Auszüge aus Manfred Koch-Hillebrecht's
"Der Stoff, aus dem die Dumheit ist"

Eine Sozialpsychologie der Vorurteile

zurück zur Seite über sonstige Soziologie

Einleitung

Problemstellung

Dieses Buch handelt nicht von Intelligenz-Defekten. Es gibt auch keine Hinweise darauf, wie Kinder, die in der Schule sitzengeblieben sind, zu guten Noten kommen können. Das Problem der individuellen Intelligenz und ihres Fehlens ist überhaupt nicht Thema des Buches. Es befaßt sich vielmehr mit der kollektiven Dummheit. Salopp ausgedrückt: dieses Buch versucht eine wissenschaftliche Analyse des Bla-Bla. Es befaßt sich mit dem, was so geredet (und was so gedacht) wird: In Gesprächen, in Romanen, auf der Bühne, in den Massenmedien. Dieses Gerede wird ernst genommen. Wir wollen in die Welt der Stereotype eindringen und uns zur Aufgabe stellen, eine neue Deutung des Phänomens der Vorurteile zu geben. Sie sollen nicht nur als unausweichliche Bestandteile des Seelenlebens interpretiert werden, sondern auch als Bausteine unserer Kultur. Der Mensch wird als notwendigerweise vorurteilsbefangenes Lebenwesen angesehen. Die Vorurteile werden gedeutet als der Stoff, aus dem die Dummheit besteht, aber auch als der Stoff, aus dem die Einsicht hervorgehen muß. Vorurteile sind unumgänglich, sie sind nämlich ein Weg zur Erkenntnis.

Seit den griechischen Anfängen hat dieses Problem der Vorurteile das europäische Denken nicht losgelassen. Schon früh waren die Philosophen über einen Punkt einig: Das, was die Leute reden und denken, gilt nichts. Nur die Wahrheit der Wissenschaft zählt. Alles andere ist Meinung, Vorurteil. Vorurteil ist vornehmlich die Meinung des anderen, des Laien, des Dummen, des religiösen, des weltanschaulichen Gegners. Bollnow (1962; 117) spricht von einem "Aschenputtel-Dasein", zu dem die Meinung "in der philosophischen Überlieferung verurteilt" war.

Seit den Tagen der klassischen griechischen Philosophen war es nämlich das erklärte Ziel der Wissenschaft, die Meinung zu überwinden. In den "griechischen Anfängen der Philosophie" ist der Begriff Meinung "in eine falsche Beleuchtung" geraten. Parmenides sprach in seinem Lehrgedicht vom Sein von "dem sterblichen Meinen, dem Glauben und Treue nicht zukommt". Dieses Meinen führe auf einen falschen Pfad: "ihn zu verlassen es gilt, führt er zur Wahrheit doch nicht. Nur der andere Pfad ist wirklich vorhanden und echt." Diese Theorie wird von Platon dann theoretisch weiterentwickelt.

Man nahm die Meinung (die doxa) als ein unsicheres, seiner Gründe nicht bewußtes Wissen, also als ein Wissen niederen Ranges, wie es bei der gedankenlos dahinlebenden Menge verbreitet ist. (Bollnow 1962; 117)

Das zeichnete den Wissenschaftler vor dem Banausen aus, daß er dem Reich der Meinungen entfloh. Auch die Einstellungen sollte der Wissenschaftler bekämpfen, er sollte sine ira et studio sein Geschäft betreiben.

Im Mittelalter ging es dann um den Widerstreit von Glauben und Wissen, und wieder entschloß sich die Wissenschaft einseitig für das Wissen, indem sie den Glauben schlicht ausgliederte und dem Theologen überließ. Eine einflußreiche Richtung der Philosophie, die Aufklärung, hat schließlich im 18. Jahrhundert den Kampf gegen das Vorurteil auf ihre Fahnen geschrieben: "Ecrasez l’infâme ...". Die Beobachtung schien den Wissenschaftlern und Schriftstellern zur Zeit der französischen Revolution die Methode, ein für alle Male Irrtümer zu überwinden.

... Die Vorurteile werden der bisherigen Herrschaftsordnung zugewiesen. (Hölzle 1969; 88 über den Abbé Sieyès)

Die Erkenntnis sollte unter entschiedener Abkehr von der zuvor bestehenden Meinung, ganz von unten her, in einem in sich geschlossenen System errichtet werden.

Meinung und Wissen stehen ... in einem scharfen, unüberbrückbaren Gegensatz. (Bollnow 1962; 111)

Die Gegenposition wurde in der Antike von den Sophisten vertreten, die sich gegen den anmaßenden Anspruch wehrten: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! In der Neuzeit erhob Edmund Burke seine abweichende Stimme gegen den Chor der philosophischen Überlieferung. Er war einer der wenigen, die das Gerede des Volkes ernst nahmen, in den Überlieferungen, in den Meinungen der Masse einen Wert sahen, den man nicht einfach wegen der tieferen philosophischen Einsicht der Intellektuellen kurzerhand über Bord werfen durfte. Burke, den man als einen Philosophen der Restauration, als einen Kämpfer gegen die Ideale der französischen Revolution ansieht, verfocht die Position des "common sense" gegenüber den Aufklärungsphilosophen. Diese wiederholten nämlich in diesem Punkte nur die alten überheblichen Ansichten der philosophischen Tradition. Die Masse ist dumm, also soll sie die niedere Arbeit tun, die Philosophen sollen die Könige sein, meinte Platon. Ecraséz l’infâme ... drückte Voltaire denselben Gedanken für seine Epoche aus. Indem man die Ansichten des breiten Volkes abwertet, erhebt man Anspruch auf die "Priesterherrschaft der Intellektuellen" (Schelsky 1977).

Beim Problem der Vorurteile gibt es jedoch nicht nur den britisch-französischen Gegensatz, der zugleich ein Gegensatz zwischen dem konservativen und dem progressistischen Standpunkt ist – es gibt auch eine Kluft zwischen der deutschen und der westeuropäischen Tradition. Während nun in der britischen und französischen Überlieferung des Empirismus der Augenschein als Richtschnur der Wahrheit angesehen wird, betont die deutsche Klassik seit Kant die subjektive Komponente der Wahrnehmung: "Wir sehen nicht, sondern wir erschaffen uns Bilder", formuliert Herder (1787) diesen Standpunkt, der gegenüber einem schlichten Wahrheitsanspruch der Wahrnehmung Skepsis anmeldet.

Schopenhauer wertet ebenfalls die Wahrnehmung als Quelle der Erkenntnis ab. Er betont den Einfluß des Willens. "Der Grundirrtum der bisherigen Philosophie liege darin, daß sie den Menschen primär als erkennendes, anstatt wollendes Wesen aufgefaßt habe." (Mühlmann 1968; 141 f.) Immer behauptet der Wille seine "Oberherrschaft in letzter Instanz". Bestimmte Vorstellungen kann der Wille geradezu verbieten: "Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf nicht ein." (Werke II; 240 ff.)

Der Gegensatz zwischen dem Briten Burke, der in den Vorurteilen eine notwendige Etappe auf der Straße der Wahrheit sah, und dem Franzosen Voltaire, der sie als Sackgasse, als Irrweg betrachtete, ist heute noch lebendig.

Zur Ablehnung der Vorurteile, zu ihrer strikten Bekämpfung führt jedoch nicht nur eine aufklärerische, sondern auch eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise. Die Naturwissenschaft braucht scheinbar keine Umwege, auch nicht die der Vorurteile. Die Methode scheint ihr die Sicherheit zu verleihen, auf dem geraden Wege zur Wahrheit vorzudringen. Die Anwendung der Statistik garantiert die Vermeidung des Irrtums. Dieser wird kalkuliert, mitberechnet und damit ausgeschaltet.

Dieser naiven, noch weitverbreiteten naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise entspricht ein bestimmtes Menschenbild, in dem die Vorurteile keinen Platz mehr haben. Das lebensfeindliche System Platons in modernem Gewande: Eine konsequente Erziehung werde schließlich den vorurteilsfreien Menschen hervorbringen. Die nationalen Vorurteile würden durch Lernprogramme ebenso verschwinden wie die Stereotype der Geschlechterrolle und alle Formen politischer Voreingenommenheit. Dieser Optimismus breitet sich auch in der Politik aus. Die mit Steuergeldern veranstalteten Besuchsreisen fremder "Multiplikatoren", worunter zumeist Journalisten zu verstehen sind, sollen durch Augenschein die Vorurteile abbauen. Das deutsch-französische Jugendwerk setzt ganz aufklärerisch schon im Jugendalter an, um die Vorurteile gewissermaßen an der Wurzel zu bekämpfen. Das Deutschenbild, das falsche Bild der Frau, der Gastarbeiter, der alten Menschen, sie alle würden im Zuge dieser Entwicklung immer mehr den Klischeecharakter verlieren und der tatsächlichen Erkenntnis Platz machen. Das Vorurteil wird durch das Urteil ersetzt. Schon die Sprache deutet den geforderten Läuterungsprozeß an. Zuversicht über die Herstellbarkeit vernünftiger kalkulierbarer Ziele erfüllt noch viele Naturwissenschaftler und Politiker gleichermaßen.

Der Mensch wird als vernunftbegabtes, wahrnehmendes und schließlich urteilendes Wesen interpretiert. Als vernünftig und urteilend wird er vor allem dann angesehen, wenn er genau so urteilt, wie es ihm eine philosophische, naturwissenschaftliche oder politische Ideologie vorschreibt. Diese Konzeption ist in unserer Kultur, vor allem auch im Wissenschaftsbetrieb, festgeschrieben. Den Aufbau der psychologischen Disziplin stellt man sich folgerichtig so vor, daß auf der Grundlage einer statistischen Methodenlehre Wahrnehmung, Lernen und Denken als die Grundfunktionen des menschlichen Erkennens auf ihre Gesetzmäßigkeiten hin untersucht werden. Diese Funktionen sind nach dieser Ansicht die wichtigsten menschlichen Mittel auf dem Wege zur Wahrheit, zur berechenbaren Beherrschung der Welt.

Diese Ansicht der Naturwissenschaften ist ein nicht durchdachtes Erbe der platonischen Philosophie. In einer frühen Zeit, als die Philosophenschulen Geheimbünden mit esoterischen Praktiken glichen, hoben sie sich aus dem Kreis der Uneingeweihten durch ihre besonderen Methoden heraus, mit denen sie die Wahrheit erreichen wollten, die dem uneingeweihten Banausen für immer verschlossen war. Verstöße gegen die Methode sind Verfehlungen gegen den Ritus und führen selbstverständlich automatisch zu einer wissenschaftlichen Exkommunikation. Hofstätter (1957) hat die religiösen Hintergründe der behavioristischen Methodenlehre klargelegt.

Der Fortschritt der Naturwissenschaft schien mit der Methode der Verifizierung oder Falsifizierung von Hypothesen sicher und unvermeidlich. Die Statistik konnte entscheiden, ob man auf dem rechten gesicherten Weg der Wahrheit war oder auf dem falschen des Vorurteils.

Die Verteidigung der Vorurteile wird hingegen in der aktuellen Theoriediskussion vor allem von geisteswissenschaftlichen Ansätzen aus betrieben. Mit einer veränderten Einstellung zu den Vorurteilen gehen veränderte Auffassungen über das Menschenbild, über die zu verwendenden Methoden und über den Aufbau der Wissenschaft Hand in Hand. Insofern treffen wir mit einer Diskussion über die Vorurteile mitten in den ideologischen Streit um die Methoden und Erkenntnisse der Psychologie. Methodenfragen, so hatte Rothacker (1952; 143) erkannt, sind immer Weltanschauungsfragen.

Wir versuchen nun, den geisteswissenschaftlichen Standpunkt, den wir vertreten wollen, kurz zu umreißen. Er unterstreicht die Wichtigkeit der Vorurteile als einer Form des "Vorverständnisses" (Gadamer 1974), als eines Angriffspunktes des Interesses auf dem Wege der Erkenntnis.

Von mehreren Seiten ist diese wissenschaftstheoretische Position in den letzten Jahren vorbereitet worden, zum Beispiel von Karl Popper (1969), der die 2-Wege-Theorie, das Sackgassenbild der Wissenschaftsentwicklung ablehnt. Wissenschaftler und Laie unterscheiden sich nicht dadurch, daß der eine von vornherein eine durch Methode gesicherte Erkenntnis gewönne, der andere nur das Vorurteil, die doxa, besitze.

Die Weise, in der unsere Erkenntnis fortschreitet, und insbesondere unsere wissenschaftliche Erkenntnis, geschieht durch ungerechtfertigte (und nicht zu rechtfertigende) Vorwegnahme, durch Raten, durch versuchte Lösungen unserer Probleme, durch Konjekturen.

Die Vorurteile sind wichtiger Bestandteil des Prozesses der Erkenntnisgewinnung, der erst a posteriori, nachdem der ganze Weg überblickt wird, kritisch gereinigt werden kann.

Ganz ähnlich, wenngleich ohne näheres Eingehen auf die naturwissenschaftliche Methodenlehre, aber nicht minder überzeugend, hatte Spranger (1929) argumentiert. Auch er erkennt in der Haltung Platons eine wissenschaftliche Fehlentwicklung. Auch er legt die Phase der Kritik an den Schluß.

Den noch immer zahlreichen naiven Verfechtern einer voraussetzungslosen Wissenschaft hält Spranger (1929. 1963; 21) entgegen, daß jede Einzelwissenschaft "durch und durch philosophiegeladen" sei, in einem Maße, "daß die Verächter der Philosophie darüber erschrecken würden, wenn sie einmal merkten, wie philosophisch (allerdings auf fremde Rechnung) sie schon in ihren ersten Ausgangspunkten sind".

Bollnow (1962; 112) präzisiert den geisteswissenschaftlichen Standpunkt:

Die jahrhundertelangen vergeblichen Bemühungen der neuzeitlichen Erkenntnistheorie haben schließlich zu dem unabweislichen Ergebnis geführt, daß es grundsätzlich unmöglich ist, in der Erkenntnis einen "archimedischen Punkt" zu finden, bei dem man voraussetzungslos von vorn beginnen könnte.

Die Einsicht, daß man vor der Bekämpfung das Verabscheuungswürdige erst einmal genau untersuchen müsse, konnte von der Medizin profitieren, die auch Harn und Sputum als wichtige Erkenntnisquellen entdeckt hat. Die Wendung zum psychologischen Interesse an den Fehltritten, den Abfallprodukten des Erkenntnisprozesses setzt bei Nietzsche und dann endgültig bei Freud ein. Nietzsche (III; 503) erkennt:

Es gibt keinen Tatbestand ...; das Dauerhafteste sind noch unsere Meinungen.

Die Widerstände gegen die Lehre Freud’s haben eine Reihe von Ursachen. Sie mögen teilweise darin bestanden haben, daß er in den Träumen ein Arbeitsobjekt in Angriff nahm, das in der Nähe des akademisch verfemten Bereiches der doxa, des Glaubens, des Vorurteils lag.

Auch von der Phänomenologie Husserl’s her ist der Zugang zu den traditionell tabuisierten Formen menschlicher Erlebnisse gewagt worden. Wenn man der Überzeugung ist, daß das genaue Eingehen auf das Phänomen ein wesentliches Prinzip der Wissenschaft ist, muß man auch das alltägliche Reden in einem anderen Licht sehen als die bisherige Philosophie.

L. Binswanger tat die Meinungen der Geisteskranken nicht als dummes und irres Gerede ab, sondern nahm sie wissenschaftlich ernst, erfaßte sie, hörte ihnen genau zu und erreichte so neue Erkenntnisse über das menschliche Seelenleben.

Auch von einem ganz anderen Standpunkt kommt Habermas (1963) zu einem ähnlichen Ergebnis. Er fordert auf, die Ideologien nach ihren eigenen Intentionen zunächst einmal ernst zu nehmen.

Den Weg zu dieser verstehenden Betrachtung hatten schon der deutsche Idealismus und die historische Schule gebahnt (Meinecke 1959, Rothacker 1960). Ranke hatte das bahnbrechende Wort ausgesprochen, daß jede Epoche unmittelbar zu Gott sei. In den nachgelassenen Papieren formuliert der große Historiker in den dreißiger Jahren:

Nicht die Meinungen prüfen wir ..., wir haben über Irrtum und Wahrheit schlechthin nicht zu urteilen. Es erhebt sich nur Gestalt neben Gestalt, Leben neben Leben, Wirkung und Gegenwirkung.

Hölzle (1969; 58 ff.) weist verwandte Gedanken bei Goethe und Hölderlin nach.

Auch die Wissenssoziologie (Scheler 1924, 1955, Mannheim 1952, Geiger 1953) hat erkannt, daß die Ideologien etwas Alltägliches sind. Das falsche Bewußtsein ist das normale Bewußtsein. Sorel formuliert diese Erkenntnis 1894:

Der Mensch lebt ebenso sehr von Illusionen wie von Realitäten.

Pareto (1916) nennt die Meinungen, die Auffassungen der Leute, das, was sie für wahr halten, "Derivationen", weil er glaubt, daß die geistige Welt aus den Triebstrukturen abzuleiten sei. Der Amerikaner Shils bezeichnet 1968 die Ideologien als "Ausdruck eines menschlichen Bedürfnisses, der Welt eine vernünftige Ordnung aufzuerlegen, und findet jene in allen Hochkulturen" (Hölzle 1969; 154).

Schließlich kommt Holzkamp (1973) in seiner kritischen Psychologie zur Ablehnung des platonisch-behavioristischen Modells, das er als "bürgerliche" Psychologie bezeichnet. Er legt eine geisteswissenschaftliche Psychologie vor, die er in einen marxistischen Mantel hüllt.

Es beginnt sich die Ansicht durchzusetzen, daß das Gerede der Leute, die Meinungen, ein ernstzunehmender Gegenstand der Wissenschaft sind.

Die grundsätzliche Wichtigkeit der Einstellungen und verwandter Phänomene in der Psychologie unterstreicht Metzger (1966; 10 f.):

Für die Erlebnisseite steht fest, daß sie im allgemeinen nicht aus Wahrnehmungen, sondern aus mehr oder weniger gesicherten Kenntnissen, aus Überzeugungen, aus mehr oder weniger tief verwurzelten Meinungen und Glaubensinhalten, aus "Selbstverständlichkeiten" besteht ...

Die Wirkung von Einstellungen ist auf dem Gebiete der angewandten Psychologie oft nachgewiesen worden, z.B. in der pädagogischen Psychologie, wo die Leistungen in bestimmten Fächern von der Einstellung zum Lehrer und von der Einstellung des Lehrers zum Schüler abhängig sind (Höhn 1967). Auch in der Militärpsychologie (Stouffer et al. 1950), in der Werbepsychologie, in der politischen und in der forensischen Psychologie spielen Einstellungen eine entscheidende Rolle (Kleining 1959, Lazarsfeld, Berelson, Gaudet 1948, Stern 1902).

In benachbarten Disziplinen ist das Problem der Einstellungen ebenfalls erkannt worden. Die Friedensforschung untersucht u.a. Einstellungen (Bronfenbrenner 1961, Kelman 1965, Thomae 1966). Auch der soziale Friede innerhalb von Gesellschaften ist von den Einstellungen ihrer Mitglieder abhängig. Eine schon fast unübersehbare Literatur liegt über die Einstellungen der weißen Majorität zur schwarzen Minorität in den USA und zu den Reaktionen der Minorität auf die Einstellungen der Majorität vor (Clark u. Clark 1947, Radke, Trager u. Davis 1949, Radke u. Trager 1950).

Terminologie

Unklarheiten im Denken führen oft zu Unsicherheiten in der Terminologie. Die Problematik einer begrifflichen Klärung unseres Themas geht schon aus einer fast unübersehbaren Zahl und einer merkwürdigen Unschärfe der Ausdrücke hervor, die darauf hinweisen, daß auf das menschliche Erleben und Sozialverhalten gewisse Prädispositionen einwirken können.

Wir haben im Titel die Begriffe Dummheit und Vorurteil verwendet, in der Hoffnung, allgemein verstanden zu werden. Statt von Vorurteil hätten wir auch von Stereotyp oder von Haltung oder auch von Einstellung reden können.

Weitgehend synonym mit dem Begriff Einstellung wird eine ganze Reihe anderer Begriffe verwendet. Im Handbuch für Psychologie gebraucht Eyferth (1964) den Begriff Haltung, wo im Englischen von attitude die Rede ist. Als Synonyme für Einstellungen notiert Rothacker (1966; 36 ff.): "Gesichtspunkte", "Auffassungen", "Betrachtungsweisen", "Blicke", "beseelende Akte", "Perspektiven", "Blickpunkte", "Dimensionen der Formung". Für die englische Sprache hat sich Campbell (1963; 100 f.) die Mühe gemacht, eine eindrucksvolle Liste von nicht weniger als 76 Wörtern zusammenzustellen, die "alle wenigstens teilweise die Tatsache ins Bewußtsein rufen, daß die Erfahrung die Verhaltenstendenzen des Organismus modifiziert hat".

Gegenüber der deutschen Sprache hat nun die englische noch den Vorteil, daß sich wenigstens in der Sozialpsychologie das Wort "attitude" als eine Art Oberbegriff weitgehend durchgesetzt hat (Cooper und McGaugh 1962; 240). Einige Forscher (z.B. Irle 1967) haben vorgeschlagen, das englische Wort "attitude" im Deutschen als Attitüde wiederzugeben. Doch hat dieses Kunstwort nicht recht Schule gemacht, wohl deswegen, weil es mit einer abweichenden, fest umrissenen Bedeutung in der deutschen Sprache bereits verwendet wird und somit manchen Kunstverständigen ans Ballett erinnert, mit dem die moderne Psychologie sonst nur wenige Berührungspunkte hat.

Im übrigen erleichtert die Einführung des Wortes Attitüde in die Sozialpsychologie die Arbeit des Übersetzers, löst aber das Problem in keiner Weise.

Während Mittenecker (1964) den deutschen Begriff Einstellung so definiert, daß er dem englischen Begriff attitude völlig entspricht, glaubt Irle (1967), daß es fehlerhaft sei, attitude mit Einstellung zu übersetzen, man müsse wenigstens soziale Einstellung sagen. Hierzu ist zu bemerken, daß auch im Englischen – ganz analog wie im Deutschen bisweilen eine Scheu davor besteht, schlicht von "attitude" zu reden und daß statt dessen der Begriff "social attitude" verwendet wird (Campbell 1950, Campbell 1963, Eysenck 1961, Horowitz u. Horowitz 1938, Taylor 1960, Thompson 1962, Triandis 1964, Young 1931).

Erst durch Einstellungen und in Einstellungen erhellt sich die Welt. "Kein Phänomen ohne historisch gewordene Hinsicht" (Rothacker 1966; 22). Thomae (1968; 220 ff.) gibt eine Übersicht über die Terminologie, die von verschiedenen Psychologen bei der Erfassung subjektiver Erlebniswelten herangezogen wurde. Der Begriff Einstellung ist nun erstens der in der Sozialpsychologie übliche Terminus, der für diese Disziplin die auch den anderen Gebieten der Psychologie auffallende Grundtatsache der Perspektivität der subjektiven Welten betont. In diesem Sinne ist etwa von einer "autoritären Einstellung" die Rede. Diese Einstellung läßt ihren Inhaber die Welt durch eine bestimmte Optik sehen. Diese globale Verwendung des Begriffes rückt ihn in die Nähe der Bedeutung der Begriffe Stimmung und Haltung (Bollnow 1943; 144 ff.). Die sozialpsychologische Komponente kommt im Begriff der Einstellung dadurch zum Ausdruck, daß wir ihn zur Bezeichnung der Prädispositionen, Hinsichten nicht nur von Individuen sondern auch von Gruppen bis hin zu Völkern verwenden.

Zweitens aber wird der Begriff Einstellung auch in einem engeren Sinne verwendet, wenn nicht von der Gesamtfärbung eines Erlebnisreliefs die Rede ist, sondern nur von Segmenten, kleineren Ausschnitten. So sprechen wir von unserer Einstellung zu bestimmten Menschen, Streitfragen. Wenn der Begriff Einstellung in diesem eingeschränkten Sinne verwendet wird, kann er durch andere Begriffe ersetzt werden, etwa durch "Vorurteil", "Stereotyp" oder "Image".

Diese drei Begriffe decken sich weitgehend. Sie wollen alle drei die Tatsache hervorheben, daß das Bild, die Vorstellung, die sich ein einzelner oder eine Gruppe von einem Gegenstand oder von anderen Menschen oder Menschengruppen machen, mit der wirklichen Beschaffenheit des Gegenstandes, von dem die Rede ist, oft nicht übereinstimmt. Die drei Begriffe wollen darauf hinweisen, daß eine Diskrepanz zwischen dem Vorgestellten und der Vorstellung besteht.

Bei gleicher Grundbedeutung bekommen sie jedoch eine verschiedene Nuance durch das wissenschaftliche Gebiet, in dem sie am häufigsten verwendet werden. Der älteste Begriff ist der des Vorurteils. Er stammt aus der Philosophie. Bei der Betonung der Diskrepanz zwischen Schein und Sein steckt in ihm zugleich der Anspruch, den Schein zu überwinden und zur Wirklichkeit vorzudringen. Eine Aufgabe der Philosophie, insbesondere zur Zeit der Aufklärung, bestand darin, die Vorurteile zu vertreiben und sie durch Urteile zu ersetzen. Im Begriff des Vorurteils steckt also ein Erziehungsprogramm. Es ist der Begriff, der die stärksten abwertenden Akzente trägt. In der Psychologie wird der Begriff Vorurteil meist reserviert für negativ verfälschte Vorstellungen und Bilder (Allport 1954, Karsten 1953, Peters 1955/56).

Wesentlich jünger ist der Begriff des Stereotyps. Der Ausdruck wurde zuerst von Walter Lippmann im Jahre 1922 in seiner heutigen Bedeutung verwendet. Die Stereotype sind nach Lippmann "pictures in our head". Er prägte den Ausdruck, um die Grundbestandteile der öffentlichen Meinung zu kennzeichnen.

Zwar ist auch im Begriff Stereotyp eine leise Abwertung enthalten: stereotypes Denken, Bewegungsstereotype sind nicht gerade Wörter, mit denen man die wertvollsten Formen menschlichen Verhaltens benennt. Beim Begriff des Stereotyps liegt der negative Akzent jedoch anders als beim Begriff des Vorurteils. Stereotype kann man nicht – so wie Vorurteile – auf dem Wege des Lernens, der Erfahrung, der Aufklärung, durch Urteile oder richtige Auffassungen ersetzen. Der Akzent beim Begriff des Stereotyps liegt vor allen Dingen auf der Gesetzmäßigkeit, mit der es entsteht, mit der es sich aufbaut. Während der Begriff des Vorurteils etwas Reformerisches in sich trägt, ist der Begriff des Stereotyps der Betrachtungsweise des Naturforschers oder des Arztes adäquat. Der Begriff Stereotyp deutet an, daß das "Bild im Kopf" ein eigenständiges untersuchungswürdiges Phänomen ist, das um seiner selbst willen interessant genug ist, studiert zu werden, und nicht einfach eine wertlose Vorstufe darstellt, die überwunden werden sollte.

Noch jünger als der Begriff des Stereotyps ist der Begriff des Image:

Der Begriff des Image in unserem Sinn ist jung. Er taucht Anfang der 50er Jahre in der Diskussion und in Untersuchungsberichten der amerikanischen Absatzforschung und vorwiegend der sozialpsychologisch orientierten – auf. (Spiegel 1961; 33)

Von den beiden anderen Begriffen unterscheidet sich das Image dadurch, daß es im Bereich der Wirtschaftspsychologie beheimatet ist. Dort wird vorwiegend von Brand-Images gesprochen, Markenbildern bestimmter Waren, und erst in zweiter Linie vom Image von Politikern oder Völkern (vgl. Kleining 1959).

Eine Abgrenzung des Begriffes Einstellung zu den in der Psychologie sonst noch gebräuchlichen Begriffen Aufgabe, Bewußtseinslage und Bewußtsein, determinierende Tendenzen, Gesinnung, Set, Meinung (opinion), Stereotyp und schließlich Wert und Wertsystem gibt Roth (1967; 38 ff.).

Auch die tiefenpsychologischen Schulen kennen den Einfluß verzerrter Vorstellungen und verzerrender Einstellungen im menschlichen Leben. Sie haben ihre eigenen Begriffe geprägt, z.B. Imago: Das durch frühkindliche Wünsche und Erfahrungen geformte Vaterbild wird in der Psychoanalyse als Vater-Imago bezeichnet.

C. G. Jung (1960; 451 ff., 503 ff., 515 ff.) hat für stereotyp-ähnliche Erscheinungen eine Reihe von Begriffen verwendet. Er spricht allgemein von "Bildern". Diese sind immer "Phantasiebilder", die "sich nur indirekt auf Wahrnehmung des äußeren Objektes" beziehen. Ein Bild "beruht vielmehr auf unbewußter Phantasietätigkeit, als deren Produkt es dem Bewußtsein mehr oder weniger abrupt erscheint, etwa in der Art einer Vision oder Halluzination, ohne aber den pathologischen Charakter einer solchen zu besitzen". Ein kollektives urtümliches Bild ist der "Archetypus", der "ganzen Völkern oder Zeiten gemeinsam ist". Seelenbilder können in reale, manchmal aber auch ganz unbekannte oder mythologische Personen verlegt werden. Ein solches unbewußtes idealisiertes Partnerbild nennt Jung beim Mann "Anima", das Partnerstereotyp der Frau "Animus".

Auch in Thomae’s (1968) Analyse individueller Welten spielt der Begriff "Bild" eine hervorstechende Rolle. Der Begriff "Bild" plaziert das Stereotyp in den Bereich der optischen Wahrnehmung, die viele, teilweise kaum zusammengehörige Einzelheiten gleichzeitig zu einer gewissen Einheit zusammenfaßt. Es gibt jedoch auch die Form der sukzessiven, sich entwickelnden Darlegung, wie sie sich in der Sprache dem Ohr darbietet. Alte Erzählungen, Märchen, Reime, Volkslieder, Sprüche überliefern stereotype Bilder, die in diesem Falle Mythen genannt werden können, weshalb Lück (1938) seine Untersuchungen über das Deutschenbild in Polen unter den Titel "Der Mythos vom Deutschen" stellt. Die Mythenforschung hat eine Reihe von Erkenntnissen über die Natur und die Entwicklungsgeschichte von Stereotypen hervorgebracht (vgl. Cassirer 1932).

Schließlich soll der Einstellungsbegriff mit einem psychopathologischen Begriff verglichen werden. In der Psychopathologie wird der Wahn als eine "verkehrte Vorstellung" definiert, "die unbeirrbar festgehalten wird" (Jaspers 1959; 78). So gesehen wären Wahn und besonders rigide Formen der Einstellung fast identisch. Aber Jaspers führt noch weitere Merkmale des Wahns an, die eine Unterscheidung ermöglichen. Es sind

1.      Die außergewöhnliche Überzeugung, mit der (am Wahn) festgehalten wird, die gleichliche subjektive Gewißheit.
2.      Die Unbeeinflußbarkeit durch Erfahrung und durch zwingende Schlüsse.
3.      Die Unmöglichkeit des Inhaltes.

Die ersten beiden Punkte treffen auch auf Stereotype zu, nicht dagegen das dritte Merkmal. Bei den Stereotypen fehlen auch die "Wahnstimmung" und der "große Rest von Unbegreiflichem, Unanschaulichem, Unverständlichem", die den Wahn kennzeichnen.

...

Vorurteile als Bestandteile der Kultur

Ist einmal eine recht handgreifliche Abgeschmacktheit zu Papier gebracht, so rollt selbige von Buch zu Buch, und es ist das erste, wonach die Büchermacher greifen. A. von Chamisso: Reise um die Welt

Die Operette als Beispiel

Im 2. Aufzug der klassischen Operette von Johann Strauß Die Fledermaus gibt der steinreiche russische Prinz Orlofsky (Mezzosopran oder Tenor) im Gartensalon und Garten seiner glänzend beleuchteten Villa einen rauschenden Ball, den er mit einem Couplet eröffnet. Er stellt fest, daß er sich gern Gäste einlade; wenn ihn dabei einer der Anwesenden langweile, "so pack ich ihn ganz ungeniert, werf ihn hinaus zur Tür". Noch ärgere Unannehmlichkeiten treffen den Gast, der nicht sofort mittrinkt: "Wer mir beim Trinken nicht pariert, sich zieret wie ein Tropf, dem werfe ich ganz ungeniert die Flasche an den Kopf!" Frage man nach dem Sinn seines absonderlichen Verhaltens, dann antworte er: " ’s ist mal bei mir so Sitte".

Wir sind in der Welt der Vorurteile. So ist die Sitte, so ist ein russischer Prinz, steinreich, trinkfest, melancholisch, extravagant, unberechenbar, irrational. Das ganze Register der nationalen Vorurteile gegenüber den Russen wird gezogen. Die Bühnenwirksamkeit dieser Figur erwächst geradezu aus dem Vorverständnis der Zuschauer. Man weiß schon, wie sich ein russischer Prinz benimmt.

Auch das Stereotyp eines Franzosen ist festgelegt. Von ihm wird Rationalität, Schärfe, kalter Intellekt, Kennerschaft erwartet. Der Held der Operette, Herr von Eisenstein, erscheint auf dem Ball als Marquis verkleidet. Sein (ebenfalls verkleidetes) Hausmädchen, das er erkennt, wirft ihm deswegen im Sinne der Logik dieser Operettenwelt vor, mit ihrem griechischen Profil könne sie keine Zofe sein. "Die Hand ist doch wohl zu fein, ah, dies Füßchen so zierlich und klein, ah, die Sprache, die ich führe, die Taille, die Turnüre, dergleichen finden Sie bei einer Zofe nie!": "Mein Herr Marquis, ein Mann wie Sie sollt besser das versteh’n!"

Rosalinde, die Frau von Eisenstein, ebenfalls verkleidet am Ball teilnehmend, ist eine Ungarin: Welch eine Gelegenheit, die Stereotype von Pußta und Paprika fröhliche Urständ feiern zu lassen. So heißt es denn im Csárdás der Rosalinde: "Feuer, Lebenslust schwellt echte Ungarnbrust ... schlürft das Feuer im Tokaier, bringt ein Hoch dem Vaterland!"

Und wo das ungarische nationale Stereotyp beschworen wird, darf natürlich das böhmische nicht fehlen. So klingt es denn im Chor zur Polka:

Me tanzen Polka alle zwei,
Wo is e Hetz, is Böhm dabei.
Toje hesky musitschku,
Auf Trumpetel, Klarinettel!
So wie česky Musikant
Blast me in kein andre Land!

Zum kanadischen Stereotyp fällt dem Libretto nicht so viel ein wie zu dem bekannteren böhmischen, französischen oder ungarischen. Ein kanadischer Gast des Festes namens Murray bringt aber schon in dem einzigen Satz, den er zu sprechen hat, einen Beitrag zur nationalen Stereotypenbildung. Als ihm das verkleidete Hausmädchen Ina gesteht, sie habe schrecklichen Hunger, versichert er: "Wir in Kanada haben niemals Hunger, nur Durst!" Denn von Kanada weiß man eigentlich nur, daß es dort Whisky gibt.

Neben der nationalen machen auch die schichtspezifischen Stereotype den Reiz dieses Spiels aus. Die Prinzen sind nicht nur steinreich, sondern auch welterfahren, sprachenkundig. Der Herr von Eisenstein, als Marquis verkleidet, und der Gefängnisdirektor, auch als Franzose erschienen, die den Mittelstand verkörpern, fallen durch mangelhafte Französischkenntnisse auf und erheitern das Publikum durch ihr Radebrechen, das vornehmlich aus im Deutschen bekannten französischen Bruchstücken besteht: "Vous êtes aussi Français?" "Aussi, aussi, aussi, möcht’ ich." "J’ai l’honneur, serviteur ..., will er noch mehr, gibts ein Malheur!"

Die verkleideten Kammerzofen decouvrieren sich durch ihr ungeschicktes ungehobeltes Benehmen und durch ihren Hunger. In Österreich kann noch heute ein Angehöriger der Unterschicht mit dem Schimpfwort "Hungerleider" belegt werden.

Auch die Stereotype der Geschlechterrolle kommen in diesem Aufzug nicht zu kurz. Frauen sind verführbar: La donna è mobile, wie dieser Topos in einer anderen Oper, in Verdi’s Rigoletto, klassisch ausgedrückt wird; oder "Cosi fan tutte", so machen’s alle, wie es bei Mozart heißt. Der Herr von Eisenstein verdankt seiner Damenuhr, die er den verführbaren Frauen zeigt, "unzählige Eroberungen", und von seiner maskiert erschienenen Frau nimmt er an, daß auch sie auf seinen Standard-Trick hereinfallen wird: "Sie wird auf die Uhr anbeißen wie die anderen!" Aber er verliert seine Uhr. Denn zum Stereotyp des Mannes gehört es, von einer Frau geprellt zu werden und so singt Eisenstein: "Sie ist nicht ins Netz gegangen, Hat die Uhr mir abgefangen ... Hab’ blamiert mich ungeheuer. Meine Uhr ist annektiert."

Auch der Zigeunerbaron von Johann Strauß hätte uns als Beispiel für die konstituierende Rolle der Vorurteile bei der dramatischen Wirkung dienen können. Das Stereotyp des bäuerlichungebildeten Menschen findet seinen klassischen Ausdruck in der Arie des Helden: "Ja, das Schreiben und das Lesen ist nie mein Fach gewesen. Mein idealer Lebenszweck, Zweck, Zweck, ist Borstenvieh und Schweinespeck." Die Musik untermalt die lächerlich verächtliche Wirkung des Textes durch deutliche Lautmalerei: Das Quieken von Schweinen klingt bei der mehrfachen Wiederholung des Wortes Zweck, Zweck, Zweck unüberhörbar durch. Die nationalen Stereotype werden schon in der ersten Szene hervorgeholt: Die Zigeuner sind da! Mit den Zigeunern wird eine ganze Welt beschworen, die Gegenwelt des bürgerlichen 19. Jahrhunderts. Der Zigeuner als Schatten, als Hintergänger des zivilisierten Europäers. Nicht nur der "Zigeunerbaron" lebt von diesem Stereotyp, sondern viele berühmte Opern des 19. Jahrhunderts, man denke an Bizet’s Carmen: Die Liebe vom Zigeuner stammt. Das Stereotyp des edlen Wilden, des Menschen mit den unverdorbenen Gefühlen, wird auf den Zigeuner projiziert. In Carmen klingt außerdem das nationale Vorurteil der Spanier gegen die Basken an. José ist ein Baske, ein Angehöriger einer schwerverständlichen, dumpf und brutal reagierenden Minderheit. Die Zigeunerszenen in Verdi’s Troubadour leben ebenso vom seelischen Bild, diesem psychologischen Traum des 19. Jahrhunderts, wie die Wahrsageszenen in Macht des Schicksals. Den Basken in Carmen, dem "Zigeuner" im Troubadour entspricht die selbstlos liebende Japanerin in Madame Butterfly, eine weibliche Ausgabe des "Bon Sauvage", der uns verdorbene Weiße mit wahrer Menschlichkeit zu Tränen rühren soll.

Nun hat diese Analyse eines Aufzuges einer Operette keine völlig neuen Erkenntnisse gebracht. Allenfalls die Häufung der Stereotype verwundert. Man muß erkennen, daß eine Ausspielung von Vorurteilen zum Wesen der Operette gehört und nicht nur der Operette, wie wir zeigen werden. Die Fledermaus zählt jedenfalls zu den erfolgreichsten Operetten, mehr als 30.000 Aufführungen hat es seit der Erstaufführung 1874 gegeben.

Die Fledermaus wurde zu Demonstrationszwecken willkürlich als besonders bekanntes Beispiel gewählt. Wir hätten auch den Vogelhändler von Karl Zeller nehmen können. Beginnen wir mit den nationalen Stereotypen. Der Vogelhändler Adam ist ein Tiroler, Anlaß genug, die entsprechenden Vorurteile in Noten zu setzen. Die Tiroler sind arme, einfache, unverbildete Menschen. Das Stereotyp des edlen Wilden aus dem 18. Jahrhundert ist also ganz am Platze: diese Menschen kennen nicht die Finten und Verstellungen der höfischen, der städtischen Welt:

Schenkt man sich Rosen in Tirol,
weißt du, was das bedeuten soll:
Man schenkt die Rosen nicht allein,
man schenkt sich selber mit hinein.

Die schichtspezifischen Vorurteile werden nicht nur an den armen Tirolern abreagiert, sondern auch an zwei Professoren, die dramaturgisch in der Operette gar keinen Sinn haben als den, zu Prügelknaben, Watschenmännern für die Stereotypisierungstendenz von Libretto und Publikum zu dienen. Professoren sind nämlich, wie man weiß, Leute, die ungerecht sind und sich bei Prüfungen durch alles mögliche bestechen lassen:

Ich bin der Prodekan,
man sieht mir s gar nicht an ...
Beim Prüfen bin ich wüterich,
da schone keine Seele ich;
doch wenn er Protektionen hat,
der Kandidat, da schweig’ ich ein.

Auch andere Berufe bleiben nicht ungeschoren. Die Post ist in den Augen ihrer Kunden saumselig, langsam. Und so singt denn die Christl von der Post mit der Zustimmung ihrer vielen Zuhörer:

Nur nicht sogleich, nicht auf der Stell,
denn bei der Post geht’s nicht so schnell!

Die Christl zeigt auch wieder einen Topos des Geschlechterstereotyps, sie trickst den Adam aus – ganz ähnlich wie die Rosalinde den Eisenstein.

Die beiden erfolgreichsten Musicals My fair Lady und West Side Story spielen schon im Titel mit den Vorurteilen. Die "schöne Lady" ist in Wirklichkeit gar keine. Bei wichtigen Gelegenheiten, etwa beim Rennen in Ascot, fällt sie aus der Rolle und benimmt sich wie ein Mädchen der Unterschicht, aus der sie kommt. Das Blumenmädchen, die romantisierende Darstellung der unbürgerlichen Welt: "Exotik des Alltags" (Benjamin). Ähnliche sentimentale Verklärungstendenzen finden sich bei der musikalischen Darstellung puertoricanischer Jugendgruppen von der Westside, dem New Yorker Hafenviertel.

Nun ja, wird man sagen, Operette, Musical. Was bringt diese Analyse zum Verständnis der sonstigen Literatur? Als Hinweis einige kurze Stellen aus Saul Bellow’s Roman Humboldt’s Gift über die Deutschen.

My dear friend George Swiebel had even said once, with a certain bitter admiration: "Murder Jews and make machines, that’s what those Germans really know how to do".

In der Struktur unterscheidet sich diese Aussage kaum von den Arien der Fledermaus und des Zigeunerbarons. Man kann das amerikanische Deutschenbild kaum präziser und klarer zusammenfassen. Vorurteile in geschliffener Form, die Arien bei Strauß und die Dialogfetzen bei Bellow. Stimmt, nickt in beiden Fällen das Publikum. So ist es mit den Deutschen, den Schweinehändlern, den Zigeunern. Der Erfolg der Romane und der Operetten beruht auf ihrer Fähigkeit, die Vorurteile der Masse exakt zu beschwören. Der Deutsche, der den Mercedes in Humboldts Vermächtnis repariert, heißt, wie wohl?: Fritz. Er hat Preise wie ein Gehirnchirurg. Die beiden Mafiosi, die in dem Roman auftreten, tragen ebenfalls operettenhafte Namen. Der arriviertere heißt Langobardi, der kleinere Gangster Cantabile. Er spricht so, wie man das von einem Angehörigen der Unterklasse erwarten kann, im restringierten Code. Seine Frage an den Helden, ob er ohne Begleitung sei, lautet im Original: "You alone?" Der Negerportier spricht in der typischen Negersprache, und die geschiedene Ehefrau nennt die neue Geliebte des Helden: "That whore with fat titts."

Klischees, Formeln, Floskeln

Im Ablauf und im Inhalt der Märchen fallen gewisse Stereotypien auf. Am Anfang steht die Formel: Es war einmal. Dann beginnt es damit, daß ein junger, armer Mensch auszieht, nun sein Glück zu suchen, daß arme Leute nicht wissen, wie sie sich helfen sollen. "Die meisten Märchen handeln von armen Leuten und ihrem Weg zum Glück". "And they lived happily ever after", heißt es dann im Englischen. Zu Deutsch: "Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch". Diesen von Kindern so geschätzten glücklichen Ausgang sieht Röhrich (1976; 19, 26) als einen wesentlichen Bestandteil der Märchen an: "Erlösung ist das märchentypischste und märchencharakteristischste Motiv".

Da gibt es Erlösung aus der Armut, aus der Niedrigkeit, aus besonderer Häßlichkeit, Erlösung aus Tiergestalt, Erlösung durch Liebe und Heirat, Erlösung zu einem himmlischen Dasein oder zu einem höchstirdischen Glück, in Wohlstand und ohne Tod.

Die bunte unübersehbare Vielfalt des Lebens wird also vom Märchen in Formeln, in bestimmte Ablaufschemata gefaßt, um verständlich, um faßbar zu werden. Naturvölker und Religionen interpretieren in ähnlichen Formeln den Lauf der Geschichte. In der sogenannten Heilsgeschichte gibt es als Folge des Sündenfalls, der zur Vertreibung aus dem Paradies führte, eine notwendige Periode der Läuterung, in der wir uns augenblicklich befinden, mit mehr oder minder deutlichen Anzeichen, daß die Endzeit nahe ist. Dieses happy end der Historie kann nun verschieden interpretiert werden: als Reich Gottes, als Herrschaft der Vernunft, als Aufhebung der Klassengesellschaft (vgl. Mühlmann 1961). Meinecke hat in seiner Entstehung des Historismus die Grundformel des ständigen Fortschritts in der Geschichtsschreibung der Aufklärungsphilosophen nachgewiesen. Auch im marxistischen Weltbild entwickelt sich die Geschichte wie im Märchen von Hänsel und Gretel oder vom Rotkäppchen. Ist erst einmal die Hexe (bzw. der Wolf oder der Kapitalismus) getötet, dann leben alle glücklich und zufrieden.

Röhrich (1969; 9ff.) weist weitere Tendenzen der Vorurteilsbildung im Märchen nach. Einmal im Bereich der sozialen Schichten:

Im Märchen ist fast immer der Arme zugleich der ethisch Gute, im Gegensatz zu den bösen Reichen. Der Soldat klagt über herrische Offiziere und fehlende Altersversorgung, der Handwerksgeselle über schlechten Lohn, Arbeitslosigkeit oder hohe Kostpreise, der Knecht über die harte Behandlung durch den Gutsbesitzer, dessen Leibeigener er ist, der Bauer über den zinswuchernden Geldverleiher.

Der Hochgestellte wird durch die verzerrende Brille des Niedrigen gesehen:

Und sogar das Phantastische kommt nicht über die gesellschaftlichen Gegebenheiten der Erzähler hinaus. Der König ist nun eine Art Großbauer: Vor dem Dach der Kammer der Königin liegt der Flachs. Wenn der König und die Königin ausgegangen sind, steht das Schloß leer. Der Bursche, der im Schloß nach Arbeit fragt, muß zuerst mit der Magd verhandeln. Auf Wunsch ihres Vaters geht die Königstochter mit der Gießkanne auf die Wiese, um die Wäsche zu bleichen, und der König rät seiner Tochter zur Heirat, weil ein Mann auf den Hof muß. Als der König hört, daß die Königin ihm einen Sohn geboren hat, geht er in die Schenke und trinkt sich einen Rausch an. Beim Taufschmaus im Königshaus reichen die Teller nicht aus, und der König kommt in Verlegenheit, als sich noch ein dreizehnter Gast einstellt. Die Schilderung unserer Märchenschlösser stammt also offenkundig nicht von den Bewohnern der wirklichen Schlösser. (Röhrich 1976; 25)

Auch das Verhältnis der Geschlechter wird im Märchen mit der Brille des Vorurteils gesehen. Die Hexe ist ein Zerrbild der Weiblichkeit, eine Verkörperung des Bösen in Frauengestalt:

Ebenso zeigt das Märchen im Verhältnis der Geschlechter Rollenzwänge aus der patriarchalischen Welt: Der Mann soll Heldentaten vollbringen. Der Frau hingegen fällt häufig eine dienende Rolle zu: Sie wird zur Gänsemagd erniedrigt, oder sie führt ein Aschenputteldasein am häuslichen Herd. Als Dienstmädchen der Frau Holle wird sie für fleißige und hingebungsvolle Hausarbeit wie Betten ausschütteln und Wohnung sauberfegen belohnt, oder sie führt den Haushalt der sieben Zwerge, während diese zur Arbeit ausziehen. (Röhrich 1976; 22)

Das Verhältnis der Geschlechter ist stets ambivalent. (Röhrich 1976; 13)

Hedwig von Beit (1952; 97 ff, 335) sucht die formelhaften Strukturen des Märchens im Sinne der Archetypenlehre C. G. Jung’s zu interpretieren:

Die zwei Urbilder, welche in fast jedem Märchen erscheinen – sei es allein oder beide zusammen sind die des Vaters und der Mutter ... Der Archetypus des Vaters ... tritt auf als der Vater, der Großvater, der Ahne, der männliche Totem-Ahne, der alte Weise oder Lehrer, der Greis, der Zauberer, der Medizinmann, der Handwerker (Demiurg), der alte Häuptling, der alte König, der verkrüppelte Alte, der schwarze Mann, der Waldgeist, der Herr des Waldes und der Tiere ... Allgemein bedeutet das Bild des Vaters das Schöpferische, das Geistige, das anregend Bewegende.

Der Weg der armen Leute zum Glück wird von ihr als Suchwanderung angesehen: Der Archetyp, der sich in Märchen am häufigsten darstellt, ist die "Große Fahrt", die abenteuerreiche Suchwanderung nach der "schwer erreichbaren Kostbarkeit", dem Symbol des Selbst, und diese Fahrt spiegelt "den Prozeß einer inneren Entwicklung".

Immer treffen wir in der Literatur feste Formeln des Ablaufs und des Inhalts, Verhaltensmuster, Normen, deren Entstehung entweder historisch oder strukturalistisch erklärt wird. Abweichungen sind, wenn überhaupt, nur mit Vorsicht möglich. Märchen mit schlechtem Ausgang sind wenig populär. Auch gute Hexen, böse Arme und gute Reiche würden vornehmlich Verwirrung stiften. Ähnlich wie im Western muß der bad guy vom guten Sheriff, der Verkörperung von law and order, zu unterscheiden sein. Als den gemeinsamen Nenner von Kitsch und Märchen sieht Killy (1973) das Verlangen an, die "Undurchschaubarkeit der Weltverhältnisse" in "einfache Bilder" aufzulösen, in Ordnungsmuster, die der Leser den Zufälligkeiten der Wirklichkeit unterlegen kann, so daß ihm eine Weltdeutung möglich wird.

Eine der einflußreichsten Untersuchungen über Stereotypbildungen in der abendländischen Literatur stammt von E. R. Curtius (1954; 89). Er führt viele feststehende Formeln auf die antike Rhetorik zurück:

Im antiken Lehrgebäude der Rhetorik ist die Topik das Vorratsmagazin. Man fand dort Gedanken allgemeinster Art; solche, die bei allen Reden und Schriften überhaupt verwendet werden können.

Als Beispiel für derartige Gemeinplätze (Topoi) in der europäischen Literatur führt Curtius die Ideallandschaft an:

Die Naturschilderungen des Mittelalters wollen nicht die Wirklichkeit wiedergeben. ... Was sollen wir aber sagen, wenn ein Dichter aus Lüttich meldet, der Frühling sei gekommen: Ölbäume, Palmen und Zedern trieben Knospen. Ölbäume waren im nordischen Mittelalter erstaunlich häufig. ... Woher stammen sie? Aus den rhetorischen Schulübungen der Spätantike. Im mittelalterlichen Europa gibt es auch Löwen! ... Eckehart IV. von St. Gallen hat eine Reihe von poetischen Segenssprüchen über Speisen und Getränke hinterlassen, denen man bisher "hohen kulturgeschichtlichen Wert" zusprach, da man in ihnen "einen vollständigen Küchenzettel des Klosters" zu besitzen glaubte.

Das ergab folgendes Bild von der Ernährung unserer Vorfahren:

Zuerst füllte man den Magen mit vielerlei Brot und Salz, um dann mindestens je einen Fisch-, Geflügel-, Fleisch- und Wildbretgang zu nehmen (alles ohne Saucen, Gemüse oder sonstige Beigaben), worauf man Milch trank und zunächst einmal zum Käse überging – usf. ... Es ist jetzt erwiesen, daß die Benediktionen im wesentlichen Victualien betreffen, die Ekkehart in den Etymologien des Isidor von Sevilla fand, also "versifizierte Lexikographie" sind.

Ein anderes Beispiel ist das Herrscherlob. Seit der Zeit des Augustus gehöre es zum Image der Herrscher, Weisheit und Tapferkeit zu vereinen:

Die meisten Kaiser der ersten beiden Jahrhunderte waren bildungsfreundlich oder wollten es scheinen. ... Die archaische Polarität, Weisheit – Tapferkeit, formt sich im Zuge dieser kulturellen Wandlung zu einer neuen, sehr viel differenzierteren Gestalt um. ... Der Imperator ist Feldherr, Herrscher, Dichter in einem. (Curtius 1954; 185)

Die germanischen Heerführer und Könige, so die Vandalen, die Ost- und Westgoten, die Merowinger und vor allem die Karolinger haben dann vielfach die Nachfolge der Imperatoren auch in dieser Beziehung übernommen.

Noch heute gehört zum Image des erfolgreichen Kandidaten für die amerikanische und französische Präsidentschaft, die deutsche Kanzlerschaft, die britische Ministerpräsidentschaft diese Verbindung von heldischer und musischer Begabung. 14% der amerikanischen Bevölkerung hielten Eisenhower nicht nur für einen guten Feldherrn, sondern auch für einen guten Philosophen.

Die Psychologen interpretieren dieses Ergebnis als Halo-Effekt. Ob es sich hier um historische Einflüsse oder angeborene Dispositionen handelt, in den Krönungsriten der Könige von Frankreich und den demokratischen Wahlkämpfen finden sich jedenfalls gewisse Parallelen (P. E. Schramm).

Starre klischeehafte Handlungsabläufe fallen nicht nur beim Ritus und bei dem von Regeln geleiteten Spiel auf (vgl. Huizinga), sondern auch als neurotische Lebensstrategien. Berne (1966) untersuchte diese Spiele der Erwachsenen und unterschied "Lebensspiele", "Unterwelt-Spiele", "Sexual-Spiele", "Party-Spiele". Das Lebensspiel des Alkoholikers bestehe darin, anderen zu beweisen, daß niemand ihn bremsen könne. Der Dieb komme zu den klischeeartigen Rückfällen in seiner Biographie, weil er danach trachte, immer wieder erwischt zu werden. Aber auch im normalen Leben finden wir vergleichbare Stereotype, die von unserer Gesellschaft besser akzeptiert werden als die Spiele "Alkoholiker" und "Dieb".

Formeln sind also nicht nur Brillen für eine normierte Wahrnehmung, sondern auch Leitlinien für das Handeln. Der Topik als einer Vorratskammer für das Normale, aus der sich der Literat (aber auch der Richter, der Staatsanwalt) Rat holen kann (vgl. Viehweg 1952), entspricht der Knigge für die menschlichen Verhaltensweisen.

Watzlawick (1969) weist auf die Möglichkeit hin, daß zwischen dem klischeehaft geforderten Verhaltensmuster und der tatsächlichen Stärke Diskrepanzen auftreten können. Kellnerinnen trugen den Button "We are glad you are here" zu einer düsteren feindseligen Miene.

Aber nicht nur der arme Angestellte wird in Klischees gefangen, auch der eifrige Tourist, der seine harte Währung mit vollen Händen ausgeben muß, um das Sehenswerte wirklich zu sehen. Der Blick wird durch die Sterne des Baedeker geleitet. Eine Sehenswürdigkeit mit 3 Sternen hat das Recht auf längere Besichtigung und ehrfurchtsvollere Betrachtung:

Für den Guide bleu gibt es Menschen nur als Typen. In Spanien zum Beispiel ist der Baske ein verwegener Seemann, der Ost-Spanier ein fröhlicher Gärtner, der Katalane ein geschickter Kaufmann und der Kantabrier ein gefühlvoller Gebirgsbewohner. (Barthes 1964; 60)

Doch nicht nur unsere Wahrnehmung wird in unserer Kultur von Klischees geleitet, auch unser Benehmen. Gib das schöne Händchen!, wird dem Kind gesagt, wenn es zufällig die Linke dem Fremden zum Gruß hinstreckt. Bei den Erwachsenen sind die Verhaltensvorschriften verständlicher und genauer:

Eine Dame grüßt nicht zuerst, sondern wartet den Gruß des Herrn ab. Du darfst als Dame nicht vergessen, daß du den, von dem du einen Gruß erwartest, auch ansehen mußt. Wendest du den Blick ab oder schlägst ihn nieder, so machst du den Gruß unmöglich oder doch bedeutungslos. Jungen Mädchen steht es aber wohl an, ältere Herren oder solche, denen sie besondere Achtung schulden, wie Geistliche, Lehrer, zuerst zu grüßen. ... Autoritäten auf dem Gebiete der Kunst oder Wissenschaft, stadtbekannte, hochgestellte Leute darfst du grüßen, auch ohne ihnen persönlich bekannt zu sein. ... In einen geschlossenen Wagen grüße nicht hinein. Von Wagen zu Wagen grüßen die Damen, indem sie sich verneigen; die Herren, indem sie den Hut lüften, beim Selbstfahren durch Senken der Peitsche. Beim langsamen Reiten durch Neigen des Kopfes, bei schnellem durch Senken der Peitsche; auf dem Fahrrad durch leichte Kopfneigung. Im Automobil brauchst du nicht zu grüßen. (Konstanze v. Franken: Der gute Ton, Vom Grüßen)

Andere Formen von Vorurteilen treffen wir beim Finanzamt. Fährst du nach London, um dich auf einem Kongreß zu amüsieren, kannst du’s von der Steuer abziehen. Fährst du nach London, um angestrengt 3 Wochen in der Bibliothek des Britischen Museums zu arbeiten, hast du große Schwierigkeiten, dies anerkannt zu bekommen. Fährst du in den Süden, ist es verdächtig, auch der Steuerbeamte denkt da an Palmen, Strände und dolce far niente. Die Bearbeitung deines Steuerfalles geht nach Klischee, schon weil’s ja schnell gehen soll. Verdächtig ist, was aus dem Rahmen fällt. Das gilt auch für die Polizei. Der Rat an die Bürger: Live up to your image: Bleib innerhalb deines Klischees.

Die Wurzeln der Vorurteile: Formen des Chauvinismus

Axiom der Gewöhnlichkeit: Wie es bei uns steht und um uns ist, muß es überall gewesen sein, denn das ist ja alles so natürlich. Friedrich Schlegel. 25. Lyzeums-Fragment

In der Wahrnehmung stoßen wir auf Stereotype, im Verhalten auf starre Muster, in der Kommunikation auf Gemeinplätze. Lassen sich diese Formeln, diese Einschränkungen der unendlichen Vielfalt des Verhaltens auf wenige Ausgangspunkte zurückführen? Gibt es einen Kanon der Vorurteile, in dem man alle auftretenden Einzelfälle einordnen kann?

Der klassische Versuch einer derartigen Systematisierung ist die Idolenlehre des Francis Bacon (1561-1626). Er unterschied in seinem Novum Organum vier Arten von Idolen, d.h. falsche Vorstellungen auf dem Wege zur Erkenntnis der Natur:

  • Idola tribus, Trugbilder des Menschengeschlechts, die der natürlichen Anlage des Menschen zu anthropomorphem Denken, zum Wunschdenken entsprechen;
  • idola specus, die aus der Eigenart des Einzelnen stammen;
  • idola fori, die auf die verzerrende Wirkung der Sprache als Mittel der Erkenntnis hinweisen;
  • schließlich idola theatri, Vorurteile aus der überlieferten Metaphysik.

Bacon meint, der Mensch erkenne seine Vorurteile zunächst nicht:

Es ist für die Menschen ganz natürlich anzunehmen, daß ihnen ihre Sinne direkte und wahrheitsgetreue Erkenntnisse der Realität vermitteln.

Dem von Platon konstatierten Unvermögen menschlicher Erkenntnis gibt Bacon eine individualistische Wertung: "Each person has his own private den or cavern, which intercepts and discolours the light of nature." ("Jede Person hat ihre eigene private Höhle, die das Licht der Natur auffängt und entstellt.") Man müsse mit Mißtrauen demjenigen gegenüberstehen, an das man mit besonderer Freude denke.

Anthropomorphe Vorstellungen stehen am Anfang aller Wahrnehmungsverzerrung. Das Unverständnis für das Nicht-Menschliche ist schon für Kinder typisch. Es wurde von Piaget Egozentrismus genannt (vgl. 1.3.1.). Der Schweizer Forscher sieht in diesem Phänomen eine Stufe auf dem Wege der Entwicklung. Das egozentrische Kind hat eine gewisse Stabilität der Weltauslegung erreicht. Es ruht in sich selbst und ist in dieser Ruhe dem mittelalterlichen Weltbild vergleichbar. Die Erde als Mitte des Kosmos, das eigene Ich als Mitte des Kosmos. Es bedarf fester Anstöße, um ein neues, weniger bequemes, kompliziertes Weltbild durchzusetzen. Piaget sieht den Vorteil des Verlustes egozentrischer Denkformen im Gewinn eines neuen Gleichgewichtes. Die Möglichkeit, sich in die Position anderer hineinzuversetzen, schützt vor Überraschungen, macht stabiler, unverletzlicher. Ganz ähnlich wie das heliozentrische Weltbild mehr Phänomene zu deuten vermag als die ptolemäische Ansicht. Piaget betont also die Nachteile der früheren Stufe. Es ist aber darauf hingewiesen worden, daß ein Rest von emotionalem Egozentrismus wahrscheinlich psychohygienisch notwendig und von Nutzen ist. Bei der Untersuchung der Selbstgespräche fand Rogers (1950), daß nur neurotische Personen an die eigenen Handlungen zu strenge Maßstäbe legen. Sie gestehen sich selbst nicht automatisch einen Heimvorteil zu. Ihr Selbstgespräch ist meistens kritisch: "Ein anderer hätte das besser gemacht", sagen sie sich oft oder: "Das muß ausgerechnet mir passieren", oder: "So dumm kann kein anderer sein."

Zeitlebens hat für den Menschen der eigene Standpunkt, haben die eigenen Gedanken, hat der eigene Körper, haben die eigenen Produkte einen besonderen Wert. Nicht nur der kleine Junge sieht in seinem eigenen Kot etwas Wertvolles (was uns die Tiefenpsychologie lehrt), sondern auch Pontius Pilatus war stolz auf das, was er auf das Kreuz des Jesus von Nazareth geschrieben hatte: Kritikern dieser Inschrift hielt er egozentrisch entgegen: Quod scripsi, scripsi. Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.
Die Bevorzugung des Eigenen und die damit einhergehende Herabsetzung des Fremden, das durch die Brille böser Vorurteile gesehen wird, ist aber vor allem ein sozialpsychologisches Phänomen. Wenn ein Einzelner Juden, Deutsche, Katholiken, Frauen, Sozis, Herrenreiter oder Kinder haßt, so ist das eher für den Psychotherapeuten interessant. Zum allgemeinen Problem werden die Vorurteile erst dann, wenn sie von einer Gruppe, einer Gemeinde, einem Staat zur Doktrin erhoben werden, wenn sich Selbstverständnis und Selbstverständlichkeit des egozentrischen Weltbildes in der Gruppe immer wieder automatisch bestätigen.

Wenn auch die Grundmechanismen der Selbstbestätigung bei allen Menschen gleich sind, die Inhalte der Vorurteile werden stark von seiner Gruppenzugehörigkeit geprägt. Vorurteile entstehen auf sozialpsychologischer Ebene.

Es soll nun gezeigt werden, daß alle Vorurteilsbildung, Stereotypbildung, Formelbildung in Wahrnehmung und Sitte auf das Grundphänomen des Ethnozentrismus zurückgeht, auf das menschliche Bedürfnis, sich in Gruppen zu organisieren, die ihr Verhalten kollektiv von Fremden absetzen. Hierdurch wird die unendliche Plastizität des Möglichen eingeschränkt und auf feste tradierte Formeln reduziert, die dann von der Gruppe als richtig, anständig, gut akzeptiert werden.

Sobald sich unterscheidbare Gruppen bilden, entstehen Abneigungen gegen nicht zur eigenen Gruppe Gehörige (Sherif 1952). Es entstehen sofort kollektive Selbstbilder, die diese Verschiedenheit betonen, überhöhen, idealisieren. Zum kollektiven Selbstverständnis gehört die Herabsetzung des Fremden ebenso wie die Stilisierung eines Selbstbildes. Die psychohygienische Bedeutung des Selbstkonzepts betonen Tausch und Tausch (1977; 51 ff):

Selbstachtung ist sehr bedeutsam für die seelische Funktionsfähigkeit von Kindern und Erwachsenen, für ihre konstruktive Persönlichkeitsentwicklung und für das soziale Zusammenleben von Menschen.

Dies gilt nicht nur für Individuen, sondern vor allem für Gruppen. Die kollektive Selbstachtung scheint auch genetisch früher aufzutreten. Der Angehörige primitiver Stämme bezieht seine psychohygienisch notwendige Selbstachtung zunächst aus der von ihm geschätzten Gruppenzugehörigkeit. Ohne die Gruppe hat sein Leben keinen Sinn mehr. Ohne die Gruppe ist er nichts.

In seiner Umgebung sucht der Mensch Bestätigung für seine Eigenart. Einstellungsähnlichkeit der anderen Gruppenmitglieder ist "ebenso ein positiver Verstärker wie Nahrung, Wasser oder Kopfnicken" (Kidder u. Stewart 1976; 58).

Dieses überhöhte Selbstkonzept steht dem einzelnen in Form von Verbalisierungen zur Verfügung. Der Gesunde klopft sich verbal häufig auf die Schulter: "Das hast du gut gemacht." – "Gar nicht schlecht." – "Dem hast du es aber gegeben." Gruppen brauchen eine ähnliche verbale Stützung ihrer Moral. Hierzu gehört eine mäßige Überbewertung der eigenen Lebensart, die verbal bekräftigt wird.

Auch ein weiteres Ergebnis der Untersuchungen von Tausch u. Tausch ist übertragbar. Bei ungünstigem, neurotischem, unausgeglichenem, spannungsgeladenem Zustand einer Gruppe wird die Tendenz zu einem günstigen Selbstbild und einem mäßig abwertenden Fremdbild weit überzogen. Jetzt wird der Außenstehende für die andere Gruppe zum Buhmann, dessen Funktion vor allem darin besteht, den eigenen Gruppenzusammenhalt wiederherzustellen. Böse, aggressive Vorurteile entstehen.

Der Humor kann typisch chauvinistische Züge annehmen. Die Witzfiguren sind die Außenseiter: Juden, Irre. "Humor gibt den Mitgliedern einer Gruppe, die in Gefahr ist oder unter Druck steht, Kraft zum Widerstand, indem er ein Identitätsbewußtsein und Zusammengehörigkeitsgefühl schafft." (Zijderfeld 1976; 187)

Ethnozentrismus

We believe, first and foremost,
what makes us feel
that we are fine fellows.

Bertrand Russell

"Mir san mir", sagen die Bayern und meinen damit, daß die anderen, vornehmlich aber die Preußen, sowieso das meiste falsch machen und also zunächst einmal den Mund halten sollen. Wobei statt Mund wahrscheinlich das entsprechende Wort aus der Mundart angeführt würde. Die extreme Form des Ethnozentrismus gewährt nur dem eigenen Stamm die Bezeichnung Mensch, die Fremden werden als Wesen anderer Art registriert.

Das Gefühl der Überlegenheit der eigenen Wir-Gruppe ist schon bei Kindern im Schulalter anzutreffen. Piaget und Weil (1951) führten eine klassische Untersuchung in den Schulen von Genf in der Schweiz durch:

Die acht Jahre und zwei Monate alte Murielle wurde gefragt: Hast du schon von Ausländern gehört? – Ja, es gibt Deutsche und Franzosen. Gibt es zwischen diesen Ausländern irgendwelche Unterschiede? Ja, die Deutschen sind schlecht, sie machen immer Krieg. Die Franzosen sind arm, und dort ist alles dreckig. Dann habe ich noch von den Russen gehört, die sind überhaupt nicht nett. – Kennst du selbst Franzosen, Deutsche oder Russen, oder hast du etwas über sie gelesen? – Nein. – Woher weißt du es denn? – Alle Leute sagen das. (Piaget und Weil, 1951)

Der Begriff Ethnozentrismus wurde von Sumner 1906 geprägt. Völker sehen sich selbst als Nabel der Welt an. Als der Graf Bobby einen Globus kaufen wollte und auf ihm sein Vaterland in seiner Kleinheit kaum entdecken konnte, fragte er folgerichtig den Verkäufer: "Geh’ns, hättens nicht an Globus von Österreich-Ungarn?"
Der Name Zulu bedeutet schlicht "Mensch". Es klingt damit die Auffassung an, daß die Nicht-Zulus eigentlich keine Menschen im engeren Sinne seien. Ein näheres Eingehen auf sie lohnt sich nicht, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt:

Die Juden unterteilten die gesamte Menschheit in sich selbst und in Heiden. Sie waren das "auserwählte Volk". Die Araber sahen sich selbst als die vornehmste Nation an und alle anderen als mehr oder weniger barbarisch. – Die Grönland-Eskimos denken, daß die Europäer nach Grönland geschickt worden sind, um die richtige Lebensart und gute Sitten von den Grönländern zu lernen. Die höchste Form des Lobes für einen Europäer besteht darin, festzustellen, daß er schon so gut ist oder so gut sein wird wie ein Grönländer. Die Tungusen nennen sich selbst Menschen. (Sumner 1906; 14)

Dieses Phänomen ist der Schlüssel zum Verständnis der Vorurteile. Alle anderen Formen des Chauvinismus zeigen fast identische Mechanismen. Mit der Herausbildung eigener Lebensformen werden abweichende Verhaltensweisen unterdrückt, verdrängt und verachtet. Treten sie bei anderen auf, werden sie abgewertet.
Winckelmann bemüht die Spekulation, "um den absoluten Vorzug der weißen Rasse zu erweisen":

Da ... die weiße Farbe diejenige ist, welche die meisten Lichtstrahlen zurückschickt, folglich sich empfindlicher macht, so wird auch ein schöner Körper desto schöner sein, je weißer er ist. – Die gepletschte Nase der Kalmükken, der Chinesen und anderer entlegener Völker ist eine ... Abweichung, denn sie unterbricht die Einheit der Formen ... Der aufgeworfene schwülstige Mund, welchen die Mohren mit dem Affen in ihrem Lande gemeinsam haben, ist ein überflüssiges Gewächs ..., welches die Hitze ihres Klimas verursacht. (Kramer 1977; 16)

Auf vielen Gebieten manifestiert sich der Gestaltungswille der Gemeinschaft und damit das Bedürfnis zur Abgrenzung gegen Fremde und zur Vorurteilsbildung. Der eigene Boden riecht gut. "Sogar der Rauch des Vaterlandes ist uns süß und angenehm" (Puschkin). Von Marc Chagall wird erzählt, er habe in Paris zwei getrocknete Blumensträuße unter die Nase eines Besuchers gehalten: "Riechen Sie, riechen Sie! Keine anderen Blumen haben diesen Geruch. Ich habe ihn 50 Jahre nicht mehr gerochen." (Hedrick Smith 1976; 379) Neger riechen schlecht – wenn man selbst kein Neger ist; Weiße riechen schlecht – wenn man Asiate ist, stinken sie nach Butter; Männer riechen schlecht – in den Nasen der Feministinnen; kleine Leute riechen schlecht – in den Nasen der stolzen Besitzbürger etc.

Das Eigene ist das Beste. John Steinbeck schreibt über New York:

Es ist eine häßliche Stadt, eine dreckige Stadt. Sein Klima ist schrecklich. Die Verwaltung ist so, daß man Kindern damit Angst einjagen könnte. Sein Verkehr ist Wahnsinn. Seine Konkurrenz ist mörderisch. Aber das ist eine komische Sache mit New York – hast du einmal da gelebt und ist es deine Heimat geworden, dann ist kein anderer Ort mehr gut genug für dich. (Hedrick Smith 1976; 375)

Die Heimat ist schön, ihre Trachten, ihre Lebensweise ist die richtige. Die Eigenen kleiden sich richtig, die Anderen falsch. Als Kinder spotteten wir über die "Franzosen mit den roten Hosen". Italiener lachen über die weiten Hosenbeine der Deutschen, der polnische Teufel hat deutsche Kleider an (den Frack der deutschen Pastoren). Manche katholischen Kirchen dürfen Frauen nicht mit Hosen betreten. Den Smoking, den Thomas Mann eine "Uniform der Gesittung" nennt, verspottet die amerikanische Unterschicht als Monkey-suit, als Affenanzug. Die Nietenhosen der jungen Leute sind den älteren oft ein Dorn im Auge, besonders wenn sie in Oper und Konzert angezogen werden.

Die eigene Sprache wird geschätzt, sie klingt lieblich, rein, angenehm, die fremde rauh, krächzend, unmelodisch. Die Griechen verspotteten die radebrechenden Fremden als Barbaren, die Amerikaner imitieren die armen Puerto-Ricaner als "Spiks". Holländer halten Niederländisch für melodiöser als das Deutsche. Männer und Frauen entwickeln verschiedene Sprachen.

Bestimmte Kraftausdrücke ziemten sich nicht für Frauen. Feministinnen fühlen schon ihre Ketten weniger schmerzlich, wenn sie mehrmals am Tag laut "Scheiße" sagen können. Die Jugend entwickelt eine eigene Sprache, die von den Alten kaum noch verstanden wird. Über die Sprachbarrieren zwischen den Mittel- und den Unterschichten gibt es eine umfassende Literatur (vgl. Bernstein 1972). Die Unterschiede sind oft subtil; die feine Engländerin zeigt ihren Gästen nicht die Toilette, sondern vielmehr die "Geographie des Hauses", der bessere Amerikaner sagt "buy", nicht "purchase".

Wir wollen jetzt die anderen Formen des Chauvinismus ansehen, bei denen wir ebensolche Gesetzmäßigkeiten wie beim Ethnozentrismus finden werden. Das abweichende Verhalten wird verfemt. Religionen entwickeln automatisch einen Alleinvertretungsanspruch. Die Religion der Väter ist die richtige. Abweichungen sind schwer erträglich. Wer aus der Gemeinschaft der Heiligen ausbricht, wird geächtet. Bei Naturvölkern fallen Sitten, Gebräuche und Religion zusammen. Der Fremde ist unverständlich, er spricht falsch, er kleidet sich falsch, seine Gebete sind falsch, seine Kulthandlungen ungültig. Er hat die falschen Götter. Jahwe ist nicht auf der Seite der unverständlichen Ausländer. Noch heute spielt die Religion bei der Vorurteilsbildung mit, wenn Religionsgrenzen mit nationalen Grenzen übereinstimmen. Für die Polen sind die Deutschen auch deswegen unsympathisch, weil sie nicht katholisch sind. Den Iren sind die protestantischen Engländer ein Greuel. Diesen Ungläubigen ist alles zuzutrauen, sagt das Vorurteil gegenüber demjenigen, der nicht zur Gemeinschaft gehört.

Auch die Außenseiter haben unter dem ethnozentrischen Syndrom zu leiden. Verbrecher sind stigmatisiert. Sie haben zusammengewachsene Augenbrauen und brutale Unterkiefer, dazu zusammengekniffene Lippen. Sie haben eine Verbrechersprache. Außerdem kann man bei ihnen körperliche Merkmale feststellen wie bei Negern oder Zigeunern. Die Vorurteilsbildung kann bei auffälligen äußerlichen Merkmalen ansetzen, die für eine Gruppe untypisch sind. Manche Tierarten beißen Albinos tot. Rothaarige haben unter Vorurteilen zu leiden. Rotes Haar und Erlenholz wachsen auf keinem guten Boden! Zusammengewachsene Augenbrauen, angewachsene Ohrläppchen sind verdächtig. Kriminellen soll man nicht trauen. Der Mechanismus des Mißtrauens ist aus den Kriegen der Antike bekannt. Fürchte die Achäer, auch wenn sie Geschenke bringen! Vorbestrafte treffen auf Verdächte und Vorbehalte. Wer einmal aus dem Blechnapf aß, hat es schwer, wieder akzeptiert zu werden. Straffällige werden abgesondert. Man steckt sie in besondere Kleidung, die sich von der Tracht der Gemeinschaft unterscheidet. Auch der gewöhnliche, vertraute Name soll nicht mehr geführt werden. Angeklagter, stehen Sie auf!, heißt es. Und als Nummer 3507 wird der Straffällige bezeichnet, nicht als Helmut Weber. Den Mechanismus der seelischen Demütigung bei diesem gesellschaftlichen Prozeß der Ächtung des Außenseiters hat Solschenizyn Im Ersten Kreis der Hölle beschrieben: Der potentielle Verbrecher wird desinfiziert, schließlich haben Verbrecher mit hoher Wahrscheinlichkeit Ungeziefer (ebenso wie andere Outcasts, etwa Zigeuner). Die gesellschaftliche Identität des Delinquenten wird zerstört. Seine persönliche Frisur wird durch den Sträflingsschnitt ersetzt. Selbst das Schamhaar wird abrasiert. Schmuck, Gürtel, Hosenträger werden ihm abgenommen. Auch räumlich wird der Verbrecher abgesondert. Zucht- und Arbeitshäuser sind oft außerhalb der Städte, in der Nähe des Schindangers oder des Hochmoores. Die Polizei soll darüber wachen, daß der Sträfling außerhalb der Gemeinschaft bleibt.

Foucault (1977; 230 f, 256) betont den strukturalistischen Charakter der Abwehr gegen das Nicht-Konforme:

Strafbar ist alles, was nicht konform ist. – Was in der Werkstatt, in der Schule, in der Armee überhandnimmt, ist eine Mikro-Justiz der Zeit (Verspätungen, Abwesenheiten, Unterbrechungen), der Tätigkeit (Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit, Faulheit), des Körpers (falsche Körperhaltung und Gesten, Unsauberheit), der Sexualität (Unanständigkeit, Schamlosigkeit).

Das psychiatrische Asyl, die Strafanstalt, das Besserungshaus, das Erziehungsheim und zum Teil auch die Spitäler – alle diese der Kontrolle des Individuums dienenden Instanzen funktionieren gleichermaßen als Zweiteilung und Stigmatisierung (wahnsinnig – nichtwahnsinnig, gefährlich – harmlos, normal – anormal) sowie als zwanghafte Einstufung und disziplinierende Aufteilung.

Aber auch der Kranke trifft auf die Vorurteile der Gesunden. Auch zwischen ihm und den übrigen wird eine Grenze gezogen. Siechenhäuser wurden im Mittelalter außerhalb der Stadtmauern errichtet. Noch heute wird bei Grenzkontrollen der Fremde und der Kranke erfaßt. Beide sollen nicht ohne weiteres einreisen können. Die Grenze gibt Sicherheit, schützt die Gemeinschaft vor Überfremdung. Außenseiter werden nur zugelassen, wenn sie nicht auffallen. Besonders unter Vorurteilen zu leiden haben die Geisteskranken. Die Geschichte der Psychiatrie zeigt, daß man sie mit Verbrechern in eine Reihe stellt. Dostojewskij spottete:

Man wird sich seinen eigenen gesunden Menschenverstand nicht dadurch beweisen können, daß man seinen Nachbarn einsperrt. (Foucault 1969; 179)

Und doch ist diese Methode der Vorurteilsbildung, zusammen mit der Verteufelung des Eingesperrten, der normale Abwehrmechanismus der Gruppe. "Als reiner Unterschied, Fremder par excellence, ›anderer‹ mit doppelter Kraft wird der Irre aufgefaßt".

Rosenhan (1973) führte ein Experiment durch, das die Schwierigkeit nachwies, eine einmal erhaltene Stigmatisierung wieder zu verlieren:

Acht gesunde Pseudopatienten meldeten sich bei verschiedenen psychiatrischen Kliniken und berichteten, sie hätten undeutliche Stimmen gehört. Nach dem Erstinterview verhielten sich die Pseudopatienten völlig normal und produzierten keine Symptome mehr. Bei allen wurde eine psychotische Erkrankung diagnostiziert. In den Kliniken war niemand in der Lage, die Gesundheit der Pseudopatienten zu erkennen. Die Folgen derartiger stigmatisierender Attribuierungen sind kaum abzusehen. Die vergangene Biographie, das gegenwärtige Verhalten und die zukünftigen Möglichkeiten werden im Sinne dieses Etiketts interpretiert und gedeutet. (Jahnke 1975; 117)

Erst Pinel (1836) befreite die Geisteskranken von Bicêtre von ihren Ketten (Foucault 1969; 483). Jaspers, einer der Großen der verstehenden Psychologie, betonte noch 1936 die Grenze des Verständnisses gegenüber der Geisteskrankheit.

Auch die Schüler werden kaserniert. Auch sie wurden früher in Uniformen gesteckt und in Gebäuden untergebracht, die im Baustil den Zuchthäusern und Nervenheilanstalten angepaßt waren. Im ganzen Schulbereich ist die Atmosphäre des Zwanges spürbar. Pflichtschule, Pflichtunterricht, Pflichtfächer. Wann ein Kind zur Schule kommt, zu welcher Zeit es zu erscheinen hat, wann es Ferien hat, entscheidet ein Amt. Erscheint das Kind nicht in der Schule, kann es von der Polizei geholt werden wie sonst nur ein entlaufener Sträfling oder ein entsprungener Geisteskranker. Vermutlich sind in den Schulordnungen noch die Angstmechanismen der Gesellschaft vor dem andersartigen Kind wirksam, auf die man mit der bewährten Methode antwortete: Absonderung, Kasernierung, Zwang, Entlassung erst nach eingehender Prüfung und Kontrolle.

Chauvinismus der Geschlechter

Die Entstehung der Geschlechterrollen ist nicht leicht zu erklären. Weder die Theorien, die typisch männliches oder typisch weibliches Verhalten als angeboren, naturgegeben ansehen, noch die, die es als anerzogen, als reines Dressurprodukt interpretieren, können befriedigen. Den beiden Erklärungsmöglichkeiten, die Rolle werde entweder durch Lohn und Strafe erlernt oder durch die Vorbildwirkung der Eltern vermittelt, stellte der amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg seine Theorie entgegen, die Geschlechterrolle sei das Ergebnis einer Selbstkategorisierung, eines Erziehungsprozesses, in dem sich der Kandidat selbst nach einem ihm vorschwebenden Bild formt. Die Vorbildwirkung könnte nämlich schwerlich homosexuelle oder lesbische Verhaltensweisen bei Kindern erklären, deren Eltern diese Rolle nicht verkörpern, auch Lohn und Strafe sind kein Erklärungsgrund; im allgemeinen werden Homosexuelle von ihren Eltern keineswegs zu der besonderen Ausformung ihres Gebarens ermuntert. Die Geschlechterrolle ist also auch von einer inneren Entscheidung abhängig, von einer inneren Stimme, die mir sagt: "So etwas tut ein richtiger Junge, ein richtiger Mann nicht!" Der Ansatz Kohlbergs macht deutlich, daß es sich beim Durchhalten der eigenen Geschlechterrolle um eine Anstrengung handelt. Ich bin immer gefordert, gehalten, meinen Standpunkt zu verteidigen, gegenläufige Tendenzen zu unterdrücken. Auch die Geschlechterrolle verlangt, daß ich Farbe bekenne. Daher auch die latente Spannung gegenüber den typischen Verhaltenstendenzen des anderen Geschlechts. Daher die schwer zu unterdrückende Abneigung gegen Homosexuelle und Lesbierinnen. Sie gefährden das eigene Selbstbild.

Auf besonders gefährliche und bösartige Vorurteile trafen die Homosexuellen, sowohl von Seiten der Männer wie von Seiten der Frauen. Die abweichenden Verhaltensweisen wurden kriminalisiert, unterdrückt, einer besonderen und sicher eingenständigen Form menschlichen Wesens wurde die Existenzberechtigung in vielen Epochen der Geschichte schlechthin abgesprochen.

Männlicher Chauvinismus

Die Entwicklungsgeschichte der männlichen Überlegenheitsgefühle ist einigermaßen bekannt. Im Patriarchat des Altertums ist die Frau Besitz des Mannes. Das klassische Griechentum kannte die Frau vornehmlich als Hüterin des Hauses und als Hetäre. Homosexuelle Tendenzen in der Kultur setzten den Wert der Frau herab. Wie alle sehr einflußreichen und erfolgreichen Bücher ist auch das Alte Testament eine Fundgrube von Vorurteilen, sei es, wenn es sich um die Beschreibung feindlicher Völker handelt, sei es bei der Zeichnung von Frauen. Schon Eva ist die Verführerin des Mannes. Im Neuen Testament tritt die Frau eigentlich nur als Mutter und als Dirne auf. Taceat mulier in ecclesia. Thomas von Aquin sah in der Frau eine unvollständige Form des Menschen. Auch Schopenhauer, ein böser Frauenfeind, definiert die Frau vom Manne her.

"Als die Natur das Menschengeschlecht in zwei Hälften spaltete, hat sie den Schnitt nicht gerade durch die Mitte geführt", meint Schopenhauer. Er scheut nicht den Vergleich mit den Tieren:

Demgemäß wird man als den Grundfehler des weiblichen Charakters Ungerechtigkeit finden ..., [er] wird zudem aber noch dadurch unterstützt, daß sie als die Schwächeren von der Natur nicht auf die Kraft, sondern auf die List angewiesen sind: daher ihre instinktartige Verschlagenheit und ihr unvertilgbarer Hang zum Lügen. Denn wie sie Löwen mit Klauen und Gebiß, den Elefanten mit Stoßzähnen, den Eber mit Hauern, den Stier mit Hörnern und die Sepia mit der wassertrübenden Tinte, so hat die Natur das Weib mit Verstellungskunst ausgerüstet zu seinem Schutz und Wehr, und hat alle die Kraft, die sie dem Manne als körperliche Stärke und Vernunft verlieh, dem Weibe in Gestalt jener Gabe zugewendet.

Auch über die Schönheit der Frauen weiß Schopenhauer wenig Anerkennendes zu sagen. Vorurteile auch hier:

Das niedrig gewachsene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbeinige Geschlecht das schöne zu nennen, konnte nur der vom Geschlechtstrieb umnebelte männliche Intellekt: in diesem Triebe steckt nämlich seine ganze Schönheit. Mit mehr Fug könnte man das weibliche Geschlecht das unästhetische nennen. Weder für Musik, noch für Poesie, noch bildende Künste haben sie wirklich und wahrhaftig Sinn und Empfänglichkeit, sondern bloße Äfferei. Zum Behuf ihrer Gefallsucht ist es, wenn sie solche affektieren und vorgeben.

Einen gewissen Höhepunkt markiert die Schrift von P. J. Möbius Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes von 1903. Auch er mißt das Weib am Mann und meint:

Körperlich genommen ist, abgesehen von den Geschlechtsmerkmalen, das Weib ein Mittelding zwischen Kind und Mann, und geistig ist sie es, wenigstens in vielen Hinsichten, auch.

Sigmund Freud, der so viele Vorurteile seiner Zeit bekämpfte, war nicht frei von stereotypen Auffassungen über die Frau:

Frauen erschienen ihm per definitionem kindlicher, verantwortungsloser und unschöpferischer als Männer. – Unter anderem stellt Freud fest, daß den Frauen die Gabe zur Sublimierung des Triebes nur in geringem Maße zugeteilt ist. Er vergleicht die Psychologie des Durchschnittsweibes mit der des polymorph pervers veranlagten Kindes. (Stierlin 1971; 121, 149)

Vorurteile im Gewand einer wissenschaftlichen Theorie.

Bittere Töne findet schließlich Bellow, wenn er die Ansprüche der amerikanischen Frauen an den Mann beschreibt:

They eat green salad and drink human blood.

Ein Mädchen hatte nach Seldas Ansicht das Recht, von ihrem Mann folgendes zu verlangen: nächtliche erotische Befriedigung, Sicherheit, Geld, Versicherung, Pelze, Juwelen, Putzfrau, Mäntel, Kleider, Hüte, Nachtclubs, Ausgehen, Automobile, Theater! (Herzog, 76)

Weiblicher Chauvinismus

Der Chauvinismus führt, wie Bronfenbrenner anhand der nationalen Stereotype gezeigt hat, zu spiegelbildlichen Verhaltensweisen. In der Nachahmung der Aggressivität des anderen sieht man das gerechtfertigte Mittel der Behauptung des eigenen Standpunktes. Haust du meinen Juden, hau ich deinen Juden! So ist es kein Wunder, daß die Damen der Schöpfung zurückschlagen. In unseren Tagen besonders vehement, wobei sie sich sprachlich nicht immer des Floretts bedienen. Die Attentäterin Valerie Solanas, die es auf Andy Warhol abgesehen hatte, meint lapidar:

Die Männer sind halbtote, gefühlsarme Dummköpfe, unfähig, glücklich zu machen, daher bestenfalls lästige Gesellen oder harmlose Trottel; ... wozu die Männer fähig sind, das ist eine Menge negativer Gefühle – Haß, Eifersucht, Verachtung, Ekel, Schuldgefühle, Scham, Zweifel – außerdem wissen sie genau, wie sie sind. (Fast 1973; 119)

Nicht gerade freundliche Bezeichnungen wählten amerikanische Frauenrechtsbewegungen als Namen, die von Valerie Solanas gegründete nennt sich SCUM (Society for cutting up men), Gesellschaft zum Verhackstücken von Männern. Demgegenüber ist der selbstgewählte Namen eines anderen Verbandes vergleichsweise zahm zu nennen, er lautet "Tooth and nail" (Zähne und Nägel). (Piettre 1974; 219)

Männern ist nach Ansicht der Frauen generell nicht zu trauen. Wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht! Der maliziöse Lichtenberg warf ein: Wenn es aber die netten sind, die locken? Die vorurteilsbefangene Frau würde erwidern, alle Männer seien gleich, sie wollten nämlich alle das gleiche. Etwas zwangloser drückt es das Chanson aus: "Die Männer sind alle Verbrecher, ihr Herz ist ein finsteres Loch ..."

Die weibliche Spiegelbildtheorie zur Freudschen Behauptung des Penis-Neides stammt von Karen Horney:

Sie behauptete, daß den Jungen das Mißverhältnis zwischen ihrem kleinen Penis und der großen Vagina der Mutter Schrecken einflöße. In dem Aufsatz Die Angst vor der Frau schrieb sie, daraus entspringe die Furcht, nicht für voll genommen zu werden, die sie bei Männern oft angetroffen habe ... Es handelt sich, wie Norman Mailer es nannte, um Vagina-Neid. (Fast 1973; 56 f)

Die neugegründete Zeitschrift Emma ist für den Vorurteilsforscher ein interessantes Objekt seiner Studien. Zitieren wir aus einigen ihrer Berichte: Die spiegelbildliche Verhaltensweise wird von den Frauen aus Isenburg angewendet:

Sie erzählten vom sogenannten Fan-schên, was soviel wie Umkehr bedeutet und aus China kommt, wo Frauen in den ersten Jahren der Revolution prügelnde Ehemänner nun ihrerseits verprügelten. Die Isenburgerinnen machen es ähnlich: Sie "besetzen" die Wohnung geprügelter Frauen und bleiben dort solange, ... bis der Ehemann geht und Frau und Kinder in Ruhe läßt.

Welche Schweine Männer im übrigen sind, ist einem Bericht aus der Rubrik "Mein Beruf" zu entnehmen. Unter der Überschrift "Ich bin Animiermädchen" erfahren wir Näheres:

Wenn man dann die Leute (womit ausschließlich Männer gemeint sind) nach einigem Hin und Her endlich im Separée hat, kommt man oft aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die einen haben gerade massenweise Knoblauch oder Fusel zu sich genommen, bei anderen wieder könnte man wetten, daß sie mindestens vier Wochen kein Wasser geschweige denn Seife gesehen haben.

Dann versucht die Verfasserin eine Art Typologie der männlichen Barbesucher, die allerdings in den Ansätzen steckenbleibt:

Da sind erst mal die Jüngeren, die kein Geld haben, um in die Separées zu gehen und nur die Mädchen verarschen wollen. – Dann die Arbeiter, die es sich einmal im Monat leisten können, zu uns zu kommen, und dementsprechend viel für ihr Geld verlangen. Dann kommen die sogenannten Gutbürgerlichen, deren Frauen auf der Straße mit Fingern auf uns zeigen und uns wie Dreck behandeln. Ich stelle allerdings immer wieder fest, daß die Leute, die das meiste Geld haben und in den höchsten Positionen stehen, die größten Schweine sind.

Die Verfasserin faßt ihre Auffassung von den Männern, denen sie in ihrem Beruf begegnet, wie folgt zusammen:

Es gibt sehr viel verschiedene Arten von Männern, die in einer Bar verkehren, Schweine sind sie allerdings fast alle.

Stratozentrismus

Um das mit Überheblichkeit gepaarte Unverständnis gegenüber Menschen anderer Schichten zu bezeichnen, bietet sich der Begriff Stratozentrismus an (von lat. stratum: die Schicht). Vorbild ist dabei der Begriff Ethnozentrismus, der von Sumner (1908) eingeführt wurde und, wie wir gesehen haben, eine vergleichbare Haltung auf dem Gebiete der Nationalität kennzeichnet.

Über die Entstehung der Schichtenvorurteile gibt es eine Reihe empirischer Untersuchungen.

Die Begriffe Arm und Reich entwickeln sich als Paar; doch ist im allgemeinen der Begriff der Armut ausgebildeter. – Beim Schulneuling sind die Begriffe besonders stark an die Anschauung gebunden.

Wir finden Aussagen folgender Art:

Die armen Kinder sind schlecht angezogen. Vor die Fenster ist Pappe genagelt. Die Fußbodenfarbe ist nicht mehr schön. Die Stühle sind kaputt. Die armen Leute haben altes Zeug von der Wohlfahrt an ... Die Kinder kriegen Puppen von anderen Leuten. Bei den Reichen ist alles frisch gemalt. Sie sind auch besser angezogen. Sie brauchen nicht zur Wohlfahrt zu gehen. Die Reichen essen besseres Essen. Sie haben heiles Schuhzeug an und die Armen kaputtes. Die Reichen haben Schweine und Hühner, Hunde, Enten, Gänse, einen großen Garten mit Obst und Gemüse. (Böge 1932)

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Rist (1970) in den USA. Die befragten Schüler ordnen dem Armen folgende Adjektive zu: nicht gut, nicht viel, alt, wenig, dreckig, zerlöchert, schmutzig, zerfetzt, schlecht, klein, nicht sauber, traurig, gutmütig, nicht schön, billig, unsauber. Mit den Reichen werden folgende Aussagen verbunden: schnell, gut, modern, schön, teuer, neu, sauber, eigen, viel, geizig, hochnäsig, ordentlich, stolz, angeberisch, verschwenderisch (Wacker 1976; 72).

Auch die Prognose der Lernfähigkeit im Schulalter durch den Lehrer wird zum Teil von Äußerlichkeiten bestimmt. Kinder mit schlechter Kleidung, schlechtem Körpergeruch und mangelhafter Haarpflege werden niedriger eingestuft (vgl. Rosenthal u. Jacobson, Höhn).

Etwa vom 5. Schuljahr an wird die eigene soziale Lage zum Nullpunkt gemacht. Und von hier aus Arm und Reich geschieden. (Böge 1932)

Die jüngeren Kinder halten sich selbst und ihre Eltern fast stets für reich. Das Kind hält die Gegebenheiten der sozialen Umwelt zunächst für richtig, es ist begierig, sich zu orientieren und die üblichen Einordnungen zu lernen (Koch 1972; 81 ff). Im Sozialisationsprozeß ist eine wichtige Technik die Orientierung an Extremen. Hierbei lernt das Kind die Klischees seiner Umgebung, die Vorurteile seiner Kultur:

Viele arme Leute beten in der Not zu Gott, er möge ihnen doch helfen aus dieser Not. Dagegen die reichen Leute denken nicht an Gott; sie gehen sonntags zum Ball, ins Theater. – Der Reiche ist weniger vergnügt, der Arme ist trotz seiner Armseligkeit meistens fröhlich und guter Dinge. – Trotz der schlechten Zeiten sitzen die reichen Beamten am Tisch und essen ihren Braten, während die Armen ihr hartes Brot essen müssen. (Böge 1932)

Jarkotzky (1925) fand bei Kindern im Alter zwischen sieben und vierzehn Jahren bei vierzig Prozent "gefühlsmäßigen Sozialismus":

Arm sein, das heißt arbeiten, sich plagen, sich sein Brot verdienen, zeitig aufstehen und dabei hungern, frieren, nicht das Notwendigste haben, keine schönen Kleider, kein ordentliches Bett, keine Möbel, keine gute Wohnung, kein Geld haben, zu Hause sitzen und ein stilles Leben führen oder gar arbeitslos und unterstandslos sein ... Reich sein aber heißt, nichts arbeiten, spazieren gehen, andere für sich arbeiten lassen, spät aufstehen, reichliches und gutes Essen haben, ein warmes Zimmer, Überfluß haben und verschwenden, viele schöne Kleider besitzen, ein weiches Bett, schöne Möbel, Villen auf dem Lande, viel, viel Geld, ein fröhliches Leben führen, zu Bällen, ins Theater, in die Oper gehen, im Wirtshaus essen, zur Jause ins Kaffeehaus gehen, sich bedienen lassen, sich allen Luxus leisten, kurz, ein Leben in Saus und Braus führen. (Wacker 1976; 64)

Davis, Gardner u. Gardner (1941) untersuchten im Süden der USA Selbstbild und Fremdbild der sozialen Schichten. Sie legten das Schichtenschema von Warner (1957) zugrunde, das die drei Schichten (Ober-, Mittel-, Unterschicht) noch einmal unterteilt, nämlich in eine obere und eine untere Ober-, Mittel- und Unterschicht.

...

Die Überwindung der Vorurteile: Figuren des Verstehens

Holzwege

Unwiderlegbare Prophezeiung

Vorurteile sind in allen Lebensbereichen zu finden, sie scheinen unüberwindlich. Ihre Unausweichlichkeit kann an einem schrecklichen und grausamen Beispiel aus der Zeit der Hexenverfolgung demonstriert werden. Zur Entlarvung der Hexen wurde im Mittelalter die Folter angewendet. Man sah in ihr das angemessene Mittel, die Hexe zum Geständnis zu bringen; nur wenn sie die schrecklichen Qualen ertrug, war dies ein vertrauenswürdiger Beweis der Unschuld. Im Verlauf der Folterpraxis wurde jedoch der Vorwurf, Hexe zu sein, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung (Merton), zu einem unwiderlegbaren Vorurteil. Ein Beispiel:

1672. Frühjahr. Katharine Lips aus Betzlesdorf in Oberhessen wird in den Marburger Hexenturm gesperrt und dort gefoltert. Da sie nicht geständig ist trotz härtester Marter, wird sie zunächst entlassen. In den folgenden Jahren wurde sie wieder verhaftet und am 4. November 1673 nochmals und noch grausamer gefoltert. Sie wird viermal aufgezogen, sechzehnmal wird sie so weit wie möglich geschraubt. Sie fällt wiederholt in Starrkrampf, mit Werkzeugen wird ihr Mund aufgebrochen, um sie zum Bekenntnis zu zwingen. Aber die Frau, die bald betete, bald wie ein Hund brüllte, gestand nicht. Im Bericht der Folterkommission an die Landgräfin wird dazu bemerkt, die Frau habe sich offenbar durch Zauberei unempfindlich gemacht, weil sie sonst unmöglich die Folter ohne Geständnis hätte ertragen können. (Becker, Bovenscher, Brackert u.a. 1977; 426 f)

Daß diese Frau eine Hexe ist, kann durch die Wahrnehmung nicht mehr widerlegt werden. Das Vorurteil siegt über die Erfahrung. Nun könnte man versucht sein, diesen Fall als ein bedauerliches, aber schließlich rein historisches Beispiel für die rauhen Sitten unserer Vorväter abzutun. Neuere psychologische Untersuchungen zeigen aber, daß ähnliche Verhaltensweisen heute unverändert anzutreffen sind.

Robert Rosenthal und Leonore Jacobson (1968) besuchten eine kalifornische Grundschule und erklärten deren Lehrer, sie arbeiteten an einem wichtigen Forschungsprojekt über Intelligenzmessung. Sie sagten zu den Lehrern: Alle Kinder zeigen in ihrer schulischen Entwicklung Hügel, Ebenen und Täler. Die gegenwärtig in Harvard mit der Unterstützung der National Science Foundation durchgeführte Untersuchung ist besonders an solchen Kindern interessiert, die ungewöhnlich schnelle geistige Fortschritte machen. Diese können auf jeder Ebene der intellektuellen Entwicklung stattfinden. Machen sie sich bei Kindern bemerkbar, deren geistige Entwicklung bisher keine besonderen Fortschritte aufwies, so wird das Ergebnis gewöhnlich als "Aufblühen" bezeichnet. Mit dem "Harvard-Test of Inflected Acquisition" kann man die potentiellen Aufblüher feststellen.

Die Forscher erhoben die Schulnoten und IQ-Werte der Kinder im September und wiederholten dies im Mai des darauffolgenden Jahres. Die Ergebnisse entsprachen, besonders für die Erst- und Zweitkläßler, der Vorhersage: die "Aufblüher" zeigten eine wesentlich größere Verbesserung sowohl der Schulnoten als auch der IQ-Werte als die "Nicht-Aufblüher".

Man stelle sich die Gesichter der Lehrer vor, als sie erfuhren, daß der Test ein Täuschungsmanöver war. Es gab weder einen "Harvard-Test of Inflected Acquisition", noch gab es wirkliche "Aufblüher". Die Experimentatoren hatten vielmehr 20% der Kinder nach Zufall der Kategorie "Aufblüher" zugeteilt. Sie hatten tatsächlich Namen aus dem Hut gezogen, und die glücklichen zwanzig Prozent, deren Namen gezogen worden waren, profitierten davon. (Kidder u. Stewart 1976; 97 ff)

Andere Untersuchungen konnten diesen "Pygmalion-Effekt" allerdings nur teilweise bestätigen (vgl. Barber u. Silver 1968, Jose u. Cody 1971).

Rosenthal (1966) berichtet über einen weiteren Fall von sich selbst bestätigenden Hypothesen im psychologischen Laboratorium. Den Studenten wurde berichtet, daß es gelungen sei, "durch selektive Aufzucht über Generationen hinweg reine Linien von Labyrinth-klugen und Labyrinth-dummen Ratten zu schaffen". Von den klugen sei zu erwarten, daß sie besser im Experiment lernten als die dummen.

Die Ergebnisse fielen erwartungsgemäß aus – die Labyrinth-klugen Tiere übertrafen die Labyrinth-dummen Ratten, und diese Differenz nahm an den folgenden Tagen des Experiments zu.

Der Witz ist hier der gleiche wie bei der Untersuchung der Kinder, die "aufblühten": Es gab keine Labyrinth-klugen oder Labyrinth-dummen Tiere. Sie stammten alle aus der gleichen Aufzucht und waren nach Zufall den Kategorien zugeordnet worden. Alle Unterschiede, die in ihren Lernfähigkeiten zutage traten, waren durch die Erwartungen der Experimentatoren geschaffen. (Kidder u. Stewart 1976; 99 f)

"Wir sehen nicht wirklich mit unseren Augen, und wir hören nicht wirklich mit unseren Ohren", meint Murphy (1947; 333) zu Recht. Müssen wir angesichts dieser Funktionsweisen der menschlichen Auffassung resignieren? Gibt es überhaupt keine sinnvollen Ansätze zur Überwindung der Vorurteile?

Es ist nicht die Absicht dieses Buches, dem Leser den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Hier schlägt die Frage nach den Vorurteilen nämlich in die Frage nach der Wahrheit um. Welche Kriterien gibt es denn, Urteil und Vorurteil, Irrtum und Wahrheit zu unterscheiden? Die Antwort lautet hierauf keineswegs: Es gibt keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Irrtum. Wir gehören nicht zu denen, die alles in einen Topf werfen wollen. Aber Irrtum und Wahrheit sind schwieriger zu unterscheiden, als das meist angenommen wird. Wahrheit kann durch die richtige Methode nicht gewährleistet werden. Es gibt überhaupt keine Garantie für Wahrheit. Mit einwandfreier Sicherheit kann ich nur den Irrtum feststellen. Falsifizierung, nicht Verifizierung ist das vornehmliche Geschäft der Wissenschaft. Vorurteile sind als solche erkennbar. Die Wahrheit ist bei Gott; sie entzieht sich dem menschlichen Geist. Hieraus sollte eine Haltung der Bescheidenheit folgen. "Every rational man holds his opinions with some measure of doubt." (B. Russell) Aus dieser Haltung folgt aber keine Aufgabe aller Ethik. Im Gegenteil. Ich erkenne den Fehler auch ohne pharisäische Überzeugung eigener Unfehlbarkeit, und die erkannten Fehler kann ich auch dann bekämpfen, wenn ich selbst nicht fehlerfrei bin. Eigene Unfehlbarkeit ist keine Voraussetzung für den Kampf gegen den Irrtum und die Vorurteile. Auch kann man aus einem berechtigten Kampf gegen Irrtümer keineswegs folgern, daß damit der wackere Kämpfer die Wahrheit für sich gepachtet habe.

Überheblichkeiten der Wissenschaftler

Da es ein Ziel der Wissenschaft ist, Vorurteile zu überwinden, könnte man annehmen, daß die Werke der Wissenschaftler von Vorurteilen weitgehend frei sind. Dies ist nun keineswegs der Fall. Einige Beispiele: Hegel glorifiziert den europäischen Geist: "Hier herrscht daher ein unendlicher Wissensdrang, der den anderen Rassen fremd ist" und zeichnet eine afrikanische Welt, "in der alles anders sein soll als in der europäischen". Damit füge er sich in eine "Philosophie des Imperialismus". (Kramer 1977; 56 ff) Schopenhauer’s Ansichten über die Weiber sind allgemein bekannt. Marx sprach sein Leben lang nur verächtlich von "Knoten und Straubingern", "wenn von Arbeitern die Rede war". Lassalle nennt er einen jüdischen Nigger (Raddatz 1975; 217, 210). Die Verleumdung des Bürgertums ist eine Modetorheit vieler kritischer Autoren.
Trotz einer besonders starken Gefährdung durch Vorurteile faßt der Wissenschaftler die eigene Tätigkeit gern in schmeichelhafte, aber irreführende Bilder. Alle Wissenschaften, seien es die Naturwissenschaften oder die Soziologie, Psychologie, Geschichtswissenschaft, leben in ihrem Selbstverständnis von Metaphern, die oft aus der Antike stammen. Eine dieser Rede-Figuren ist die der reinen Quelle. Der Wissenschaftler trinkt das klare Wasser der reinen Quelle. Der Banause hingegen muß sich mit getrübter Flüssigkeit zufrieden geben.

Der Begriff der Quelle als philosophische Metapher "ist platonisch-neuplatonischer Herkunft. Das Hervorquellen des reinen und frischen Wassers aus einer unsichtbaren Tiefe ist dabei die Leitvorstellung" (Gadamer 1965; 474). Sicher kann die unmittelbare Beschäftigung mit den Quellen, den Klassikern, den heiligen Büchern, den Autoritäten neue Erkenntnisse bringen.

In der Quelle strömt immer frisches Wasser nach, und so ist es auch mit den wahren geistigen Quellen in der Überlieferung. Ihr Studium ist gerade deshalb so lohnend, weil sie immer noch etwas anderes hergeben, als was man bisher aus ihnen entnommen hat.

Gewiß, aber auf der anderen Seite kann durch die Autorität der großen Quelle ziemlich viel Unsinn mit aufgenommen werden. Die Quelle ist nicht immer rein. Reinheit ist oft erst durch einen langen Prozeß der Filterung zu erreichen. Eine "unbefleckte Empfängnis" ist dem Reiche der Ideen fremd (Talcott Parsons). Irreführend ist auch die Metapher des "sauberen Versuchsaufbaus" bei den Behavioristen. Monika Hartig (1975; 63) scheint die Sauberkeit als eine Garantie für Wahrheit anzusehen. Allerdings will sie auch zeigen, "daß ein sauberer Versuchsaufbau und Perfektion der Meßtechnik noch nicht verbürgen, daß sich nicht doch noch durch irgendwelche Hintertürchen bei der Versuchsdurchführung wieder Unsauberkeiten und unkontrollierte Variablen ins Experiment einschleichen." Hier scheinen Bilder aus Hygiene und Bakteriologie die Forschertätigkeit zu verklären. Die Metaphorik der Reinheit ist nicht ohne Gefahren: Erfahrene Reisende kochen ihr Trinkwasser auch dann ab, wenn es frisch aus der Quelle springt. Überhaupt verführt die Metapher der Frische zu Kurzschlüssen.

Planck stellte als einer der ersten fest, daß sich mit wachsender Distanz die Erkenntnischancen nicht verringern, sondern steigern. (Koselleck 1977; 31)
Jede große Begebenheit ist immer für die Zeitgenossen, auf welche sie unmittelbar wirkt, in einen Nebel verhüllt, der sich nur nach und nach, oft kaum nach einigen Menschenaltern, wegzieht.

Die Unmittelbarkeit ist gar kein Garant für die Wahrheit. Der Forscher sollte sich nicht allzusehr darauf berufen. Wie viele Untersucher haben die eigenen Versuche mißinterpretiert! Wie viele Feldforscher haben Völker mißverstanden, wenn sie glaubten, aus den reinen Quellen eines unverfälschten Naturvolkes zu trinken!
Koselleck (1977; 20 f) geht einer weiteren schmeichelhaften Metapher wissenschaftlichen Selbstverständnisses nach, der "Spiegelmetapher":

In keiner Weise entstellt, verblaßt oder verzerrt sollte – nach Lukian – das Bild sein, das der Historiker einem Spiegel gleich zurückwerfen müsse.

In dieser Betrachtungsweise sieht sich der Wissenschaftler – nicht nur der Historiker – als unbeteiligtes neutrales und objektives Erfassungsinstrument. Er registriert das Vorfallende "unter Absehung von der eigenen Person, ohne Leidenschaft und Eifer, sine ira et studio" (Weymann 1908).

Eine ebenso häufige Variante der erkenntnistheoretischen Unbekümmertheit ist im Gleichnis der "nackten Wahrheit" enthalten, die ein Historiker zu schildern habe. (Koselleck 1970; 20)

Besonders stolz sind die Wissenschaftler auf ihre Methodik, in der sie die Schlüssel zur Wahrheit erblicken. Der Psychologie wurde das Experiment zum Fetisch. Ein experimenteller Psychologe war ein guter Psychologe, ein nicht-experimenteller war ein böser. Man mußte alles daran setzen, daß er seine Ansichten nicht veröffentlichte, auf keinen Fall aber einen Lehrstuhl bekam. Mit der Methode wurde auch die Versuchsanordnung kanonisiert. Über die positiven Vorurteile gegenüber technischen Geräten informiert Thomae (1977).

Es ist auffällig, daß alle Wissenschaften sich davor scheuen, vom Menschen zu reden, falls ein solcher im wissenschaftlichen Rahmen auftaucht. Für den Juristen ist der Mensch "Angeklagter", "Klient" oder "Partei". Auch der Mediziner täte sich schwer, einem Menschen den Bauch aufzuschneiden. Einen "Patienten" zu "operieren" ist eine ganz andere Sache. Eine besondere Berührungsfurcht vor Menschen hat die moderne Psychologie entwickelt. Manche Forscher ziehen es vor, die Gesetze des Verhaltens an Ratten zu studieren. Kann man es aber nicht umgehen, mit Menschen zu experimentieren, so werden diese nur im unverfänglichen Aggregatzustand der "Versuchsperson" ins Laboratorium eingelassen (zu diesem Begriff Koch-Hillebrecht 1960).

Was sich behavioristisch wie ein Interesse an der Eigenart des zu untersuchenden Gegenstandes oder des zu erforschenden Gebietes ausnimmt, kann primär eine Anstrengung des Organismus sein, sich zu beruhigen und die Spannung, die innere Unruhe und Angst zu vermindern. Das unbekannte Objekt ist dann primär ein Angsterzeuger, und das Prüfen und Erforschen ist in allererster Linie eine Entgiftung des Objekts. (Maslow 1977; 42)

Die naturwissenschaftliche Psychologie wäre demnach ein "Absicherungssystem, ein kompliziertes Mittel, Angst zu vermeiden" (Maslow 1977; 57). Die Terminologie der exakten Naturwissenschaft könnte aus dem Wörterbuch des "analen" Menschen stammen: Geduld, Vorsicht, Sorgfalt, Bedächtigkeit, die Kunst, keinen Fehler zu machen." (Maslow 1977; 21) Die "Subkultur der Naturwissenschaft" neige zur "kontraphobischen Herabwürdigung ihres Forschungsgegenstandes". Das Bedürfnis zu desakralisieren finde sich besonders bei Medizinern, die ihrer schweren Tätigkeit oft nur dadurch nachgehen könnten, daß sie die Ehrfurcht, das Staunen und die Bewunderung los würden. Diese Entwicklung führe dann aber zum falschen Bewußtsein, ja zu typischen Vorurteilen, zu einer Nichts-als-Einstellung: "Ein Mensch ist in Wirklichkeit nichts als Chemikalien im Werte von höchstens 24 Dollar", oder: "Ein Kuß ist das Aneinanderstoßen der oberen Enden von zwei Verdauungstrakten." (Maslow 1977; 179)

Devereux (1967; 19, 55) gibt eine umfassende Analyse der Gegenübertragungs-Phänomene, die beim Vorgang der Forschung, also der Konfrontation des Forschers mit dem Fremden, Unbekannten auftreten. Die Forscher müssen sich die "Illusion aus dem Kopf schlagen, sie könnten jegliche Subjektivität ausschalten und die Angst gänzlich neutralisieren".

In diesem Sinne ist jedes Rattenexperiment auch ein am Beobachter vorgenommenes Experiment. Auch der Naturwissenschaftler ist vor den Gefahren der Fremdheit nicht gefeit, denn der Mensch reagiert auf die Stummheit der Materie mit Panik. ... Das Bedürfnis des Organismus nach einer Antwort ist Tatsache. Die Kategorie der Erträglichkeit ist das alles bestimmende Moment verhaltenswissenschaftlicher und ethnographischer Forschung. (Heinrichs 1977; 23)

Die Methodologie ist vor allem eine Veranstaltung zur Reduzierung der Angst des Wissenschaftlers:

Exemplarische Angsterreger sind: psychotische Erfahrungen, die der Wissenschaftler durch Einstufung als unverständlich oder fremdartig abwehren kann. Die Belebtheit der Wesen, mit denen man experimentiert, die – behavioristisch – dadurch abgewehrt wird, daß man so tut, als seien sie unbelebt. Die Unbelebtheit der Materie, der man – animistisch – Belebtheit zuspricht. ... Das Verstehen geht jeweils so weit, wie das Geschehen in einen hineinreicht und zeichnet sich wissenschaftlich durch den Grad der erreichten Sublimierung aus. (Heinrichs 1977; 23 f)

Auch Devereux (1967; 302) bezweifelt, daß "Daten, die man durch direkte Beobachtung gewonnen hat, solchen, die man durch Befragen von Informanten gewonnen hat, unbedingt überlegen seien". Auch mit einem zweiten Einwand will er das Selbstbildnis des Forschers erschüttern, falls sich dieser als ungetrübte Linse, als unveränderbarer Registrator auffaßt. Die Ich-Grenze des Beobachters sei schwankend. Ratten können im Lernexperiment als Freunde, als Erweiterung des eigenen Ichs, als Brüder in Wald und Flur angesehen werden, aber auch als Verdammte, als Gegenmenschen. (vgl. Hofstätter 1957)

Eine Systematik der Reaktion des Reisenden auf die Fremdheit gibt Kramer (1977; 69):

Vorurteile werden durch die mit der Reise gegebene Bekanntschaft mit ihrem Gegenstand nicht reduziert. Soweit eine romantische Sehnsucht nach der Ferne das Motiv eines Reisenden ist, sind drei Formen der Verarbeitung zu unterscheiden: Die Desillusionierung, die Entrückung des unbestimmt Erwarteten in immer weitere Ferne und die Umformung der enttäuschten Erfahrung in ein Bild, das den Symbolen der imaginären Ethnographie entgegenkommt.

Entscheidende Kritik an der Überheblichkeit der westlichen Wissenschaftler hat die "humanistische Psychologie" geübt. Die Suche nach der Wahrheit ist eine Konfrontation mit dem Fremden, für die der Wissenschaftler kaum gerüstet ist. Ob dieses Fremde nun die Gestalt eines unverständlichen Textes hat – in der Philologie, Theologie, Jurisprudenz – oder eines fremden Volkes, das dem Forscher rätselhaft gegenübertritt wie in der Ethnologie, ob es im tierischen Verhalten liegt wie in der Biologie oder im Verhalten der Geisteskranken wie in der Psychiatrie oder im menschlichen Verhalten schlechthin wie in der Psychologie, stets finden wir bestimmte Abwehrmechanismen gegenüber dem Fremden.

"Die Verschiedenheit der Völker und Zeiten schreckt uns nicht mehr", hatte Giovanni Battista Vico 1725 ausgerufen. Er hatte das Verstehen, die Überwindung der eigenen Enge, des begrenzten Standpunktes der hingenommenen Selbstverständlichkeiten als Vorbedingung einer neuen Wissenschaft angesehen.

Hegel faßt den Gedanken in seiner Tiefe:

Man kann ... sagen, daß das Ziel, das Hegel dem Denken setzt, die Beseitigung der Fremdheit ist. (Kramer 1977; 56)

Der Geist überwindet in seiner Odyssee seine Entfremdung und findet zu sich selbst zurück.

Voraussetzung dieser Selbsterkenntnis ist die Entfernung von den Selbstverständlichkeiten des alltäglichen Lebens.

...

zurück zur Seite über sonstige Soziologie