft, und mit dem "Triumphtalisman" der homerischen Könige auf; man glaubt, daß der Kudos ihnen eine absolute magische Überlegenheit verleiht.

Die gemeinsame Besonderheit all dieser Zeichen ist es, anziehend und bedrohlich zugleich zu wirken. Sie schützen, und sie machen Angst. Das Charisma entzieht sich der Vernunft und löst wie die anderen oben genannten Kräfte gegensätzliche Leidenschaften wie Liebe und Haß, Trotz und Abneigung aus. Seit undenklichen Zeiten ruft es ein Wiederansteigen der Affekte hervor. Es reißt die Massen aus ihrer Apathie, um sie zu galvanisieren und in Bewegung zu bringen. Ich werde auf diese Ambivalenz der ihm entgegengebrachten Gefühle zurückkommen, denn sie ist wesentlich.

7.1.3

Der charismatische Führer ist, so glaubt man, mit außergewöhnlichen, nicht alltäglichen Qualitäten gesegnet. Doch die Beziehungen, die man zu ihm unterhält, sind persönlicher Art, sind mit Sicherheit subjektive Beziehungen, die auf einer Illusion von Reziprozität beruhen. Gleichwohl gestatten sie es jedem Individuum der Masse, sich einzubilden, es befände sich in direktem Kontakt mit dem von ihm bewunderten Menschen. Um davon überzeugt zu sein, braucht es ihn nur ein einziges Mal gesehen, getroffen zu haben, ihm nahe gewesen zu sein, etwa auf dem Schlachtfeld oder bei einem "Bad in der Menge". Und es kommt zurück und sagt: "Ich habe Ihn gesehen, ich habe Ihn berührt", "Er hat mit mir gesprochen". Ganz so, wie die alten Haudegen des Empire erzählten: "Ich bin an den Pyramiden gewesen, bei Austerlitz, an der Beresina. Mit Ihm." Max Weber unterstreicht:

In ihrer genuinen Form ist die charismatische Herrschaft spezifisch außeralltäglichen Charakters und stellt eine streng persönlich, an die Charisma-Geltung persönlicher Qualitäten und deren Bewährung geknüpfte soziale Beziehung dar.

Mit anderen Worten, der Führer übergeht alle Zwischenglieder, das heißt Organisationen, Parteien, Massenmedien und all die Institutionen, die in jedem Staat den Staat in ein kaltes und unpersönliches Monstrum verwandeln. Um seine Person entsteht eine Art hierarchieloser Gemeinde von Treuen und Hoffenden. Jeder kann sich als sein Schüler, Anhänger, Gefährte ausgeben, ohne das Gefühl zu haben, sich etwas zu vergeben oder sich abzuwerten:

Der Herrschaftsverband Gemeinde ist eine emotionale Vergemeinschaftung.

Der Führer und seine Anhänger scheinen einander gegenseitig zu wählen. Hinter der Entscheidung des Herzens verbirgt sich die Willkür des Führers. Er knüpft die Bande, die ihn mit seinen Leuten vereinen. In einer totalen Identifizierung schenken diese ihm ihr Vertrauen und legen ihr Schicksal in seine Hände. Warum sie das tun, wissen sie selbst nie. Sie rechtfertigen diese Hingabe mit einer wohlüberlegten Entscheidung, einer geheimen Offenbarung oder auch mit beidem, wie zum Beispiel Kardinäle, die zum Konklave zusammentreten, um einen Papst zu wählen. Der Ausgang ist stets der gleiche: Alle erklären das Charisma eines einzigen für gültig. Weber beschreibt die Situation mit folgenden Worten:

Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung – ursprünglich stets: durch Wunder – gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene Anerkennung durch die Beherrschten.

Die Kehrseite der Medaille heißt, wie man sich leicht vorstellen kann, Ergebenheit. Eine Ergebenheit, die offensichtlich einem gemeinsamen Glauben entspringt, denn sie besteht ja in einer reinen und vollständigen Hingabe der Person. Das ergebene Wesen erwartet weder Belohnung noch Bezahlung. Seine Hingabe geht sogar noch weiter: Mit jener Geste, die den anderen zum wirklichen Herrn macht, stellt es seine Person zur Verfügung und verzichtet zugunsten des Willens des anderen auf den eigenen Willen.

7.1.4

Nicht minder außergewöhnlich sind die Umstände, unter denen eine solche Autorität entsteht. Ein deutlicher Einbruch der gesellschaftlichen Ordnung, ein starker Verschleiß der Anschauungen, eine Enttäuschung über die Institutionen, die ihre Lebenskraft verlieren, gehen dem voraus. Die Massen haben dann das Gefühl, daß alles um sie herum zusammenbricht. Blindwütige Gewalten drohen sie zu überfluten, sie laufen Gefahr, vom Sturm in unsichere Häfen getrieben zu werden. Das gesellschaftliche Leben gerät aus der Bahn – weder Frieden noch Krieg, sondern irgend etwas dazwischen. Der graue Alltag scheint durch seine eigene Routine außer Kraft gesetzt zu sein. Die Menschen sind bereit, sich von Wogen der Begeisterung, der Raserei forttragen zu lassen. Sie neigen dazu, die durch Kompromisse und ständige Pfuscherei verbummelten Probleme mit simplen Lösungen beseitigen zu wollen. Hinter dem grauen Regenvorhang sehen sie die schillernden Farben des Regenbogens.

Man sieht, es geht um die Krise, um die latente oder akute Auflösung der Ordnung. Ohne es zu wissen, suchen die Massen nach einem Mann, der in der Lage ist, den Lauf der Dinge unter Kontrolle zu bringen, Ideal und Wirklichkeit, das Unmögliche und das Mögliche zu vereinen. Kurzum, die als Unordnung empfundene existierende Ordnung zu stürzen und eine ganze Gesellschaft wieder ihrem wahren Ziel zuzuführen. Dann kommt das Bedürfnis nach einem Typ von Autorität auf, der die innere Situation verändern könnte. Und die mit Charisma begnadeten Führer entsprechen diesem Bedürfnis. Wer sind sie?

Usurpatoren, Devianten, Fremde, die von sonstwo herkommen oder aus den Randgebieten – Napoleon aus Korsika, Hitler aus Österreich, Stalin aus Georgien. Da ist weiter die gerne königsmörderische Usurpation eines Robespierre, eines Cromwell, eines Lenin; oder die der großen Widerstandsführer, eines de Gaulle oder eines Tito, die die legitimen Machthaber zum Exil, zur Guillotine oder zu Gefängnis verurteilt. Oder die des derzeitigen Papstes, der entgegen einer Tradition gewählt wurde, die forderte, daß der Papst Italiener sei. Ob auf die eine oder auf die andere Weise, sie setzen der Herrschaft der vormaligen Führer ein Ende, die erstarrt sind in ihren Gewohnheiten und eine Autorität ausgebleicht und rationalisiert haben, die nur bestehen kann, solange sie ihre schreienden Farben bewahrt und die Einbildungskraft in Atem hält. Die Voraussetzungen für das Charisma sind also ein Bruch im gesellschaftlichen Gefüge und die Anerkennung der Autorität des Führers durch diejenigen, die sich ihm unterwerfen.

Das Charisma mit der deutlichsten Ausprägung ist Weber zufolge dasjenige des Propheten und vielleicht auch das einiger heroischer Krieger. Die Propheten verkünden neue Regeln für die Gesellschaft. Man verehrt sie und gehorcht ihnen in Anerkennung ihrer vorbildlichen Verdienste. Jeder schwört diesen historischen Persönlichkeiten persönliche Gefolgschaft. Hegel sagte von ihnen:

Sie sind insofern Heroen zu nennen, als sie ihre Zwecke und ihren Beruf nicht bloß aus dem ruhigen, geordneten, durch das bestehende System geheiligten Lauf der Dinge geschöpft haben, sondern aus einer Quelle, deren Inhalt verborgen und nicht zu einem gegenwärtigen Dasein gediehen ist, aus dem inneren Geiste, der noch unterirdisch ist, der an die Außenwelt wie an die Schale pocht und sie sprengt.

Er meinte damit Führer wie Alexander, Cäsar oder Napoleon. Max Weber denkt, wie gesagt, mehr an die Propheten, an die, die es verstanden, die Völker zu führen und ihnen eine neue Anschauung, eine neue Ideologie und vor allem einen neuen Glauben zu geben. Genau gesagt, denkt er vor allem an die jüdischen Propheten. Ein amerikanischer Wissenschaftler schreibt zu diesem Thema:

Selbst im religiösen Bereich, wo es die direkteste Verbindung zum israelitischen Prophetentum gibt, welchem der Begriff (des Charisma, d.V.) so viel verdankt, tauchen neue Führungsstile auf.

Man mag einwenden, daß die Definition dieses Typs von Autorität die ökonomischen, realen und alles andere als prophetischen Interessen außer acht läßt. Diese Interessen haben sich der Führer bedient, haben über sie verfügt und sie aufgezwungen. Die Antwort ist dennoch rasch gegeben. Gewiß kann man diese Interessen berücksichtigen. Was bleibt, ist allerdings die nicht gerade unerhebliche Tatsache, daß die Fülle der Interessen ökonomischer, militärischer Art usw. zur Erreichung ihrer Ziele einen Napoleon und keinen Fouché, einen Cäsar und keinen Pompejus benötigt – das heißt, den Besitzer einer besonderen Gabe, einen Meister der Massenpsychologie.

7.1.5

Ich nehme nun den Faden wieder auf. Zweifelnd hatte ich mich gefragt, ob der Führer, wie ihn die Massenpsychologen beschreiben, einer bestimmten gesellschaftlichen Wirklichkeit entspricht. Es gab mancherlei Gründe zu denken, daß dem nicht so ist. Nun haben wir aber entgegen aller Erwartung gefunden, daß die charismatische Macht eben diese Wirklichkeit abdeckt. All das, was wir vom Prestige gesagt haben, von seinem persönlichen und symbolischen Charakter, vom auf die Massen angewandten Magnetismus, vom spontanen Glauben, vom grenzenlosen Gehorsam, von der Bewunderung, die die Massen dem Führer entgegenbringen, gilt ebenso sehr für das Charisma. Es gibt zwischen den beiden Begriffen keinen wesentlichen Unterschied außer dem, daß das Charisma eine mehr prophetische und das Prestige eine mehr affektive Seite hat, welche letzteres an den Ursprung jeder Form von Macht stellt. Die Theorie des Prestiges ist der des Charisma vorausgegangen, ja sie hat diese inspiriert. Sei dem wie es sei, beide sind in etwa der gleichen Epoche vorgebracht worden, und beide haben versucht, dasselbe politische Problem zu lösen: das Problem von Führung und Demokratie in einer Massengesellschaft.

Diese Ähnlichkeit gestattet es uns, auf einem weniger unsicheren Gelände fortzuschreiten und ein ausgedehnteres Beobachtungsfeld in Anspruch zu nehmen. Kehren wir nun zu unserem Hauptproblem zurück, zur Erklärung des charismatischen Elements. Warum verführt es die Massen? Wie kommt es, daß sie damit einverstanden sind, einem Führer zu folgen? Was bringt sie dazu, auf einen Teil ihrer Ressourcen, ihrer Zeit, ihrer Freiheit zu verzichten, ihre Verpflichtungen und gesellschaftlichen Bindungen zu lösen, um seiner Vision zum Sieg zu verhelfen? Was sind die Triebfedern seiner Psychologie? Und wann sind die Leute am ehesten geneigt, ihm zu folgen?
Dies sind zunächst theoretische, letztlich aber auch praktische Fragen. Weit davon entfernt, das Charisma bei denen zu suchen, die es von sich aus besitzen, bemühen sich Massenmedien, Werbung, Journalisten und andere mehr und mehr, es künstlich herzustellen. Und in einigen Fällen gelingt ihnen das auch.
Bei näherer Betrachtung stößt man allerdings auf eine Schwierigkeit. Dieser Typ des Führers ist nicht nur außergewöhnlich, er scheint uns auch archaischer Art zu sein. Man hielt ihn für eine Besonderheit der vergangenen Gesellschaften und folglich für die unseren von rein anekdotischem Interesse. Aber sehen wir nicht, wie er sich wider alle Erwartung weiter behauptet und verbreitet? Es kann natürlich nicht darum gehen, ihn mit ich weiß nicht was für einer Tugend zu bekränzen, die ihn den Unbilden der Geschichte gegenüber unempfindlich machte. Man muß den Massenführer als eine Realität hinnehmen, den klaren Blick der Wissenschaft auf ihn richten. Ich erwähne diesen Punkt, weil die Massenpsychologie bei Anbruch des Zeitalters der Massen und der Massenparteien dieses Ansteigen vorhergesehen und mit Le Bon die Ansicht vertreten hat, daß

das Urbild des Massenhelden ... stets Caesarencharakter zeigen (wird). Sein Helmbusch verführt sie, seine Macht flößt ihnen Achtung ein, und sein Schwert fürchten sie.

Im Gegensatz dazu dachten und denken die meisten Wissenschaftler, daß der charismatische Führer in der heutigen Zeit nur noch im Niemandsland zwischen den stabilen gesellschaftlichen Phasen, auf den schmalen historischen Streifen der Krisen wiederauflebt, wo spontaner Glaube und grenzenlose Bewunderung herrschen. Und daß die Ausbreitung der Demokratie und vor allem der Massenparteien in ihrer engen Verbindung mit dem ökonomischen Leben zu seinem Verschwinden führt. Der Philosoph und KPI-Führer Gramsci schien fest davon überzeugt gewesen zu sein:

Die Funktionen der Führung übernehmen kollektive Organismen (die Parteien) anstelle individueller – oder wie Michels sagt: charismatischer Führer.

Diese heroischen Worte sind durch die kommunistischen Parteien, auf die sie anspielen, L ügen gestraft worden. Während Gramsci sie schrieb – im faschistischen Gefängnis, das er nur verlassen sollte, um zu sterben – stellten eben diese Parteien die "individuellen Führer", für deren Gegenmittel sie gehalten wurden, an ihre Spitze. Die Vorhersage, daß diese Führer mit der Entwicklung der modernen Gesellschaften zur Bedeutungslosigkeit verurteilt wären, ist von den Fakten eindeutig widerlegt worden. Und das Überraschendste daran ist, daß man sich darüber keineswegs überrascht zeigt. Hoffen wir, daß die Wissenschaftler und vor allem die Politiker in Zukunft den Gründen, aus denen die Massenpsychologie in diesem Kapitel recht behalten hat, mehr Aufmerksamkeit widmen werden. Sie würden damit nur die Grundregeln der Wissenschaft beachten.

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