Auszüge aus Mario Erdheim's
"Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit"

Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß

Auch wenn das Buch keineswegs ein Produkt meiner "freien Einfälle" darstellt, hört sich der Überblick über die verschiedenen Themen unwahrscheinlich und zufällig an. Wissenschaftstheoretisches kommt ebenso wie Historisches zur Sprache; ich erzähle vom alten Wien, von den Azteken, vom Sonnenkönig und Versailles, von Menschenopfern und Faschismus, aber auch von der Philosophie und der Medizingeschichte, von grausamen Pubertätsriten und den Verhältnissen an einem Züricher Gymnasium. Das, was diese Elemente miteinander verbindet, ist der ethnopsychoanalytische Prozeß.

Über dieses Buch:
Erdheims Interesse an der gesellschaftlichen Produktion von Unbewußtheit bewog ihn zunächst, Freuds sozialen und kulturellen Standort zu untersuchen. Welche Position muß man einnehmen, um das Unbewußte wissenschaftlich erfassen zu können? Gesellschaftliche Exzentrizität ist eine Voraussetzung dafür, und sie gilt auch für den heutigen Psychoanalytiker. Psychiater, Künstler, Wissenschaftler, Politiker, die Ende des 19. Jahrhunderts an das Unbewußte rührten, verwandelten es in ästhetische, philosophische, politische und psychologische Phänomene und machten es dadurch beherrschbar. Im Vergleich mit der Wiener Décadence erweist sich Freuds Position als eine Negation dieses Unbewußtheit hervorbringenden Ästhetizismus. Am Beispiel der aztekischen Menschenopfer beschäftigt sich Erdheim dann mit der zerstörerischen Seite zivilisatorischer Prozesse. Die aztekischen Götter sind Metaphern für verhinderte, verdrängte Geschichtsmöglichkeiten. Anknüpfend an Lévi-Strauss’ Unterscheidung zwischen "kalten" und "heißen" Kulturen entwickelt Erdheim eine Theorie der Anachronizität sozialer Strukturen. Im Schlußkapitel befaßt sich Erdheim mit der unbewußten Innenseite der Macht. Er legt den irrationalen, selbstzerstörerischen Kern absoluter Herrschaft bloß und entwickelt eine spezifische Psychologie der Herrschenden, deren Realitätsverlust eine Hauptursache destruktiver und selbstdestruktiver Tendenzen in der Geschichte ist.

Mario Erdheim, 1940 in Quito geboren, studierte Ethnologie, Geschichte und Psychologie. Lehrtätigkeit an den Universitäten Zürich, Essen, Frankfurt, Bern und Saarbrücken. Forschungsaufenthalte in Mexiko. Psychoanalytiker in Zürich.

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Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Als ich im Dezember 1983 eine Gruppe von Züricher Studenten in Ecuador besuchte, um mit ihnen über ihre Arbeiten zu diskutieren, tauchte immer wieder die Frage auf, was denn der ethnopsychoanalytische Prozeß sei. Verteilt auf verschiedene Dörfer der Küste und des Hochlandes hatten die Studenten dort bereits ein halbes Jahr gelebt und Lebensläufe gesammelt. Aus mehr oder weniger zufälligen Begegnungen hatten sich allmählich Beziehungen ergeben, die sich mit der Zeit so vertieften, daß es zu regelmäßigen Gesprächen kam, in denen die Leute von dem erzählten, was sie bewegte. Die kontinuierliche Präsenz im Dorf, die Regelmäßigkeit der Gespräche und das darin zum Ausdruck kommende Interesse schufen eine Atmosphäre, in welcher man sich mit der Vergangenheit in ihrem Bezug zur Gegenwart auseinandersetzte. Diese Auseinandersetzung schärfte die Selbstreflexion und Selbstbeobachtung und löste bei beiden, beim Studenten ebenso wie bei den Leuten, die dem jungen Fremden aus ihrem Leben berichteten, viel aus.

Worte bestehen aus flüchtigem Lautmaterial, das man zwar mit dem Tonband festhalten kann, das aber schon beim Zuhörer immer auch eine unmittelbare Reaktion hervorruft, von der dann der weitere Verlauf des Gespräches mitbedingt wird. Diese Reaktion ist subjektiv und ergibt sich aus der bisherigen Lebenspraxis sowie dem Erwartungshorizont des Zuhörers. Was er versteht, trägt dazu bei, sowohl die bisherigen Erfahrungen als auch die darauf beruhenden Erwartungen zu verändern. Beim Sprechen andererseits lösen die Worte und Sätze Erinnerungen aus, die Spuren von dem sind, was für ihn im Heute zu Sinn geworden ist. Im Gespräch, das Erinnerung und Sinngebung miteinander verknüpft, entsteht die Chance, die Richtung des Lebens abändern oder es so weiterführen zu wollen wie bisher.

Eine Dimension des ethnopsychoanalytischen Prozesses ist die lebensgeschichtliche: das Verstehen fremden Lebens wird nicht nur selber zu einem Teil des eigenen Lebens, sondern vollzieht sich auch unter fortwährendem Bezug auf die bisherigen Erfahrungen. Was es heißt, Schweizer zu sein, wird einem erst klar, wenn man das Fremde verstehen möchte und auf die eigenen Schranken stößt. Dieser Satz läßt sich beliebig variieren, etwa: Was es heißt, ein Mann zu sein, wird einem erst klar, wenn man eine Frau verstehen möchte und auf die eigenen Schranken stößt. Der ethnopsychoanalytische Prozeß stellt den Versuch dar, solche Schranken zu überwinden.

Die Studenten und ich trafen uns in Otavalo, einem Dorf in der Nähe Quitos. Tag für Tag nahmen wir die Gespräche, die sie in "ihren" Dörfern geführt hatten, durch. Anfangs war eine große Spannung da, und wie immer in solchen Situationen, breitete sich eine depressive Stimmung aus. Leistungen sollten verglichen und kontrolliert werden, als ihr Lehrer sollte ich nun gleichsam Gericht halten über sie. Die alten, in der Schule erlernten Strategien wurden wieder wirksam und verlagerten das Verstehen weg vom Objekt auf den Lehrer, so daß es mehr darum zu gehen schien, mich zu begreifen, als das, was in den Dörfern vor sich gegangen war.

Die lebensgeschichtliche Dimension des ethnopsychoanalytischen Prozesses hebt die traditionelle Trennung zwischen "öffentlich" und "privat" im Rahmen der Wissenschaft auf: Die Wahrnehmung des Fremden ist so eng mit der eigenen Lebensgeschichte verknüpft, daß man vom Fremden nicht sprechen kann, ohne auch von sich selber zu erzählen. Den Einstieg fanden wir, als Daniel Stutz von einem Traum erzählte und ihn uns, d.h. der Gruppe, zur Analyse freigab. Einige Monate davor hatte mich Markus Weilemann auf den Umstand aufmerksam gemacht, daß während des Feldforschungsaufenthaltes der Ethnologe oft von zu Hause träumt, und er warf die Frage auf, ob man dieses Traummaterial als Ansatz dafür verwenden könnte, diejenigen Wahrnehmungen zu analysieren, die der Ethnologe unbewußt macht. So wie in einer Psychoanalyse Träume im Hinblick auf den psychoanalytischen Prozeß analysiert werden (Morgenthaler 1984), um dem Unbewußten im Verhältnis Analytiker↔Analysand zum Bewußtsein zu verhelfen, ebenso könnte die Traumdeutung unbewußtes Material im Verhältnis des Ethnologen zum Fremden bewußtseinsfähig machen (Parin 1983).

Die Analyse von Daniels Traum eröffnete der Gruppe neue Möglichkeiten, um über die in den Dörfern gemachten Erfahrungen zu sprechen. Hier wurde eine andere, nämlich die wissenschaftliche Dimension des ethnopsychoanalytischen Prozesses faßbar. Allen Studenten ging es darum, Erkenntnisse über die Realität, in der ihre Informanten lebten, zu gewinnen; sie mußten also die ökonomischen, sozialen und religiösen Verhältnisse berücksichtigen, und zwar so, wie sie in der Lebenserfahrung der Leute zum Ausdruck kamen. Auf der einen Seite standen allgemeine Theorien, über die Probleme der sogenannten Unterentwicklung, des Bauerntums, der Ethnizität und nationalen Identität, des Volksglaubens etc. Diese Themen eignet man sich üblicherweise im akademischen Betrieb durch Lesen, Zuhören und Diskutieren an. Auf der anderen Seite standen die Daten, welche über das Sammeln der Lebensgeschichte gewonnen worden waren. Der ethnopsychoanalytische Prozeß muß diese beiden Bereiche miteinander verknüpfen und einerseits die Beziehung zu den Leuten, mit welchen man arbeitet, sowie andererseits das Wissen über die allgemeinen Zusammenhänge der Kultur vertiefen. Diesem Anspruch kann nur das der Psychoanalyse inhärente wissenschaftstheoretische Modell genügen.

Die Schwierigkeiten, das Spezifische an diesem Modell herauszuarbeiten, werden dem Leser meines Buches immer wieder Mühe bereiten, und aus diesem Grunde mußte ich mich zu einer Art Leseanleitung entscheiden, die Freuds "Ratschläge(n) für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung" (1912) folgt. Auch wenn das Buch keineswegs ein Produkt meiner "freien Einfälle" darstellt, möchte ich dem Leser die "gleichschwebende Aufmerksamkeit" empfehlen. Als ich mit Fedor Rothe über den Klappentext sprach, erzählte ich ihm von meinem Unbehagen, die kurze Zusammenfassung zu schreiben. Der Überblick über die verschiedenen Themen, von denen das Buch handelt, hörte sich so unwahrscheinlich und zufällig an. Wissenschaftstheoretisches kommt ebenso wie Historisches zur Sprache; ich erzähle vom alten Wien, von den Azteken, vom Sonnenkönig und Versailles, von Menschenopfern und Faschismus, aber auch von der Philosophie und der Medizingeschichte, von grausamen Pubertätsriten und den Verhältnissen an einem Züricher Gymnasium. Das, was diese Elemente miteinander verbindet, ist der ethnopsychoanalytische Prozeß, und die "gleichschwebende Aufmerksamkeit" scheint mir einen Zugang dazu zu bieten.

"Man erspart sich auf diese Weise", schreibt Freud im erwähnten Aufsatz, "eine Anstrengung der Aufmerksamkeit, die man doch nicht viele Stunden täglich festhalten könnte, und vermeidet eine Gefahr, die von dem absichtlichen Aufmerken unzertrennlich ist. Sowie man nämlich seine Aufmerksamkeit absichtlich bis zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen Materiale auszuwählen; man fixiert das eine Stück besonders scharf, eliminiert dafür ein anderes, und folgt bei dieser Auswahl, seinen Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade dies darf man aber nicht; folgt man bei der Auswahl seinen Erwartungen, so ist man in Gefahr, niemals etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß; folgt man seinen Neigungen, so wird man sicherlich die mögliche Wahrnehmung fälschen. Man darf nicht darauf vergessen, daß man ja zumeist Dinge zu hören bekommt, deren Bedeutung erst nachträglich erkannt wird" (a.a.O.: 377).

Das Kapitel "Die Wissenschaftler und ihre Objekte" behandelt verschiedene wissenschaftliche Einstellungen gegenüber der Welt des Menschen und versucht, den spezifischen Beitrag der Psychoanalyse herauszuarbeiten. Zwei Probleme stehen dabei im Mittelpunkt:

1.       das Verhältnis der Empathie zum wissenschaftlichen Diskurs und

2.       der psychoanalytische Begriff des Wissens. Letzterer ist umfassender als derjenige der traditionellen Wissenschaft, insofern es Wissen nicht nur im Bezug zum Objekt, sondern auch im Bezug zum erkennenden Subjekt definiert.

Albrecht Dürers Holzschnitt "Der Zeichner des liegenden Weibes" illustriert sehr schön diese Problematik: die Frau liegt halbentblößt und schlafend da, vom sitzenden und angestrengt blickenden Zeichner durch ein Gitter getrennt, das ihm die richtigen Proportionen auf das Blatt zu übertragen helfen soll. Er muß seine Begierde zähmen und einen kühlen Kopf bewahren, so daß er sie so zeichnen kann, als wäre sie eine Vase, ein Steinblock oder eine Landschaft. Auf die Wissenschaft übertragen könnte man sagen, auch der traditionelle Wissenschaftler müsse von sich absehen und seine Begierde auf die Realität überwinden, um sie möglichst objektiv darzustellen. Freud ging einen anderen Weg, er setzte seine Subjektivität ein, um die Realität analysieren zu können. Was das alles impliziert, stelle ich im folgenden Kapitel "Freuds Konzept des Unbewußten und die Wiener Décadence" dar.

In der Traumdeutung (1900) ging Freud von seinen eigenen Träumen, also von einem Material äußerster Subjektivität, aus, das als solches für die anderen Wissenschaftler weder zugänglich noch nachprüfbar war. Daraus entwickelte Freud allgemeine Hypothesen über das psychische Geschehen, welche von den anderen Wissenschaftlern auch nur an der Evidenz ihrer eigenen Träume kontrolliert werden konnten. Wer sich auf Freuds Theorie einließ, war (und ist) somit gezwungen, seine eigene Subjektivität zum Objekt der Forschung zu machen. Die Psychoanalyse als Wissenschaft des Subjekts beruht auf Freuds Erfahrungen, die zum Paradigma der psychoanalytischen Forschung abstrahiert wurden. Sich mit der Psychoanalyse abgeben heißt deshalb immer auch, sich mit Freud auseinandersetzen.

Mein Interesse an der gesellschaftlichen Produktion von Unbewußtheit bewog mich, Freuds sozialen und kulturellen Standort zu untersuchen. Welche Position muß man einnehmen, um das Unbewußte wissenschaftlich erfassen zu können? Gesellschaftliche Exzentrizität ist eine Voraussetzung dafür, und sie gilt auch für den heutigen Psychoanalytiker. Als ich mich in jene Zeit vertiefte, überraschte mich die Parallele zur Gegenwart. Die Wiener Décadence löste um die Jahrhundertwende den Fortschrittsoptimismus des liberalen Bürgertums ab und schuf die Denk- und Gefühlsmuster, die, in einer Art Neuauflage, auch heute wieder benutzt werden können. Das Interesse an Hofmannsthal und Schnitzler, Mauthner, Wittgenstein und Weininger ist kein antiquarisches, sondern ein aktuelles. Es wird deutlich, daß in der Geschichte der Intellektuellen ein Wiederholungszwang wirksam ist – die gegenwärtige Décadence reproduziert mit ihrer Suche nach dem Mythos und dem Irrationalen ähnliche Denk- und Verhaltensmuster wie damals. Das bedeutet nicht, daß die Probleme die gleichen geblieben wären, sondern nur, daß dieselben Mechanismen der Unbewußtmachung und Verdrängung eingesetzt werden wie zur Zeit der Jahrhundertwende: War es damals der Katholizismus, so sind es heute orientalische Sekten, die Erlösung versprechen. Der gegenwärtige Psychoboom (Schülein) nimmt ähnliche Muster auf wie um 1900. Der Unterschied ist höchstens quantitativ, insofern heute viel mehr Individuen von den verschiedenen Unbewußtheit produzierenden intellektuellen Bewegungen erfaßt werden als damals, da sie noch das Flair der Avantgarde zu haben schienen.

Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen hielt Freud an der klassischen Naturwissenschaft fest. Wirft man ihm heute vor, er habe die Spezifität des psychoanalytischen Vorgehens selbst nicht verstanden, so übersieht man, daß Freud die Utopie, unter der sie einst im 16. Jahrhundert angetreten war, wieder aufnahm: Vernunft und Leben, Rationalität und Gefühl zu vereinigen. So wie Kolumbus nicht die Absicht hatte, Amerika zu entdecken, verspürte Freud nicht den Ehrgeiz, ein neues Paradigma der Wissenschaft zu entwickeln, und berief sich auf das naturwissenschaftliche Denkmodell; unbemerkt setzte er aber eine Revision dessen, was als wissenschaftlich galt, in Gang.

Die neuzeitliche Institutionalisierung der Wissenschaften in den verschiedenen, vom absolutistischen Staat abhängigen Akademien führte einerseits zu einer zunehmenden Fächerspezialisierung, die die Welt in Teile und nochmals in Teile zerfallen ließ ("immer mehr über immer weniger wissen"); andererseits erzwang diese Institutionalisierung die Ausgliederung all dessen, was die Integration der Wissenschaften in die Gesellschaft bedrohen könnte. In seinem Buch "Die Aufklärung und ihr Gegenteil" schreibt M. W. Fischer:

Die gesellschaftliche Integration erreichten die Wissenschaftler um den Preis, daß ihre eigene Sicherung zugleich eine Zusicherung zu sein hat, keinen Anlaß zur Gefährdung der öffentlichen Ordnung, der religiösen Orientierung und der Legitimation von Herrschaft zu geben. (...) Die Institutionalisierung der Wissenschaft geschah unter Ausgrenzung all jener Disziplinen, die mit normativer Reflexion verbunden sind wie Politik, Moral, soziale Reform, Religion. (1982: 102-103)

Was von den Wissenschaftlern ausgegliedert wurde, sammelte sich zu einem Residuum von Irrationalitäten an, in dessen Dunkel keine Vernunft hineinleuchten konnte. Dieses Residuum ließe sich als das durch Verdrängung entstandene Unbewußte der Wissenschaft begreifen und als einer der Gründe dafür, daß sich zwischen dem, was der Wissenschaftler denkt, und dem, was er erlebt, eine immer größer werdende Kluft öffnet. Je abgründiger die Distanz zwischen Denken und Erfahrung wird, desto mehr muß auch das Mißtrauen gegen die Wissenschaft und die Rationalität wachsen und den Weg für die Wiederkehr des Verdrängten ebnen. Was einst aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgegliedert wurde: Ethik, Politik, Kunst und Religion, konstituiert sich neu, allerdings als Irrationales, als Gegensatz zur Wissenschaft. Blut und Boden, Magie und auf die Konservierung des Vorhandenen ausgerichtete Größen- und Allmachtsphantasien versprechen neue Lösungen.

Der Anfang der Psychoanalyse ist für uns deshalb von besonderem Interesse, weil Freud die Grenzen überschritt, die unsere neuzeitliche Kultur der Wissenschaft setzte. Vor Freud war das Unbewußte nur über die Phantasie und Fiktion erreichbar und fand den anerkannten Niederschlag vor allem in Kunst und Religion. Die Legitimation zu diesen Grenzüberschreitungen holte sich Freud als Arzt, der sich dem Kranken zuwandte; das therapeutische Verfahren wurde zum Medium, in welchem die Realität des Unbewußten sichtbar werden durfte. Aber allmählich wandte sich Freud den anderen Bereichen zu: der Religion, Gesellschaft und Kunst. Was von den Wissenschaften ausgegliedert worden war, versuchte Freud wieder in sie einzubringen.
Diese Entwicklung Freuds wird oft so mißverstanden, als habe sich Freud von der psychoanalytischen Praxis ab- und einer allgemeinen Kulturtheorie zugewendet; Marcuse z.B. konstruierte die verhängnisvolle, aber beliebte These, Psychoanalyse als Therapie sei konservativ, als Kulturtheorie jedoch revolutionär. Dieser Standpunkt war verhängnisvoll deshalb, weil dadurch die psychoanalytische Praxis den Therapeuten, die Entwicklung der Kulturtheorie hingegen den Soziologen, Ethnologen und Philosophen, die vom psychoanalytischen Verfahren wenig wissen, überlassen wurde. Auf diese Weise kam es zu der schon in der traditionellen Wissenschaft üblichen Trennung zwischen Theorie und Praxis, die als eine der Hauptursachen für die Produktion von Unbewußtheit innerhalb der Wissenschaft (Erdheim 1983) betrachtet werden kann. Aus diesem Grunde richtete ich mein Augenmerk auf die Entstehung der Kulturtheorie Freuds aus der therapeutischen Praxis heraus und untersuchte, inwiefern seine Neudefinition des Arzt-Patient-Verhältnisses und die daraus entwickelte Theorie der Krankheit auf die Forscher-Informant-Beziehung und die ihr gemäße Theorie übertragen werden kann. Die Ethnopsychoanalyse kann auf die therapeutische Legitimation verzichten. In dem Maße, wie die fremde Kultur und die Beziehung Forscher↔Informant zum Ort wurde, an dem das in der Gesellschaft unbewußt Gemachte auftauchen und bewußt gemacht werden konnte, verwandelte sich die therapeutisch motivierte Forschungsstrategie in eine kulturwissenschaftliche. Und wie Freud, als er sich seinen Patienten zuwandte, auf sich selbst zurückgeworfen wurde und mit seiner Selbstanalyse anfing, so wird der Ethnopsychoanalytiker, der sich mit dem Unbewußten in der fremden Kultur beschäftigt, auf sich und seine eigene Kultur verwiesen. Die Erfahrungen, die er hier in der eigenen Gesellschaft macht, grenzen die Einsichten, die er dort in der Fremde macht, ein, und umgekehrt. Die Pendelbewegung zwischen den Kulturen wird zum entscheidenden Instrument des Erkennens. Das Leben "hier" und "dort" – und nicht mehr nur die Phantasie oder die Krankheit – ist das Laboratorium, in welchem der Ethnopsychoanalytiker das Fremde und das Unbewußte versteht.

Das ist auch der Grund, weshalb ich im Buch zwischen den verschiedenen Kulturen hin und her pendle: Von der Wiener Décadence zu den Azteken, von den Initiationsriten zum Gymnasium, von Versailles zum Faschismus. Diese Bewegung benütze ich, um zwei miteinander verknüpfte Problemkreise zu analysieren.

1.       Die Relevanz des Unbewußten für die kulturelle Evolution. Während sich die meisten Evolutionstheorien vor allem auf die Entwicklung und Komplexitätssteigerung kognitiver Strukturen, also auf die Evolution des Bewußtseins, konzentrieren, bemühte ich mich aufzuzeigen, daß die kulturelle Evolution auch mit der Produktion von Unbewußtheit verknüpft ist. Diese Evolution vollzog sich ja unter dem Vorzeichen der Herrschaft, und da die Aufrichtung von Herrschaft nicht so sehr unter dem Druck von Einsichten, sondern von Gewalt stattfand, war das, was unbewußt gemacht werden sollte, die Aggression, welche sich gegen die ihre Macht ausdehnende Herrschaft richtete. Durch die Unbewußtmachung sollte verhindert werden, daß das durch die Machtträger hervorgerufene Anwachsen des Aggressionspotentials der Beherrschten in Kritik und aktiven Widerstand umschlagen konnte. Der Prozeß der Hierarchisierung der Gesellschaft verwandelte auch die Dynamik des psychischen Haushalts der Herrschenden: Während in egalitären Gesellschaften der Narzißmus des Häuptlings im Dienste der Gemeinschaft steht und diese ihn mittels seines Narzißmus kontrollieren und lenken kann, so kommt es in Klassengesellschaften tendenziell zu einer Explosion des Narzißmus. Am sozialen Ort der Herrschaft dient die politische Macht dem Narzißmus. Was ihn in Frage stellt, soll ausgelöscht werden, und wo die Gewalt nicht dazu ausreicht, ist die Bereitschaft vorhanden, jene die Herrschaft kränkenden Bereiche aus der Wahrnehmung auszuschließen und unbewußt zu machen. In dem Maße, wie sich die Gesellschaft in Klassen spaltete und sich divergierende Klasseninteressen entwickelten, nahm die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit zu und trat in ein spannungsvolles Verhältnis zur gleichzeitig und notwendig sich entfaltenden rationalen Bewältigung von Natur und Gesellschaft. Hier drängt sich auch die Frage auf, wieviel Unbewußtheit notwendig ist, um in solchen Kulturen als "normal" zu erscheinen. Wo sich noch keine Herrschaftsverhältnisse herausgebildet haben, ist das Unbewußte ein Mittel nicht-destruktiver Entlastung; wo sich aber Herrschaft etabliert hat – sei es die des Mannes über die Frau, sei es die einer Minderheit über eine Mehrheit –, verwandelt sich das Unbewußte in eine zerstörerische Potenz, und die Normalität, die darauf beruht, wird zum Hindernis für die kulturelle Entfaltung.

Am deutlichsten wird dieser Zusammenhang, wenn man sich

2.       dem Verhältnis zwischen Adoleszenz und Kulturwandel zuwendet. Die psychoanalytische Kulturtheorie gründete bisher auf dem Determinismus der frühen Kindheit. Röheim, Kardiner, aber auch Reich, Fromm und Adorno versuchten, kulturelle oder politische Einstellungen (z.B. den "autoritären Charakter") auf die Triebschicksale der frühen Kindheit zurückzuführen, und deshalb interessierten sie sich vorwiegend für die familiären Verhältnisse. Die Familie erschien als eine "Agentur der Gesellschaft" (Fromm), mittels derer die entsprechenden Anpassungsleistungen einsozialisiert werden konnten. Aber diese Theorien führten in Sackgassen, da man nicht erklären konnte, wie es dazu kam, daß die Eltern fähig sein sollten, ihre Kinder so zu erziehen, daß sie in zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren genau denjenigen gesellschaftlichen Erfordernissen genügen sollten, die niemand voraussehen konnte.

Mit meinen Überlegungen knüpfe ich an Freuds These an, daß Familie und Kultur in einem antagonistischen Verhältnis stehen. Freud verwendete an dieser Stelle einen speziellen, von ihm sonst nirgends weiter explizierten Kulturbegriff. "Kultur" wird von ihm als ein über die Menschen ablaufender Prozeß definiert, der immer mehr Individuen in Abhängigkeit voneinander bringt. Er benutzt einen dynamischen Kulturbegriff, in welchem Kultur eher als Bewegung, als Geschichte denn als Struktur gefaßt wird, und was er im Auge hat, ist die Geschichte, die sich zur Weltgeschichte mit dem einen Subjekt "Menschheit" konstituiert. Zu diesem Kulturbegriff gehört nun alles, was diese Bewegung ausmacht: die Entwicklung der Produktivkräfte ebenso wie die Produktionsverhältnisse, die Schaffung neuer Vergesellschaftungsformen, die vom Stamm zur Nation, zu Kulturkreisen und schließlich zur Menschheit führen; aber auch die Produktion neuer universalistischer Symbolsysteme, die eine übergreifende Kommunikation ermöglichen. Diesem Kulturbegriff stellt nun Freud antagonistisch einen Familienbegriff entgegen, in welchem diejenigen Kräfte gefaßt sind, die sich der kulturellen Bewegung widersetzen. Familie ist das, was darauf hin tendiert, sich inzestuös abzuschließen; das, was die Individuen daran hindert, neue Abhängigkeiten mit Fremden einzugehen, und statt dessen die alten, inneren Abhängigkeiten verstärkt – dafür aber die Geborgenheit des Gewohnten vermittelt. Familie und Kultur stellen so einen unauflösbaren Antagonismus dar: beide sind notwendige Formen menschlichen Zusammenlebens, aber sie können – da sie verschiedenen Grundprinzipien gehorchen – weder ineinander überführt noch voneinander abgeleitet werden. Der Mensch wird immer zwischen ihnen hin- und hergerissen bleiben, ohne sie auf die Dauer miteinander aussöhnen zu können.

Die sexuelle Entwicklung des Menschen ist durch einen Zwei-Phasen-Verlauf gekennzeichnet. Freud (1905b) spricht von der "Zweizeitigkeit". Die erste Phase setzt mit der Geburt ein und klingt um das fünfte, sechste Lebensjahr allmählich ab. Eingebunden in einer von Kultur zu Kultur verschiedenen Familienordnung paßt sich das Kind ihr an; in einem sehr störungsanfälligen Wechselspiel mit Mutter, Vater, Geschwistern und anderen Verwandten laufen die biologischen und sozialen Reifungsprozesse ab, die den für die Familie gültigen Weltbezug erarbeiten. Sexualität und Aggression sind die treibenden Kräfte, die über die kulturell formbaren oralen, analen und phallischen Modalitäten die vorerst an die Familie gebundenen Voraussetzungen für die Soziabilität des Individuums schaffen. Die Zeit bis zum Ausbruch der Pubertät gibt die Chance zur Festigung der in den ersten Lebensjahren gebildeten Strukturen; aber die Pubertät, mit der die zweite, die Adoleszenzphase, anfängt, bringt alles wieder durcheinander.
Die Adoleszenz muß unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden:

  • In bezug auf die außerordentlich störungsanfällige, aber die Plastizität des Menschen ermöglichende frühe Kindheit stellt sie die "zweite Chance" (K. R. Eißler) dar, in welcher die damals zugefügten Schäden wenigstens bis zu einem gewissen Teil wieder behoben werden können. Die Krise der Adoleszenz ist der lebensgeschichtliche Ausdruck des antagonistischen Verhältnisses zwischen Kultur und Familie.
  • In bezug auf die Kulturgeschichte sind die Instinktreduktion und die Schicksale der frühen Kindheit Voraussetzungen für Institutionen, für Dauer im Wandel. Die Adoleszenz hingegen ist eine der Voraussetzungen dafür, daß der Mensch Geschichte macht – und das heißt: die überkommenen Institutionen nicht nur überliefert, sondern auch verändert.

Die bürgerliche Gesellschaft, von der Marx einst schrieb, sie befinde sich in ständiger Umwälzung, schuf für die Adoleszenz neue soziale Voraussetzungen. Zum Teil liegt darin der Grund dafür, daß manche Historiker und Ethnologen (Ph. Ariès, J. R Gillis oder M. Mead) die These vertraten, Adoleszenz sei eine "Erfindung" moderner Gesellschaften. Die Zweizeitigkeit der sexuellen Entwicklung ist jedoch ein biologisches Faktum und tritt in allen Kulturen auf. Aber die Kulturen können verschieden damit umgehen. Verallgemeinernd kann man sagen: jene Kulturen, die sich gegen den Kulturwandel abschirmen, also jene Kulturen, die Lévi-Strauss (1962, 1972) "kalt" nannte, frieren die Adoleszenz mittels der Initiation ein (vgl. in diesem Band, S. 203 ff); jene Kulturen hingegen, welche dahin tendieren, den Wandel zu beschleunigen ("heiße Kulturen"), bauen die Initiationsriten ab, um das in der Adoleszenz liegende Veränderungspotential freizusetzen. Wo der Kulturwandel jedoch eingegrenzt, ja gebremst werden soll, dort wird in der Regel auch wieder auf Initiationsrituale zurückgegriffen. In unserer Gesellschaft können diese Disziplinierungsversuche deutlich gesehen werden. Ob es die Schulen sind, in welchen die Jugendlichen auf frühkindliche Phasen fixiert werden (vgl. in diesem Band, S. 239 ff), oder das Militär – den initiatorischen Charakter der Institution erkennt man daran, daß die Jugendlichen, sowohl die männlichen wie die weiblichen, auf Familienstrukturen zurückgeworfen werden. Der Antagonismus zwischen Familie und Kultur wird nicht mehr erfahrbar, und der Jugendliche kann den Ablösungsprozeß von der Familie psychisch nicht vollziehen; statt dessen werden die Abhängigkeiten von der Familie auf die entsprechenden Institutionen übertragen: die Gesellschaft wird unbewußt als Familie erfahren, und dementsprechend wirkungslos sind auch die Handlungen, die darauf abzielen, die Gesellschaft zu verändern.

Die kulturelle Evolution unter dem Vorzeichen von Herrschaft einerseits und das Verhältnis zwischen Adoleszenz und Kulturwandel andererseits sind die beiden Bereiche, in welchen ich die Problematik der gesellschaftlichen Produktion von Unbewußtheit untersuche. Verglichen mit der Situation der Feldforschung, die ich am Anfang skizzierte, bietet das Medium "Buch" den Nachteil, daß die Situation des Lesers für die Aufdeckung des Unbewußten vom Autor nicht unmittelbar berücksichtigt werden kann. Um diesen Nachteil in Schranken zu halten, schlug ich vor, sich die "gleichschwebende Aufmerksamkeit" bei der Lektüre zunutze zu machen.

Die Wissenschaftler und ihre Objekte

Der Gegenstand der Ethnopsychoanalyse ist das Unbewußte in der Kultur. Die Psychoanalyse bestimmt den Begriff des Unbewußten, die Ethnologie den der Kultur. Beide Wissenschaften besitzen eine ereignisreiche gemeinsame Geschichte (Bastide 1950; Schoene 1966; Beuchelt 1974), die mit Freud’s Totem und Tabu (1913) ihren Anfang nahm. Die gegenseitige Anziehung, die sich in immer erneuten Versuchen äußerte, für beide Wissenschaften ein gemeinsames Konzept zu entwickeln, ist offensichtlich; unübersehbar ist jedoch auch, daß keine der Verbindungen Bestand hatte. In seinen Reflexionen über den Psychoanalytiker in der Gemeinschaft der Wissenschaftler (1973a) äußert sich Kohut sehr skeptisch über die Möglichkeit der interdisziplinären oder, wie Devereux sagen würde, "pluridisziplinären" Arbeit: Zunehmend würden zwar heute Psychologen, Anthropologen, Juristen sich einer psychoanalytischen Ausbildung unterziehen, aber das Ergebnis sei paradox:

Nach dem Training (zum Analytiker, M. E.) bewegt sich der Teilnehmer nicht selten in eine von zwei Richtungen: nach einer Weile kehrt er emotional und intellektuell zu seiner ursprünglichen Disziplin zurück, kaum sichtbar bereichert durch die psychoanalytische Erfahrung – oder er wird Psychoanalytiker und läßt das Wissen und die Geschicklichkeit seines Berufes mehr oder weniger fallen. (a.a.O.: 36)

Auch Wissenschaftler, die eine sichtbare Integration zu erreichen scheinen, also etwa Historiker, erreichen keine Synthese:

Man fühlt sich wie an die Wahrnehmung bei den Figur-Grund-Experimenten erinnert: man sieht entweder die eine Konfiguration oder die andere; doch es ist unmöglich, beide gleichzeitig zu sehen. (ebenda)

Kohut glaubt, daß das Akzeptieren der Psychoanalyse nur ihre Randgebiete betrifft:

In der Tat kann ich mich des unheimlichen Eindrucks nicht erwehren, daß die Analyse im Verlauf ihrer Anerkennung an Essenz verliert, daß sie vor allem Gefahr läuft, auf die Verwerfung ihrer stolzesten Errungenschaften zuzutreiben, wenn sie versucht, für die anderen Zweige der Wissenschaft akzeptabel zu werden. (a.a.O.: 36)

Die "stolzeste Errungenschaft" der Psychoanalyse ist die Rolle der Introspektion als Instrument der Forschung. Der Psychoanalytiker

benützt natürlich seine Sinneseindrücke, da er die Worte des Analysanden hört und seine Gesten und Bewegungen sieht – doch diese sensorischen Daten würden bedeutungslos bleiben, gäbe es nicht seine Fähigkeit, komplexe psychologische Konfigurationen zu erkennen, die nur die Empathie, das menschliche Echo auf eine menschliche Erfahrung, liefern kann. (a.a.O.: 40)

Kohut wendet sich einerseits dagegen, daß man die Psychoanalyse zu einer letztlich nur auf Intuition beruhenden "Kunst" deklariert, und andererseits dagegen, daß man sie nur wegen ihrer explanatorischen Thesen akzeptiere, und die empathische Art des Datensammelns als eine Unzulänglichkeit betrachte, die baldmöglichst durch die traditionellen Methoden wissenschaftlicher Beobachtung ersetzt werden müsse:

Beide Positionen übergehen die Tatsache, daß der entscheidende Schritt der Psychoanalyse in der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens darin bestand, daß sie Empathie und die traditionelle wissenschaftliche Methode kombiniert hat ... (a.a.O.: 41)

Was die Psychoanalyse den anderen Wissenschaften zu geben habe sei deshalb:

die Einführung der Empathie in das Feld der Wissenschaft. (a.a.O.: 42)

Und dabei gehe es nicht nur darum, die Empathie als neues Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, sondern:

Empathie sollte das leitende Ideal aller Wissenschaften werden, die Bindung des Wissenschaftlers an die Empathie sollte an die Stelle des Stolzes auf seine methodologische und technologische Kenntnis treten, den er bisher empfunden hat. (ebenda)

Die Reaktionen des Ethnologen auf einen solchen Anspruch sind leicht auszudenken. Auch wenn er nicht den extremen Standpunkt Gehlen’s einnimmt, der generell von der Unverstehbarkeit archaischer Hochkulturen spricht (1956: 132 f), so wird er doch mit Unbehagen an jene Ethnologie, wie die von Frobenius, denken, die die "Seele des Negers" verstehen wollte. Er wird glücklich sein, diese Phase überwunden zu haben, und eben noch stolz sein auf diesen Verzicht, der zwar zu einer Selbsteinschränkung seines Faches, aber auch aus einer Sackgasse der Entwicklung seiner Wissenschaft führte. Der Ethnologe weiß viel zuviel von der Kulturbedingtheit des Verstehens auf der Grundlage der Empathie, um sich auf dieses Glatteis locken zu lassen. Wenn Kohut also damit rechnet, auf Widerstand bei den anderen Wissenschaften zu stoßen, falls er gerade die Empathie als das bezeichnet, was die Psychoanalyse zu geben habe, so hat er ganz gewiß recht. Ich muß hier vielleicht anmerken, daß Kohut einen eher extremen Standpunkt innerhalb der Psychoanalyse vertritt. Hartmann war "gemäßigter" – ihm ging es um psychoanalytische Problemstellungen, die für die Soziologie fruchtbar sein könnten und umgekehrt (1944; 1950). Aber Kohuts "Extremismus" hilft uns, einige zentrale Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit zwischen Psychoanalyse und Ethnologie ebenso wie die Faszination, die sie aufeinander ausüben, deutlicher zu sehen.

Jeder Ethnologe, der in eine fremde Kultur geht, möchte sie verstehen. Er ist stolz darauf, wenigstens zu einigen Leuten engere Beziehungen knüpfen zu können. Was Kohut unter Empathie begreift, spielt während der Zeit, da sich der Forscher in der fremden Umgebung aufhält, eine beträchtliche Rolle:

1. Empathie, das Erkennen des Selbst (vgl. dazu Kohut 1973b: 127 ff) im Anderen, ist ein unentbehrliches Mittel der Beobachtung, ohne das weite Bereiche des menschlichen Lebens, einschließlich des menschlichen Verhaltens im sozialen Umfeld, unverständlich bleiben.

2. Empathie, die Erweiterung des Selbst, um den Anderen einzuschließen, stellt ein starkes psychologisches Band dar zwischen Individuen, das ... der Destruktivität des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen entgegenwirkt.

3. Empathie, das annehmende, bestätigende Echo, das vom Selbst hervorgerufen wird, ist eine psychologische Nahrung, ohne die menschliches Leben, wie wir es kennen und schätzen, nicht bestehen könnte. (1973a: 44)

Der Ethnologe, der in ein fremdes Dorf kommt, erfährt es als eine existentielle Notwendigkeit, sich in die anderen versetzen zu können. Er kennt die Sitten und Gebräuche nicht und befindet sich insofern in einer orientierungslosen und angstauslösenden Situation. Oft packen ihn Verfolgungsängste, und er ist selber angewiesen, daß die Dorfbewohner ihm die "psychologische Nahrung" darbringen, d.h. die Empathie erweisen, die er zum Leben braucht.

Empathie wird dem Ethnologen erst dann zum Problem, wenn er seine Erfahrungen auf die Ebene der Theorie bringen will. Es ist so, wie wenn die theoretische Arbeit darin bestünde, das, was empathisch begriffen wurde, wieder zum Verschwinden zu bringen. Diese Situation ist aus jedem Seminar bekannt. Während der Vorbereitung zu einem Feldforschungspraktikum in Mexiko diskutierten wir z.B. die Bauernfrage, und nur mühsam wurde ersichtlich, daß einige der Studenten entweder selber von Bauernfamilien abstammten oder für längere Zeit dort gearbeitet hatten. Viele von uns hatten früher einmal Gotthelf gelesen, der bekanntlich das Bauernleben im Emmental beschreibt; als Kontrastmaterial zu Mexiko wäre es außerordentlich interessant gewesen, aber es war wie vergessen, und wir konnten nicht darüber verfügen. Es war ganz allgemein so, als ob alle derartigen, sei es selber erlebten, sei es durch Lektüre angeeigneten Erfahrungen, welche jedoch nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kurs gemacht worden waren, nicht existierten. Ein Student interessierte sich besonders für die Verelendung der Bauern, die sie gezwungen hatte, ihr Land zu verlassen und in der Stadt unter äußerst schweren Bedingungen zu leben. Die Darstellung des Problems geriet diesem Studenten nur auf einem außerordentlich abstraktem Niveau; er zeigte große Hemmungen, seine Arbeit in der Gruppe zu präsentieren, und dieser fiel es schwer, seinen Gedankengängen zu folgen. Als wir diese Situation besprachen, stellte sich heraus, daß das, was der Student so abstrakt und damit auch weit weg von sich beschrieb, ihm eigentlich sehr nahe stand und anschaulich hätte sein müssen – es war die Geschichte seiner eigenen Familie, die ebenfalls das Land aufgeben und sich in der Stadt niederlassen mußte. Die "wissenschaftliche" Darstellung stand im Dienste einer Entfremdung seiner familiären Erfahrung. Die Abstraktion, die eine falsche war, weil sie keine Einsichten ergab, war somit das Produkt des Auseinanderklaffens zweier "Texte" – desjenigen, der seine eigene Erfahrung, und desjenigen, der die Erfahrung der fremden Kultur zum Ausdruck bringen sollte. Kein Wunder, wenn er in der Gruppe nicht verstanden wurde.

Was empathisch, d.h. durch eigene Lebenserfahrung, angeeignet worden war, konnte nicht in den ethnologisch-wissenschaftlichen Diskurs eingebracht werden. An dieser Schwierigkeit läßt sich die Problematik der Psychoanalyse in der Ethnologie verdeutlichen. Sie resultiert wesentlich aus der Verschiedenheit dessen, was in beiden Disziplinen als Wissen gilt. In der Ethnologie spricht man – wie in den anderen Wissenschaften – dann von "Wissen", wenn eine bestimmte Aussage methodisch abgesichert mit dem entsprechenden Sachverhalt übereinstimmt. In der Psychoanalyse hingegen müssen noch eine Reihe anderer Bedingungen zusätzlich erfüllt sein. Was heißt in psychoanalytischem Sinn, die Theorie des Ödipuskomplexes zu kennen, sie also als "Wissen" zur Verfügung zu haben? Die dazu gehörenden Bedingungen lassen sich aus der Art und Weise, wie Freud seine Entdeckung seinem Freund Fließ mitteilte, rekonstruieren. Am 15. Oktober 1897 schrieb er ihm:

Ein einziger Gedanke von allgemeinem Wert ist mir aufgegangen. Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit... (...) Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des König Ödipus trotz aller Einwendungen, die der Verstand gegen die Fatumsvoraussetzung erhebt, und versteht, warum das spätere Schicksalsdrama so elend scheitern mußte. Gegen jeden willkürlichen Einzelzwang ... bäumt sich unsere Empfindung, aber die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat. Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus, und vor der hier in die Realität gezogene Traumerfüllung schaudert jeder zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, der seinen infantilen Zustand von seinem heutigen trennt. (1962: 193)

Die Aussage "Verliebtheit in die Mutter und Eifersucht gegen den Vater" ist ein Teil des Wissens. Hinzu kommen noch das Wissen von der Besonderheit der Beziehung zur eigenen Mutter und zum eigenen Vater ebenso wie das Wissen von der durch den Ödipus-Mythos veranschaulichten Allgemeinheit des Verhältnisses. Die auftauchenden Affekte zeigen die Verknüpfung dieser Inhalte mit dem Unbewußten an und verweisen auf ihren Stellenwert im Verhältnis zwischen Ich, Überich und Es. Auch das Wissen von dieser Dynamik gehört zur Kenntnis des Ödipuskomplexes. Eißler faßt alle diese Bedingungen folgendermaßen zusammen:

1. Darf der einzelne Inhalt nicht isoliert werden von den übrigen Inhalten, sondern muß in seiner assoziativen Verknüpfung mit allen Systemen der Persönlichkeit, mit eingeschlossen das Unbewußte und Vorbewußte, betrachtet werden. Um psychoanalytisch brauchbar zu sein, muß also ein bestimmter Inhalt zu den drei "Provinzen" Es, Ich und Überich in Bezug gebracht werden.

2. Muß auch der emotionale Widerhall Berücksichtigung finden, d.h. die Verknüpfung des Inhalts mit den Affekten Haß, Bewunderung, Gleichgültigkeit etc. (Eißler 1965: 67)

Charakteristisch für das psychoanalytische Wissen ist das, was Morgenthaler die "negative Präsenz des Unbewußten" genannt hat, und was die Psychoanalyse in die Nähe der Literatur rückt. Freud schreibt in den Studien über Hysterie:

Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe. (1895: 227)

Wie das griechische Drama seine Kraft vom Bezug zum Unbewußten zieht, dieses also negativ präsent hält, da es als solches nicht bewußt wird, ebenso muß das psychoanalytische Wissen die Nähe zum Unbewußten wahren. Der Novellen-Charakter der Krankengeschichten rührt daher, daß sie ein kunstvolles Produkt sind, das beim Leser eine Unzahl von Assoziationen weckt und ihn damit in Bezug zu seinem eigenen Unbewußten bringt. In dem Maße als diese Assoziationen abgewehrt und nicht in das vorhandene psychoanalytische Wissen integriert werden, in dem Maße erstarren auch die entsprechenden Begriffe.

Die Schwierigkeiten der Psychoanalyse in der Ethnologie stammen nicht so sehr – wie Kohut meint – aus der Abwehr der Empathie, auf die die Ethnologen während der Feldforschung durchaus angewiesen sind, sondern aus den Schwierigkeiten, die Empathie adäquat zu Wissen zu verarbeiten. Auf diese Problematik des Wissens war Freud gestoßen, als er merken mußte, daß die bloße Mitteilung eines dem Patienten unbewußten Sachverhaltes noch keine Einsicht produziere. Er schrieb:

In den frühesten Zeiten der analytischen Technik haben wir allerdings in intellektualistischer Denkeinstellung das Wissen des Kranken um das von ihm Vergessene hoch eingeschätzt und dabei kaum zwischen unserem Wissen und dem seinigen unterschieden. Wir hielten es für einen besonderen Glücksfall, wenn es gelang, Kunde vom vergessenen Kindheitstrauma von anderer Seite her zu bekommen, zum Beispiel von Eltern, Pflegepersonen oder dem Verführer selbst ..., und beeilten uns, dem Kranken die Nachricht und die Beweise für ihre Richtigkeit zur Kenntnis zu bringen in der sicheren Erwartung, so Neurose und Behandlung zu einem schnellen Ende zu führen. Es war eine schwere Enttäuschung, als der erwartete Erfolg ausblieb. Wie konnte es nur zugehen, daß der Kranke, der jetzt von seinem traumatischen Erlebnis wußte, sich doch benahm, als wisse er nicht mehr als früher? (1913: 475)

Freuds Beobachtungen waren nicht nur für therapeutische Probleme gültig, sie betrafen auch die Grenzen, auf welche die Aufklärer gestoßen waren: Die Beherrschung von Theorie muß sich noch keineswegs auf die Praxis auswirken; "Wissen" und "Leben" klaffen auseinander. Diesen Widerspruch nicht akzeptierend und seine Enttäuschung überwindend deckte Freud die Hindernisse auf, die sich der Wirkung des Wissens entgegenstellten. Das Instrument dazu war die psychoanalytische Situation.

Sie ist in mehrerer Hinsicht einmalig: Sie ist eine duale Beziehung, "verträgt keinen Dritten", wie Freud sagt (1926b: 211). Das Subjekt soll so die Möglichkeit haben, mit möglichster Freiheit, seine Gedanken, Gefühle, Eindrücke, Antriebe etc. – kurz alles, was ihm zu Bewußtsein kommt – zu verbalisieren. Die einzige Einschränkung besteht in der relativen Unbeweglichkeit, zu der ihn das Liegen auf der Couch zwingt.

Die psychoanalytische Situation ist auf ein Maximum an Verbalisierung und einem Minimum an Aktion hin entworfen. (Eißler 1965: 58-59)

Daher lautet ja auch die bekannte Grundregel, daß

er ... uns nicht nur mitteilen (soll), was er absichtlich und gern sagt, was ihm wie in einer Beichte Erleichterung bringt, sondern auch alles andere, was ihm seine Selbstbeobachtung liefert, alles, was ihm in den Sinn kommt, auch wenn es ihm unangenehm zu sagen ist, auch wenn es ihm unwichtig oder sogar unsinnig erscheint. Gelingt es ihm, nach dieser Anweisung seine Selbstkritik auszuschalten, so liefert er uns eine Fülle von Material, Gedanken, Einfällen, Erinnerungen, die bereits unter dem Einfluß des Unbewußten stehen, oft direkte Abkömmlinge desselben sind und die uns also in den Stand setzen, das bei ihm verdrängte Unbewußte zu erraten und durch unsere Mitteilung die Kenntnis seines Ichs von seinem Unbewußten zu erweitern. (Freud 1938: 99)

Damit der Analytiker den Assoziationsfluß nicht störe, sitzt er hinter dem Analysanden. Das ganze Arrangement zielt darauf, äußere Einflüsse, Stimuli, möglichst gering zu halten, um innere Antriebe desto deutlicher zur Geltung kommen zu lassen. Die äußere Umgebung des Zimmers verblaßt allmählich, gesellschaftliche Zwänge fallen weg, und die Vertrauenswürdigkeit und Diskretion des Analytikers sollen die Freiheit des Ausdrucks gewährleisten. Auch erwartet der Analytiker von Anfang an keine bestimmten Informationen. Was der Analysand zur Sprache bringt, kann unter zwei Kategorien geordnet werden:

1.       Informationen über die Realität, in der er lebt, über seine Vergangenheit, seine Gefühle und Wünsche etc.

2.       Mitteilungen, die dem Analytiker einen Einblick vermitteln in jene Kräfte, welche mögliche Aussagen sperren, hinhalten oder verfälschen. Hier handelt es sich um eine Auswirkung der Abwehrmechanismen, die aber von ebenso großer Wichtigkeit für das Verständnis der Persönlichkeit sind, wie die erste Gruppe von Informationen über die erfahrene Realität des Analysanden. Aufgabe der Analyse ist es nun, die pathologischen Wirkungen dieser Abwehrmechanismen außer Kraft zu setzen, damit das Ich über diese Mechanismen verfüge, statt umgekehrt.

Freuds Leistung war es zu erkennen, daß die Rekonstruktion der Vergangenheit und das Wissen darüber (im vorhin erwähnten psychoanalytischen Sinn) diese Freiheit des Individuums wiederherstellen werden. Ein weiteres spezifisches Merkmal des psychoanalytischen Forschungsprozesses betrifft das Verhältnis zwischen dem Wissen des Analytikers und dem des Analysanden:

Der Beobachter erlangt Wissen nur insoweit als das Subjekt durch den gleichen Prozeß hindurchgeht. Klinisch gesehen bedeutet dies, daß wenn der Beobachter ein beträchtliches Wissen über dieses Subjekt sammelt, aber ohne es ihm zu vermitteln; oder wenn das Subjekt, trotz der Mitteilungen, dieses Wissen nicht integriert, der ganze (psychoanalytische, M.E.) Prozeß zum Stillstand kommt. (Eißler 1965: 66)

Ein Ungleichgewicht zwischen dem Wissen des Beobachters und des Beobachteten wird so geradezu zum schlechten Vorzeichen, das ein unbefriedigendes Ende des ganzen Unternehmens ankündigt. Die ideale Abfolge stellt Eißler folgendermaßen dar:

1. Ein Schritt vorwärts im Erwerb von Wissen durch den Beobachter, dem

2. die Vermittlung an das Subjekt folgt, was dann wieder

3. zur Entdeckung und Aufhebung der Hindernisse führt, die der Integration des vermittelten Wissens im Wege stehen, was gleichzeitig den Weg ebnet zu

4. dem weiteren Erwerb von Kenntnissen über die Persönlichkeit des Subjekts. Nach dem Abschluß dieses Integrationsprozesses, würde sich die gleiche Sequenz mit einer neuen Beobachtung wiederholen. (a.a.O.: 66)

Freud entwickelte seine Technik im Rahmen der Medizin, die bereits am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem "Aufstand des Subjekts" konfrontiert war (Lain Entralgo 1969: 125). Der Kranke forderte mehr oder weniger bewußt,

klinisch als "Subjekt" betrachtet zu werden, d.h. als "Person", nicht nur als wertvolles oder wertloses "Objekt". (...) Der Patient protestiert ... gegen die Tatsache, daß er, obgleich er eine Person, ein mit Vernunft, Gefühlsleben und Freiheit begabtes Subjekt ist, im Krankenhaus als Objekt behandelt wird. (a.a.O.: 133-134)

Aber die Mediziner konnten auf diese Forderungen gar nicht eingehen. Besonders bei den Psychiatern wirkte sich ihr naturwissenschaftliches Selbstverständnis verhängnisvoll aus, denn es ließ sie nur die objektive Seite der Geisteskrankheit erkennen. Die Hysterie zum Beispiel galt als

eine objektive und typische Störung der psychosomatischen Realität des Kranken. Freud dagegen will weniger der Hysterie als objektiver und typischer Krankheit die Stirn bieten als dem, was für den Patienten seine Hysterie ist, wenn dieser sich dessen auch vielleicht nicht deutlich bewußt ist. (a.a.O.: 138)

Während sich die naturwissenschaftliche Psychiatrie bei der Lokalisierung der hysterischen Paralysen nach der wissenschaftlichen Anatomie des menschlichen Körpers richtete, orientierte sich Freud an den Vorstellungen, die sich der Hysteriker von seinem eigenen Körper machte:

Das klinische Bild des Hysterikers wäre demnach nicht von der objektiven Anatomie nach dem Lehrbuch bestimmt, sondern von der ... subjektiven Anatomie, die als schillernde und vielleicht recht eigenwillige Volksweisheit stillschweigend immer in der Vorstellung des Kranken existiert. (ebenda)

Psychiatrie und Ethnologie sind als Zwillingswissenschaften bezeichnet worden (Dubreuil and Wittkower 1976: 131), deren Geschichte viele Parallelen aufweist (Parin 1976a: 93). Eine davon ergibt sich aus dem "Aufstand des Subjekts", der heute die Ethnologie und die übrigen Sozialwissenschaften herausfordert und z.B. zur politischen Infragestellung der Feldforschung führte. 1968 fragte Kathleen Gough, was einem von einer konterrevolutionären Regierung abhängigen Ethnologen in einer mehr und mehr revolutionär werdenden Welt zu tun übrig bleibt. Er sei drei Instanzen gegenüber verantwortlich:

1.       den Leuten, die er untersuche,

2.       seinen Kollegen sowie der Wissenschaft und schließlich

3.       den Mächten, die ihn an der Universität angestellt oder die Forschung bezahlt haben (1968: 25).

An der Widersprüchlichkeit der Interessen reibt sich der Ethnologe auf, dem nur drei Möglichkeiten – die alle zur Auflösung der Ethnologie führen müßten – zu bleiben scheinen: Entweder er schließt sich dem Aufstand der Subjekte an und wird zum Revolutionär, der sich in den Dienst des Volkes stellt; oder er zieht sich auf die Universität zurück, um dort Probleme zu behandeln, die niemandes Interessen berühren; oder er arbeitet für die Regierung und sucht nach den effizientesten Methoden der Unterdrückung. Diese politische Selbstkritik der Ethnologen wurde von den bisherigen "Objekten" der Ethnologie aufgenommen und weitergeführt. Der Sioux Vine Deloria klagte sarkastisch an:

Jedermann muß sein Kreuz tragen. (...) Aber die Indianer sind von all den Völkern in der Geschichte am schlimmsten verflucht worden. Indianer haben Ethnologen. (...) Ein in der Schlacht getöteter Indianer kam in die himmlischen Jagdgründe. Aber wohin geht ein von den Ethnologen fertiggemachter Indianer? In die Bibliothek? (...) Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine Frau und hinter der Politik und den Programmen, mit welchen die Indianer gequält wurden, steht – geht man nur weit genug zurück – ein Ethnologe. (1969: 83-85)

Die Sozialwissenschaftler versuchten neue Forschungsstrategien zu entwickeln, die die Subjektivität der untersuchten Personen und deren Interessen sowie Sehweise erfassen und den Abstand zwischen den Forschern und deren Informanten verringern könnten. Am Beispiel der Ethnomethodologie und Aktionsforschung möchte ich zeigen, welche Probleme dabei auftauchen und welchen Beitrag die Psychoanalyse zu deren Lösung leistet.

Kennzeichnend für Ethnomethodologie und Aktionsforschung sind die Betonung der Aktivität der zu untersuchenden Subjekte und ihre Gleichsetzung mit dem Forscher:
Handlungsforschung hebt in irgendeinem Grade bewußt und gezielt die Scheidung zwischen Forschern auf der einen und Praktikern in dem betreffenden Aktionsfeld (...) auf der anderen Seite auf zugunsten eines möglichst direkten Zusammenwirkens von Forschern und Praktikern im Handlungs- und Forschungsprozeß. (Klafki, zit. n. Moser 1975: 137)

Und:

Für den Ethnomethodologen ist das Individuum ein kompetent Handelnder, dem es möglich ist, in all den alltäglichen Handlungssituationen seine Wissenssysteme reflexiv, methodisch und situationsbezogen zu gebrauchen. (Weingarten, Sack, Schenkein 1976: 20)

D.h. jeder ist eigentlich Sozialwissenschaftler. Diese Neusetzung des Erkenntnisgegenstandes impliziert eine Neuformulierung der Position des Erkennenden. Die Ethnomethodologie arbeitet vor allem mit dem Kunstgriff der Verfremdung; ihren Standpunkt veranschaulicht sie, indem sie zum Beispiel des Marsmenschen greift,
um das Alltägliche zu verfremden und somit das "Selbstverständliche" in einem neuen Licht sehen zu können. (Wieder u. Zimmermann 1976: 125)

Das Bild des Marsmenschen vermittelt eine ungefähre Vorstellung der Distanz, die der Ethnomethodologe annehmen muß, um die Welt des Menschen zu beschreiben. Alle Menschen sind Wissenschaftler, aber die Ethnomethodologen sind Marsianer, könnte man polemisch sagen, um auf die Gefahr hinzuweisen, daß die verfremdete Haltung in eine objektivistische Distanzierung umschlagen könnte (Devereux 1967: 179). Bei der Aktionsforschung scheint diese Gefahr gebannt:

Die praktischen und theoretischen Ansprüche des action research verlangen vom Forscher eine zumindest vorübergehende Aufgabe der grundsätzlichen Distanz zum Forschungsobjekt zugunsten einer bewußt einflußnehmenden Haltung, die von teilnehmender Beobachtung bis zur aktiven Interaktion mit den Beteiligten reicht. (Klüwer u. Krieger, zit. n. Moser 1975: 58)

Dieser Ansatz versetzt den Forscher in eine neue Position mit neuen Aufgaben; das Problem der Subjektivität des Wissenschaftlers und deren Relevanz für den Forschungsprozeß kommen in den Vordergrund. Überraschenderweise aber erscheint gerade dieses Problem nur am Rande der Theorie der Aktionsforschung, und zwar reduziert auf psychische Mechanismen. Moser spricht vom "hautnahen Verhältnis der Kooperation" (a.a.O.: 149), von den Konflikten, die dabei auftauchen, und verweist auf Devereux, der in seinem Buch Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften die Rolle der "Angst bei der Aufnahme von Beziehungen zwischen Feldsubjekten und Wissenschaftlern" (ebenda) beschrieben habe. Aber es geht – auch bei Devereux – mehr als nur um die Angst, es geht vor allem darum, was mit dem Forscher geschieht. Die Vernachlässigung der Subjektivität des Forschers läßt die Aktionsforschung leicht in ein rein manipulatives Geschehen umschlagen, in welchem die Bedürfnisse und Sehweisen der Betroffenen wieder zum Verschwinden gebracht werden.

Das Problem der Subjektivität im Forschungsprozeß ist ein zweiseitiges; es betrifft sowohl den Informanten als auch den Forscher selbst (Devereux 1967). Insofern kann man sagen, der "Aufstand des Subjektes" findet auf beiden Seiten des Forschungsverhältnisses statt, und ich vermute, daß die sich ausbreitende Wissenschaftsfeindlichkeit ebenfalls als Ausdruck dieses Aufstandes betrachtet werden kann (Erdheim u. Nadig 1979). In der Ethnologie spielte das subjektive Moment schon immer eine bedeutsame Rolle. Dadurch, daß der Ethnologe für längere Zeit in einer fremden Kultur lebte, war er eher auf sich selbst zurückgeworfen als ein anderer Sozialwissenschaftler und entwickelte eine größere Sensibilität für das Subjektive. Ein Zeugnis davon geben die vielen Autobiographien, in welchen Ethnologen von sich und ihrer Arbeit berichten. In Afrique ambigue schrieb Georges Balandier:

Fremde Völker zu erklären, unter denen man gelebt hat und die man liebt, heißt sich selber deuten. In die Analyse solcher Bindungen fließt stets, auch bei Wahrung strengster wissenschaftlicher Methodik, die Erhellung eines persönlichen Erlebnisses ein. Ich halte es für möglich, in der Untersuchung des Werkes der Ethnologen die wesentlichen Stadien ihres eigenen Werdeganges aufzudecken. Mit der Ausdehnung ihrer Untersuchungen bereichern sie gleichzeitig ihre Autobiographie, die sich kontrapunktisch zu ihren Arbeiten entfaltet. (1957: 7-8)

In diesem Zusammenhang liegt die Chance sowohl für die Erhellung als auch für die Verfälschung des ethnologischen Gegenstandes. Die Erfahrung zeigt, daß jedes Individuum Erfahrungen gemacht und Charakterzüge entwickelt hat, die es nicht akzeptieren kann.

Jede Kultur behandelt das gleiche psychische Material auf verschiedene Weise. Die eine unterdrückt es, eine andere begünstigt seine offene, manchmal sogar übermäßige Ausprägung, wieder eine andere duldet es als zulässige Alternative, sei es für alle, sei es nur für bestimmte über- und unterprivilegierte Gruppen, usw. Die Untersuchung fremder Kulturen zwingt deshalb den Anthropologen oft, bei der Feldforschung Material zu beobachten, das er selbst verdrängt. Diese Erfahrung löst nicht nur Angst aus, sondern wird zugleich als "Verführung" erlebt. (Devereux 1967: 67)

Tauchen nun während der Feldforschung Situationen auf, die gerade diese Anteile der Persönlichkeit des Forschers ansprechen, dann wird er unbewußt versuchen, solche Erfahrungen zu verleugnen (er nimmt sie dann einfach nicht wahr), ins Gegenteil umzukehren (etwa als Ausdruck exotischer Freiheit) oder als barbarisch oder unzivilisiert zu entwerten. Andererseits wird der Ethnologe auch dazu neigen, das, was er nicht ist, aber gerne sein möchte, auf die fremde Kultur zu projizieren (a.a.O.: 236).

Was dem Feldforscher Schwierigkeiten bereitet, sind somit die aus seiner eigenen Lebensgeschichte verdrängten Anteile. Die unbewußt gewordenen Wunden, die ihm seine eigene Enkulturation und Sozialisation zugefügt haben und die in der Auseinandersetzung mit der fremden Kultur wieder aufbrechen, erschweren ihm den Zugang zu deren Alltag. Florence Weiß, die bei den Iatmul in Neuguinea eineinhalb Jahre verbrachte, verdanke ich die Auskunft, in welchem Maße ihre Beschäftigung mit der Kultur der Iatmulkinder sie zwang, sich mit ihrer eigenen Kindheitsgeschichte auseinanderzusetzen. Die Hypothese drängt sich hier auf, daß in der Ethnologie das intensive Studium der Kindheit, so wie sie im Alltag von den Kindern selbst erlebt wird, vernachlässigt wurde, weil die Ethnologen die Wiederbegegnung mit der eigenen Kindheit, die in den meisten Fällen schmerzhaft verlief, vermieden. Die Verdrängung wird durch die Identifikation mit den Eltern aufrechterhalten, und diese wirkt sich auch in der wissenschaftlichen Arbeit aus (Miller 1980). Die "Culture-and-Personality"-Schule, die sich – in der Hoffnung, damit den Aufbau einer Kultur verstehen zu können – am meisten für die Kindheit interessierte, begnügte sich in der Regel mit Beobachtungen von "außen", aus der Sicht der Erwachsenen, eben der Eltern (Goodman 1973: a). Die Identifikation mit ihnen muß bewußt werden, um die Erfahrung der eigenen Kindheit aufkommen zu lassen – dann wird man auch bereit sein, sich mit der Kindheit der anderen zu beschäftigen (Weiß 1981).

Die Autobiographie von Juan Rojas, welche von June Nash aufgenommen wurde (Rojas y Nash 1976), birgt interessante Hinweise (welche in den Arbeiten von O. Lewis z.B. fehlen) für den Prozeß der wechselseitigen Erhellung der Lebensgeschichten des Informanten und seines Ethnologen. Eine bezeichnende Szene ist die, wo die Ethnologin sich mit Filomeno, dem Sohn von Juan Rojas, unterhält. Dieser reagiert immer nur auf Fragen und antwortet dann sehr knapp. June Nash schreibt:

Nur einmal vermittelte er mir eine persönliche Erfahrung, als ich ihn nämlich fragte, ob er je gesehen habe, wie sein Vater aus der Mine komme. Ich fragte ihn das, an meine eigenen Reflexionen denkend, wie ich, noch ein kleines Mädchen, auf meinen Vater wartete und ihn, gebückt und müde von den Opfern, die er leisten mußte, um den täglichen Unterhalt zu verdienen, (aus der Fabrik, M.E.) herauskommen sah. (Filomeno) erzählte mir darauf, daß ihn einmal die Mutter bestraft habe, und er schutzbedürftig zum Mineneingang gegangen sei, um (...) auf den Vater zu warten. Als er ihn müde und gebückt herauskommen sah, dachte er sich. "Ich werde auch Minenarbeiter werden, aber nie werde ich mich bücken." (Rojas y Nash 1976: 15)

Die Konfrontation mit der Kultur der Minenarbeiter wirft June Nash auf ihre eigene Geschichte zurück, und indem sie diese akzeptiert, ohne sie abzuspalten, wird ihre eigene Erfahrung der Schlüssel zum Labyrinth des fremden Lebens. In dem Artikel "Ethics and Politics in Social Science" (1974) stellt sie ihre Feldforschung bei den Maya-Indianern von Chiapas, Mexiko, derjenigen bei den bolivianischen Minenarbeitern gegenüber. Während sie sich in dem Bauerndorf, wo sie den sozialen Wandel untersuchte, mit dem ideologischen Instrumentarium des Kulturrelativismus die Distanz schuf, um als neutrale Beobachterin ihrer Arbeit nachzugehen, mußte sie in Bolivien Stellung beziehen:

Die Minenarbeiter, die Quechua und/oder Aymará sprachen, waren in die moderne industrielle Epoche eingetreten und forderten Macht. Die Polarisierung des Klassenkampfes machte es notwendig, Partei zu ergreifen, oder aber man wurde von ihnen selber der einen oder anderen Seite zugeordnet. In einer revolutionären Situation (wie sie damals, 1967, in Bolivien herrschte, M.E.) sind keine neutralen Beobachter zugelassen. (a.a.O.: 498)

Bei den Maya kreisten die sozialen Konflikte um die Hexerei, und in diese wurde June Nash als amerikanische Ethnologin nicht einbezogen; die Minenarbeiter dagegen kämpften auch gegen die ökonomische Abhängigkeit, die der amerikanische Imperialismus aufrechtzuerhalten versuchte. Als man die Ethnologin als CIA-Agentin verdächtigte, war sie gleichsam von der Geschichte ihres Landes eingeholt worden und mußte dafür oder dagegen Stellung nehmen. Sich auf ihre eigene Geschichte als Oppositionelle in den USA beziehend, konnte sie die Entscheidungen treffen, die sie auf die Seite der Minenarbeiter brachten. Von dieser Position aus war es ihr nun möglich, die Gespräche aufzunehmen, die ihr Einblick verschafften in die den Fremden bisher verborgene Kultur – nicht der Armut, sondern des permanenten Widerstandes der bolivianischen Arbeiter (Nash 1977).

Die aufständischen Subjekte reaktivieren die Subjektivität des Forschers. Sein Verständnis für sie wird davon abhängig sein, wie er mit seiner eigenen Subjektivität umgehen kann. Diese Situation weist eine Reihe von Parallelen mit derjenigen auf, die Freud bewältigen mußte, als er sich auf die unbewußten Strukturen seiner Patienten einließ. Gegen diesen Vergleich mögen sich Einwände regen: die Informanten seien ja keine Neurotiker; nicht sie, sondern die Ethnologen wollen etwas von ihnen haben. Darauf läßt sich mit Morgenthaler entgegnen, daß der Analytiker

jedem Analysanden – und möge er noch so krank erscheinen – als einem Partner (begegnen soll), der zwar in Konflikten steht, Symptome zeigt und was auch immer für Begleiterscheinungen mitbringt, der aber unter dem Gesichtspunkt seiner Ichfunktionen und seiner Libidoschicksale so gesund wie möglich und nicht so krank wie möglich ist. (1978: 22)

Das heißt, daß der psychoanalytische Prozeß nur in Gang kommt, wenn man sich auf die gesunden Anteile der Persönlichkeit bezieht (Devereux 1956: 28). In dieser Hinsicht hat der Ethnologe also sogar eine günstigere Ausgangsposition als der Psychoanalytiker in unserer Gesellschaft. Der zweite Einwand, der das Argument des Leidensdruckes aufgreift, übersieht, daß auch dort, wo die Psychoanalyse als Therapie eingesetzt wird, nicht der Leidensdruck der treibende Motor ist, sondern ein Wechselspiel zwischen Verführung seitens des Analytikers ebenso wie des Analysanden und theoretischer Neugierde die psychoanalytische Dynamik vorantreibt:

Die allmähliche Vertiefung der analytischen Beziehung kann so beschrieben werden: Die Beziehung beginnt zunächst damit, daß der Analysand bei mir (dem Analytiker, M.E.) Eigenschaften entdeckt, die er bei sich selbst kennt; später entwickelt sich die Beziehung dann so, daß er bei mir Eigenschaften erkennt, die er bei sich selber vermißt, aber gerne haben möchte. Das ist das Resultat der Verführung, die in jedem analytischen Prozeß eine so große Rolle spielt. (...) Es gibt keinen analytischen Prozeß, in welchem der Analysand nicht versucht, den Analytiker zu verführen, sich von ihm, dem Analysanden, eingenommen zu fühlen und ihn als einen besonders liebenswerten Partner zu erkennen. Und es gibt auch keinen analytischen Prozeß, in welchem der Analytiker seinen Analysanden nicht verführt, sich in eine vertiefende Beziehung zu ihm einzulassen, also eine emotionale Bewegung in Gang zu bringen und auch in Gang zu halten. Eine richtig verstandene analytische Auswertung der Verführungsthematik ergibt, daß sich progressiv wirksame Identifikationen einstellen, die einerseits die Einsicht im Deutungsprozeß begleiten und andererseits dazu beitragen, daß die Besetzungen in der Beziehung zwischen Analysand und Analytiker im gleichen Sinne und nicht polar entgegengesetzt vorgenommen werden. (Morgenthaler 1978: 78)

Diese Dynamik spielt in der Feldforschung eine ebenso große Rolle wie in der Psychoanalyse. Daß sie bisher weitgehend übersehen wurde und statt dessen der Leidensdruck der Krankheit bzw. der wissenschaftliche Impetus des Forschers als die treibenden Motivationen hervorgehoben wurden, hängt wohl mit dem Legitimationsdruck zusammen, worunter jeder gerät, der sich mit dem Unbewußten beschäftigt. Die sich dahinter verbergende Tradition hat Nietzsche in der Morgenröte beschrieben:

Gehen wir noch einen Schritt weiter: allen jenen überlegenen Menschen, welche es unwiderstehlich dahin zog, das Joch irgend einer Sittlichkeit zu brechen und neue Gesetze zu geben, blieb, wenn sie nicht wirklich wahnsinnig waren, nichts übrig, als sich wahnsinnig zu machen oder zu stellen – und zwar gilt das für die Neuerer auf allen Gebieten, nicht nur auf dem der priesterlichen und politischen Satzung ... (1881: 19)

Auch heute scheint es, als ob die Auseinandersetzung mit dem Unbewußten nur in Zusammenhang mit der Krankheit erlaubt sei. Freuds Warnung vor der Psychiatrisierung der Psychoanalyse wurde nicht ernstgenommen:

Wir halten es gar nicht für wünschenswert, daß die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt werde und dann ihre endgültige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde, im Kapitel Therapie ... Als "Tiefenpsychologie", Lehre vom seelisch Unbewußten, kann sie all den Wissenschaftlern unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer großen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen. (1926b: 283)

Um sich heute die Psychoanalyse anzueignen, muß man in der Regel entweder selbst psychisch krank sein oder vorhaben, sich als Therapeut zu betätigen. Diese gesellschaftlich akzeptierten Rollenfixierungen sind aber ein wesentliches Hindernis, um sich der sozialen Dimension des Unbewußten zuzuwenden; die in diesen Rollen eingefrorene Unbewußtheit wirkt dabei wie ein Störfaktor. Die Auflösung solcher Rollen war deshalb eine notwendige Bedingung, damit Freud einen Zugang zum Unbewußten finden konnte. Dieser Prozeß, den Maya Nadig und ich als "soziales Sterben" bezeichnet haben, spielt bei der Loslösung der Psychoanalyse von ihrer therapeutischen Fixierung eine wichtige Rolle.

Man kann die 1899 erschienene Traumdeutung als Chronik eines "sozialen Sterbens" lesen. Durch äußere Umstände und einen inneren Drang gezwungen, mußte Freud eine soziale Rolle nach der anderen, auf die er stolz war und die er für erstrebenswert hielt, aufgeben und allmählich zur "Unperson" werden. Was sich da abspielte, können wir durch P. und G. Parin’s Theorie der Anpassungsmechanismen und Rollenidentifikationen (1978) rekonstruieren.

Wenn ein Individuum sich nicht nur rollengemäß verhält, sondern die emotional bedeutsamen Wertvorstellungen, positive und negative Sanktionen, also die Rollenideologie, durch den Mechanismus der Identifikation verinnerlicht hat, wird diese Rolle entscheidend für das Funktionieren seines Ichs:

Man hat sich die Rolle nicht gewählt, sie ist aufgezwungen worden. Um den Zwang nicht zu spüren, nimmt man ihn ins Ich hinein; das falsche Ideal folgt nach, ergänzt das falsche Bewußtsein. Das Ich ist entlastet. Man ist nicht mehr allein, Ängsten ausgesetzt, und die Abwehr gegen frühkindliche Wünsche nach Geborgenheit und Zugehörigkeit ist entspannt. Man ist Rollenträger, nimmt teil an einer Institution, einer Gruppe. Was an Autonomie verloren ging, wird wettgemacht durch neue Arten der Befriedigung. Bevor das Ich sich auf seine ursprünglichen Bedürfnisse besinnen kann, muß es seine Angleichung erst rückgängig machen, die Autonomie zurückgewinnen, mehr Angst aushalten, den Aufwand, den jede Autonomie erfordert, verstärken. (a.a.O.: 118)

Auch Freud mußte seine Angleichung rückgängig machen, die Zugehörigkeit zu Gruppen und Institutionen und die von ihnen gestützten Ideale aufgeben. Die Orientierungslosigkeit und Unsicherheit, die sich daraufhin einstellten, erfuhr Freud als einen Prozeß, den wir als "sozialen Tod" bezeichneten:

Der soziale Tod ist jener Prozeß, in welchem die sozialen und kulturspezifischen Rollen zerfallen, die unbewußten Werte und Identitätsstützen ins Wanken kommen und damit auch die diesen Verhältnissen angepaßten Wahrnehmungen. (Erdheim u. Nadig 1979: 125)

Der Ethnologe sieht sich in der fremden Kultur einer Situation ausgesetzt, in der ihm seine in der eigenen Kultur gut eingebetteten Identifikationen fragwürdig werden können. Diese Identitätserschütterung erfolgt nicht so sehr über mystisch-exotische Erlebnisse, sondern in der Erfahrung des Banal-Alltäglichen. Bereits die Veränderung der Eßsitten vermag ihm aufzuzeigen, daß ganze Anteile seiner Identität als "Bürger" an bestimmte Eßgewohnheiten geknüpft sind. Ebenso wird die Umstellung in den Sauberkeitsvorstellungen an seinen analen Persönlichkeitsstrukturen rütteln.

Wenn der Ethnologe seine Notdurft auf den Feldern hinter den Büschen verrichten muß, wo immer jemand vorbeikommt oder er andere bei der gleichen Betätigung findet, so wird er sich ärgern und in seiner ganzen Analität in Frage gestellt fühlen. Vielleicht hilft es ihm dann, an den "zivilisatorischen Prozeß" zu denken, um seinen Ärger relativieren zu können, oder er wird mit der Zeit einfach über sich lachen können, weil ihm klar wird, wieviel Energie und Zeitverschwendung ihn seine Schamschranken kosten und wie fremd und merkwürdig er in der fremden Gesellschaft damit erscheint. (a.a.O.: 124)

Bereits Lévi-Strauss verglich die Feldforschung mit einer Lehranalyse (1967: 400). Ebensowenig wie die Kenntnis der psychoanalytischen Literatur dazu ausreiche, um die Tätigkeit des Analytikers auszuüben, ebensowenig mache das Lesen ethnologischer Werke jemanden zum Ethnologen. Wie die Lehranalyse würde auch die Feldforschung die Kenntnisse neu organisieren und ihnen einen Sinn vermitteln, der ihnen vorher fehlte. Man kann es auch so sagen: die Feldforschung ist eine existentielle Erfahrung der fremden Kultur, in welche alle Bereiche der Persönlichkeit des Forschers, sein Es, Ich und Überich, hineingezogen werden und die die Grundlage für das ethnologische Erkennen bildet.

Das "Wissen" des Ethnologen kann daher eine ähnliche Struktur wie dasjenige des Psychoanalytikers haben. Schon Max Weber hatte die Kultur definiert als einen "vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachte(n) endliche(n) Ausschnitt aus der Sinnlosigkeit des Weltgeschehens" (1904: 180), und die ethnologische Erfahrung wäre der geeignete Zugang, um die bewußten und unbewußten Sinngebungen, die die Kultur ausmachen, zu rekonstruieren. Voraussetzung dafür wäre allerdings, daß der Ethnologe am Leitfaden der Verknüpfung dessen, was er erkennt, mit den Instanzen seiner Persönlichkeit, den Verbindungen nachgehen kann, die für seine Informanten Gültigkeit haben.

Max Webers allgemeiner Kulturbegriff kann vorerst einmal nur die Richtung der Fragestellung angeben. In seiner "Einleitung in das Werk von Marcel Mauss" skizzierte Lévi-Strauss 1950 die Grundzüge einer für die Ethnologie spezifischeren Form der Theoriebildung. Ihre Aufgabe sei es, die kulturelle Dimension der Objekte sichtbar zu machen, und Mauss habe mit seinem Konzept des "fait social total" die Grundlage dazu geschaffen. Als Mauss 1925 das Phänomen der Gabe untersuchte, zeigte er auf, daß der Akt des Tauschens nicht nur ein der Ökonomie zuzuordnendes Verhalten war, sondern daß er auch an den Bereichen der Gesellschaft, des Rechts, der Religion, Ästhetik etc. Anteil hat. Kultur ist das, was aus der Integration all dieser Gebiete resultiere, und der "fait social total" der Begriff, um diese Integration untersuchen zu können. Lévi-Strauss geht einen Schritt weiter als Mauss, wenn er bemerkt, es genüge nicht, diese Integration lediglich am Objekt zu untersuchen. Der "fait social total" müsse auch in individuellen Erfahrungen sichtbar sein,

denn die einzige Garantie dafür, daß eine totale Tatsache der Realität entspricht und nicht eine willkürliche Anhäufung mehr oder weniger der Wahrheit gemäßer Einzelheiten ist, besteht für uns darin, daß sie in eine konkrete Erfahrung aufgenommen werden kann, zunächst die einer Gesellschaft in Raum und Zeit, "Rom", "Athen", aber auch die irgend eines Individuums aus einer dieser Gesellschaften, eines "Melanesiers dieser oder jener Insel". (...) Wir können niemals sicher sein, ob wir den Sinn und die Funktion einer Institution getroffen haben, wenn wir nicht imstande sind, ihre Einwirkung auf ein individuelles Bewußtsein wieder zu beleben. (...) Daß die soziale Tatsache total zu sein hat, bedeutet nicht nur, daß alles, was beobachtet wird, Teil der Beobachtung ist, sondern auch und vor allem, daß in einer Wissenschaft, in welcher der Beobachter von gleicher Natur wie sein Gegenstand ist, der Beobachter selbst ein Teil seiner Beobachtung ist. (1950: 21)

Die Analyse der fremden Erfahrung muß immer mit der Analyse der eigenen Erfahrung verknüpft sein. Dieser alte Grundsatz der Hermeneutik ist von der Psychoanalyse mit einem neuen Inhalt gefüllt worden (Habermas 1968). Das Begriffspaar "Übertragung" ↔"Gegenübertragung" erlaubte es, die Rolle von Es, Ich und Überich sowohl des Analytikers wie des Analysanden im psychoanalytischen Prozeß genauer zu bestimmen (Racker 1959; Neyraut 1974). G. Devereux löste dieses Begriffspaar aus dem therapeutischen Kontext heraus und wies in seinem Buch From Anxiety to Method in the Behavioral Sciences (1967) nach, daß diese Mechanismen auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung wirksam sind. Als Ausgangspunkt wählte er "die persönliche Verstrickung des Verhaltenswissenschaftlers mit seinem Material und die Realitätsverzerrungen, die diese ›Gegenübertragungs‹-Reaktionen nach sich ziehen" (a.a.O.: 28). An unzähligen Beispielen illustriert Devereux die Verzerrungen der Wahrnehmung, die dadurch zustande kommen, daß der Ethnologe unbewußt seine eigene (Alters-, Klassen, Persönlichkeits-)Problematik auf die von ihm untersuchte Kultur überträgt. Als auslösendes Moment für diese "Gegenübertragung" wirkt die Angst, die die fremde Kultur in ihrem Beobachter hervorruft. "Angst" bedeutet hier kein metaphysisches Phänomen, das aus der "conditio humana" resultiert, sondern im Freudschen Sinn die Reaktion auf eine – von inneren und äußeren Faktoren bedingte – Situation, die das Individuum nicht bewältigen kann (Freud 1926). In der Feldforschung ist schwer zu bewältigen, was die Informanten dem Ethnologen über ihre Kultur sagen. Deshalb fordert Devereux, daß der Wissenschaftler dazu kommen muß, "sich die Einsicht zu eigen zu machen, daß seine Daten genauso viel Angst erregen wie klinische Fakten und daß er seiner Angst ins Gesicht sehen muß, um der Versuchung zu widerstehen, Teile seines Materials zu verdunkeln" (1967: 126). Die Emotionsgeladenheit einer jeden Feldforschung macht den Einbezug des Unbewußten in den Erkenntnisprozeß zu einem zentralen Postulat für die Ausbildung der Ethnologen. Der Versuch, das Unbewußte auszuklammern, führt zu einer Verfälschung des Materials (a.a.O.: 239). Devereux veranschaulicht diese Tendenz an der Art und Weise, wie Ethnologen mit den Ambiguitäten und Ambivalenzen der Kultur umgehen:

Jede Kultur enthält auch die Negation ihres manifesten Musters und ihrer Kernwerte, die sich durch eine stillschweigende Bestätigung der konträren latenten Muster und marginalen Werte hindurch vollzieht. Das vollständige reale Muster einer Kultur ist das Produkt des funktionalen Zusammenspiels offiziell bestätigter und offiziell negierter Muster. (a.a.O.: 245)

Das Bestreben eines Ethnologen, die Widersprüchlichkeit eines kulturellen Musters zugunsten einer einseitigen "stimmigen" Darstellung zu übersehen, führt Devereux darauf zurück, daß die andere, vernachlässigte Seite der Kultur – sei es die latente oder manifeste – angsterregend ist (a.a.O.: 247 f).

Das Verhältnis von "Übertragung" und "Gegenübertragung" erfährt gleichsam eine "Materialisierung" dadurch, daß sich zwischen dem Ethnologen und der Gruppe, die er untersucht, soziale Beziehungen einspielen, welche sich zu einem bestimmten Rollenverhalten verfestigen können.

Die Tatsache, daß der Stamm dem Anthropologen, dem er einen bestimmten Status zugeschrieben hat, unweigerlich die Seite zukehrt, die er dem Inhaber eines solchen Status normalerweise zukehrt, kann zu schwerwiegenden Verzerrungen der vielfältigen Komplexität der betreffenden Kultur führen. (a.a.O.: 281)

Die Rolle, die dem Ethnologen zugeschrieben wird, kann oft einer Abwehrstrategie der untersuchten Gruppe zugehören. Jeder Fremde ist ja ein Störfaktor, der das soziale Gleichgewicht durcheinander zu bringen droht und folglich neutralisiert werden muß (Erdheim 1980: 50). Maya Nadig schreibt über ihre Arbeit in einem Otomi-Dorf in Mexiko:

Am Anfang erschien ich den Leuten als die reiche, machtvolle und ambivalent beneidete und gehaßte Amerikanerin, "gringa". Die anfänglichen Kontakte waren hauptsächlich durch dieses Bild des Weißen geprägt, es wurden an mich vor allem Beweise des Elends und der Not herangetragen, verbunden mit Klagen und Bitten um Hilfe. Mein anfängliches Bild der Dorfkultur war das einer völlig pauperisierten und zerstörten Gemeinde, in der sich die Leute gegenseitig bekämpfen und elend dahinsterben. Täglich besuchten mich Frauen und Kinder, die um Geld, Nahrungsmittel, Kranken- und Rechtshilfe vor den staatlichen Institutionen baten. Die Verführung, diesen Bitten nachzukommen, war groß, denn so hätte ich mich legitimieren und mein schlechtes Gewissen als Angehörige eines imperialistischen Landes beruhigen können. (1980: 55)

Die Abwehr des schlechten Gewissens hätte leicht zu einer Verfestigung der Rolle als "gringa" führen können, die von der Ethnologin durchaus als psychisch entlastend erfahren hätte werden können. Statt dessen aber konfrontierte sie ihre Gesprächspartner.

Ich sprach auch ihr Bild vom Weißen an, vor dem sie sich hilflos und entwertet darstellen, und daß ich nach einigen Monaten wieder gehen werde, so daß sie wieder allein wären. Die Auswirkungen dieser Konfrontation waren frappant: die einen begannen mich, die Regierung und die Herrschenden zu beschimpfen; andere begannen jetzt ihre weiteren Phantasien über mich zu erzählen. Spionin von der Regierung, Entwicklungshelferin, Kontrolleurin ihrer Sauberkeit, Lehrerin, Evangelistin, (...). Diese Phantasien kamen nach und nach zum Vorschein, jedesmal, wenn ich sie wieder mit einem bestimmten Verhalten mir gegenüber konfrontierte, bei dem ich spürte, daß man in mir ein Bild anspricht und nicht mich. (...) Der Prozeß der Konfrontation hört im Feld nie auf, immer neue Bilder und Übertragungen entstehen, und wenn sie aufgelöst werden können, ermöglichen sie fast jedesmal den Zugang zu einem neuen Aspekt der Kultur, eben zu einem, der bisher aufgrund der Übertragungsbilder verschwiegen oder verheimlicht wurde. (a.a.O.: 56)

Maya Nadigs Vorgehen folgte der psychoanalytischen Regel "Widerstandsdeutung geht vor Sinndeutung" (Fenichel 1935:328). Die auf die Ethnologin projizierten Bilder hatten den Charakter von Widerständen, die ihr Eindringen in die Kultur abwehren sollten. Es handelte sich teils um Verdrängungswiderstände, die sich gegen das Wiederauftauchen von erfahrenen Enttäuschungen und Kränkungen richteten, die, einst verdrängt, durch die Ankunft der Ethnologin wiedergeweckt worden waren. Maya Nadig schrieb:

Alle die mir zugeschobenen Rollen entsprechen einer realen Erfahrung. Es hatte im Dorf evangelistische Missionare vom Summer Institute of Linguistics, die den beitretenden Leuten den Himmel auf Erden versprachen, die Heilung des epileptischen Kindes, Reichtum und Ansehen. Es kamen immer wieder Regierungsbeamte mit hoffnungsvollen Hilfsprojekten, die sich alle wieder zerschlugen und das Dorf mit Schulden und Problemen belasteten. Es gab eine Reihe von Betrügern, die mit faulen Tricks das Land abkauften für nichts oder die Ernte kauften und nicht bezahlten etc. Was verdrängt werden mußte, war vor allem die Kränkung, daß man so blöd war und auf die Fremden einging. (1980: 57)

Andererseits erinnert die paternalistische Unterwerfungshaltung mancher Dorfbewohner gegenüber der Ethnologin an den "Widerstand aus dem sekundären Krankheitsgewinn" (Sandler et al. 1973: 69), also an die Weigerung des Patienten, Vorteile, die ihm das Kranksein einbringen, aufzugeben (Freud 1926: 126 ff). Der Gewinn aus der Unterwerfung in einer ausweglos erlebten Situation ist groß genug, um daran festhalten zu wollen. Geht der Ethnologe darauf ein, bekommt er nur die paternalistische Seite der Kultur zu sehen (weitere Beispiele gibt Devereux 1967: 278 f). Und schließlich lassen sich auch Überich-Widerstände erkennen. Das von der herrschenden Kultur erzwungene Hineinnehmen des weißen Aggressors in ihr Überich führt dazu, daß die Indianer sich selbst entwerten; es erscheint ihnen völlig unverständlich, daß ein Weißer in ihr Dorf wohnen kommt und sich für sie interessiert. Entwickelt sich dann doch ein Gespräch, so bemühen sie sich, nur jene Aspekte zur Sprache zu bringen, die das "Weiße", das Angepaßt-Sein an die Nationalkultur, belegen sollen. Das Eigene hingegen gilt als rückständig und muß verdeckt werden. Solche Überich-Widerstände können sich auch so äußern, daß dort, wo sich im Überich weitgehende Identifikation mit den Werten der eigenen Kultur etabliert hat, fremde Einflüsse und kultureller Wandel verleugnet werden.

Wie in der Psychoanalyse die Analyse der Widerstände einen Einblick in das psychische Geschehen des Individuums gestatten kann (A. Freud 1936), so können auch die sozialen Widerstände, die sich dem Ethnologen entgegenstellen, ihm Erkenntnisse über die untersuchte Kultur und ihre Individuen vermitteln (Devereux 1967: 300 f). Sichtbar wird z.B., wie die Individuen kulturelle Materialien (Traditionen, Institutionen, vorgeprägte Verhaltensweisen etc.) benützen, um eine unliebsame Situation zu bewältigen; in Erscheinung treten auch ihr affektives Engagement und die psychische Dynamik, die durch das Ereignis ausgelöst werden. Parin, Parin-Matthèy u. Morgenthaler benützen diese Dynamik, um das Verhältnis des Individuums zu seiner Kultur zu bestimmen, und entwickelten als erste ein Konzept, um das "Mikroskop der vergleichenden Psychoanalyse auf die Makrosozietät" (Parin 1976) auszurichten.

Zuerst kommt es auf die Korrelation an, die zwischen besonderen frühkindlichen Erlebnisformen, unter dem Einfluß eines besonderen individuellen oder kulturspezifischen Erziehungsvorganges und dauerhaft erworbenen Funktionsweisen des Ich und des Überich besteht. Mit der Etablierung spezifischer dynamischer psychologischer Muster (sei es im Es, Ich, Überich, oder zwischen den Instanzen) ist ein Modell gegeben, welches erlaubt, den Einflüssen der psychischen Entwicklung in der Kindheit und Adoleszenz ebenso Rechnung zu tragen wie der frühen vermittelten und den späteren direkten Auseinandersetzungen mit der Sozialsphäre. (Parin 1980: 17)

Die Ausgestaltung der oralen Phase bei den Dogon z.B. läßt eine Ich-Struktur entstehen, die ihre Autonomie nur in einem ständigen, aufgrund oraler Modalitäten geregelten Wechselspiel von Identifikationen mit der verschiedenen altersspezifischen Bezugsgruppe aufrechterhalten kann (Parin et al. 1963: 415 f).

Bei den Dogon bleibt das Gefühl des Einsseins mit der Mutter durch ihre lange fortgesetzte und gewährende Zuwendung viel länger erhalten als bei uns. Die kindliche Allmacht wird nie ganz an die Erziehungspersonen abgegeben, sondern mit ihnen geteilt. Die Erziehung geschieht auch nicht durch Zuwendung oder Rückzug von Liebe, sondern sie beginnt sozusagen erst im Verlauf des dritten Lebensjahres, wenn die Mutter sich plötzlich physisch ganz vom Kind trennt, es auch nicht mehr stillt, sondern es der Fürsorge der aufsteigenden Reihe von Geschwistern und Verwandten (einschließlich der eigenen Eltern) überlaßt. Das hat zur Folge, daß das Kind sein Allmachtsgefühl nie ganz aufgibt, sondern es auf die Gruppe verteilt. Das Gefühl, geliebt zu werden und mit der Welt fertig zu werden, hängt von der Zugehörigkeit zur Gruppe ab, die sich während der Kindheit und Adoleszenz zu verschiedenen Gruppen ausdifferenziert. Die Erziehung bleibt dem Vorbild der Gruppe überlassen. (Parin 1963: 144)

Die Ethnopsychoanalyse untersucht das Verhältnis des Individuums zu seiner Kultur; sie gewinnt ihre Daten durch soziale Beziehungen, die sich aufgrund psychoanalytischer Gespräche ergeben. Die Dynamik dieser Gespräche wird vor allem durch die kulturelle Unterschiedlichkeit der Partner vorangetrieben (vgl. dazu das Beispiel von F. Morgenthaler in Parin et al. 1971: 126 f). Sich in diesen Prozeß einzulassen bedeutet, daß man sich ebenso über die eigene kulturelle Geprägtheit wie über diejenige des Partners bewußt werden muß. Die Spezifität z.B. der Oralität der Dogon verweist den Forscher auf die Schicksale der Oralität in seiner eigenen Kultur – und das Bewußtsein darüber ermöglicht es, die Verflechtung dieser Phase mit anderen Ausformungen der fremden Kultur zu untersuchen, was wiederum zu neuen Einblicken in die eigene führen sollte. Wie in der Psychoanalyse entsteht auch hier Erkenntnis nur in der Form einer Zusammenarbeit, deren Grenzen durch die Widerstände des Forschers und/oder seines Informanten gezogen werden. Was sie voneinander unterscheidet, ist, daß es in der Regel nur der Wissenschaftler ist, der sein Arbeitsziel darin sieht, seine Aussagen theoretisch in Zusammenhang mit seinem Fach und anderen Wissenschaften auszuformulieren.

Der ethnopsychoanalytische Prozeß verläuft als Pendelbewegung zwischen der Analyse der eigenen und derjenigen der fremden Kultur. Aber schon die Probleme des zurückkehrenden Ethnologen zeigen, daß diese Pendelbewegung nicht leicht einzuhalten ist. "Dort" Dinge zu sehen, zu erfahren und sie "hier" zur Wissenschaft zu verarbeiten produziert eine Spannung, die sich nur selten als produktiv für die Arbeit erweist (Nadig u. Erdheim 1980: 50 f). Der soziale Tod, die Erfahrung einer fremden Lebensweise können im Ethnologen Wünsche wecken und Prozesse auslösen, die bei der Rückkehr in die eigene Gesellschaft nicht erfüllt und weitergeführt, sondern abgeblockt werden müssen. Sowohl persönliche Beziehungen als auch solche im akademischen Betrieb werden als Hindernisse erfahren, die Anpassung fordern. Es kann in einer solchen Situation beobachtet werden, wie der Ethnologe dem auf ihn ausgeübten Druck dadurch begegnet, daß er die zum persönlichen Wandel antreibenden Erfahrungen verdrängt und sich einordnet. Solange sich ein Wissenschaftler nicht mit dem Bereich der Subjektivität beschäftigt, ist es ohne weiteres möglich, daß seine Verdrängungen den Wahrheitsgehalt seiner Arbeit gar nicht tangieren. Dabei wird er unterstützt durch die in solchen Fällen gültige Rollentrennung zwischen Wissenschaftler und Privatperson. Die ethnopsychoanalytische Erfahrung dagegen ist eine integrale Erfahrung; ist man gezwungen, gewisse Anteile zu verdrängen, so verändert sich das Ganze, und dieses muß nun dazu beitragen, die Verdrängungen aufrechtzuerhalten. Das läßt sich nur dann verhindern, wenn die Verhältnisse, unter denen ethnopsychoanalytisch gearbeitet wird, mit in die Analyse einbezogen werden. Der konkrete Ort, von dem aus die Untersuchung der eigenen Verhältnisse ausgehen kann, ist das wissenschaftliche Selbstverständnis:

Einen genaueren Einblick in den Ablauf dieser Prozesse bekamen wir vor vier Jahren im Zusammenhang mit einer Gruppe von Studenten, die sich mit uns auf ein Feldforschungspraktikum in Mexiko vorbereitete. Unser Ziel war es, den Alltag von mexikanischen Arbeitern und Bauern zu studieren. Es interessierte uns, wie sie die Faktoren, die ihren Alltag bestimmen, erleben, handhaben und beschreiben. Das heißt, wir mußten sowohl ihre objektive soziale und ökonomische Situation als auch ihre subjektive Wahrnehmung, Interpretation und Verarbeitung ihrer Realität untersuchen. Wir nahmen aber an, daß wir dieses Ziel nur erreichen konnten, wenn wir dieselben Fragestellungen auf uns selbst richteten; wir wollten also gleichsam am eigenen Leib erfahren, was wir den anderen zumuteten. Wir wollten Licht in unsere akademische Black Box bringen, indem wir das Seminar als Simulation der Feldforschung betrachteten. (Nadig u. Erdheim 1980: 40)

Aus den Materialien dieser Analyse wird ersichtlich, daß der Erwerb von Wissen unter der Anleitung des Überichs vor sich geht. Das Betreiben von Wissenschaft geht von einem Ich aus, das sich mit dem Überich identifiziert hat.

1. Die Verbindung mit dem Überich verleiht dem Ich eine Stärke und Härte, die es im Kampf mit den Trieben unnachgiebig, unangreifbar und für künftige Revisionen und Anpassungsleistungen unzugänglich macht.

2. Das mit dem Überich identifizierte Ich verhält sich der Umwelt gegenüber genau so grausam und selbstherrlich wie das Überich ursprünglich gegenüber dem Ich. (Lincke 1970: 383)

Diese Grausamkeit kehrt auch im wissenschaftlichen Prozeß wieder und verkleidet sich unzulänglich als Intellektualisierung, die als Gegenposition zur Empathie erscheint (a.a.O.: 390).

Das Verlangen, mit dem Objekt vertraut zu werden, es einfühlend zu verstehen, weicht dem Drang, es unter verstandesmäßige Kontrolle zu bringen und zu beherrschen. Präformierte und gefühlsbetonte Erwartungsvorstellungen stören und gefährden die wissenschaftliche Erkenntnis. Allmählich entwickelt die Wissenschaft ihre eigenen Idealforderungen: strenge Selbstkontrolle gegenüber emotionellen, die Untersuchungsergebnisse verfälschenden Einflüssen; Beschränkung auf das eigene Fachgebiet; Vermeidung von Spekulationen über mögliche Konsequenzen und Nebenwirkungen der Forschung. Diese der Realität ungenügend angepaßten Idealforderungen nach Reinheit, Affektfreiheit und sorgfältiger Isolierung wie auch die häufig durch Bescheidenheit abgewehrten Machtansprüche des Wissenschaftlers verraten den Ursprung des wissenschaftlichen Interesses in der analen Phase. (a.a.O.: 39 5-396)

Gerade dieses, dem klassischen Wissenschaftsbetrieb adäquate Überich-Ich-Verhältnis erweist sich als ein entscheidendes Hindernis, um von der Universität aus ethnopsychoanalytisch zu arbeiten. Die Struktur des Wissens und die darin implizierte Beziehung zwischen den bewußten und unbewußten Anteilen der Persönlichkeit, von denen anfangs dieses Kapitels die Rede war, kommen nur zur Entfaltung durch eine Umstrukturierung der Institution. Sie muß eine Struktur aufweisen, die die Identifikation des Ichs mit seinem Überich nicht stützt; in der Gruppe muß die Autorität aufgedeckt werden, damit die einzelnen die Forderungen ihres Überichs nicht auf sie projizieren können. Das ist nur möglich, wenn es die einzelnen Angehörigen der Gruppe sind, die bestimmen, was ihre Arbeit sein soll. Die Arbeit, als Ich-Funktion betrachtet, ermöglicht allmählich die Abschwächung der Identifikation des Ichs mit seinem Überich. Der entscheidende Schritt kann dann in der Praxis der Feldforschung vollzogen werden.

Eine Reihe von Prozessen, denen der Ethnologe sowohl beim Studium der fremden Kulturen wie auch bei der Ausarbeitung seiner Ergebnisse in der eigenen Kultur ausgesetzt ist, lassen sich als Prozesse der Unbewußtmachung beschreiben. Verdrängung, Verleugnung, Reaktionsbildungen, Isolieren und Ungeschehenmachen etc., also die bekannten Abwehrmachanismen, können dazu benützt werden, um die im Rahmen der wissenschaftlichen Tätigkeit erworbenen Erfahrungen unbewußt zu machen. Werden diese Abwehrmechanismen institutionell abgestützt, so läßt sich von einer gesellschaftlichen Produktion von Unbewußtheit sprechen. Sie ist das zentrale Thema der Ethnopsychoanalyse, die – im Sinne einer Selbstanalyse – diese Mechanismen bei sich selbst studiert und sie gleichzeitig im Rahmen der Kultur untersucht. Dabei nehme ich die von Kohut (1973a) und Nader (1974) aufgestellte Forderung auf, es sollen Institutionen unserer eigenen Kultur "ethnologisch" erfaßt werden. Nader sagt zu Recht, daß man es sich bei uns insofern leicht gemacht habe, als man immer wieder die unteren sozialen Klassen in unserer Gesellschaft auf ihre Kultur hin untersucht habe (O. Lewis’ Kultur der Armut). Die Mittelklasse und die Oberklasse seien aber bisher verschont geblieben. Sehr treffend bemerkten sie, man zerbreche sich immer nur den Kopf, weshalb die Bauern so konservativ seien, doch der Konservativismus bürokratischer Institutionen sei nicht geringer und habe außerdem mehr gesellschaftliche Implikationen als die Einstellung der Bauern. Für die Studenten der Ethnologie werde es eine viel merkwürdigere ("bizarre") Erfahrung sein, Bürokratie und Industrie zu studieren, als ein mexikanisches Dorf oder einen Stamm in Neu-Guinea. Kracauer hatte schon 1930 in seiner Studie über die Angestellten von der "Exotik des Alltags" gesprochen, die deren "Leben unbekannter mache als das der primitiven Stämme, deren Sitten die Angestellten in den Filmen bewundern" (a.a.O.: 212). Es ist ein wesentliches Charakteristikum der Psychoanalyse, daß sie in einem viel höherem Grad als andere Wissenschaften an die Person ihres Schöpfers gebunden ist. Wer sie sich aneignet, wird immer wieder von neuem die Schriften Freuds lesen, und das Studium der Traumdeutung (1900) ist, wie Kohut hervorgehoben hat, für den angehenden Psychoanalytiker ein "erstes grundlegendes Identifizierungserlebnis mit dem Unbewußten eines anderen Menschen" (1974: 95). Die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse impliziert immer auch die Auseinandersetzung mit Freud – man versteht sie nur in dem Maße, wie man Freud versteht. Aber dieses Verständnis ist für jeden, der als Psychoanalytiker tätig ist, durch das Phänomen der Gegenübertragung beeinflußt. Nicht nur, daß man Freud seinen Beruf verdankt, sondern auch die Art der Einsichten und das Konzept seelischer Gesundheit (Eißler 1979: 13). In einer Zeit, da der Beruf des Psychoanalytikers gesellschaftlich so gut integriert worden ist, kann es sich leicht ergeben, daß man Freud nur noch in einer sozial konformen Perspektive sehen kann, aus der all das herausgeschnitten ist, was nicht zur beruflichen Ausübung paßt. Fragt man jedoch nach den kulturellen Voraussetzungen, unter welchen er seine Entdeckung machte, geht man also ethnologisch vor, so kommt man zu einer Art Verfremdung, die es erlaubt, diese Art der Gegenübertragung unter Kontrolle zu halten. Eine wesentliche Hilfe dabei war meine Liebe zu Wien. Jahrelang fuhr ich immer in diese Stadt in Ferien, und als ich schließlich dort ein Jahr Philosophie und Geschichte studierte, vermittelte mir die Freundschaft mit Ruth Pappenheim ein Verhältnis zum Wien der Vorkriegszeit, das mir die Gestalten, von denen ich im folgenden Kapitel schreibe, nahe und lebendig, fast zu Zeitgenossen machte. Auch die Gespräche mit Ruth S. und K. R. Eißler und ihre Gastfreundschaft in New York ließen die Atmosphäre von Freuds Wien wieder entstehen und gaben mir das Gefühl, etwas schon immer Bekanntes wiedergefunden zu haben.

Einen Gedanken A. Muschgs über Gottfried Keller variierend, ließe sich sagen, daß Freuds wahre Bedeutung im Widerstand liegt, den er seiner eigenen Epoche entgegenstellte, und daß seine Wahrhaftigkeit durch den Abstand möglich wurde, den er zu allen Sprachen der Herrschaft und Verfügbarkeit bewahrte. Dieser Abstand unterscheidet die Freudschen Theorien von denjenigen seiner Zeitgenossen und befähigt sie, das Verhältnis Individuum↔Herrschaft neu zu fassen. Wer sich mit Freud beschäftigt, kommt nicht umhin, sich mit den Phänomenen der Macht und der Herrschaft auseinanderzusetzen. Die Psychoanalyse vermittelt das Instrumentarium, um den Niederschlag der Herrschaft im Individuum zu untersuchen, die Ethnologie hingegen den äußeren Standpunkt, von dem aus das Problem der Macht in der europäischen Kultur untersucht werden kann. Diese Probleme tauchten in den Diskussionen mit Antal Borbely immer wieder auf; unsere Freundschaft war wie ein Leitfaden durch die vielen Standpunkte, die wir – oft kontrovers – im Laufe der Jahre eingenommen haben und die auch den Hintergrund dieser Arbeit bilden. In seinem Vorwort zu Fanon’s Die Verdammten dieser Erde (1961) schrieb Sartre über den europäischen Imperialismus:

Unsere Opfer kennen sich durch ihre Wunden und ihre Ketten: das macht ihr Zeugnis unwiderlegbar. Es genügt, daß sie uns zeigen, was wir aus ihnen gemacht haben, um zu erkennen, was wir aus uns gemacht haben. (a.a.O.: 12)

Die Arbeit in Mexiko, die Diskussionen mit den dort tätigen Züricher Studenten, die mir großzügigen Einblick in ihre Feldforschungen gestatteten, ebenso wie die Gespräche mit June Nash, Luisa Paré, Margarita Dalton, Johanna Broda, Eckhard Boege und Armando Suarez waren mir eine wesentliche Hilfe, um Abstand zur europäischen Kultur zu gewinnen und den Zusammenhang zwischen Herrschaft und Unbewußtheit zu untersuchen.

Was man in einer Gesellschaft nicht wissen darf, weil es die Ausübung von Herrschaft stört, muß unbewußt gemacht werden. Das Wissen von Realitäten, das unbewußt geworden ist, ist darum aber nicht unwirksam – es entwickelt sich zur Ideologie, die, im Subjekt verankert, als falsches Bewußtsein wieder herrschaftsstabilisierend wirkt. Diese Produktion von Unbewußtheit muß gesellschaftlich organisiert werden, und der Ort, wo sie stattfindet, ist nicht so sehr die Familie als jene Institutionen, die das öffentliche Leben regulieren. Die Theorien des "autoritären" (Adorno) oder des "narzißtischen Charakters" (Ziehe), die in der Familie den Hauptagenten der Repression sahen, schränkten ihr Interesse allzusehr auf die frühe Kindheit und die Familie ein. Mein Interesse wurde jedoch, aufgrund meiner Erfahrungen in Natividad, einem Minendorf in Mexiko, und als Lehrer in Zürich, zunehmend auf die Adoleszenz in ihrem Verhältnis zur frühen Kindheit gelenkt. Immer deutlicher stellte sich die These heraus, daß die Adoleszenz die entscheidende Lebensphase ist, die die Strukturen der Unbewußtheit festlegt.

Von 1974 an begann ich mich, beeindruckt von der Begegnung mit Minenarbeitern in der Toskana, für deren Kultur zu interessieren. 1977 verbrachte ich vier Monate in einem Dorf von Minenarbeitern in Oaxaca. An ihren Lebensgeschichten fiel mir ein merkwürdiges Phänomen auf: Betrachtete man ihre frühe Kindheit, so wies sie derartig traumatisierende Erlebnisse von Verlassenheit, Tod, Unfällen auf, daß man hätte annehmen müssen, daß sie als Erwachsene psychisch stark in Mitleidenschaft gezogen worden wären. Das war aber nicht der Fall: Die Minenarbeiter sind eine der kämpferischsten Gruppen, voller Bewußtsein und Leben. Diese Erfahrung brachte mich dazu, die Bedeutung der frühen Kindheit für das spätere Leben aus einer anderen Sicht zu betrachten. Hinzu kam, daß ich selber als Psychoanalytiker tätig wurde und an einem Gymnasium, wo ich Geschichte unterrichtete, mit einer Untersuchung über die psychische und soziale Bedeutung der Schule für die Adoleszenten anfing.

Werner Güttinger, Peter Herzig, Heidi Wyss, Guido Frei, Alexander Grass, Hein Vogel, Toni Saller, Heinz Habegger, Edwin Blumer, Gaston Guex und Walter Müller lehrten mich, was es heißt, eine Institution aus der Sicht derjenigen wahrzunehmen, die darin die Rolle von Objekten spielen. Irene Brogle, Maya Nadig und Berthold Rothschild halfen mir, die Mechanismen zu durchschauen, denen man als Lehrer ausgesetzt ist und die den Blick auf die Person des Schülers verstellen. Auch hier tauchte das Problem der Macht auf, das ich sowohl als Wissenschaftler wie als Lehrer hatte, und die Untersuchung motivierte mich, den Äußerungsformen der Macht im Forschungsprozeß nachzugehen. Gleichzeitig hatte ich die Gelegenheit, mich mit der Adoleszenz auseinanderzusetzen und die Materialien zu gewinnen, um die These aufzustellen, daß es nicht die Schicksale der frühen Kindheit, sondern diejenigen der Adoleszenz sind, die die Einstellung des Individuums zur Kultur bestimmen.

Eine erste Fassung dieser Arbeit stellte ich 1977 fertig, bevor ich nach Mexiko fuhr. Die Kritik von L. G. Löffler, K. R. Eißler, Maya Nadig und Fedor Rothe bewog mich, als ich die schwere Kränkung überwunden hatte, mich nochmals hinter die Arbeit zu setzen. Fedor Rothe begleitete mich mit seiner freundschaftlichen Kritik, Guido Frei zeigte eine nie ermüdende Geduld für die immer neu auftauchenden Entwürfe. Hans Bosse verdanke ich die Einladung an die Frankfurter Universität und die Möglichkeit, mit ihm und den Studenten intensive Diskussionen zu führen, die mir neue Perspektiven eröffneten. Goldy und Paul Parin führten mich in die Psychoanalyse ein. Die Bücher, die sie zusammen mit Fritz Morgenthaler schrieben, waren der Anlaß, mich mit der Psychoanalyse zu beschäftigen. Aber darüber hinaus waren es ihre Persönlichkeit, ihre Großzügigkeit und ihr Lebensstil, welche mich in meiner Faszination von der Psychoanalyse bestärkten. Die "Kommission zur Förderung des akademischen Nachwuchses" der Universität Zürich verlieh mir ein großzügiges Stipendium, das mir während dieser Jahre ermöglichte, mich dieser Arbeit zu widmen. Es war eine sehr glückliche Zeit, und entsprechend groß ist mein Dank. Konrad Wittmer stellte die Abbildungen her.

Maya Nadig vermittelte mir durch ihre Arbeiten in Mexiko und Zürich eine neue Dimension des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Leben. Mit ihr zusammen habe ich all diese Arbeiten durchgeführt und besprochen; die Konfrontation unserer Erfahrungen hat die Gedankengänge dieses Buches stark beeinflußt. Georges Devereux, der mich durch seine Schriften die Fruchtbarkeit der Ethnopsychoanalyse lehrte, gab mir auch das freundschaftliche Echo, das man in der Unsicherheit eines jeden Anfangs so dringend benötigt. Ihm und Maya Nadig widme ich dieses Buch.

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