Auszüge aus Elias Canetti's
"Masse und Macht"

Wesentliche Zusammenhänge zum Verständnis unseres Zeitalters

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Vorwort

Masse und Macht sind Schlüsselbegriffe zum Verständnis unseres Zeitalters. Schon der junge Canetti war fasziniert und beunruhigt von den Phänomenen, die sich mit diesen Begriffen benennen lassen. Das Leben der Menschen folgt eigenartigen Gesetzen. Bereits als Kinder gehorchen wir den Befehlen unserer Erzieher. Früh sind wir angehalten, "freudig" unsere Pflicht zu tun. Aber auch die Gesellschaft im ganzen ist dem zwanghaften Mechanismus von Befehl und Gehorsam ausgesetzt. Um miteinander auszukommen, folgt die Masse bestehenden Gesetzen, doch kennt die Geschichte auch genügend Beispiele, wo die Massen blind dem Diktat eines Tyrannen oder einer Weltanschauung folgen. Aber Vorsicht! Massen entwickeln gelegentlich eine Eigendynamik – sie können aufhetzen und Minderheiten verfolgen, Könige oder Regierungen stürzen und selber die Macht für sich beanspruchen. Aus geknechteten Einzelnen bildet sich plötzlich eine revolutionäre Masse: Sklaven erheben sich gegen ihre Kolonialherren, Farbige gegen Weiße, Arbeiter gegen Unternehmer.

In seinem philosophischen Hauptwerk beschäftigt sich Canetti mit diesen Problemen. Kühn im Denken und von einer einzigartigen stilistischen Brillanz zieht der Autor uns von der ersten Seite an in seinen Bann. Anthropologische, soziologische und psychologische Aspekte durchdringen die essayistische Untersuchung gleichermaßen, und der Leser spürt, daß hier seine Sache verhandelt, über sein Schicksal nachgedacht wird.

Elias Canetti, ausgezeichnet 1972 mit dem Georg-Büchner-Preis, 1975 mit dem Nelly-Sachs-Preis, 1977 mit dem Gottfried-Keller-Preis und 1981 mit dem Nobelpreis für Literatur, wurde am 25. Juli 1905 in Rustschuk, einer kleinen Stadt am bulgarischen Unterlauf der Donau, geboren. 1911 zog er mit seinen Eltern nach England und übersiedelte 1913 nach dem Tode des Vaters mit der Mutter nach Wien. In den Jahren 1916-1924 besuchte er Schulen in Zürich und Frankfurt am Main. Danach studierte er in Wien Naturwissenschaften und promovierte zum Doktor der Philosophie. Seitdem arbeitete er als freier Schriftsteller. 1938 verließ er Österreich und kehrte über Paris nach London zurück. Er lebte in Zürich und London und starb am 14. August 1994 in Zürich.

Die Masse

Umschlagen der Berührungsfurcht

Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen oder zumindest einreihen können. Überall weicht der Mensch der Berührung durch Fremdes aus. Nachts oder im Dunkel überhaupt kann der Schrecken über eine unerwartete Berührung sich ins Panische steigern. Nicht einmal die Kleider gewähren einem Sicherheit genug; wie leicht sind sie zu zerreißen, wie leicht ist es, bis zum nackten, glatten, wehrlosen Fleisch des Angegriffenen durchzudringen.

Alle Abstände, die die Menschen um sich geschaffen haben, sind von dieser Berührungsfurcht diktiert. Man sperrt sich in Häuser ein, in die niemand eintreten darf, nur in ihnen fühlt man sich halbwegs sicher. Die Angst vor dem Einbrecher gilt nicht seinen räuberischen Absichten allein, sie ist auch eine Furcht vor seinem plötzlichen, unerwarteten Griff aus dem Dunkel. Die Hand, zur Kralle geformt, wird als Symbol für diese Angst immer wieder verwendet. Viel von diesem Sachverhalt ist in den Doppelsinn des Wortes 'angreifen' eingegangen. Die harmlose Berührung wie die gefährliche Attacke, beides ist zugleich in ihm enthalten, und etwas vom letzteren klingt im ersten immer mit. 'Angriff', das Hauptwort, aber hat sich auf den schlechten Sinn des Wortes ausschließlich beschränkt.

Diese Abneigung vor der Berührung verläßt uns auch nicht, wenn wir unter Leute gehen. Die Art, wie wir uns auf der Straße, unter vielen Menschen, in Restaurants, in Eisenbahnen und Autobussen bewegen, ist von dieser Furcht diktiert. Selbst dort, wo wir ganz nahe neben anderen stehen, sie genau betrachten und mustern können, vermeiden wir, wenn es irgend geht, eine Berührung mit ihnen. Wenn wir das Gegenteil tun, haben wir Gefallen an jemandem gefunden, und die Annäherung geht dann von uns selber aus.

Die Promptheit der Entschuldigung, die man für eine unbeabsichtigte Berührung hat, die Spannung, in der sie erwartet wird, die heftige und manchmal tätliche Reaktion, wenn sie nicht erfolgt, der Widerwille und Haß, den man für den 'Übeltäter' empfindet, auch wenn man gar nicht sicher sein kann, daß er es ist – dieser ganze Knoten seelischer Reaktionen um die Berührung durch Fremdes, in ihrer extremen Labilität und Reizbarkeit, beweist, daß es hier um etwas sehr Tiefes, immer Waches und immer Verfängliches geht, etwas, das den Menschen nie mehr verläßt, sobald er die Grenzen seiner Person einmal festgestellt hat. Selbst der Schlaf, in dem man viel wehrloser ist, ist durch diese Art von Furcht nur zu leicht zu stören.

Es ist die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann. Sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht in ihr Gegenteil umschlägt. Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, nämlich so, daß man nicht darauf achtet, wer es ist, der einen 'bedrängt'. Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht. In ihrem idealen Falle sind sich alle gleich. Keine Verschiedenheit zählt, nicht einmal die der Geschlechter. Wer immer einen bedrängt, ist das gleiche wie man selbst. Man spürt ihn, wie man sich selber spürt. Es geht dann alles plötzlich wie innerhalb eines Körpers vor sich. Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum die Masse sich so dicht zusammenzuziehen sucht: sie will die Berührungsfurcht der einzelnen so vollkommen wie nur möglich loswerden. Je heftiger die Menschen sich aneinanderpressen, um so sicherer fühlen sie, daß sie keine Angst voreinander haben. Dieses Umschlagen der Berührungsfurcht gehört zur Masse. Die Erleichterung, die sich in ihr verbreitet und von der noch in anderem Zusammenhang die Rede ist, erreicht ein auffallend hohes Maß in ihrer größten Dichte.

Offene und geschlossene Masse

Eine ebenso rätselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, die plötzlich da ist, wo vorher nichts war. Einige wenige Leute mögen beisammen gestanden haben, fünf oder zehn oder zwölf, nicht mehr. Nichts ist angekündigt, nichts erwartet worden. Plötzlich ist alles schwarz von Menschen. Von allen Seiten strömen andere zu, es ist, als hätten Straßen nur eine Richtung. Viele wissen nicht, was geschehen ist, sie haben auf Fragen nichts zu sagen; doch haben sie es eilig, dort zu sein, wo die meisten sind. Es ist eine Entschlossenheit in ihrer Bewegung, die sich vom Ausdruck gewöhnlicher Neugier sehr wohl unterscheidet. Die Bewegung der einen, meint man, teilt sich den anderen mit, aber das allein ist es nicht: sie haben ein Ziel. Es ist da, bevor sie Worte dafür gefunden haben: das Ziel ist das schwärzeste – der Ort, wo die meisten Menschen beisammen sind.

Es wird manches über diese extreme Form der spontanen Masse zu sagen sein. Sie ist dort, wo sie entsteht, in ihrem eigentlichen Kern, nicht ganz so spontan, wie es den Anschein hat. Aber überall sonst, wenn man von den fünf oder zehn oder zwölf Leuten absieht, von denen sie ihren Ausgang nahm, ist sie es wirklich. Sobald sie besteht, will sie aus mehr bestehen. Der Drang zu wachsen ist die erste und oberste Eigenschaft der Masse. Sie will jeden erfassen, der ihr erreichbar ist. Wer immer wie ein Mensch gestaltet ist, kann zu ihr stoßen. Die natürliche Masse ist die offene Masse: ihrem Wachstum ist überhaupt keine Grenze gesetzt. Häuser, Türen und Schlösser erkennt sie nicht an; die sich vor ihr versperren, sind ihr verdächtig. 'Offen' ist hier in jedem Sinn zu verstehen, sie ist es überall und in jeder Richtung. Die offene Masse besteht, solange sie wächst. Ihr Zerfall setzt ein, sobald sie zu wachsen aufhört.

Denn so plötzlich, wie sie entstanden ist, zerfällt die Masse. In dieser spontanen Form ist sie ein empfindliches Gebilde. Ihre Offenheit, die ihr das Wachstum ermöglicht, ist zugleich ihre Gefahr. Eine Ahnung vom Zerfall, der ihr droht, ist immer in ihr lebendig. Durch rapide Zunahme sucht sie ihm zu entgehen. Solange sie kann, nimmt sie alles auf; aber da sie alles aufnimmt, muß sie zerfallen.

Im Gegensatz zur offenen Masse, die ins Unendliche wachsen kann, die überall ist und eben darum ein universelles Interesse beansprucht, steht die geschlossene Masse.
Diese verzichtet auf Wachstum und legt ihr Hauptaugenmerk auf Bestand. Was an ihr zuerst auffällt, ist die Grenze. Die geschlossene Masse setzt sich fest. Sie schafft sich ihren Ort, indem sie sich begrenzt; der Raum, den sie erfüllen wird, ist ihr zugewiesen. Er ist einem Gefäß vergleichbar, in das man Flüssigkeit gießt, es ist bekannt, wieviel Flüssigkeit hineingeht. Die Zugänge zum Raum sind gezählt, man kann nicht auf jede Weise hineingelangen. Die Grenze wird respektiert. Sie mag aus Stein, aus festem Mauerwerk bestehen. Vielleicht bedarf es eines besonderen Aufnahmeaktes; vielleicht hat man eine bestimmte Gebühr für den Eintritt zu entrichten. Wenn der Raum einmal dicht genug gefüllt ist, wird niemand mehr eingelassen. Selbst wenn er überfließt, bleibt immer noch als Hauptsache die dichte Masse im geschlossenen Raum, zu der die Außenstehenden nicht ernsthaft gehören.

Die Grenze verhindert eine regellose Zunahme, aber sie erschwert und verzögert auch das Auseinanderlaufen. Was an Wachstumsmöglichkeit so geopfert wird, das gewinnt die Masse an Beständigkeit. Sie ist vor äußeren Einwirkungen geschützt, die ihr feindlich und gefährlich sein könnten. Ganz besonders aber rechnet sie mit Wiederholung. Durch die Aussicht auf Wiederversammeln täuscht sich die Masse über ihre Auflösung jedesmal hinweg. Das Gebäude wartet auf sie, um ihretwillen ist es da, und solange es da ist, werden sie sich auf dieselbe Weise zusammenfinden. Der Raum gehört ihnen, auch wenn er Ebbe hat, und in seiner Leere gemahnt er an die Zeit der Flut.

Die Entladung

Der wichtigste Vorgang, der sich innerhalb der Masse abspielt, ist die Entladung. Vorher besteht die Masse eigentlich nicht, die Entladung macht sie erst wirklich aus. Sie ist der Augenblick, in dem alle, die zu ihr gehören, ihre Verschiedenheiten loswerden und sich als gleiche fühlen.

Unter diesen Verschiedenheiten sind besonders äußerlich auferlegte zu verstehen, Unterschiede des Ranges, Standes und Besitzes. Die Menschen als einzelne sind sich dieser Unterschiede immer bewußt. Sie lasten schwer auf ihnen, sie zwingen sie mit großem Nachdruck auseinander. Auf einem bestimmten, sicheren Platze steht der Mensch und hält sich alles, was ihm in die Nähe kommt, mit wirkungsvollen Rechtsgebärden vom Leibe. Wie eine Windmühle auf riesiger Ebene, so steht er da, ausdrucksvoll und bewegt, bis zur nächsten Mühle ist nichts. Alles Leben, wie er es kennt, ist auf Distanzen angelegt, das Haus, in dem er seinen Besitz und sich verschließt, die Stellung, die er bekleidet, der Rang, nach dem er strebt – alle dienen dazu, Abstände zu schaffen, zu festigen und zu vergrößern. Die Freiheit jeder tieferen Bewegung von einem zum anderen ist unterbunden. Regungen und Gegenregungen versickern wie in einer Wüste. Keiner kann in die Nähe, keiner in die Höhe des anderen. Fest etablierte Hierarchien auf jedem Gebiete des Lebens erlauben niemandem, an den Höheren zu rühren, sich zum Tieferen anders als scheinbar herabzulassen. In verschiedenen Gesellschaften sind diese Distanzen verschieden gegeneinander ausbalanciert. In manchen liegt der Nachdruck auf den Unterschieden der Herkunft, in anderen auf denen der Beschäftigung oder des Besitzes.

Es kommt hier nicht darauf an, diese Rangordnungen im einzelnen zu kennzeichnen. Wesentlich ist, daß sie überall da sind, daß sie sich überall im Bewußtsein der Menschen einnisten und ihr Verhalten zu den anderen entscheidend bestimmen. Die Genugtuung, in der Rangordnung höher als andere zu stehen, entschädigt nicht für den Verlust an Bewegungsfreiheit. In seinen Distanzen erstarrt und verdüstert der Mensch. Er schleppt an diesen Lasten und kommt nicht vom Fleck. Er vergißt, daß er sie sich selber auferlegt hat, und sehnt sich nach einer Befreiung von ihnen. Aber wie soll er sich allein befreien? Was immer er dazu täte, und wäre er noch so entschlossen, er fände sich unter anderen, die sein Bemühen vereiteln. Solange sie an ihren Distanzen festhalten, ist er ihnen um gar nichts näher.

Nur alle zusammen können sich von ihren Distanzlasten befreien. Genau das ist es, was in der Masse geschieht. In der Entladung werden die Trennungen abgeworfen und alle fühlen sich gleich. In dieser Dichte, da kaum Platz zwischen ihnen ist, da Körper sich an Körper preßt, ist einer dem anderen so nahe wie sich selbst. Ungeheuer ist die Erleichterung darüber. Um dieses glücklichen Augenblickes willen, da keiner mehr, keiner besser als der andere ist, werden die Menschen zur Masse.

Aber der Augenblick der Entladung, der so begehrt und so glücklich ist, hat seine eigene Gefahr in sich. Er krankt an einer Grundillusion: Die Menschen, die sich plötzlich gleich fühlen, sind nicht wirklich und für immer gleich geworden. Sie kehren in ihre separaten Häuser zurück, sie legen sich in ihre Betten schlafen. Sie behalten ihren Besitz, sie geben ihren Namen nicht auf. Sie verstoßen ihre Angehörigen nicht. Sie laufen ihrer Familie nicht davon. Nur bei Bekehrungen ernsthafter Art treten Menschen aus alten Verbindungen heraus und in neue ein. Solche Verbände, die ihrer Natur nach nur eine begrenzte Zahl von Mitgliedern aufnehmen können und ihren Bestand durch harte Regeln sichern müssen, bezeichne ich als Massenkristalle. Von ihrer Funktion wird noch ausführlich die Rede sein.

Die Masse selbst aber zerfällt. Sie fühlt, daß sie zerfallen wird. Sie fürchtet den Zerfall. Sie kann nur bestehen bleiben, wenn der Prozeß der Entladung fortgesetzt wird, an neuen Menschen, die zu ihr stoßen. Nur der Zuwachs der Masse verhindert die ihr Angehörigen daran, unter ihre privaten Lasten zurückzukriechen.

Zerstörungssucht

Von der Zerstörungssucht der Masse ist oft die Rede, es ist das erste an ihr, was ins Auge fällt, und es ist unleugbar, daß sie sich überall findet, in den verschiedensten Ländern und Kulturen. Sie wird zwar festgestellt und mißbilligt, doch wird sie nie wirklich erklärt.

Am liebsten zerstört die Masse Häuser und Gegenstände. Da es sich oft um Zerbrechliches handelt, wie Scheiben, Spiegel, Töpfe, Bilder, Geschirr, neigt man dazu zu glauben, daß es eben diese Zerbrechlichkeit von Gegenständen sei, die die Masse zur Zerstörung anreizt. Es ist nun gewiß richtig, daß der Lärm der Zerstörung, das Zerbrechen von Geschirr, das Klirren von Scheiben zur Freude daran ein Beträchtliches beiträgt: Es sind die kräftigen Lebenslaute eines neuen Geschöpfes, die Schreie eines Neugeborenen. Daß es so leicht ist, sie hervorzurufen, steigert ihre Beliebtheit, alles schreit mit einem und den anderen mit, und das Klirren ist der Beifall der Dinge. Ein besonderes Bedürfnis nach dieser Art von Lärm scheint zu Beginn der Ereignisse zu bestehen, da man sich noch nicht aus allzu vielen zusammensetzt und wenig oder gar nichts geschehen ist. Der Lärm verheißt die Verstärkung, auf die man hofft, und er ist ein glückliches Omen für die kommenden Taten. Aber es wäre irrig zu glauben, daß die Leichtigkeit des Zerbrechens das Entscheidende daran ist. Man hat sich an Skulpturen aus hartem Stein herangemacht und nicht geruht, bis sie verstümmelt und unkenntlich waren. Von Christen wurden die Köpfe und Arme griechischer Götter zerstört. Von Reformatoren und Revolutionären wurden die Bildwerke der Heiligen heruntergeholt, manchmal aus Höhen, wo es lebensgefährlich war, und oft war der Stein, den man zu zertrümmern suchte, so hart, daß man nur halb damit zum Ziel gelangte.

Die Zerstörung von Bildwerken, die etwas vorstellen, ist die Zerstörung einer Hierarchie, die man nicht mehr anerkennt. Man vergreift sich an den allgemein etablierten Distanzen, die für alle sichtbar sind und überall gelten. Ihre Härte war der Ausdruck für ihre Permanenz, sie haben seit langem, man denkt, seit je bestanden, aufrecht und unverrückbar; und es war unmöglich, sich ihnen in feindlicher Absicht zu nähern. Nun sind sie gestürzt und in Trümmer geschlagen. Die Entladung hat sich in diesem Akt vollendet.

Doch sie geht nicht immer so weit. Die Zerstörung gewöhnlicher Art, von der anfangs die Rede war, ist nichts als ein Angriff auf alle Grenzen. Scheiben und Türen gehören zu Häusern, sie sind der empfindlichste Teil ihrer Abgrenzung gegen außen. Wenn Türen und Scheiben eingeschlagen sind, hat das Haus seine Individualität verloren. Jeder kann dann nach Herzenslust hinein, nichts und niemand darin ist geschützt. In diesen Häusern stecken aber gewöhnlich, so glaubt man, die Menschen, die sich von der Masse auszuschließen suchen, ihre Feinde. Nun ist, was sie abtrennt, zerstört. Zwischen ihnen und der Masse steht nichts. Sie können heraus und sich ihr anschließen. Man kann sie holen.

Es ist aber noch mehr daran. Der einzelne Mensch selbst hat das Gefühl, daß er in der Masse die Grenzen seiner Person überschreitet. Er fühlt sich erleichtert, da alle Distanzen aufgehoben sind, die ihn auf sich zurückwarfen und in sich verschlossen. Mit dem Abheben der Distanzlasten fühlt er sich frei, und seine Freiheit ist die Überschreitung dieser Grenzen. Was ihm geschieht, soll auch den anderen geschehen, er erwartet von ihnen dasselbe. An einem irdenen Topf reizt ihn, daß er nichts als Grenze ist. An einem Hause reizen ihn die verschlossenen Türen. Riten und Zeremonien, alles, was Distanzen hält, bedroht ihn und ist ihm unerträglich. In diese vorgebildeten Gefäße überall wird man die Masse zersplittert zurückzuführen suchen. Sie haßt ihre künftigen Gefängnisse, die ihr immer Gefängnisse waren. Der nackten Masse erscheint alles als Bastille.

Das eindrucksvollste von allen Mitteln der Zerstörung ist das Feuer. Es ist weithin sichtbar und zieht andere an. Es zerstört auf unwiderrufliche Weise. Nichts ist nach einem Feuer, wie es vorher war. Die Masse, die Feuer legt, hält sich für unwiderstehlich. Alles wird zu ihr stoßen, während es um sich greift. Alles Feindliche wird von ihm vernichtet werden. Es ist, wie man noch sehen wird, das kräftigste Symbol, das es für die Masse gibt. Nach aller Zerstörung muß es wie sie erlöschen.

Der Ausbruch

Die offene Masse ist die eigentliche Masse, die sich ihrem natürlichen Drang zu wachsen frei überläßt. Eine offene Masse hat kein klares Gefühl oder Bild davon, wie groß sie werden könnte. Sie hält sich an kein Gebäude, das ihr bekannt ist und das sie zu erfüllen hätte. Ihr Maß ist nicht festgelegt; sie will ins Unendliche wachsen, und was sie dazu braucht, sind mehr und mehr Menschen. In diesem nackten Zustand fällt die Masse am meisten auf. Doch behält sie etwas Außergewöhnliches und wird, da sie immer zerfällt, nicht ganz voll genommen. Sie wäre vielleicht auch weiterhin nicht mit dem Ernste betrachtet worden, der ihr gebührt, hätte nicht die ungeheuerliche Zunahme der Bevölkerungszahl überall und das rapide Wachstum der Städte, die unser modernes Zeitalter kennzeichnen, zu ihrer Bildung immer häufiger Gelegenheit gegeben.

Die geschlossenen Massen der Vergangenheit, von denen noch die Rede sein wird, waren alle zu vertrauten Institutionen geworden. Der eigentümliche Zustand, in den ihre Teilnehmer oft gerieten, schien etwas Natürliches; immer war man zu einem bestimmten Zweck beisammen, sei es religiöser, festlicher oder kriegerischer Art, und der Zweck schien den Zustand zu heiligen. Wer einer Predigt beiwohnte, war gewiß im guten Glauben, daß es ihm auf die Predigt ankam, und er wäre erstaunt und vielleicht auch empört gewesen, hätte ihm jemand auseinandergesetzt, daß die große Zahl der anwesenden Hörer ihm mehr Befriedigung gewähre als die Predigt selbst. Alle Zeremonien und Regeln, die zu solchen Institutionen gehören, haben es im Grunde auf ein Abfangen der Masse abgesehen: lieber eine sichere Kirche voll von Gläubigen als die unsichere ganze Welt. In der Gleichmäßigkeit des Kirchenbesuches, der vertrauten und genauen Wiederholung bestimmter Riten sichert man der Masse etwas wie ein gezähmtes Erlebnis ihrer selbst. Der Ablauf dieser Verrichtungen zu festgesetzten Zeiten wird zu einem Ersatz für Bedürfnisse härterer und heftigerer Art.

Vielleicht hätten solche Einrichtungen genügt, wenn die Zahl der Menschen sich ungefähr gleichgeblieben wäre. Aber es liefen immer mehr Leute in den Städten herum, die Vermehrung der Bevölkerungszahl in den letzten paar hundert Jahren ging mit zunehmender Geschwindigkeit vonstatten. Damit waren auch alle Reizungen zur Bildung neuer und größerer Massen gegeben und nichts, auch die erfahrenste und raffinierteste Leitung nicht, wäre imstande gewesen, sie unter solchen Voraussetzungen zu verhindern.
Alle Auflehnungen gegen überkommenes Zeremoniell, von denen die Religionsgeschichte meldet, sind gegen die Beschränkung der Masse gerichtet, die endlich ihr Wachstum wieder fühlen will. Man denkt an die Bergpredigt im Neuen Testament: sie spielt sich im Freien ab, Tausende können zuhören, und sie ist, daran kann kein Zweifel bestehen, gegen das begrenzende Zeremonien-Treiben des offiziellen Tempels gerichtet. Man denkt an die Tendenz des paulinischen Christentums, aus den Volks- und Stammesgrenzen des Judentums auszubrechen und zu einem universalen Glauben für alle Menschen zu werden. Man denkt an die Verachtung des Buddhismus für das Kastenwesen des damaligen Indien.

Auch die innere Geschichte der einzelnen Weltreligionen ist an Ereignissen ähnlichen Sinnes reich. Immer ist Tempel, Kaste und Kirche zu eng. Die Kreuzzüge führen zu Bildungen von Massen von einer Größe, wie sie kein Kirchengebäude der damaligen Welt zu halten vermocht hätte. Ganze Städte werden später zu Zuschauern für die Verrichtungen der Geißler, und sie wandern dann erst noch von Stadt zu Stadt. Wesley baut, noch im 18. Jahrhundert, seine Bewegung auf Predigten im Freien auf. Er ist sich der Bedeutung seiner enormen Zuhörermassen sehr wohl bewußt, manchmal rechnet er sich in seinem Tagebuch aus, wie viele ihn wohl diesmal gehört haben mögen. Der Ausbruch aus den geschlossenen Verrichtungslokalen bedeutet jedesmal, daß die Masse sich ihre alte Lust am plötzlichen, rapiden und unbegrenzten Wachstum zurückholen will.

Als Ausbruch bezeichne ich also den plötzlichen Übergang einer geschlossenen in eine offene Masse. Dieser Vorgang ist häufig, doch darf man ihn nicht zu räumlich verstehen. Oft sieht es so aus, als ob eine Masse überfließe, aus einem Raum, in dem sie wohlbehütet war, auf den Platz und auf die Straßen einer Stadt, wo sie, alles an sich ziehend und allem ausgesetzt, sich frei ergeht. Wichtiger als dieser äußere ist aber der innere Vorgang, der ihm entspricht: die Unzufriedenheit mit der Begrenztheit in der Zahl der Teilnehmer, der plötzliche Wille anzuziehen, die leidenschaftliche Entschlossenheit, alle zu erreichen.

Seit der Französischen Revolution haben diese Ausbrüche eine Form bekommen, die wir als modern empfinden. Vielleicht weil sich die Masse vom Gehalt der traditionellen Religionen so weitgehend freigemacht hat, ist es uns seither leichter, sie nackt, man möchte sagen, biologisch zu sehen, ohne die transzendenten Sinngebungen und Ziele, die sie sich früher einimpfen ließ. Die Geschichte der letzten 150 Jahre hat sich zu einer raschen Vermehrung solcher Ausbrüche zugespitzt; selbst die Kriege sind in sie einbezogen, sie sind zu Massenkriegen geworden. Die Masse begnügt sich nicht mehr mit frommen Bedingungen und Verheißungen, sie will das größte Gefühl ihrer animalischen Stärke und Leidenschaft selbst erleben und benutzt zu diesem Zwecke immer wieder, was sich ihr an sozialen Anlässen und Forderungen bietet.

Es ist wichtig, als erstes einmal festzustellen, daß die Masse sich nie gesättigt fühlt. Solange es einen Menschen gibt, der nicht von ihr ergriffen ist, zeigt sie Appetit. Ob sie diesen auch behalten würde, wenn sie wirklich alle Menschen in sich aufgenommen hätte, kann niemand sicher sagen, doch ist es sehr zu vermuten. Ihre Versuche, bestehen zu bleiben, haben etwas Ohnmächtiges. Der einzig aussichtsreiche Weg dazu ist die Bildung von Doppelmassen, wobei dann eine Masse sich an einer anderen mißt. Je näher sich diese sind, an Kraft und Intensität, um so länger bleiben die beiden, die sich messen, am Leben.

Verfolgungsgefühl

Zu den auffallendsten Zügen im Leben der Masse gehört etwas, was man als ein Gefühl von Verfolgtheit bezeichnen könnte, eine besondere, zornige Empfindlichkeit und Reizbarkeit gegen ein für allemal als solche designierte Feinde. Diese können unternehmen, was immer sie wollen, sie können scharf vorgehen oder entgegenkommend, teilnahmsvoll oder kalt sein, hart oder milde – alles wird ihnen so ausgelegt, als ob es einer unerschütterlichen Böswilligkeit entspringe, einer schlechten Gesinnung gegen die Masse, einer vorgefaßten Absicht, sie offen oder heimtückisch zu zerstören.

Um dieses Gefühl von Feindschaft und Verfolgung zu erklären, muß man wieder von der Grundtatsache ausgehen, daß die Masse, einmal entstanden, rapid wachsen will. Von der Kraft und Unbeirrbarkeit, mit der sie sich ausbreitet, macht man sich schwer eine übertriebene Vorstellung. Solange sie fühlt, daß sie im Wachsen ist – in revolutionären Zuständen zum Beispiel, die mit kleinen, aber sehr hochgespannten Massen beginnen –, empfindet sie alles als Einengung, was sich ihrem Wachstum entgegenstellt. Sie kann zerstreut und auseinandergetrieben werden durch Polizei, aber das hat eine bloß temporäre Wirkung – eine Hand, die in einen Mückenschwarm fährt. Sie kann aber auch von innen her angegriffen werden, indem man den Forderungen, die zu ihrer Bildung geführt haben, entgegenkommt. Schwächere fallen dann von ihr ab; andere, die eben daran waren, zu ihr zu stoßen, kehren auf halbem Weg um.

Der äußere Angriff auf die Masse kann diese nur stärken. Die körperlich Auseinandergetriebenen zieht es um so kräftiger wieder zusammen. Der Angriff von innen dagegen ist wirklich gefährlich. Ein Streik, der irgendwelche Vorteile erzielt hat, bröckelt zusehends ab. Der Angriff von innen appelliert an individuelle Gelüste. Er wird von der Masse als Bestechung empfunden, als 'unmoralisch', da er ihrer klaren und sauberen Grundgesinnung entgegenläuft. Jeder, der zu einer solchen Masse gehört, trägt einen kleinen Verräter in sich, der essen, trinken, lieben und seine Ruhe haben will. Solange er diese Verrichtungen nebenher besorgt und nicht zuviel Wesens aus ihnen macht, läßt man ihn gewähren. Sobald er sich aber laut vernehmlich macht, beginnt man ihn zu hassen und zu fürchten. Man weiß dann, daß er die Lockungen des Feindes gehört hat.
Immer ist die Masse etwas wie eine belagerte Festung, aber auf eine doppelte Weise belagert: Sie hat den Feind vor den Mauern, und sie hat den Feind im Keller. Während des Kampfes zieht sie immer mehr Anhänger an. Vor allen Toren sammeln sich ihre neuen Freunde und klopfen stürmisch um Einlaß. In günstigen Augenblicken wird dieser Bitte willfahren; aber sie klettern auch über die Mauern. Die Stadt füllt sich mehr und mehr mit Kämpfern an; doch jeder von ihnen bringt seinen kleinen, unsichtbaren Verräter mit, der sich schleunigst in einen Keller verzieht. Die Belagerung besteht darin, daß man die Zuzügler abzufangen sucht. Für die Feinde außen sind die Mauern wichtiger als für die Belagerten innen. Die Belagerer sind es, die immer daran bauen und sie erhöhen. Sie suchen die Zuzügler zu bestechen, und wenn sie sie schon gar nicht abhalten können, sorgen sie dafür, daß der kleine Verräter, der mitgeht, auf seinem Weg in die Stadt genug Feindschaft mitbekommt.

Das Verfolgungsgefühl der Masse ist nichts anderes als dieses Gefühl doppelter Bedrohung. Die Mauern von außen werden enger und enger gezogen, die Keller von innen mehr und mehr untergraben. Die Verrichtungen des Feindes sind offen und überschaubar, wenn er an den Mauern arbeitet; sie sind verdeckt und heimtückisch in den Kellern.

Aber es ist mit solchen Bildern immer so, daß sie nur einen Teil der Wahrheit treffen. Die von außen Zuströmenden, die in die Stadt hinein wollen, sind nicht nur neue Anhänger, Verstärkung, Stütze, sie sind auch die Nahrung der Masse. Eine Masse, die nicht zunimmt, ist im Zustand des Fastens. Es gibt Mittel, dieses Fasten durchzuhalten; die Religionen haben darin große Meisterschaft entwickelt. Es wird gezeigt werden, wie es den Weltreligionen gelingt, ihre Massen zu halten, auch ohne daß sie sich akut und heftig vergrößern.

Zähmung der Massen in den Weltreligionen

Religionen mit universalem Anspruch, die anerkannt worden sind, verändern sehr bald den Akzent ihrer Werbung. Anfangs ist es ihnen darum zu tun, alle zu erreichen und zu gewinnen, die zu erreichen und zu gewinnen sind. Die Masse, die ihnen vorschwebt, ist universal; es kommt auf jede einzelne Seele an und jede Seele soll die ihre werden. Aber der Kampf, den sie zu bestehen haben, führt allmählich zu einer Art von verborgenem Respekt für die Gegner, deren Institutionen bereits vorhanden sind. Sie sehen, wie schwer es ist, sich zu halten. Institutionen, die ihnen Solidarität und Bestand gewähren, erscheinen ihnen immer wichtiger. Durch die ihrer Gegner angeregt, tun sie alles dazu, selber welche einzuführen; und wenn es ihnen gelingt, werden diese mit der Zeit zur Hauptsache. Das Eigengewicht der Institutionen, die dann ein Leben für sich haben, zähmt allmählich die Wucht der ursprünglichen Werbung. Kirchen werden so gebaut, daß sie die Gläubigen aufnehmen, die bereits da sind. Man vergrößert sie mit Zurückhaltung und Bedacht, wenn ein Bedarf danach wirklich vorhanden ist. Es ist eine starke Tendenz da, die vorhandenen Gläubigen in separaten Einheiten zusammenzufassen. Gerade weil es nun viele geworden sind, ist die Neigung zum Zerfall sehr groß und eine Gefahr, der man immer entgegenarbeiten muß.

Ein Gefühl für die Tücken der Masse liegt den historischen Weltreligionen sozusagen im Blut. Ihre eigenen Traditionen, die verbindlichen Charakter haben, belehren sie darüber, wie plötzlich und unerwartet sie gewachsen sind. Ihre Geschichten von Massenbekehrungen erscheinen ihnen wunderbar, und sie sind es. In den Abfallsbewegungen, die die Kirchen fürchten und verfolgen, richtet sich dieselbe Art von Wunder gegen sie, und die Verletzungen, die ihnen so am eigenen Leibe zugefügt werden, sind schmerzlich und unvergeßlich. Beides, das rapide Wachstum in ihrer Frühzeit und die nicht weniger rapiden Abfälle später, erhalten ihr Mißtrauen gegen die Masse immer am Leben. Was sie sich wünschen, ist im Gegensatz zu dieser eine folgsame Herde. Es ist üblich, die Gläubigen als Schafe zu betrachten und für ihren Gehorsam zu loben. Auf die wesentliche Tendenz der Masse, nämlich zu raschem Wachstum, verzichten sie ganz. Sie begnügen sich mit einer zeitweiligen Fiktion von Gleichheit unter den Gläubigen, die aber nie zu streng durchgeführt wird; mit einer bestimmten Dichte, die in gemäßigten Grenzen gehalten wird, und einer starken Richtung. Das Ziel setzen sie gern in eine sehr weite Ferne, ein Jenseits, in das man gar nicht gleich hineinkommen soll, da man noch lebt, und das man sich durch viel Bemühungen und Unterwerfungen verdienen muß. Die Richtung wird allmählich das wichtigste. Je ferner das Ziel, um so mehr hat es Aussicht auf Bestand. An die Stelle jenes anderen, scheinbar unerläßlichen Prinzips des Wachstums wird etwas davon ganz Verschiedenes gesetzt: die Wiederholung.

In bestimmten Räumen, zu bestimmten Zeiten werden die Gläubigen versammelt und durch immer gleiche Verrichtungen in einen gemilderten Massenzustand versetzt, der sie beeindruckt, ohne gefährlich zu werden, und an den sie sich gewöhnen. Das Gefühl ihrer Einheit wird ihnen dosiert verabreicht. Von der Richtigkeit dieser Dosierung hängt der Bestand der Kirche ab.

Wo immer Menschen sich an dieses präzis wiederholte und präzis begrenzte Erlebnis in ihren Kirchen oder Tempeln gewöhnt haben, können sie es nicht mehr entbehren. Sie sind darauf angewiesen wie auf Nahrung und alles, was sonst ihr Dasein ausmacht. Ein plötzliches Verbot ihres Kultes, die Unterdrückung ihrer Religion durch ein staatliches Edikt, kann nicht ohne Folgen bleiben. Die Störung ihres sorgfältig ausbalancierten Massen-Haushalts muß nach einiger Zeit zum Ausbruch einer offenen Masse führen. Diese hat dann alle elementaren Eigenschaften, die man kennt. Sie greift rapid um sich. Sie führt eine wirkliche statt der fiktiven Gleichheit durch. Sie holt sich neue und jetzt viel intensivere Dichten. Sie gibt, für den Augenblick, jenes ferne und schwer erreichbare Ziel, zu dem sie erzogen war, auf und setzt sich eines hier, in der unmittelbaren Umgebung dieses konkreten Lebens. Alle plötzlich verbotenen Religionen rächen sich durch eine Art von Verweltlichung: In einem Ausbruch von großer und unerwarteter Wildheit ändert sich der Charakter ihres Glaubens vollkommen, ohne daß sie die Natur dieser Änderung selber verstehen. Sie halten es für den alten Glauben und meinen, nur an ihren tiefsten Überzeugungen festzuhalten. Aber in Wirklichkeit sind sie plötzlich ganz andere geworden, mit einem akuten und singulären Gefühl von der offenen Masse, die sie jetzt bilden und aus der sie um keinen Preis herausfallen wollen.

Panik

Die Panik in einem Theater ist, wie schon oft angemerkt wurde, ein Zerfall der Masse. Je gebundener die Menschen durch die Aufführung waren, je geschlossener die Form des Theaters, das sie äußerlich zusammenhält, desto heftiger der Zerfall.

Es mag aber auch, durch die Aufführung allein, gar keine echte Masse bestanden haben. Oft fühlt sich das Publikum nicht gepackt und bleibt zusammen, bloß weil es schon da ist. Was das Stück nicht zustande gebracht hat, das bewirkt dann gleich ein Feuer. Es ist Menschen nicht weniger gefährlich als Tieren, das stärkste und älteste Massensymbol. Das Gewahrwerden des Feuers treibt, was immer an Massengefühl des Publikums vorhanden war, plötzlich auf die Spitze. Durch die gemeinsame, unmißverständliche Gefahr entsteht eine allen gemeinsame Angst. Für kurze Zeit besteht so im Publikum eine wirkliche Masse. Wäre man nicht in einem Theater, so könnte man gemeinsam fliehen, wie eine Tierherde in Gefahr, und durch gleichgerichtete Bewegungen die Energie der Flucht erhöhen. Eine aktive Massenangst dieser Art ist das große, kollektive Erlebnis aller Tiere, die in Herden leben und sich als gute Läufer zusammen retten.

Im Theater hingegen muß die Masse auf die gewaltsamste Weise zerfallen. Die Türen lassen nur einen oder wenige Menschen zugleich durch. Die Energie der Flucht wird von selbst zu einer Energie des Zurückstoßens. Zwischen den Sitzreihen kann nur je ein Mensch hindurch, einer ist säuberlich vom anderen getrennt; jeder sitzt für sich, jeder steht für sich, jeder hat seinen Platz. Die Distanz zur nächsten Tür ist für jeden eine andere. Das normale Theater hat es darauf angelegt, die Menschen festzusetzen und ihnen nur die Freiheit ihrer Hände und Stimmen zu überlassen. Die Bewegung der Beine ist soweit wie möglich beschränkt.

Der plötzliche Befehl zur Flucht, der den Menschen vom Feuer gegeben wird, ist also sofort konfrontiert mit der Unmöglichkeit einer gemeinsamen Bewegung. Die Tür, durch die jeder hindurch muß, die er sieht, in der er sich sieht, scharf abgeschnitten von allen übrigen, ist der Rahmen eines Bildes, das ihn sehr bald beherrscht. So muß die Masse, eben noch auf ihrer Höhe, mit Gewalt zerfallen. Der Umschlag wird an den heftigsten, individuellen Tendenzen deutlich: man stößt, schlägt und trampelt wild um sich.

Je mehr man 'um sein eigenes Leben' kämpft, desto klarer wird es, daß man gegen die anderen kämpft, die einen auf allen Seiten behindern. Sie stehen da wie Stühle, Balustraden, verschlossene Türen, aber mit dem Unterschied, daß sie gegen einen angehen. Sie drängen einen da und dort hin, wo es ihnen paßt, oder eigentlich wohin sie selber gedrängt werden. Frauen, Kinder und alte Leute werden nicht geschont, man unterscheidet sie nicht von den Männern. Es gehört das zur Verfassung der Masse, in der alle gleich sind; und während man selber sich nicht mehr als Masse fühlt, ist man noch ganz von ihr umgeben. Die Panik ist ein Zerfall der Masse in der Masse. Der einzelne fällt von ihr ab und will ihr, die als Ganzes gefährdet ist, entkommen. Aber da er noch physisch in ihr steckt, muß er gegen sie angehen. Sich ihr jetzt zu überlassen wäre sein Untergang, da sie selber vom Untergang bedroht ist. In einem solchen Augenblick kann er seine Eigenheit nicht genug betonen. Durch Schläge und Stöße weckt er Schläge und Stöße. Je mehr er austeilt, je mehr er bekommt, desto klarer fühlt er sich, desto deutlicher sind die Grenzen seiner eigenen Person auch für ihn wieder gezogen.
Es ist merkwürdig zu beobachten, wie sehr die Masse für den in ihr Kämpfenden den Charakter des Feuers annimmt. Durch den unerwarteten Anblick einer Flamme oder den Ruf 'Feuer!' ist sie entstanden; wie Flammen spielt sie mit dem, der zu entrinnen versucht. Die Menschen, die er wegstößt, sind ihm brennende Gegenstände, ihre Berührung ist feindlich, an jeder Stelle seines Körpers erschreckt sie ihn. Wer immer im Wege steht, ist von dieser allgemein feindlichen Gesinnung des Feuers angesteckt; die Art, wie es sich verbreitet, wie es sich allmählich um einen herumarbeitet, wie es einen schließlich ganz umgibt, gleicht sehr dem Verhalten der Masse, die einen auf allen Seiten bedroht. Die unberechenbaren Bewegungen in ihr, das Hervorschießen eines Armes, einer Faust, eines Beines sind wie die Flammen des Feuers, die plötzlich und von überall hervorzüngeln können. Das Feuer als Wald- oder Steppenbrand ist eine feindliche Masse, ein heftiges Gefühl davon läßt sich in jedem Menschen wecken. Das Feuer als Symbol für sie ist in seinen seelischen Haushalt eingegangen und macht einen unveränderlichen Bestandteil davon aus. Jenes nachdrückliche Trampeln auf Menschen aber, das so häufig bei Paniken beobachtet wird und so sinnlos scheint, ist nichts anderes als das Austreten von Feuer.

Die Panik als Zerfall läßt sich bloß abwenden, indem man den ursprünglichen Zustand einheitlicher Massenangst verlängert. In einer Kirche, die bedroht ist, läßt sich das herbeiführen: Man betet in gemeinsamer Angst zu einem gemeinsamen Gott, in dessen Hand es liegt, das Feuer durch ein Wunder zu löschen.

Die Masse als Ring

Eine zwiefach geschlossene Masse hat man in der Arena vor sich. Es ist nicht ohne Wert, sie auf diese merkwürdige Qualität hin zu untersuchen.

Die Arena ist nach außen hin gut abgegrenzt. Sie ist gewöhnlich weithin sichtbar. Ihre Lage in der Stadt, der Raum, den sie einnimmt, ist allgemein bekannt. Man fühlt immer, wo sie ist, auch wenn man nicht an sie denkt. Rufe von ihr dringen weithin. Wenn sie oben offen ist, teilt sich manches vom Leben, das sich in ihr abspielt, der umliegenden Stadt mit.

Aber erregend wie diese Mitteilungen auch sein mögen, ein unbehinderter Zustrom in die Arena ist nicht möglich. Die Zahl der Plätze, die sie faßt, ist beschränkt. Ihrer Dichte ist ein Ziel gesetzt. Die Sitze sind so angelegt, daß man sich nicht zu sehr drängt. Die Menschen darin sollen es bequem haben. Sie sollen gut sehen können, jeder von seinem Platz, und sie sollen sich nicht untereinander stören.

Nach außen, gegen die Stadt, weist die Arena eine leblose Mauer. Nach innen baut sie eine Mauer von Menschen auf. Alle Anwesenden kehren der Stadt ihren Rücken zu. Sie haben sich aus dem Gefüge der Stadt, ihren Mauern, ihren Straßen herausgelöst. Für die Dauer ihres Aufenthalts in der Arena scheren sie sich um nichts, was in der Stadt geschieht. Sie lassen das Leben ihrer Beziehungen, ihrer Regeln und Gewohnheiten dort zurück. Ihr Beisammensein in großer Zahl ist für eine bestimmte Zeit gesichert, ihre Erregung ist ihnen versprochen worden – aber unter einer ganz entscheidenden Bedingung: Die Masse muß sich nach innen entladen.

Die Reihen sind übereinander angelegt, damit alle sehen, was unten vorgeht. Aber das hat zur Folge, daß die Masse sich selber gegenübersitzt. Jeder hat tausend Menschen und Köpfe vor sich. Solange er da ist, sind sie alle da. Was ihn in Erregung versetzt, erregt auch sie, und er sieht es. Sie sitzen in einiger Entfernung von ihm; die Einzelheiten, die sie sonst unterscheiden und zu Individuen machen, verwischen sich. Sie werden sich alle sehr ähnlich, sie benehmen sich ähnlich. Er bemerkt an ihnen nur, was ihn jetzt selber erfüllt. Ihre sichtbare Erregung steigert die seine.

Die Masse, die sich selber so zur Schau stellt, ist nirgends unterbrochen. Der Ring, den sie bildet, ist geschlossen. Es entkommt ihr nichts. Der Ring aus faszinierten Gesichtern übereinander hat etwas sonderbar Homogenes. Er umfaßt und enthält alles, was unten vor sich geht. Keiner von allen läßt es los, keiner will weg. Jede Lücke in diesem Ring könnte an den Zerfall, das spätere Auseinandergehen gemahnen. Aber es ist keine da: diese Masse ist nach außen und in sich, also auf zwiefache Weise geschlossen.

Die Eigenschaften der Masse

Es ist angebracht, bevor man den Versuch einer Einteilung der Masse unternimmt, ihre Haupteigenschaften kurz zusammenzufassen. Folgende vier Züge sind hervorzuheben:

1.       Die Masse will immer wachsen. Ihrem Wachstum sind von Natur aus keine Grenzen gesetzt. Wo solche Grenzen künstlich geschaffen werden, in allen Institutionen also, die zur Bewahrung geschlossener Massen verwendet werden, ist ein Ausbruch der Masse immer möglich und erfolgt auch von Zeit zu Zeit. Einrichtungen, die das Anwachsen der Masse ein für allemal verhindern könnten und die unbedingt sicher sind, gibt es nicht.

2.       Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist absolut und indiskutabel und wird von der Masse selbst nie in Frage gestellt. Sie ist von so fundamentaler Wichtigkeit, daß man den Zustand der Masse geradezu als einen Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte. Ein Kopf ist ein Kopf, ein Arm ist ein Arm, auf Unterschiede zwischen ihnen kommt es nicht an. Um dieser Gleichheit willen wird man zur Masse. Was immer davon ablenken könnte, wird übersehen. Alle Forderungen nach Gerechtigkeit, alle Gleichheitstheorien beziehen ihre Energie letzten Endes aus diesem Gleichheitserlebnis, das jeder auf seine Weise von der Masse her kennt.

3.       Die Masse liebt Dichte. Sie kann nie zu dicht sein. Es soll nichts dazwischenstehen, es soll nichts zwischen sie fallen, es soll möglichst alles sie selber sein. Das Gefühl größter Dichte hat sie im Augenblick der Entladung. Es wird einmal möglich sein, diese Dichte näher zu bestimmen und zu messen.

4.       Die Masse braucht eine Richtung. Sie ist in Bewegung und bewegt sich auf etwas zu. Die Richtung, die allen Angehörigen gemeinsam ist, stärkt das Gefühl von Gleichheit. Ein Ziel, das außerhalb jedes einzelnen liegt und für alle zusammenfällt, treibt die privaten, ungleichen Ziele, die der Tod der Masse wären, unter Grund. Für ihren Bestand ist die Richtung unentbehrlich. Die Furcht vor Zerfall, die immer in ihr rege ist, macht es möglich, sie auf irgendwelche Ziele zu lenken. Die Masse besteht, solange sie ein unerreichtes Ziel hat. – Aber es ist noch eine dunkle Bewegungstendenz in ihr, die zu übergeordneten und neuen Bildungen führt. Es ist oft nicht möglich, die Natur dieser Bildungen vorauszusagen.

Jede dieser vier Eigenschaften, die man festgestellt hat, kann in größerem oder geringerem Maße vorhanden sein. Je nachdem man die eine oder die andere von ihnen ins Auge faßt, gelangt man zu einer verschiedenen Einteilung der Massen.

Es war die Rede von offenen und geschlossenen Massen, und es ist auch erklärt worden, daß diese Einteilung sich auf ihr Wachstum bezieht. Solange ihr Wachstum nicht behindert wird, ist die Masse offen; sie ist geschlossen, sobald man ihr Wachstum begrenzt.

Eine andere Unterscheidung, von der man noch hören wird, ist die zwischen rhythmischen und stockenden Massen. Sie bezieht sich auf die beiden nächsten Haupteigenschaften, auf Gleichheit und Dichte nämlich, und zwar auf beide zusammen.

Die stockende Masse lebt auf ihre Entladung hin. Aber sie fühlt sich dieser sicher und verzögert sie. Sie wünscht eine relativ lange Periode der Dichte, um sich auf den Augenblick der Entladung vorzubereiten. Man möchte sagen, sie erwärmt sich an ihrer Dichte und hält so lange wie möglich mit der Entladung zurück. Der Prozeß der Masse beginnt bei ihr nicht mit Gleichheit, er beginnt mit Dichte. Die Gleichheit wird hier zum hauptsächlichen Ziel der Masse, in das sie schließlich mündet; jeder gemeinsame Schrei, jede gemeinsame Äußerung drückt diese Gleichheit dann gültig aus.

Ganz im Gegensatz dazu fallen bei der rhythmischen Masse Dichte und Gleichheit von Anfang an zusammen. Alles hängt hier an Bewegung. Alle Körperreize, die zu erfolgen haben, sind vorausbestimmt und werden im Tanze weitergegeben. Durch Ausweichen und Wiederannäherung wird die Dichte bewußt gestaltet. Die Gleichheit aber stellt sich selbst zur Schau. Durch Vorspielen von Dichte und Gleichheit wird das Massengefühl kunstvoll hervorgerufen. Diese rhythmischen Gebilde entstehen rasch, und es ist die physische Ermüdung allein, die ihnen ein Ende bereitet.

Das nächste Begriffspaar, das der langsamen und der raschen Masse, bezieht sich ausschließlich auf die Art ihres Ziels. Die auffallenden Massen, von denen gewöhnlich die Rede ist, die einen so wesentlichen Teil unseres modernen Lebens ausmachen, die politischen, sportlichen, kriegerischen Massen, die wir heute täglich vor Augen haben, sind alle rasch. Sehr verschieden von ihnen sind die religiösen Massen des Jenseits oder die der Pilger; das Ziel bei diesen ist in der Ferne, der Weg ist lang und die wahrhaftige Bildung der Masse ist in ein weit abgelegenes Land oder in ein Himmelreich verschoben. Von diesen langsamen Massen bekommen wir eigentlich nur die Zuflüsse zu sehen, denn die Endzustände, nach denen sie streben, sind unsichtbar und für Ungläubige nicht zu erreichen. Die langsame Masse sammelt sich langsam und sieht sich selbst als Beständiges in weiter Ferne.

Alle diese Formen, deren Wesen hier nur angedeutet worden ist, bedürfen einer genaueren Betrachtung.

Rhythmus

Der Rhythmus ist ursprünglich ein Rhythmus der Füße. Jeder Mensch geht, und da er auf zwei Beinen geht und mit seinen Füßen abwechselnd am Boden aufschlägt, da er nur weiterkommt, wenn er immer wieder aufschlägt, entsteht, ob er es beabsichtigt oder nicht, ein rhythmisches Geräusch. Die beiden Füße treten nie mit genau derselben Kraft auf. Der Unterschied zwischen ihnen kann größer oder kleiner sein, je nach persönlicher Anlage oder Laune. Man kann aber auch rascher oder langsamer gehen, man kann laufen, plötzlich stillstehen oder springen.

Immer hat der Mensch auf die Schritte anderer Menschen gehört, er war sicher mehr auf sie bedacht als auf die eigenen. Auch die Tiere hatten ihren wohlvertrauten Gang. Von ihren Rhythmen waren viele reicher und vernehmlicher als die der Menschen. Huftiere flohen in Herden davon wie Regimenter aus lauter Trommlern. Die Kenntnis der Tiere, von denen er umgeben war, die ihn bedrohten und auf die er Jagd machte, war das älteste Wissen des Menschen. Im Rhythmus ihrer Bewegung lernte er sie kennen. Die früheste Schrift, die er lesen lernte, war die der Spuren: Es war eine Art von rhythmischer Notenschrift, die es immer gab; sie prägte sich von selber dem weichen Boden ein, und der Mensch, der sie las, verband mit ihr das Geräusch ihrer Entstehung.

Viele dieser Fußspuren traten in großen Mengen dicht beisammen auf. Die Menschen, die ursprünglich in kleinen Horden lebten, konnten selbst in der ruhigen Betrachtung solcher Spuren des Gegensatzes zwischen ihrer geringen Zahl und der ungeheuren mancher Herden innewerden. Sie waren hungrig und immer auf Beute aus; je mehr Beute, desto besser für sie. Aber sie wollten auch selber mehr sein. Das Gefühl des Menschen für seine eigene Vermehrung war immer stark. Es ist darunter keineswegs nur zu verstehen, was man mit einem unzulänglichen Ausdruck als Drang zur Fortpflanzung bezeichnet. Die Menschen wollten jetzt, an dieser ganz bestimmten Stelle, in diesem Augenblick, mehr sein. Die große Zahl einer Herde, auf die sie Jagd machten, und ihre eigene Zahl, die sie sich groß wünschten, waren in ihrem Gefühl auf eine besondere Weise verquickt. Sie gaben dem Ausdruck in einem bestimmten Zustand gemeinsamer Erregung, den ich als rhythmische oder zuckende Masse bezeichne.

Das Mittel dazu war zuallererst der Rhythmus ihrer Füße. Wo viele gehen, gehen andere mit. Die Schritte, die sich in rascher Wiederholung an Schritte reihen, täuschen eine größere Zahl von Menschen vor. Sie bewegen sich nicht vom Fleck, sie verharren im Tanz immer an derselben Stelle. Ihre Schritte verhallen nicht, sie wiederholen sich und bleiben über eine lange Zeit immer gleich laut und lebendig. Sie ersetzen durch Intensität, was ihnen an Zahl abgeht. Wenn sie stärker aufstampfen, klingen sie nach mehr. Auf alle Menschen in ihrer Nähe üben sie eine Anziehungskraft aus, die nicht nachläßt, solange sie nicht vom Tanz ablassen. Was immer in ihrer Hörweite lebt, stößt zu ihnen und bleibt bei ihnen versammelt. Das Natürliche wäre, daß immer neue Menschen zu ihnen stoßen. Aber da es bald keine mehr gibt, müssen sie aus sich, aus ihrer beschränkten Zahl heraus, die Zunahme vortäuschen. Sie bewegen sich, als ob ihrer immer mehr würden. Ihre Erregung wächst und steigert sich zur Raserei.

Auf welche Weise ersetzen sie aber, was sie an wachsender Zahl nicht haben können? Da ist einmal wichtig, daß jeder von ihnen dasselbe tut. Jeder stampft auf, und jeder tut es auf dieselbe Weise. Jeder schwenkt die Arme, jeder bewegt den Kopf. Die Gleichwertigkeit der Teilnehmer verzweigt sich in die Gleichwertigkeit ihrer Glieder. Was immer an einem Menschen beweglich ist, gewinnt sein Eigenleben, jedes Bein, jeder Arm lebt wie für sich allein. Die einzelnen Glieder werden alle zur Deckung gebracht. Sie sind sich ganz nahe, oft ruhen sie aufeinander. Zu ihrer Gleichwertigkeit kommt so ihre Dichte hinzu, Dichte und Gleichheit werden ein und dasselbe. Schließlich tanzt vor einem ein einziges Geschöpf, mit fünfzig Köpfen, hundert Beinen und hundert Armen ausgestattet, die alle auf genau dieselbe Weise oder in einer Absicht agieren. In ihrer höchsten Erregung fühlen sich diese Menschen wirklich als eines, und nur die physische Erschöpfung schlägt sie nieder.

Alle zuckenden Massen haben – eben dank dem Rhythmus, der in ihnen vorherrscht – etwas Ähnliches. Der Bericht, der nun einen solchen Tanz zur Anschauung bringen soll, stammt aus dem ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts. Es handelt sich um den Haka der Maori auf Neuseeland, der ursprünglich ein Kriegstanz war.

Die Maori stellten sich in einer verlängerten Linie auf, vier Mann tief. Der Tanz, Haka genannt, mußte jeden, der ihn zum erstenmal erlebte, mit Schrecken und Angst erfüllen. Die ganze Gesellschaft, Männer und Frauen, Freie und Sklaven, waren durcheinander gemischt, ohne Rücksicht auf den Rang, den sie in der Gemeinde einnahmen. Die Männer waren alle vollkommen nackt, bis auf eine Patronentasche, die sie um den Leib hängen hatten. Alle waren mit Büchsen bewaffnet oder mit Bajonetten, die sie an Speerenden und Stöcken befestigt hatten. Die jungen Weiber, auch die Frauen des Häuptlings, nahmen mit entblößtem Oberkörper am Tanze teil.

Der Takt des Gesanges, der den Tanz begleitete, wurde sehr streng eingehalten. Ihre Beweglichkeit war erstaunlich. Plötzlich sprangen sie vom Boden senkrecht in die Höhe, alle genau zugleich, als wären die Tanzenden alle zusammen von einem Willen belebt. Im selben Augenblick schwangen sie ihre Waffen und verzerrten das Gesicht, und mit den langen Haaren, die Männer wie Frauen bei ihnen oft haben, glichen sie einem Heer von Gorgonen. Beim Niederfallen schlugen sie mit beiden Füßen zugleich laut auf dem Boden auf. Diesen Sprung in die Höhe wiederholten sie oft und immer rascher.

Die Züge wurden auf jede Weise verzerrt, die den Muskeln eines menschlichen Gesichtes möglich ist, jede neue Grimasse wurde von allen Teilnehmern pünktlich übernommen. Wenn einer das Gesicht so streng wie mit einer Schraube zusammenzog, taten es ihm alle anderen sofort nach. Sie rollten die Augen hin und her, manchmal war nur das Weiße davon sichtbar, es war, als würden sie im nächsten Moment aus den Höhlen fallen. Den Mund zerrten sie bis zu den Ohren auseinander. Alle zugleich streckten die Zungen ganz lang zum Munde heraus, nie hätte ein Europäer ihnen das nachtun können; eine frühe und lange Übung hatte sie dazu befähigt. Ihre Gesichter boten einen schrecklichen Anblick, es war eine Erleichterung, den Blick von ihnen abzuwenden.

Jedes Glied ihres Körpers war separat in Tätigkeit, Finger, Zehen, Augen, Zungen so gut wie Arme und Beine. Mit der flachen Hand schlugen sie sich laut bald auf die linke Brust, bald auf den Schenkel. Ohrenbetäubend war der Lärm ihres Gesanges, über 350 Leute nahmen am Tanze teil. Man kann sich vorstellen, welche Wirkung dieser Tanz in Kriegszeiten hatte, wie sehr er den Mut erhöhte und wie er die Abneigung der beiden Parteien gegeneinander auf die Spitze trieb.

Das Rollen der Augen und das Herausstrecken der Zungen sind Zeichen des Trotzes und der Herausforderung. Aber obwohl der Krieg im allgemeinen Sache der Männer, und zwar der freien Männer, ist, überlassen sich alle der Erregung des Haka. Die Masse hier kennt weder Geschlecht noch Alter noch Rang: alle agieren als gleiche. Was aber diesen Tanz von anderen ähnlicher Absicht unterscheidet, ist eine besonders extreme Verzweigung der Gleichheit. Es ist, als würde jeder Körper in alle seine einzelnen Teile auseinandergelegt, nicht nur in Beine und Arme, denn das ist oft der Fall, sondern auch in Zehen, Finger, Zungen und Augen, und nun tun sich alle Zungen etwa zusammen und vollführen im selben Augenblick genau dasselbe. Bald sind sich alle Zehen, bald alle Augen in ein und derselben Unternehmung gleich. Die Menschen in jedem ihrer kleinsten Teile sind von dieser Gleichheit ergriffen, und immer wird sie in einer Aktion, die sich heftig steigert, vorgeführt. Der Anblick von 350 Menschen, die zugleich in die Höhe springen, zugleich die Zunge herausstrecken, zugleich die Augen rollen, muß einen Eindruck von Einheit geben, die unüberwindlich ist. Die Dichte ist nicht bloß eine Dichte der Leute, es ist ebenso die ihrer separaten Glieder. Man könnte meinen, die Finger und die Zungen, auch wenn sie nicht zu den Menschen gehörten, würden sich auch für sich selber zusammentun und kämpfen. Der Rhythmus des Haka bringt jede dieser Gleichheiten einzeln zur Geltung. In ihrer Steigerung und zusammen sind sie unwiderstehlich.

Denn alles geschieht unter der Voraussetzung, daß es gesehen wird: der Feind schaut zu. Die Intensität der gemeinsamen Drohung macht den Haka aus. Aber da der Tanz einmal bestand, ist er auch zu mehr geworden. Er wird von kleinauf eingeübt, hat viele verschiedene Formen und wird bei allen möglichen Gelegenheiten vorgeführt. Viele Reisende sind mit einem Haka willkommen geheißen worden. Einem solchen Anlaß verdankt man den angeführten Bericht. Wenn eine freundliche Truppe zu einer anderen stößt, begrüßen sich die beiden mit einem Haka; und so ernst geht es dabei zu, daß ein unschuldiger Zuschauer jeden Augenblick den Ausbruch der Schlacht befürchtet. Bei den Begräbnisfeierlichkeiten für einen großen Häuptling, nach allen Phasen heftigster Klage und Selbstverstümmelung, die bei den Maori Sitte sind, nach einem festlichen und sehr reichlichen Mahl, springen sie alle plötzlich auf, greifen nach ihren Büchsen und formieren sich zu einem Haka.

In diesem Tanze, an dem alle teilnehmen können, empfindet sich der Stamm als Masse. Sie bedienen sich seiner, wann immer sie ein Bedürfnis danach fühlen, Masse zu sein und vor anderen als solche zu erscheinen. In der rhythmischen Vollkommenheit, die er erlangt hat, erfüllt er mit Sicherheit seinen Zweck. Dank dem Haka ist ihre Einheit von innen her nie ernsthaft gefährdet.

Stockung

Die stockende Masse ist dicht gedrängt, wirklich freie Bewegung wäre ihr gar nicht möglich. Ihr Zustand hat etwas Passives, die stockende Masse wartet. Sie wartet auf einen Kopf, der ihr gezeigt werden soll, oder auf Worte oder sie sieht einem Kampfe zu. Auf die Dichte kommt es hier ganz besonders an: Der Druck, der von allen Seiten empfunden wird, mag den Betroffenen auch als Maß für die Kraft des Gebildes dienen, von dem sie nun einen Teil ausmachen. Je mehr Menschen zusammenfließen, um so größer wird dieser Druck. Die Füße können nirgends hin, die Arme sind eingezwängt, frei bleiben nur die Köpfe, um zu sehen und zu hören; die Körper geben einander Anregungen direkt weiter. Ringsherum hat man an verschiedenen Menschen zugleich mit seinem Körper teil. Man weiß, es sind mehrere Menschen, aber da sie auch untereinander so dicht zusammenhängen, empfindet man sie als eins. Diese Art der Dichte läßt sich Zeit; ihre Einwirkung über eine gewisse Dauer ist konstant; sie ist amorph, keinem vertrauten und eingeübten Rhythmus unterworfen. Es geschieht lange nichts; aber die Aktionslust staut und steigert sich und bricht dann schließlich um so heftiger los.

Die Geduld der stockenden Massen ist vielleicht nicht so erstaunlich, wenn man sich die Bedeutung dieses Gefühls von Dichte für sie recht vergegenwärtigt. Je dichter sie ist, um so mehr neue Menschen zieht sie an. An ihrer Dichte mißt sie ihre Größe, aber die Dichte ist auch der eigentliche Anreiz zu weiterem Wachstum. Die dichteste Masse wächst am raschesten. Das Stocken vor der Entladung ist eine Exhibition dieser Dichte. Je länger sie stockt, um so länger fühlt und zeigt sie ihre Dichte.
Von den einzelnen aus gesehen, die eine Masse ausmachen, ist die Weile des Stockens eine des Staunens; man legt die Waffen und Stacheln ab, mit denen man sonst gegeneinander so gut ausgerüstet ist; man berührt sich und fühlt sich doch nicht beengt; Griffe sind keine Griffe mehr, man hat voreinander keine Furcht. Bevor man ausfährt, in welche Richtung immer, will man sicher sein, daß man zusammenbleibt. Es ist ein Zusammenwachsen, für das man Ungestörtheit braucht. Die stockende Masse ist ihrer Einheit noch nicht ganz sicher und hält sich darum so lange wie möglich still.

Aber diese Geduld hat ihre Grenzen. Eine Entladung ist schließlich unerläßlich, ohne sie ist gar nicht zu sagen, ob eine Masse wirklich vorhanden war. Der Aufschrei, wie er früher bei öffentlichen Hinrichtungen üblich war, wenn der Kopf des Übeltäters vom Henker hochgehalten wurde, oder der Aufschrei, wie man ihn heute von sportlichen Veranstaltungen her kennt, sind die Stimme der Masse. Ihre Spontaneität ist von größter Bedeutung. Einstudierte und in regelmäßigen Zeitabständen wiederholte Rufe sind noch kein Zeichen dafür, daß die Masse ihr eigenes Leben erlangt hat. Sie sollen wohl dazu führen, aber sie können äußerlich sein, wie die einexerzierten Bewegungen einer Heeresabteilung. Dagegen ist der spontane, von der Masse nicht genau vorauszubestimmende Schrei untrüglich, seine Wirkung ungeheuer. Er kann Affekte jeder Art ausdrücken; es kommt oft weniger darauf an, um welche Affekte es sich handelt, als auf ihre Stärke und Verschiedenartigkeit und auf die Freiheit in ihrer Folge. Sie sind es, die der Masse ihren seelischen Raum geben.

Sie können allerdings so heftig und konzentriert sein, daß sie die Masse sofort zerreißen. Öffentliche Hinrichtungen haben diesen Effekt; man kann ein und dasselbe Opfer nur einmal töten. Wenn es sich gar um jemand handelt, der immer für unverletzlich galt, so wird an der Möglichkeit, ihn umzubringen, bis zum letzten Augenblick gezweifelt. Der Zweifel, der hier dem Anlaß entstammt, vergrößert das natürliche Stocken der Masse. Um so schneidender und schärfer wirkt dann der Anblick des abgetrennten Hauptes. Der Aufschrei, der darauf folgt, wird furchtbar sein, aber es ist der letzte Schrei dieser ganz bestimmten Masse. Man kann also sagen, daß die Masse in diesem Fall das Zuviel an stockender Erwartung, das sie auf das Intensivste genießt, mit ihrem eigenen, sofortigen Tode bezahlt.

Unsere modernen sportlichen Veranstaltungen sind zweckmäßiger. Die Zuschauer können sitzen; die allgemeine Geduld wird sich selber sichtbar. Sie haben die Freiheit ihrer Füße zum Stampfen und bleiben doch am selben Fleck. Sie haben die Freiheit ihrer Hände zum Klatschen. Eine gewisse Zeitdauer ist für die Veranstaltung vorgesehen; es ist im allgemeinen nicht anzunehmen, daß sie verkürzt wird; so lange wenigstens bleibt man bestimmt beisammen. Innerhalb dieser Zeit kann dann alles mögliche geschehen. Man kann nicht vorher wissen, ob und wann und auf welcher Seite ein Tor geschossen wird; und auch neben diesen begehrten Hauptereignissen gibt es manches andere, das zu lauten Ausbrüchen führt. Die Stimme hört sich oft und bei verschiedenen Gelegenheiten. Dem schließlichen Zerfall aber, dem Auseinandergehen, ist durch die zeitliche Vorausbestimmtheit etwas von seinem schmerzlichen Charakter genommen worden. Auch wird der Geschlagene Gelegenheit haben, Revanche zu nehmen, und es ist nicht alles für immer zu Ende. Die Masse kann sich hier wirklich breitmachen; sich erst an den Eingängen stauen, dann auf den Sitzen stocken; auf allerhand Arten schreien, wenn der richtige Augenblick sich ergibt; und selbst wenn alles vorüber ist, auf künftige, ähnliche Gelegenheiten hoffen.

Stockende Massen viel passiverer Art bilden sich in Theatern. Der ideale Fall ist der, daß man vor vollem Hause spielt. Die gewünschte Zahl der Zuschauer ist von Anfang an gegeben. Sie sammeln sich von selbst, mit Ausnahme der kleineren Stauungen vor den Kassen finden die Menschen getrennt ihren Weg in den Saal. An ihre Plätze werden sie geführt. Es ist alles festgesetzt: das Stück, das gespielt wird, die Schauspieler, die auftreten, die Zeit des Beginns und die Zuschauer selbst auf ihren Plätzen. Zuspätkommende werden mit leichter Feindseligkeit empfangen. Wie eine ausgerichtete Herde, so sitzen die Menschen da, still und in unendlicher Geduld. Doch ist sich jeder seiner separaten Existenz sehr wohl bewußt; er hat gezahlt und bemerkt genau, wer neben ihm sitzt. Vor Beginn betrachtet er sich in Ruhe die Reihe versammelter Köpfe: sie wecken ein angenehmes, aber nicht zu dringliches Gefühl von Dichte in ihm. Die Gleichheit unter den Zuschauern besteht eigentlich nur darin, daß sie sich von der Bühne her alle dasselbe gefallen lassen. Aber ihre spontanen Reaktionen darauf sind nun eingeschränkt. Selbst der Beifall hat seine vorgeschriebenen Zeiten, und meist klatscht man tatsächlich nur, wenn man klatschen soll. Aus der Stärke des Beifalls allein ist zu entnehmen, wie sehr man Masse geworden ist; er ist der einzige Maßstab dafür und wird von den Schauspielern selber so gewertet.

Das Stocken ist im Theater schon so sehr zum Ritus geworden, daß man es äußerlich empfindet, als gelinden Druck von außen, der die Menschen nicht tiefer berührt und ihnen jedenfalls kaum das Gefühl einer inneren Einheit und Zusammengehörigkeit gibt. Man darf aber nicht vergessen, wie groß und gemeinsam die Erwartung ist, mit der sie dasitzen, und wie diese Erwartung während der ganzen Aufführung vorhält. Nur selten verlassen sie das Theater vor Schluß; selbst wenn sie enttäuscht sind, halten sie durch; das bedeutet aber, daß sie so lange zusammenhalten.

Der Gegensatz zwischen der Stille der Zuhörer und dem lauten Treiben des Apparates, der auf sie einwirkt, ist noch auffallender in Konzerten. Hier kommt alles auf vollkommene Ungestörtheit an. Jede Bewegung ist unerwünscht, jeder Laut verpönt. Während die Musik, die aufgeführt wird, zum guten Teil von ihrem Rhythmus lebt, darf nichts von rhythmischer Wirkung auf die Zuhörer spürbar werden. Die Affekte, die von der Musik in unaufhörlichem Wechsel ausgelöst werden, sind mannigfaltigster und intensivster Art. Es ist ausgeschlossen, daß sie von den meisten der Anwesenden nicht empfunden werden, und es ist ausgeschlossen, daß man sie nicht zugleich empfindet. Aber alle äußeren Reaktionen darauf unterbleiben. Die Menschen sitzen regungslos da, als brächten sie es fertig, nichts zu hören. Es ist klar, daß eine lange, künstliche Erziehung zur Stockung hier notwendig war, an deren Ergebnisse wir uns bereits gewöhnt haben. Denn unbefangen besehen, gibt es wenig Erscheinungen in unserem kulturellen Leben, die so erstaunlich sind wie ein Konzertpublikum. Menschen, die Musik natürlich auf sich einwirken lassen, benehmen sich ganz anders; und solche, die Musik überhaupt noch nicht gehört haben, können das erstemal, da sie welche erleben, in die zügelloseste Erregung geraten. Als den Ureinwohnern Tasmaniens von landenden Matrosen die Marseillaise vorgespielt wurde, gaben sie ihrer Zufriedenheit durch sonderbare Verdrehungen des Körpers und die erstaunlichsten Gesten Ausdruck, so daß die Matrosen sich vor Lachen schütteln mußten. Ein begeisterter junger Mann riß sich an den Haaren, kratzte sich den Kopf mit beiden Händen und stieß wiederholt laute Rufe aus.

Ein kümmerlicher Rest von körperlicher Entladung hat sich auch in unseren Konzerten erhalten. Das Beifallsklatschen wird als Dank für die Ausführenden dargebracht, ein chaotischer, kurzer Lärm für einen wohlorganisierten, langen. Bleibt der Beifall ganz weg, geht man still, wie man dagesessen ist, auseinander, so fühlt man sich bereits ganz in der Sphäre religiöser Andacht.

Aus ihr leitet sich ursprünglich die Stille des Konzertes her. Das gemeinsame Stehen vor Gott ist eine in manchen Religionen verbreitete Übung. Sie zeichnet sich durch dieselben Züge des Stockens aus, die man nun von weltlichen Massen her kennt, und sie kann zu ebenso plötzlichen und heftigen Entladungen führen.

Vielleicht der eindrucksvollste Fall ist das berühmte 'Stehen auf Arafat', der Höhepunkt der Pilgerfahrt nach Mekka. Auf der Ebene von Arafat in einigen Stunden Entfernung von Mekka sammeln sich an einem bestimmten, rituell festgesetzten Tage 600.000-700.000 Pilger. Sie gruppieren sich in einem großen Kreis um den 'Berg der Gnade', einen kahlen Hügel, der sich in der Mitte dieser Ebene erhebt. Gegen 2 Uhr nachmittags, wenn es am heißesten ist, nehmen die Pilger Aufstellung und bleiben bis Sonnenuntergang da stehen. Sie sind barhäuptig und alle in dasselbe weiße Pilgergewand gekleidet. In leidenschaftlicher Spannung horchen sie auf die Worte des Predigers, der vom Hügel herab zu ihnen spricht. Seine Predigt ist eine ununterbrochene Lobpreisung Gottes. Sie entgegnen mit einer Formel, die sich tausendmal wiederholt: "Wir harren deiner Befehle, Herr, wir harren deiner Befehle!" Manche schluchzen vor Erregung, manche schlagen sich auf die Brust. Manche werden in der ungeheuren Hitze ohnmächtig. Aber es ist wesentlich, daß sie in diesen glühend langen Stunden auf der heiligen Ebene ausharren. Erst bei Sonnenuntergang wird das Zeichen zum Aufbruch gegeben.
Die weiteren Vorgänge, die zum Rätselhaftesten gehören, was an religiösen Gebräuchen bekannt ist, werden später in einem anderen Zusammenhang behandelt und gedeutet. Hier interessiert uns nur dieser stundenlange Moment des Stockens. Hunderttausende von Menschen in steigender Erregung werden auf der Ebene von Arafat festgehalten und dürfen, was immer ihnen geschieht, diese Station vor Allah nicht verlassen. Zusammen treten sie an und zusammen erhalten sie das Zeichen zum Aufbruch. Sie werden durch die Predigt angefeuert, und sie feuern sich selber durch Zurufe an. In der Formel, die sie gebrauchen, ist das 'Harren' enthalten und kehrt als solches immer wieder. Die Sonne, die sich unmerklich langsam von der Stelle bewegt, taucht alles ins selbe glänzende Licht, in dieselbe Glut; man möchte sie die Verkörperung des Stockens nennen.

Es gibt alle Abstufungen des Erstarrens wie der Stille unter religiösen Massen, aber der höchste Grad von Passivität, den sie überhaupt erreichen kann, wird der Masse gewaltsam von außen auferlegt. In der Schlacht gehen zwei Massen aufeinander los, von denen jede stärker als die andere sein will. Durch das Schlachtgeschrei suchen sie sich wie dem Feinde zu beweisen, daß sie wirklich die Stärkeren sind. Das Ziel der Schlacht ist es, die andere Partei zum Verstummen zu bringen. Wenn alle Gegner niedergemacht sind, ist ihre laute, in eins gesammelte Stimme, eine Drohung, die man mit Recht gefürchtet hat, für immer verstummt. Die stillste Masse ist die der feindlichen Toten. Je gefährlicher sie war, um so lieber sieht man sie regungslos auf einem Haufen beisammen. Es ist eine eigene Sucht, sie so wehrlos als Haufen von Toten zu erleben. Denn als Haufen sind sie zuvor auf einen losgegangen, als Haufen haben sie gegen einen geschrien. Diese gestillte Masse der Toten hat man früher keineswegs als leblos empfunden. Man nahm an, daß sie anderswo auf ihre Weise weiterleben würden, wieder alle beisammen, und im Grunde sollte es ein ähnliches Leben sein wie jenes, das man selber an ihnen gekannt hatte. Die Feinde, die als Leichen dalagen, stellten so für den Betrachter den extremen Fall einer stockenden Masse vor.

Aber auch diese Vorstellung hat noch eine Steigerung erfahren. Statt den gefällten Feinden können es alle Toten überhaupt werden, die in der gemeinsamen Erde liegen und da auf ihre Auferstehung harren. Jeder, der stirbt und begraben wird, vermehrt ihre Zahl; alle, die je gelebt haben, gehören dazu, und es sind ihrer schon unendlich viele. Die Erde, die sie verbindet, ist ihre Dichte, und so hat man, auch wenn sie einzeln liegen, das Gefühl, daß sie ganz nahe beieinander sind. Sie bleiben unendlich lange so liegen bis zum Tage des Jüngsten Gerichts. Ihr Leben stockt bis zum Augenblick der Auferstehung, und dieser Augenblick fällt zusammen mit dem ihrer Versammlung vor Gott, der sie richten wird. Es ist nichts dazwischen; als Masse liegen sie da, als Masse stehen sie wieder auf. Für die Realität und Bedeutung der stockenden Masse gibt es keinen großartigeren Beweis als die Entwicklung dieser Konzeption von Auferstehung und Jüngstem Gericht.

Langsamkeit oder die Ferne des Ziels

Zur langsamen Masse gehört die Ferne des Ziels. Man bewegt sich mit großer Beharrlichkeit auf ein Ziel hin, das unverrückbar ist, und bleibt unterwegs auf alle Fälle zusammen. Der Weg ist weit, die Hindernisse unbekannt, Gefahren drohen von allen Seiten. Eine Entladung ist nicht erlaubt, bevor man das Ziel erreicht hat.

Die langsame Masse hat die Form eines Zuges. Sie kann von Anfang an aus allen bestehen, die zu ihr gehören, wie beim Auszug der Kinder Israel aus Ägypten. Ihr Ziel ist das Gelobte Land, und sie sind eine Masse, so lange sie an dieses Ziel glauben. Die Geschichte ihrer Wanderung ist die Geschichte dieses Glaubens. Oft sind die Schwierigkeiten so groß, daß sie zu zweifeln beginnen. Sie hungern oder dürsten, und sobald sie murren, sind sie vom Zerfall bedroht. Immer wieder bemüht sich der Mann, der sie anführt, ihren Glauben zu retablieren. Immer wieder gelingt es ihm, und wenn nicht ihm, so gelingt es den Feinden, von denen sie sich bedroht fühlen. Die Geschichte der Wanderung, die sich über vierzig Jahre erstreckt, enthält viele Einzelbildungen von Massen rascher und akuter Natur, und es wird über sie bei Gelegenheit manches zu sagen sein. Aber sie sind alle der umfassenderen Vorstellung einer einzigen, langsamen Masse untergeordnet, die sich auf ihr gelobtes Ziel hinbewegt, das Land, das ihnen verheißen wurde. Die Erwachsenen unter ihnen werden alt und sterben ab, Junge werden geboren und werden groß, aber auch wenn die Individuen alle andere sind, der Zug als ganzer bleibt derselbe. Es fließen ihnen keine neuen Gruppen zu. Von Anfang an ist bestimmt, wer zu ihnen gehört und ein Anrecht auf das verheißene Land hat. Da diese Masse nicht sprunghaft wachsen kann, bleibt es während ihrer ganzen Wanderung die eine kardinale Frage: Wie macht sie es, daß sie nicht zerfällt?

Eine zweite Form der langsamen Masse ist eher mit einem Flußsystem zu vergleichen. Sie beginnt mit kleinen Bächen, die allmählich zusammenrinnen; in den Fluß, der entsteht, münden von allen Seiten andere Flüsse; das Ganze wird, wenn genug Land vor ihm liegt, ein Strom, und sein Ziel ist das Meer. Die jährliche Pilgerfahrt nach Mekka ist vielleicht das eindrucksvollste Beispiel für diese Form der langsamen Masse. Von den entferntesten Teilen der islamischen Welt ziehen Karawanen mit Pilgern aus, alle in der Richtung auf Mekka zu. Manche beginnen vielleicht klein, andere, die von Fürsten mit großem Glanze ausgestattet sind, sind von Anfang an der Stolz der Länder, aus denen sie ihren Ursprung nehmen. Aber alle stoßen im Verlaufe ihrer Wanderung auf andere Karawanen, die dasselbe Ziel haben, und so wachsen sie mehr und mehr an und werden in der Nähe ihres Ziels zu mächtigen Strömen. Mekka ist ihr Meer, in das sie münden.

Es gehört zur Verfassung solcher Pilger, daß viel Raum für Erlebnisse gewöhnlicher Art bleibt, die mit dem Sinn der Fahrt an sich gar nichts zu tun haben. Man lebt seinen oft wiederkehrenden Tag, man schlägt sich mit vielen Gefahren herum, man ist meist arm und hat für Nahrung und Trank zu sorgen. Das Leben dieser Menschen, das sich in der Fremde abspielt, einer Fremde, die immerwährend wechselt, ist Gefahren viel mehr ausgesetzt als zu Haus. Es sind nicht durchaus Gefahren, die sich auf die Art ihres Unternehmens beziehen. So bleiben diese Pilger im weiten Maße Individuen, die separiert für sich dahinleben wie Menschen überall. Aber solange sie an ihrem Ziele festhalten, und das ist bei den meisten von ihnen der Fall, sind sie auch immer Teile einer langsamen Masse, die – wie immer sie sich zu ihr verhalten mögen – weiterbesteht und bestehenbleiben wird, bis sie an ihr Ziel gelangt.

Eine dritte Form der langsamen Masse hat man in all jenen Gebilden vor sich, die sich auf ein unsichtbares und in diesem Leben unerreichbares Ziel beziehen. Das Jenseits, in dem die Seligen auf alle die warten, die sich einen Platz darin verdient haben, ist ein wohlartikuliertes Ziel und den Gläubigen allein zugehörig. Sie sehen es klar und deutlich vor sich und müssen sich nicht mit einem vagen Symbol dafür begnügen. Das Leben ist wie ein Pilgerweg dorthin, zwischen ihnen und dem Jenseits steht der Tod. Der Weg ist im einzelnen nicht bezeichnet und schwer zu überschauen. Viele verirren sich und gehen auf ihm verloren. Immerhin färbt die Hoffnung auf das Jenseits das Leben des Gläubigen so sehr, daß man das Recht hat, von einer langsamen Masse zu sprechen, zu der die Anhänger eines Glaubens alle zusammen gehören. Da sie einander nicht kennen und über viele Städte und Länder verstreut leben, ist das Anonyme dieser Masse besonders eindrucksvoll.

Wie aber sieht es in ihr aus, und was unterscheidet sie am meisten von den raschen Formen?

Die Entladung ist der langsamen Masse versagt. Man könnte sagen, daß dies ihr wichtigstes Kennzeichen ist, und so ließe sich auch statt von langsamen von entladungslosen Massen sprechen. Doch ist die erste Bezeichnung vorzuziehen, denn es ist nicht so, daß man auf die Entladung ganz verzichten kann. In der Vorstellung von einem Endzustand bleibt sie immer mit enthalten. Sie wird in eine weite Ferne hinausgeschoben. Dort, wo das Ziel ist, ist auch die Entladung. Eine starke Vision von ihr ist immer da, ihre Sicherheit liegt am Ende.

In der langsamen Masse hat man es darauf abgesehen, den Prozeß, der zur Entladung führt, auf weite Sicht hin zu verzögern. Die großen Religionen haben in diesem Verzögerungsgeschäft eine besondere Meisterschaft entwickelt. Es liegt ihnen daran, die Anhänger, die sie sich gewonnen haben, zu behalten. Um sie zu behalten und um neue dazuzugewinnen, müssen sie sich von Zeit zu Zeit versammeln. Wenn es bei diesen Versammlungen einmal zu heftigen Entladungen gekommen ist, müssen diese wiederholt und an Heftigkeit womöglich übertroffen werden; zumindest wird eine regelmäßige Wiederholung der Entladungen unerläßlich, wenn die Einheit der Gläubigen nicht verlorengehen soll. Was während dieser Art des Dienstes geschieht, der sich in rhythmischen Massen abspielt, ist über größere Distanzen hin nicht zu kontrollieren. Das Zentralproblem der Universalreligionen ist die Beherrschung ihrer Gläubigen über weite Erdstriche hin. Diese Beherrschung ist nur möglich durch eine bewußte Verlangsamung der Massenvorgänge. Die Ziele in der Ferne müssen an Bedeutung gewinnen, die der Nähe müssen immer mehr an Gewicht verlieren und schließlich wertlos erscheinen. Die irdische Entladung ist nie von Dauer, was ins Jenseits verlegt wird, hat Bestand.

Ziel und Entladung fallen so zusammen, das Ziel aber ist unverwundbar. Denn das gelobte Land hier auf Erden kann von Feinden besetzt und verwüstet, das Volk, dem es gelobt war, kann daraus vertrieben werden. Mekka ist von den Karmaten erobert und ausgeraubt worden, der heilige Stein der Kaaba wurde von ihnen verschleppt. Viele Jahre lang konnte keine Pilgerfahrt dorthin unternommen werden.

Das Jenseits aber mit seinen Seligen ist allen Verwüstungen dieser Art entrückt. Es lebt vom Glauben allein und ist nur in diesem zu treffen. Der Zerfall der langsamen Masse des Christentums hat in dem Augenblick eingesetzt, da der Glaube an dieses Jenseits sich zu zersetzen anfing.

Die unsichtbaren Massen

Wo immer es Menschen gibt, auf der ganzen Erde, findet sich die Vorstellung von den unsichtbaren Toten. Man möchte sie als die älteste Vorstellung der Menschheit bezeichnen. Es gibt gewiß keine Horde, keinen Stamm, kein Volk, das sich nicht ausgiebig Gedanken über seine Toten machte. Der Mensch war von ihnen besessen; sie waren von ungeheurer Bedeutung für ihn; ihre Einwirkung auf die Lebenden war ein wesentlicher Teil dieses Lebens selbst.

Man dachte sie sich alle beisammen, so wie die Menschen beisammen sind, und neigte dazu, sehr viele von ihnen anzunehmen:

Die alten Bechuana wie die anderen Eingeborenen Südafrikas glaubten, daß aller Raum von den Geistern ihrer Ahnen voll sei. Erde, Luft und Himmel waren von Geistern erfüllt, in deren Willkür es lag, einen bösen Einfluß auf die Lebenden auszuüben.

Die Boloki am Kongo glauben, daß sie von Geistern umgeben sind, die ihnen bei jeder Gelegenheit etwas anzutun, die ihnen zu jeder Tages- und Nachtstunde zu schaden suchen. Flüsse und Bäche sind erfüllt von den Geistern ihrer Ahnen. Auch Wald und Busch stecken voll von Geistern. Den Reisenden zu Land oder Wasser, die sich von der Nacht ereilen lassen, können sie gefährlich werden. Niemand ist mutig genug, bei Nacht durch den Wald zu gehen, der ein Dorf vom anderen trennt, auch die Aussicht auf eine große Belohnung kann keinen dazu verlocken. Die Antwort auf solche Angebote lautet immer: "Es sind zuviel Geister im Wald."

Man glaubt gewöhnlich, daß die Toten zusammen hausen, in einem fernen Lande, unter der Erde, auf einer Insel oder in einem Himmelshaus. In einem Lied der Pygmäen des Gabun heißt es:

Die Tore der Höhle sind geschlossen. Die Seelen der Toten drängen sich dort, in Scharen, wie ein Schwarm von Fliegen, die am Abend tanzen. Ein Schwarm von Fliegen, die am Abend tanzen, wenn die Nacht dunkel geworden ist, wenn die Sonne verschwand, ein Schwarm von Fliegen: Schwirren von toten Blättern in einem heulenden Sturm.

Es ist aber nicht genug, daß der Toten immer mehr werden und ein Gefühl für ihre Dichte vorherrschend wird. Sie sind auch in Bewegung und auf gemeinsame Unternehmungen aus. Gewöhnlichen Leuten bleiben sie unsichtbar, aber es gibt Menschen mit besonderen Gaben, Schamanen, die sich auf Beschwörungen verstehen und Geister unterwerfen können, die zu ihren Dienern werden. Bei den Tschuktschen in Sibirien

hat ein guter Schamane ganze Legionen von Hilfsgeistern, und wenn er sie alle ruft, kommen sie in solchen Mengen, daß sie das kleine Schlafzelt, in dem die Beschwörung stattfindet, geradezu wie mit einer Wand von allen Seiten umgeben.

Die Schamanen sagen, was sie sehen:

Mit einer Stimme, die vor Bewegung zittert, ruft der Schamane durch die Schneehütte: "Der Himmelsraum ist mit nackten Wesen erfüllt, die durch die Luft daherfahren. Menschen, nackte Männer, nackte Frauen, die dahinfahren und Sturm und Schneegestöber entfachen. Hört ihr es sausen? Es braust wie der Flügelschlag großer Vögel oben in der Luft. Das ist die Angst nackter Menschen, das ist die Flucht nackter Menschen! Die Geister der Luft blasen Sturm aus, die Geister der Luft treiben den fliegenden Schnee über die Erde."

Dieses großartige Gesicht von nackten Geistern auf der Flucht stammt von den Eskimos.

Manche Völker denken sich ihre Toten oder eine gewisse Anzahl unter ihnen als kämpfende Heere. Bei den Kelten des schottischen Hochlandes wird das Heer der Toten mit einem besonderen Worte bezeichnet: sluagh. Dieses Wort wird englisch mit 'spirit-multitude' oder 'Geister-Vielzahl' wiedergegeben. Das Geisterheer fliegt in großen Wolken – wie die Stare über das Antlitz der Erde – auf und ab. Immer kehren sie an die Stätten ihrer irdischen Sünden zurück. Mit ihren unfehlbaren, giftigen Pfeilen töten sie Katzen, Hunde, Schafe und Rinder der Menschen. Sie schlagen Schlachten in der Luft wie die Menschen auf der Erde. In klaren, frostigen Nächten kann man sie hören und sehen, wie ihre Heere gegeneinander vorrücken und sich zurückziehen, sich zurückziehen und wieder vorrücken. Nach einer Schlacht färbt ihr Blut Felsen und Steine rot. Das Wort 'gairm' bedeutet 'Schrei, Ruf', und 'sluagh-ghairm' war der Schlachtruf der Toten. Daraus ist später das Wort 'slogan' geworden: Die Bezeichnung für die Kampfrufe unserer modernen Massen stammt von den Totenheeren des Hochlands.

Zwei nordische Völker, die weit auseinander wohnen, die Lappen in Europa und die Tlinkit-Indianer in Alaska, haben dieselbe Vorstellung über das Nordlicht als Schlacht.
Die Kolta-Lappen glauben im Nordlicht die im Kriege Gefallenen zu sehen, die noch als Geister in der Luft miteinander kämpfen. Die russischen Lappen erblicken im Nordlicht die Geister der Getöteten. Sie wohnen in einem Haus, wo sie sich manchmal versammeln, da stechen sie sich tot, und der Boden ist voll Blut. Das Nordlicht zeigt an, daß die Seelen der Ermordeten ihre Schlachten beginnen. Bei den Tlinkit in Alaska kommen alle, die an Krankheit sterben und nicht im Kriege fallen, bloß in die Unterwelt. Nur die tapferen Krieger, die in Kriegen getötet wurden, sind im Himmel. Dann und wann öffnet sich dieser, um neue Geister aufzunehmen. Dem Schamanen zeigen sie sich immer als vollgerüstete Krieger. Diese Seelen der Gefallenen erscheinen oft als Nordlicht, besonders als solche Nordlicht-Flammen, die als Pfeile oder Garben sichtbar werden und sich hin und her bewegen, manchmal aneinander vorbeilaufen oder die Plätze tauschen, was sehr an die Kampfesweise der Tlinkit erinnert. Ein starkes Nordlicht kündigt, glaubt man, ein großes Blutvergießen an, weil da die toten Krieger sich Kameraden wünschen.

Eine ungeheure Zahl von Kriegern findet sich nach dem Glauben der Germanen in Walhall beisammen. Alle Männer, die seit Anbeginn der Welt im Kampfe gefallen sind, gelangen nach Walhall. Ihre Zahl wächst immer weiter, denn der Kriege ist kein Ende. Da schlemmen und zechen sie, ewig erneuert sich ihnen Nahrung und Trank. Jeden Morgen ergreifen sie ihre Waffen und ziehen aus zum Kampf. Sie töten einander im Spiel, aber sie stehen wieder auf, es ist kein wirklicher Tod. Durch 640 Tore ziehen sie in Walhall wieder ein, je 800 Mann in einer Reihe.

Es sind aber nicht nur die Geister der Verstorbenen, die man sich in solchen für gewöhnliche Lebende unsichtbaren Mengen vorstellt. In einem alten jüdischen Text heißt es:
An dem Menschen ist es zu wissen, und er sollte es sich merken, daß es keinen freien Raum gibt zwischen Himmel und Erde, sondern ist alles voll von Scharen und Mengen. Ein Teil von ihnen ist rein, voller Gnade und Milde; ein Teil aber sind unreine Geschöpfe, Schädiger und Peiniger. Alle fliegen sie in der Luft herum: welche von ihnen wollen den Frieden, welche suchen den Krieg; welche stiften Gutes, welche richten Böses an; welche bringen Leben, welche aber den Tod.1

In der Religion der alten Perser bilden die Dämonen ein besonderes Heer, das unter eigenem Oberbefehl steht. Für die Unzählbarkeit dieser Dämonen findet sich in ihrem heiligen Buche, dem Zend-Avesta, folgende Formel:

Tausende und aber Tausende von Dämonen, Zehntausende und aber Zehntausende, ihre zahllosen Myriaden.

Das christliche Mittelalter hat sich über die Zahl der Teufel ernsthaft Gedanken gemacht. Im 'Dialog über die Wunder' des Cäsarius von Heisterbach wird berichtet, wie sie einmal den Chor einer Kirche so dicht erfüllten, daß sie den Gesang der Mönche störten. Diese hatten den dritten Psalm 'Herr, wie sind meiner Feinde so viel' begonnen. Die Teufel flogen von einer Seite des Chors zur anderen und mischten sich unter die Mönche. Diese wußten gar nicht mehr, was sie sangen, und in ihrer Verwirrung suchte eine Seite die andere zu überschreien. Wenn so viele Teufel sich an einem Orte versammeln, um einen einzigen Gottesdienst zu stören – wie viele muß es dann erst auf der ganzen Erde geben! Aber schon das Evangelium, meint Cäsarius, bezeugt, daß eine Legion von ihnen in einen einzigen Menschen fuhr.

Ein böser Priester auf seinem Totenbett sagte zu einer Verwandten, die bei ihm saß:

Siehst du jene große Scheune uns gegenüber? Unter ihrem Dache sind so viele Strohhalme, als jetzt Teufel um mich versammelt sind.

Da lauern sie auf seine Seele, um sie ihrer Strafe zuzuführen. Aber sie versuchen ihr Glück auch am Totenbett der Frommen. Beim Begräbnis einer guten Äbtissin waren mehr Teufel um sie versammelt, als es Blätter an den Bäumen eines großen Waldes gibt. Um einen sterbenden Abt waren ihrer mehr als der Sand an den Ufern des Meeres. Diese Angaben verdankt man einem Teufel, der persönlich dabei war, und einem Ritter, mit dem er ins Gespräch kam, Rede und Antwort stand. Er verhehlte seine Enttäuschung über diese erfolglosen Bemühungen nicht und gestand, daß er schon beim Tode Christi auf einem Kreuzesarme saß.

Man sieht, die Zudringlichkeit dieser Teufel ist so ungeheuerlich wie ihre Zahl. Wenn der Zisterzienser-Abt Richalm die Augen schloß, sah er sie dicht wie Staub um sich. Es hat genauere Schätzungen ihrer Zahl gegeben. Unter diesen sind mir zwei bekannt, die aber weit auseinandergehen. Die eine lautet auf 44.635.569, die andere auf elf Billionen.

In großem und natürlichem Gegensatz dazu steht die Vorstellung, die man sich von den Engeln und Seligen macht. Hier ist alles Ruhe, man will nichts mehr erlangen, man ist am Ziel. Aber auch sie sind versammelt, die himmlischen Heerscharen, 'eine Unzahl von Engeln, Patriarchen, Propheten, Aposteln, Märtyrern, Bekennern, Jungfrauen und anderen Gerechten'. In großen Kreisen angeordnet stehen sie um den Thron ihres Herrn, wie die Untertanen eines Hofes ihrem König zugewandt. Kopf ist dicht an Kopf, auf ihre Nähe zu ihm gründet sich ihre Glückseligkeit. Sie sind für immer bei ihm aufgenommen worden, und so wenig wie ihn werden sie einander je verlassen. Sie sind in seinen Anblick versunken, und sie lobpreisen ihn. Es ist das einzige, das sie noch tun, sie tun es gemeinsam.

Von solchen Vorstellungen unsichtbarer Massen ist der Geist der Gläubigen erfüllt. Ob es die Toten, die Teufel oder die Heiligen sind, man denkt sie sich in großen, konzentrierten Scharen. Man möchte sagen, daß die Religionen mit diesen unsichtbaren Massen beginnen. Ihre Lagerung ist verschieden, in jedem Glauben bildet sich ein besonderes Gleichgewicht für sie heraus. Eine Einteilung der Religionen nach der Art, wie sie ihre unsichtbaren Massen manipulieren, ist möglich und wäre sehr wünschenswert. Die höheren Religionen, worunter man die versteht, die allgemeine Geltung erlangt haben, beweisen darin eine souveräne Sicherheit und Klarheit. An die unsichtbaren Massen, die sie durch ihre Predigt am Leben erhalten, hängen sich die Ängste und Wünsche der Menschen. Das Blut des Glaubens sind diese Unsichtbaren. Sobald sie verblassen, ist der Glaube geschwächt, und während er allmählich abstirbt, treten andere Scharen an die Stelle der Verblaßten.

Von einer solchen Masse – und es ist vielleicht die wichtigste – war noch nicht die Rede. Es ist die einzige, die auch uns Menschen von heute ihrer Unsichtbarkeit zum Trotz als natürlich erscheint: die Nachkommenschaft. Bis auf zwei oder vielleicht auch drei Generationen mag ein Mensch sie noch übersehen, aber dann liegt sie ganz in der Zukunft. Eben in ihrer Zahllosigkeit ist die Nachkommenschaft niemand sichtbar. Man weiß, daß sie zunehmen muß, erst allmählich, dann mit wachsender Beschleunigung. Stämme und ganze Völker führen sich auf einen Stammvater zurück, und aus den Verheißungen, die diesem gegeben werden, ist ersichtlich, wie herrliche, doch vor allem wie viele Nachkommen er sich wünscht: zahlreich wie die Sterne des Himmels und wie der Sand am Meer. Im Schi-King, dem klassischen Liederbuch der Chinesen, findet sich ein Gedicht, in dem die Nachkommenschaft einem Heuschreckenschwarm verglichen wird:

Die Schwingen der Heuschrecken sagen: Dränge, dränge!
O mögen deine Söhne und Enkel
Ein unzählbares Heer sein!
Die Schwingen der Heuschrecken sagen: Binde, binde!
O mögen deine Söhne und Enkel
Sich in endloser Linie folgen!
Die Schwingen der Heuschrecken sagen: Vereine, vereine!
O mögen deine Söhne und Enkel
Für immer eins sein!

Große Zahl, Nichtabreißen in der Nachfolge – also eine Art von Dichte über die Zeit hin – und Einheit sind die drei Wünsche für die Nachkommenschaft, die hier ausgesprochen werden. Der Heuschreckenschwarm als Symbol für die Masse der Nachkommenschaft ist darum besonders eindrucksvoll, weil die Tiere hier nicht als schädliches Ungeziefer, sondern eben um der Kraft ihrer Vermehrung willen als etwas Vorbildliches angesehen werden.

Das Gefühl für die Nachkommenschaft ist heute so lebendig, wie es immer war. Doch hat sich die Vorstellung des Massenhaften von der eigenen Nachkommenschaft abgelöst und auf die zukünftige Menschheit als Ganzes übertragen. Für die meisten von uns sind die Heere der Toten ein leerer Aberglaube geworden. Doch gilt es als edle und keineswegs müßige Bemühung, die Masse der Ungeborenen vorauszufühlen, ihnen wohlzuwollen und ein besseres und gerechteres Leben für sie vorzubereiten. In der allgemeinen Bangigkeit um die Zukunft der Erde ist dieses Gefühl für die Ungeborenen von der größten Bedeutung. Es könnte sein, daß der Abscheu vor ihrer Verstümmelung, der Gedanke daran, wie sie aussehen möchten, wenn wir heute unsere neuartigen Kriege führen, mehr als alle privaten Ängste um uns selbst zur Abschaffung dieser Kriege und des Krieges überhaupt führen.

Bedenkt man nun noch das Schicksal der unsichtbaren Massen, von denen hier die Rede war, so läßt sich sagen, daß einige von ihnen weitgehend, andere ganz verschwunden sind. Zu den letzteren gehören die Teufel, in ihrer vertrauten Gestalt sind sie ihren früheren Mengen zum Trotz nirgends mehr anzutreffen. Doch haben sie ihre Spuren hinterlassen. Für ihre Kleinheit hatten sich aus der Zeit ihrer Hochblüte, aus Cäsarius von Heisterbach zum Beispiel, manche frappierenden Zeugnisse beibringen lassen. Sie haben seither alle Züge, die an die menschliche Gestalt gemahnen könnten, aufgegeben und sind noch viel kleiner geworden. Sehr verändert also und in noch viel größerer Menge sind sie im 19. Jahrhundert wieder aufgetaucht, als Bazillen. Statt gegen die Seele richtet sich ihr Angriff gegen den Leib des Menschen. Diesem aber können sie sehr gefährlich werden. Die wenigsten Menschen haben in ein Mikroskop geblickt und sie da wirklich zu Gesicht bekommen. Aber alle, die von ihnen gehört haben, sind sich ihrer Gegenwart immer bewußt und geben sich Mühe, mit ihnen nicht in Berührung zu kommen: bei ihrer Unsichtbarkeit ein etwas vages Unternehmen. Ihre Gefährlichkeit und die Konzentration ganz ungeheurer Zahlen von ihnen auf sehr kleinem Raum haben sie ohne Zweifel von den Teufeln übernommen.

Eine unsichtbare Masse, die immer bestand, aber als solche erst erkannt wurde, seit es Mikroskope gibt, ist die des Sperma. Zweihundert Millionen dieser Samentierchen machen sich zugleich auf den Weg. Sie sind untereinander gleich und in größter Dichte beisammen. Sie haben alle ein Ziel, und bis auf ein einziges unter ihnen gehen alle auf dem Weg zugrunde. Es ließe sich sagen, daß sie keine Menschen sind und daß man von Masse im beschriebenen Sinne hier eigentlich nicht sprechen sollte. Aber dieser Einwand trifft gar nicht ins Wesen der Sache. Jedes dieser Samentierchen bringt alles mit, was von den Ahnen erhalten bleiben wird. Es enthält die Ahnen, es ist die Ahnen. Es ist eine Überraschung ungeheuerlichster Art, sie hier wiederzufinden, zwischen einem Menschendasein und dem anderen, in gründlich veränderter Gestalt: alle von ihnen in einem winzigen, unsichtbaren Geschöpf, und dieses Geschöpf in solchen unermeßlichen Zahlen.

...

Meute und Religion

Umschlag der Meuten

Alle Formen der Meute, wie sie geschildert worden sind, haben die Neigung, ineinander überzugehen. So konstant die Meute in ihrer Wiederholung ist, so sehr sie sich ähnelt, wenn sie wiedererscheint, in ihrem separaten, einmaligen Ablauf hat sie immer etwas Fließendes.

Schon die Erlangung des Ziels, auf das sie aus ist, hat eine unvermeidliche Änderung in ihrer Verfassung zur Folge. Die gemeinsame Jagd, die es zu etwas gebracht hat, führt zu einer Verteilung. Siege, mit Ausnahme der 'reinen' Fälle, in denen es ums Niedermetzeln der Feinde allein geht, arten in Plünderung aus. – Die Klage endet mit der Entfernung des Toten; sobald er dort ist, wo man ihn haben will, sobald man sich halbwegs sicher vor ihm fühlt, läßt die Erregung der Meute nach, und man geht auseinander. Doch die Beziehung zum Toten ist damit nicht wirklich erschöpft. Man nimmt an, daß er anderswo weiterlebt; man mag ihn, zur Gewinnung von Hilfe und Rat, unter die Lebenden zurückzitieren. In der Beschwörung ihres Toten konstituiert sich die Klagemeute sozusagen wieder, aber das Ziel ihres Gebarens ist nun dem ursprünglichen entgegengesetzt. In irgendeiner Form wird der Tote, der früher entfernt worden war, zu den Seinen zurückgeholt. – Der Büffeltanz der Mandan geht mit der Ankunft der Büffel zu Ende. Die Vermehrungsmeute, die erfolgreich war, geht in ein Fest der Verteilung über.

Jede Art von Meute hat, wie man sieht, ein Negativ, in das sie hinüberwechselt. Aber neben dem Wechsel ins Negativ, der natürlich erscheint, gibt es eine Bewegung ganz anderer Art: den Umschlag verschiedener Meuten ineinander.

Man entsinnt sich eines solchen Falles von einer Ahnenlegende der Aranda. Ein starkes Känguruh wird von vielen Männern zusammen zu Tode getrampelt. Dabei kommt der erste unter den Jägern als Opfer seiner Genossen selber um und wird von ihnen feierlich begraben: Die Jagdmeute schlägt um in eine Klagemeute. – Vom Sinne der Kommunion war bereits ausführlich die Rede: Die Jagdmeute wandelt sich in eine der Vermehrung. – Ein anderer Umschlag steht am Beginn von Kriegen: Ein Mann wird getötet, seine Stammesangehörigen beklagen ihn; dann formieren sie sich zu einer Truppe und ziehen aus, seinen Tod am Feinde zu rächen. Die Klagemeute geht in eine Kriegsmeute über.

Der Umschlag der Meuten ist ein auffallender Prozeß. Er findet sich überall und läßt sich in den verschiedensten Sphären menschlicher Aktivität erforschen. Ohne seine genaue Kenntnis sind soziale Ereignisse, welcher Art immer, überhaupt nicht zu begreifen.

Manche dieser Umschläge sind aus größeren Zusammenhängen herausgelöst und festgelegt worden. Sie haben ihren besonderen Sinn erlangt, sie sind zum Ritual geworden. In genau gleicher Weise führt man sie immer wieder vor. Sie sind der eigentliche Gehalt, der Kern jedes bedeutenden Glaubens. Aus der Dynamik der Meuten und der besonderen Art, wie sie ineinander spielen, erklärt sich der Aufstieg der Weltreligionen.

Im folgenden werden einige wenige soziale oder religiöse Gebilde auf die Meuten hin betrachtet, die in ihnen vorherrschend sind. Es wird sich zeigen, daß es Religionen der Jagd und des Krieges, der Vermehrung und der Klage gibt. Bei den Lele im belgischen Kongo steht die Jagd, ihrer geringen Ergiebigkeit zum Trotz, im Zentrum des sozialen Lebens. Die Jivaros in Ecuador leben ganz für den Krieg. Die Pueblo-Stämme im Süden der Vereinigten Staaten zeichnen sich durch die Verkümmerung von Jagd und Krieg und eine erstaunliche Unterdrückung der Klage aus: sie leben ganz auf friedliche Vermehrung hin.

Für das Verständnis der Klagereligionen, die in historischer Zeit die Erde überzogen und zusammengefaßt haben, wird man sich dem Christentum und einer Abart des Islams zuwenden. Eine Schilderung des Muharram-Festes der Schiiten soll die zentrale Position der Klage in dieser Art von Gläubigkeit erhärten. Das letzte Kapitel gilt der Herabkunft des heiligen Osterfeuers in der Grabeskirche zu Jerusalem. Es ist das Fest der Auferstehung, in die die christliche Klage mündet, ihre Rechtfertigung und ihr Sinn.

Wald und Jagd bei den Lele von Kasai

In einer tiefgründigen neueren Studie ist es der englischen Anthropologin Mary Douglas gelungen, die Einheit in Leben und Religion eines afrikanischen Volkes wirklich zu finden. Man weiß nicht, was man an ihrer Arbeit mehr bewundern soll: die Klarheit ihrer Beobachtung oder die Offenheit und Unvoreingenommenheit ihres Denkens. Man dankt ihr am besten, indem man ihr wörtlich folgt.

Die Lele, ein Volk von etwa 20.000 Menschen, leben im belgischen Kongo, in der Nähe des Flusses Kasai. Ihre Dörfer sind im Grasland angelegt, in kompakten Quadraten von 20 bis 100 Hütten, nie weit vom Wald. Ihre Hauptnahrung ist der Mais, den sie im Walde bauen; jedes Jahr wird eine neue Lichtung für ihn geschlagen, und man erwartet nicht mehr als eine Ernte davon. In derselben Lichtung wachsen dann Raffia-Palmen, und von diesen wird so ungefähr alles verwendet. Aus den jungen Blättern gewinnt man ein Material, das die Männer zu Raffia-Tuch verweben. Alle Lele-Männer verstehen sich aufs Weben, im Gegensatz zu ihren Nachbarn. Stücke quadratischen Raffia-Gewebes dienen als eine Art von Geld. Aus dieser Palme wird auch ein sehr geschätzter, ungegorener Wein gewonnen. Bananen und Palmen, obschon sie am besten im Walde gedeihen, pflanzt man auch ums Dorf herum an, Erdnüsse nur hier. Alle übrigen guten Dinge kommen aus dem Wald: Wasser, Brennholz, Salz, Mais, Maniok, Öl, Fisch und Fleisch. Beide Geschlechter, Männer wie Frauen, haben mancherlei Arbeit im Wald zu verrichten. Doch jeden dritten Tag sind die Frauen vom Walde ausgeschlossen. Ihre Vorräte an Nahrungsmitteln, Brennholz und Wasser müssen sie sich am Tag zuvor anlegen. Der Wald gilt bei den Lele als eine Sphäre des Mannes.

Unermeßlich ist das Prestige des Waldes. Die Lele sprechen von ihm mit beinahe dichterischer Begeisterung ... Oft betonen sie den Gegensatz zwischen Wald und Dorf. In der Hitze des Tages, wenn es im staubigen Dorfe unangenehm heiß ist, retten sie sich gern in das kühle Dunkel des Waldes. Arbeit hier fesselt sie und macht ihnen Freude, Arbeit anderswo ist eine Plackerei. "Die Zeit", so sagen sie, "vergeht langsam im Dorf, rasch im Wald." Die Männer prahlen damit, daß sie den ganzen Tag im Wald arbeiten können, ohne Hunger zu verspüren, im Dorf müssen sie immer an Essen denken.

Der Wald ist aber auch ein Ort der Gefahr. Wer in Trauer ist oder einen bösen Traum gehabt hat, darf ihn nicht betreten. Ein solcher Traum wird als Warnung gedeutet. Wer sich am nächsten Tag vor dem Wald nicht hütet, dem wird dort ein Unglück geschehen. Ein Baum fällt ihm auf den Kopf, er schneidet sich mit einem Messer, er stürzt von einer Palme ab. Einem Manne, der die Warnung mißachtet, droht Gefahr nur für seine eigene Person. Eine Frau, die in den Wald zu verbotener Zeit eindringt, gefährdet das ganze Dorf.

Für das große Ansehen des Waldes scheint es drei bestimmte Gründe zu geben: er ist die Quelle aller guten und notwendigen Dinge, von Nahrung, Trank, Behausung, Kleidung; er ist die Quelle der heiligen Medizinen, und drittens ist er der Ort der Jagd, die in ihren Augen als die weitaus bedeutendste Tätigkeit gilt.

Die Lele haben eine wahre Gier nach Fleisch. Es gilt als schwere Beleidigung, einem Gast ein Mahl aus pflanzlicher Nahrung anzubieten. In ihren Gesprächen über gesellige Gelegenheiten verweilen sie gern bei der Menge und der Art des gebotenen Fleisches. Trotzdem züchten sie keine Ziegen und Schweine wie ihre Nachbarn im Süden. Die Vorstellung ekelt sie, Tiere zu essen, die im Dorfe großgeworden sind. Gute Nahrung, sagen sie, soll aus dem Walde stammen, wo sie rein und gesund ist, wie Wildschwein und Antilope. Ratten und Hunde sind unrein, hama, sie gebrauchen dafür dasselbe Wort wie für Eiter und Exkremente. Als ebenso unrein gelten Ziegen und Schweine, eben weil sie im Dorf gezüchtet wurden.

Ihre Gier nach Fleisch verführt sie nie dazu, welches zu essen, das nicht im Walde oder auf der Jagd gewonnen wurde. Sie verstehen sich sehr wohl auf Hundezucht, und es könnte ihnen, wenn sie nur wollten, auch nicht schwerfallen, Ziegen zu halten.

Die Trennung der Weiber von den Männern, des Waldes vom Dorf, die Abhängigkeit des Dorfes vom Wald und der Ausschluß der Weiber vom Wald sind die wichtigsten und immer wiederkehrenden Elemente ihres Rituals.

Das Grasland, das trocken und unfruchtbar ist, hat kein Prestige, es wird ganz den Frauen überlassen und gilt als eine neutrale Sphäre zwischen Wald und Dorf.

Die Lele glauben an einen Gott, der Menschen und Tiere, Flüsse und alle Dinge geschaffen hat. Sie glauben auch an Geister, von denen sie mit Vorsicht und Zurückhaltung sprechen, die sie fürchten. Die Geister waren nie Menschen und sind nie von Menschen gesehen worden. Wer einen Geist sähe, müßte erblinden und an Geschwüren sterben. Die Geister wohnen tief im Wald, besonders in den Quellen der Wasserläufe. Bei Tag schlafen sie, nachts gehen sie um. Sie sterben nicht und sind nie krank. Von ihnen hängt das Glück der Männer auf der Jagd und die Fruchtbarkeit der Frauen ab. Sie können ein Dorf mit Krankheit schlagen. Wasserschweine gelten als die Tiere, die am stärksten mit übersinnlicher Macht geladen sind; sie waten immer in den Quellbächen herum, die der Lieblingsaufenthalt der Geister sind. Das Schwein ist so etwas wie ein Hund des Geistes, es lebt mit ihm und gehorcht ihm wie ein Hund dem Jäger. Wenn ein Wasserschwein einem Geiste ungehorsam war, wird es von diesem bestraft; er läßt es auf der Jagd von einem Menschen töten, dem er damit zugleich eine Belohnung erteilt.

Die Geister verlangen allerhand von den Menschen, ganz besonders aber verlangen sie, daß Frieden im Dorfe herrscht.

Das deutlichste Zeichen, daß alles im Dorfe gut steht, ist eine glückliche Jagd. Die geringe Menge von Fleisch, die jeder einzelne, Mann, Weib oder Kind, empfangen mag, wenn ein Wildschwein erlegt worden ist, kann unmöglich die Freude erklären, die man noch Wochen danach im Gespräche darüber äußert. Die Jagd ist eine Art von spirituellem Barometer, dessen Steigen und Fallen eifrig vom ganzen Dorfe beobachtet wird.

Es ist auffallend, wie Kindergebären und Jagen zusammen genannt werden, als wären sie die einander entsprechenden Funktionen von Weib und Mann. "Das Dorf ist 'verdorben"', mag man sagen. "die Jagd ist mißlungen, die Frauen sind unfruchtbar, alles stirbt." Wenn man mit dem Stand der Dinge zufrieden ist, heißt es aber: "Unser Dorf ist jetzt gut und reich. Wir haben drei Wildschweine getötet, vier Frauen haben empfangen, wir sind alle gesund und stark."

Die Tätigkeit, die das höchste Ansehen genießt, ist die gemeinsame Jagd. Auf diese und nicht auf die private Jagd des einzelnen kommt es an. Männer, die mit Bogen und Pfeilen bewaffnet sind, stellen sich in einem Ringe um einen Teil des Waldes auf. Treiber mit ihren Hunden stöbern das Wild auf. Knaben und alte Männer, die kaum mehr imstande sind zu gehen, suchen sich der Jagd anzuschließen. Am höchsten geschätzt sind die Hundebesitzer, die sich mühsam durchs Gestrüpp hindurcharbeiten, während sie ihre Hunde durch Zurufe aufmuntern und dirigieren. Das aufgescheuchte Wild stürzt sich in die Pfeile der harrenden Jäger. Dies ist wohl die wirkungsvollste Methode der Jagd im dichten Wald. Sie ist auf Überraschung des Wildes angelegt; man schießt rasch und auf sehr kurze Distanz.

Erstaunlich bei einem Volk, das solchen Stolz auf sein Jagen zeigt, ist der allgemeine Mangel an individuellem Geschick. Ein Mann, der in den Wald geht, trägt auf alle Fälle Bogen und einige Pfeile mit sich, aber er verwendet sie nur für Vögel oder Eichhörnchen und denkt nicht daran, Großwild allein zu schießen. Die spezialisierten Techniken des Einzeljägers sind ihnen alle unbekannt. Sie verstehen sich weder auf die Pirsch noch auf die Nachahmung von Tierrufen; Köder wie Camouflage sind ihnen fremd. Selten dringt jemand allein in die Tiefe des Waldes ein. Ihr ganzes Interesse konzentriert sich auf die gemeinsame Jagd. Ein Mann mag im Wald auf eine Herde von Wildschweinen stoßen, die in einem Sumpf herumwaten; er mag so nah an sie herankriechen, daß er ihren Atem hört. Aber ohne einen Schuß zu riskieren, schleicht er sich auf den Zehen davon und holt die Dorfbewohner.

Im Grasland wird nur einmal im Jahr gejagt, in der Trockenzeit, wenn das Gras sich anzünden läßt. Mehrere Dörfer verbinden sich dann, um die brennende Landschaft zu umstellen. Knaben rechnen hier auf ihre erstmalige Beute. Das Gemetzel soll furchtbar sein. Es ist die einzige Gelegenheit, bei der die Jagdeinheit aus mehr als der männlichen Bevölkerung eines einzigen Dorfes besteht; bei der Waldjagd sind es immer nur die Männer eines Dorfes. Letzten Endes bildet das Dorf eine politische und rituelle Einheit, weil es eine Jagdeinheit ist. Es kann nicht überraschen, daß die Lele ihre Kultur in allererster Linie als eine Jagdkultur betrachten.

Von besonderer Bedeutung ist die Verteilung des Wildes. Sie ist strikt geregelt, und zwar auf eine Weise, die den religiösen Sinn der Jagd unterstreicht. Es gibt drei Kultgesellschaften bei den Lele: Jede von ihnen hat das Anrecht auf eine ganz bestimmte Speise, die allen Außenseitern verboten ist. Die erste Kultgesellschaft ist die der Erzeuger, sie besteht aus allen Männern, die ein Kind gezeugt haben. Die Brust von jedem Wild kommt ihnen zu und ebenso das Fleisch aller jungen Tiere. Unter den Erzeugern gibt es welche, die ein männliches und ein weibliches Kind gezeugt haben; aus ihnen werden die Mitglieder der zweiten, exklusiveren Gesellschaft gewählt: die der Pangolin-Männer. Sie heißen so, weil ihnen allein das Recht auf das Fleisch des Pangolins, eines Gürteltieres, zusteht. Die dritte Gesellschaft ist die der Wahrsager. Sie bekommen den Kopf und die Gedärme des Wildschweines.

Kein größeres Tier kann getötet werden, ohne daß es – eben in seiner Aufteilung – zum Gegenstand eines religiösen Aktes wird. Das bedeutsamste aller Tiere ist das Wildschwein, seine Aufteilung ist wie folgt: Nachdem die Wahrsager den Kopf und die Gedärme bekommen haben, geht die Brust an die Erzeuger, die Schultern an die Männer, die es nach Hause getragen haben, der Hals an die Hundebesitzer, der Rücken, eine Keule und ein Vorderbein an den Mann, der es geschossen, und der Magen an die Gruppe der Dorfschmiede, die die Pfeile hergestellt haben.

Die Gliederung der Lele-Gesellschaft bekräftigt sich sozusagen nach jeder Jagd. Die Erregung der Jagdmeute aber hat sich zum tragenden Gefühl der ganzen Gemeinde erweitert. Man kann so, ohne der Autorin Gewalt anzutun, von einer Jagdreligion im eigentlichsten Sinne des Wortes sprechen. Auf eine so überzeugende, jeden Zweifel ausschließende Weise ist eine Jagdreligion noch nie geschildert worden. Man gewinnt aber auch einen kostbaren Einblick in die Entwicklung des Waldes zum Massensymbol. Alles, was als wertvoll gilt, enthält dieser Wald, und das Wertvollste holt man sich aus ihm zusammen. Die Tiere, die der Gegenstand der Jagdmeute sind, hausen darin, aber auch die gefürchteten Geister, die den Menschen ihre Tiere gewähren.

Die Kriegsbeute der Jivaros

Das kriegerischste Volk in ganz Südamerika sind heute die Jivaros in Ecuador. Es ist ganz besonders aufschlußreich, ihre Sitten und Veranstaltungen auf Krieg und Beute hin zu betrachten.

Von einer Übervölkerung kann bei ihnen keine Rede sein. Sie ziehen nicht in den Krieg, um neues Land zu gewinnen. Ihr Lebensraum ist eher zu groß als zu klein. Auf einem Gebiet von über 60.000 Quadratkilometern leben vielleicht 20.000 Menschen. Sie kennen auch keine größeren Siedlungen, nicht einmal Dörfer sind bei ihnen beliebt. Jede Großfamilie lebt in einem Hause für sich, unter dem ältesten Mann als dem Oberhaupt, und die nächste Familie findet sich vielleicht einige Kilometer weiter. Keine politische Organisation bindet sie aneinander. Im Frieden ist jeder einzelne Familienvater die höchste Instanz, und niemand hat ihm etwas zu befehlen. Wenn die Jivaros einander nicht in feindlicher Absicht aufsuchen würden, müßte in den riesigen Räumen ihrer Urwälder eine Gruppe der anderen kaum je begegnen.

Der Kitt, der sie zusammenhält, ist die Blutrache oder eigentlich der Tod. Es gibt keinen natürlichen Tod für sie; wenn ein Mensch stirbt, hat ihn ein Feind aus der Ferne verzaubert. Es ist die Pflicht der Angehörigen, herauszufinden, wer für den Tod verantwortlich ist, und diesen am Zauberer zu rächen. Jeder Tod ist also ein Mord, und jeder Mord kann nur durch einen Gegenmord gerächt werden. Während aber die lebensgefährliche Zauberei des Feindes auf weite Entfernung hin wirksam ist, ist die physische oder die Blutrache, zu der man verpflichtet ist, nur möglich, indem man ihn aufsucht.

Die Jivaros suchen einander also auf, um sich aneinander zu rächen, und insofern läßt sich die Blutrache als ihr sozialer Kitt bezeichnen.

Die Familie, die in einem Haus beisammen lebt, bildet eine sehr dichte Einheit. Was ein Mann unternimmt, unternimmt er gemeinsam mit den andern Männern seines Haushaltes. Für größere Expeditionen, die gefährlicher sind, schließen sich die Männer mehrerer relativ nahe gelegener Häuser zusammen; und nur zu diesem Zwecke eines ernsthaften Rachefeldzuges erwählen sie sich ein Oberhaupt, einen erfahrenen, meist älteren Mann, dem sie sich für die Zeit der Unternehmung freiwillig unterstellen.
Die Kriegsmeute ist so die eigentliche dynamische Einheit der Jivaros. Neben der statischen Einheit der Familie ist sie allein von Bedeutung. Um die Kriegsmeute herum bilden sich alle ihre Feste. Man kommt auf eine Woche zusammen, bevor man auszieht, und man kommt in einer Reihe von großen Festen später zusammen, wenn man siegreich vom Zuge zurückgekehrt ist.

Die Kriegszüge dienen ausschließlich der Zerstörung. Alle Feinde werden umgebracht, bis auf ein paar junge Frauen und vielleicht einige Kinder, die man in die eigene Familie aufnimmt.

Der Besitz des Feindes, der an sich nur geringfügiger Natur ist, seine Haustiere, seine Pflanzungen, sein Haus, wird zerstört. Der einzige Gegenstand, auf den man es wirklich abgesehen hat, ist der abgeschnittene Kopf des Feindes. Für diesen allerdings hat man eine wahre Leidenschaft, und es ist das oberste Ziel jedes Kriegers, mit wenigstens einem solchen Kopf nach Hause zurückzukehren.

Der Kopf wird auf eine besondere Art präpariert und schrumpft dabei zur Größe etwa einer Orange ein. Er heißt dann Tsantsa. Der Besitzer eines solchen Kopfes gewinnt durch ihn ein besonderes Ansehen. Nachdem einige Zeit, ein oder zwei Jahre vielleicht, verstrichen ist, wird ein großes Fest gefeiert, in dessen Mittelpunkt der richtig präparierte Kopf steht. Zu diesem Fest werden alle Freunde geladen, es wird viel gegessen, getrunken und getanzt; alles, was geschieht, ist zeremoniell festgesetzt. Es ist ein Fest von durchaus religiösem Charakter, und seine genaue Betrachtung zeigt, daß der Wunsch nach Vermehrung und die Mittel, diese zu erzielen, sein eigentliches Wesen ausmachen. Es ist unmöglich, hier auf die Einzelheiten einzugehen, die Karsten in seiner Schrift über Blutrache, Krieg und Siegesfeste bei den Jivaros in einiger Breite dargestellt hat. Es mag genügen, auf einen ihrer wichtigsten Tänze hinzuweisen, bei dem der Reihe nach alle Tiere, auf die man Jagd macht, mit größter Heftigkeit beschworen werden, und nach diesen Tieren der sexuelle Akt des Menschen selbst, der der Vermehrung der eigenen Leute dient.

Dieser Tanz ist die eigentliche Einleitung zu dem großen Fest. Männer und Frauen ordnen sich in einem Kreise um den Mittelpfeiler des Hauses an, geben einander die Hand und bewegen sich nun langsam im Kreise herum, wobei als Worte der Beschwörung die Namen all der Tiere ausgestoßen werden, deren Fleisch man gerne genießt. Daran schließt man einige Gegenstände, die der Indianer für seinen Haushalt gebraucht und selber herstellt. Hinter jedem dieser Namen sagt man laut und heftig 'hej!'.
Der Tanz beginnt mit schrillen Pfiffen. Die Beschwörung selbst lautet:

Hej, hej, hej!
Der Brüllaffe, hej!
Der Rote, hej!
Der braune Affe, hej!
Der schwarze Affe, hej!
Der Kapuzineraffe, hej!
Der graue Affe, hej!
Das Wildschwein, hej!
Der grüne Papagei, hej!
Der Langschwänzige, hej!
Das Hausschwein, hej!
Das Fette, hej!
Weiberkleidung, hej!
Gürtel, hej!
Korb, hej!

Diese Beschwörung dauert etwa eine Stunde, die Tänzer bewegen sich indessen bald nach rechts, bald nach links. Jedesmal, wenn sie anhalten, um ihre Richtung zu ändern, stoßen sie laute Pfiffe aus und schreien 'tschi, tschi, tschi, tschi', als ob sie mit diesem Rufe die Kontinuität der Beschwörung erhalten möchten.
Eine andere Beschwörung gilt den Weibern und ihrer Fruchtbarkeit:

Hej! hej! hej!
Weib, hej! Weib, hej!
Beischlaf, hej!
Möge das Tsantsa den Beischlaf gewähren!
Paaren, hej! Paaren, hej!
Weib, hej! Weib, hej!
Wahr solls sein, hej!
So tun wirs, hej!
Schön solls sein, hej!
Genug, hej!

Im Mittelpunkt dieser Beschwörungen und aller übrigen Akte des Festes steht das Tsantsa, der erbeutete und zum Schrumpfkopf präparierte Kopf des Feindes. Sein Geist hält sich immer in der Nähe des Kopfes auf, er ist höchst gefährlich. Auf jede Weise sucht man ihn zu bändigen; sobald es gelungen ist, ihn dienstbar zu machen, ist er von großem Nutzen. Er sorgt dafür, daß die Schweine und die Hühner, die man besitzt, sich vermehren; durch ihn vermehren sich die Maniok-Knollen. Er bringt jeden Segen, den man sich in Form von Vermehrung wünschen kann. Es ist aber nicht leicht, ihn ganz zu versklaven. Anfänglich ist er voller Rachsucht; und es ist gar nicht auszudenken, was er einem alles antun könnte. Doch die Zahl der Riten und Observanzen, deren man sich bedient, um seiner Herr zu werden, ist ganz erstaunlich. Das Fest, das mehrere Tage dauert, endet damit, daß man den Kopf und den Geist, der zu ihm gehört, vollkommen in seiner Gewalt hat.

Betrachtet man das Tsantsa vom Standpunkt unserer vertrauteren Kriegssitten aus, so muß man sagen, daß er für das steht, was wir die Beute nennen. Um den Kopf zu gewinnen, geht man in den Krieg; er ist die einzige Beute. Aber so klein diese Beute schließlich aussieht, besonders wenn sie bis zur Größe einer Orange eingeschrumpft ist, so enthält sie doch alles, worauf es einem ankommt. Dieser Kopf verschafft einem alle Vermehrung, die man sich wünscht: die der Tiere und Pflanzen, von denen man lebt, die der Gegenstände, die man selber herstellt, und schließlich die der eigenen Leute. Es ist eine unheimlich konzentrierte Beute, und es genügt nicht, sie zu erlangen, man muß sich auch in langwierigen Verrichtungen darum bemühen, sie zu dem zu machen, was sie für einen sein soll. Diese Verrichtungen gipfeln in der gemeinsamen Erregung des Festes, ganz besonders in seinen ausgiebigen Beschwörungen und Tänzen. Das Tsantsa-Fest als Ganzes wird von einer Vermehrungsmeute getragen. Die Kriegsmeute, wenn sie Glück hatte, mündet schließlich in die Vermehrungsmeute des Festes, und der Umschlag von jener in diese ist als die eigentliche Dynamik der Jivaro-Religion zu bezeichnen.

...

Elemente der Macht

Gewalt und Macht

Mit Gewalt verbindet man die Vorstellung von etwas, das nah und gegenwärtig ist. Sie ist zwingender und unmittelbarer als die Macht. Man spricht, verstärkend, von physischer Gewalt. Macht auf tieferen und mehr animalischen Stufen ist besser als Gewalt zu bezeichnen. Eine Beute wird mit Gewalt ergriffen und mit Gewalt in den Mund geführt. Wenn die Gewalt sich mehr Zeit läßt, wird sie zur Macht. Aber im akuten Augenblick, der dann doch einmal kommt, im Augenblick der Entscheidung und Unwiderruflichkeit, ist sie wieder reine Gewalt. Macht ist allgemeiner und geräumiger als Gewalt, sie enthält viel mehr, und sie ist nicht mehr ganz so dynamisch. Sie ist umständlicher und hat sogar ein gewisses Maß von Geduld. Das Wort selbst leitet sich aus einer alten gotischen Wurzel 'magan' für 'können, vermögen' her und ist mit dem Stamm 'machen' überhaupt nicht verwandt.

Der Unterschied zwischen Gewalt und Macht läßt sich auf sehr einfache Weise darstellen, nämlich am Verhältnis zwischen Katze und Maus.

Die Maus, einmal gefangen, ist in der Gewalt der Katze. Sie hat sie ergriffen, sie hält sie gepackt, sie wird sie töten. Aber sobald sie mit ihr zu spielen beginnt, kommt etwas Neues dazu. Sie läßt sie los und erlaubt ihr, ein Stück weiterzulaufen. Kaum hat die Maus ihr den Rücken gekehrt und läuft, ist sie nicht mehr in ihrer Gewalt. Wohl aber steht es in der Macht der Katze, sie sich zurückzuholen. Läßt sie sie ganz laufen, so hat sie sie auch aus ihrem Machtbereich entlassen. Bis zum Punkte aber, wo sie ihr sicher erreichbar ist, bleibt sie in ihrer Macht. Der Raum, den die Katze überschattet, die Augenblicke der Hoffnung, die sie der Maus läßt, aber unter genauester Bewachung, ohne daß sie ihr Interesse an ihr und ihrer Zerstörung verliert, das alles zusammen, Raum, Hoffnung, Bewachung und Zerstörungs-Interesse, könnte man als den eigentlichen Leib der Macht oder einfach als die Macht selbst bezeichnen.

Es gehört also dazu – im Gegensatz zur Gewalt – eine gewisse Verbreiterung, mehr Raum und auch etwas mehr Zeit. Es ist die Vermutung geäußert worden, daß man das Gefängnis vom Maul herleiten könne; die Beziehung dieser beiden zueinander drückt das Verhältnis von Macht zu Gewalt aus. Im Maul bleibt keine wirkliche Hoffnung mehr, es ist keine Zeit und es ist kein Raum um einen. In allen diesen Richtungen ist das Gefängnis wie eine Erweiterung des Mauls. Man kann einige Schritte hin und her gehen, wie die Maus unter den Augen der Katze; und manchmal sind die Augen des Wächters im Rücken. Man hat Zeit vor sich und Hoffnung, noch innerhalb dieser Zeit zu entkommen oder entlassen zu werden; und man spürt immerwährend das Zerstörungs-Interesse des Apparates, in dessen Zelle man sich befindet, auch wenn es suspendiert erscheint.

Aber auch in einer ganz anderen Sphäre, an den mannigfachen Schattierungen religiöser Hingabe wird der Unterschied zwischen Macht und Gewalt ersichtlich. Jeder Gottgläubige steht immer in Gottes Macht und hat sich auf seine Weise damit abgefunden. Aber manchen ist das nicht genug. Sie warten auf seinen scharfen Eingriff, einen unmittelbaren Akt der göttlichen Gewalt, die sie als solche erkennen und fühlen können. Sie befinden sich im Zustand der Befehlserwartung, Gott hat für sie die krasseren Züge des Herrschers. Sein aktiver Wille, ihre aktive Unterwerfung in jedem einzelnen Falle, in jeder Äußerung wird ihnen zum Kernstück des Glaubens. Religionen dieser Art neigen zur Betonung der göttlichen Prädestination; ihre Anhänger haben dadurch Gelegenheit, alles, was ihnen geschieht, als unmittelbaren Ausdruck des göttlichen Willens zu fühlen. Sie können sich häufiger unterwerfen, und bis zum Schluß. Es ist, als lebten sie schon in Gottes Mund, der sie im nächsten Augenblick zermalmen wird. Sie aber haben in dieser furchtbaren Gegenwart unerschrocken weiterzuleben und das Rechte zu tun.

Der Islam und der Calvinismus sind am besten für diese Tendenz bekannt. Seine Anhänger lechzen nach der göttlichen Gewalt. Seine Macht allein genügt ihnen nicht, sie bleibt zu allgemein und fern und überläßt ihnen selber zu vieles. Die Wirkung dieser ständigen Befehlserwartung auf Menschen, die sich ihr ein für allemal überlassen haben, ist einschneidend und hat für ihr eigenes Verhalten anderen gegenüber die schwerwiegendsten Folgen. Sie schafft den soldatischen Typus des Gläubigen, für den die Schlacht der genaueste Ausdruck des Lebens ist; der sich in ihr nicht fürchtet, weil er sich immer in ihr fühlt. Es ist, im Zusammenhang mit der Untersuchung des Befehls, von diesem Typus ausführlicher die Rede.

Macht und Geschwindigkeit

Alle Geschwindigkeit, soweit sie in den Bereich der Macht gehört, ist eine des Ereilens oder des Ergreifens. Dem Menschen sind Tiere für beides Vorbild gewesen. Das Ereilen hat er an Lauf-Raubtieren, besonders am Wolf, erlernt. Das Ergreifen durch plötzlichen Sprung haben ihm die Katzen vorgemacht, ihre beneideten und bewunderten Meister darin waren Löwe, Leopard und Tiger. Die Raubvögel vereinigen beides, Ereilen und Ergreifen. Am Raubvogel, der allein und sichtbar fliegt und auf weite Distanz zustößt, prägt sich der Vorgang vollkommen aus. Er hat dem Menschen die Waffe des Pfeils eingegeben, für lange die größte Geschwindigkeit, deren er habhaft wurde: in seinen Pfeilen erfliegt der Mensch seine Beute.

Diese Tiere dienen denn auch schon früh als Symbole der Macht. Sie stellen, seien es die Götter, seien es die Ahnen des Machthabers vor. Ein Wolf war der Ahne des Dschingis-Khan. Der Horusfalke ist der Gott des ägyptischen Pharao. In den afrikanischen Reichen sind Löwe und Leopard die heiligen Tiere der Königssippe. Aus den Flammen, in denen der Leichnam des römischen Kaisers verbrannt wurde, flog seine Seele als Adler zum Himmel.

Das Schnellste aber ist, was schon immer das Schnellste war: der Blitz. Die abergläubische Angst vor dem Blitz, vor dem es keinen Schutz gibt, ist weit verbreitet. Die Mongolen, sagt der Franziskanermönch Rubruk, der als Gesandter Ludwigs des Heiligen zu ihnen kam, fürchten den Donner und Blitz über alles. Sie jagen dann alle Fremden aus ihren Jurten, hüllen sich selbst in schwarzen Filz ein und verstecken sich darin, bis alles vorüber ist. – Sie hüten sich davor, berichtet der persische Historiker Raschid, der in ihren Diensten stand, das Fleisch eines vom Blitz getroffenen Tieres zu essen, ja, sie wagen sich nicht einmal in seine Nähe. Alle möglichen Verbote dienen bei den Mongolen dazu, den Blitz günstig zu stimmen. Es soll alles vermieden werden, was ihn hervorlocken könnte. Der Blitz ist oft die Hauptwaffe des mächtigsten Gottes.

Sein plötzliches Aufscheinen aus dem Dunkel hat den Charakter einer Offenbarung. Der Blitz ereilt und erhellt. Aus seinem besonderen Verhalten sucht man Schlüsse auf den Willen der Götter zu ziehen. In welcher Gestalt scheint er auf und an welcher Stelle des Himmels? Woher kommt er? Wohin geht er? Bei den Etruskern ist seine Enträtselung Aufgabe einer besonderen Klasse von Priestern, die als 'Fulguratores' von den Römern übernommen wurde.

"Die Macht des Herrschers", heißt es in einem alten chinesischen Text, "ähnelt dem Blitzstrahl, wenn sie ihm auch an Wucht nachsteht." Es ist erstaunlich, wie häufig Machthaber vom Blitzstrahl erschlagen werden. Die Erzählungen darüber können nicht immer auf Wahrheit beruhen. Aber die Herstellung des Zusammenhangs ist an sich schon bezeichnend. Nachrichten dieser Art sind zahlreich bei den Römern und bei den Mongolen. Beide Völker glauben an einen höchsten Himmelsgott, beide haben einen stark entwickelten Sinn für Macht. Der Blitz wird hier als ein übernatürlicher Befehl aufgefaßt. Wenn er trifft, soll er treffen. Wenn er einen Mächtigen trifft, ist er von einem Mächtigeren entsandt worden. Er dient als die rascheste und plötzlichste, aber auch als die offensichtlichste Strafe.

Er ist von den Menschen nachgemacht und zu einer Art von Waffe ausgebildet worden: die Feuerwaffe. Das Aufblitzen und Donnern des Schusses, das Gewehr und besonders die Kanone haben den Schrecken der Völker erregt, die sie nicht besaßen; sie sind von ihnen als Blitz empfunden worden.

Aber schon früher war die Bemühung des Menschen dahin gegangen, sich selbst zu einem geschwinderen Tiere zu machen. Die Unterwerfung des Pferdes und die Ausbildung der Reiterheere in ihrer vollkommensten Form haben zu den großen historischen Einbrüchen aus dem Osten geführt. In jedem zeitgenössischen Bericht über die Mongolen wird hervorgehoben, wie rasch sie da waren. Immer kam ihr Auftauchen unerwartet: sie erschienen so plötzlich, wie sie verschwanden, und erschienen noch plötzlicher wieder. Selbst die Eile der Flucht wußten sie zum Angriff zu verwenden; kaum glaubte man sie geflohen, war man von ihnen umstellt.

Die physische Geschwindigkeit als Eigenschaft der Macht hat sich seither in jeder Weise gesteigert. Es erübrigt sich, auf ihre Wirkungen in unserem technischen Zeitalter einzugehen.

In die Sphäre des Ergreifens gehört eine ganz andere Art von Raschheit, die der Entlarvung. Ein harmloses oder ergebenes Wesen steht vor einem; man reißt ihm die Maske herunter: es steckt ein Feind dahinter. Um zu wirken, muß die Entlarvung plötzlich geschehen. Diese Art der Geschwindigkeit läßt sich als die dramatische bezeichnen. Das Ereilen beschränkt sich hier auf einen ganz kleinen Raum, es konzentriert sich. Der Maskensprung als Mittel der Verstellung ist uralt, sein Negativ ist die Entlarvung. Von Maske zu Maske lassen sich entscheidende Verschiebungen von Machtverhältnissen erreichen. Die Verstellung des Feindes wird durch eigene Verstellung bekämpft. Ein Herrscher lädt militärische oder zivile Notabeln zu einem Gastmahl ein. Plötzlich, wenn sie am wenigsten Feindschaft erwarten, werden sie alle niedergemacht. Der Wechsel von einer Haltung zur anderen entspricht genau einem Maskensprung. Die Raschheit des Vorgangs ist auf das äußerste zugespitzt; von ihr allein hängt das Gelingen des Vorhabens ab. Der Machthaber, seiner konstanten eigenen Verstellung wohl bewußt, kann immer nur dasselbe im anderen erwarten. Jede Raschheit, mit der er ihr zuvorkommt, erscheint ihm erlaubt und geboten. Es wird ihn wenig berühren, wenn er sich an einem Unschuldigen vergreift: Im komplexen Wesen der Masken kann man sich irren. Es wird ihn tief erregen, wenn ihm durch mangelnde Raschheit ein Feind entgeht.

Frage und Antwort

Alles Fragen ist ein Eindringen. Wo es als Mittel der Macht geübt wird, schneidet es wie ein Messer in den Leib des Gefragten. Es ist bekannt, was man da finden kann; man will es aber wirklich finden und berühren. Mit der Sicherheit eines Chirurgen geht man auf die inneren Organe los. Der Chirurg hält sein Opfer am Leben, um Genaueres über es zu erfahren. Er ist eine besondere Art von Chirurg, der bewußt mit lokaler Schmerzerregung arbeitet. Er reizt gewisse Partien des Opfers, um über andere Sicheres zu erfahren.

Fragen sind auf Antworten bedacht; solche, auf die keine Antwort erfolgt, sind wie in die Luft verschossene Pfeile. Die unschuldigste Frage ist eine, die isoliert bleibt und keine weitere nach sich zieht. Man erkundigt sich bei einem Fremden nach einem Gebäude. Es wird einem gewiesen. Man begnügt sich mit dieser Antwort und geht seiner Wege. Man hat den Fremden für einen Augenblick festgehalten. Man hat ihn gezwungen, sich zu besinnen. Je klarer und bündiger seine Antwort war, um so rascher ist er einen losgeworden. Er gab, was man erwartete, und er muß einen nie wiedersehen.

Ein Fragender könnte aber damit nicht zufrieden sein und weitere Fragen stellen. Wenn sie sich häufen, erregen sie bald den Unmut des Gefragten. Nicht nur wird er äußerlich festgehalten; mit jeder Antwort zeigt er ein Stück mehr von sich. Es mag Unwichtiges sein, das an der Oberfläche liegt, aber es ist ihm von einem Unbekannten abgefordert worden. Es hängt mit anderem zusammen, das verborgener liegt und das er viel höher einschätzt. Der Unmut, den er empfindet, schlägt bald in Mißtrauen um.
Denn die Wirkung der Fragen auf den Fragenden ist eine Hebung seines Machtgefühls; sie geben ihm Lust, noch mehr und mehr zu stellen. Der Antwortende unterwirft sich um so mehr, je häufiger er den Fragen nachgibt. Die Freiheit der Person liegt zum guten Teil in einem Schutz vor Fragen. Die stärkste Tyrannei ist es, die sich die stärkste Frage erlaubt.

Klug ist eine Antwort, die dem Fragen ein Ende macht. Wer es sich erlauben kann, kommt mit Gegenfragen; unter Gleichen ist dies ein erprobtes Mittel der Abwehr. Wem seine Stellung keine Entgegnung erlaubt, der muß entweder eine erschöpfende Antwort geben und mit dem herausrücken, worauf der andere zielt; oder er muß ihm durch List die Lust auf weiteres Eindringen benehmen. Er mag durch eine Schmeichelei die aktuelle Überlegenheit des Fragenden anerkennen, so daß dieser sie nicht selbst zu manifestieren braucht. Er mag auf andere ablenken, die zu fragen interessanter oder ergiebiger wäre. Wenn er sich gut auf Verstellung versteht, mag er seine Identität verwischen. Die Frage hat dann sozusagen einem anderen gegolten, und er selber wäre für die Antwort gar nicht zuständig.

Die Frage, die letzten Endes auf Zerlegung aus ist, beginnt mit Berührung. Sie berührt dann an mehr und an verschiedenen Stellen. Wo sie wenig Widerstand findet, da dringt sie ein. Was sie herausholt, wird beiseite gelegt zu späterer Verwendung; es wird nicht gleich genossen. Sie muß erst das ganz Bestimmte finden, auf das sie aus ist. Hinter der Frage steckt immer ein wohlbewußtes Ziel. Unbestimmte Fragen, die eines Kindes oder eines Narren, haben keine Kraft und lassen sich leicht abspeisen.

Wo kurze, knappe Antworten gefordert werden, da ist die Situation am gefährlichsten. Eine überzeugende Verstellung oder Fluchtverwandlung in wenig Worten ist dann schwierig, wenn nicht unmöglich. Die krüdeste Art der Abwehr ist, sich taub zu stellen oder nicht zu verstehen. Aber sie hilft nur unter Gleichen. Sonst, von Stärkeren an Schwächere, läßt sich die Frage schriftlich stellen oder übersetzen. Eine Antwort darauf ist dann viel verbindlicher. Sie ist nachzuweisen, und der Gegner kann sich auf sie berufen.

Wer außen wehrlos ist, der zieht sich auf seine innere Rüstung zurück: Diese innere Rüstung gegen die Frage ist das Geheimnis. Es steckt wie ein zweiter, besser geschützter Körper in einem ersten drin; wer ihm zu nah kommt, macht sich auf unliebsame Überraschungen gefaßt. Als etwas Dichteres wird das Geheimnis von seiner Umgebung abgesondert und in einem Dunkel gehalten, das nur wenige zu erleuchten vermögen. Das Gefährliche des Geheimnisses wird immer über seinen eigentlichen Inhalt gestellt. Das Wichtigste, man möchte sagen das Dichteste am Geheimnis ist die wirksame Abwehr der Frage.

Das Schweigen auf eine Frage ist wie das Abprallen einer Waffe an Schild oder Rüstung. Verstummen ist eine extreme Form der Abwehr; wobei Vor- und Nachteile sich die Waage halten. Der Verstummte gibt sich zwar nicht preis, doch dafür wirkt er gefährlicher, als er ist. Man vermutet mehr in ihm, als er verschweigt. Er ist verstummt nur, weil er viel zu verschweigen hat; um so wichtiger ist es, ihn nicht loszulassen. Hartnäckiges Schweigen führt zur peinlichen Befragung, zur Tortur.

Aber immer, auch unter gewöhnlichen Umständen, legt die Antwort einen fest. Man kann sie nicht mehr ohne weiteres verlassen. Sie zwingt einen, sich an einen bestimmten Ort zu stellen und da zu bleiben, während der Fragende von überall zielen kann; er geht sozusagen um einen herum und sucht den eigenen Standort aus, wie es ihm paßt. Er kann um den anderen kreisen, ihn überraschen und in Verwirrung setzen. Der Wechsel des Standorts gibt ihm eine Art von Freiheit, die der andere nicht haben kann. Er greift nach ihm mit der Frage, und wenn es ihm gelingt, ihn damit zu berühren, nämlich zur Antwort zu zwingen, hat er ihn gebannt, an einen Ort festgebannt. "Wer bist du?" "Ich bin der." Schon kann er niemand anderer sein, oder seine Lüge verstrickt ihn in Schwierigkeiten. Schon ist ihm die Möglichkeit genommen worden, durch Verwandlung zu entkommen. Der Vorgang, wenn er sich eine Weile fortsetzt, läßt sich als eine Art von Fesselung betrachten.

Die erste Frage gilt der Identität, die zweite gilt dem Orte. Da sie beide Sprache voraussetzen, möchte man wissen, ob eine archaische Situation erdenklich ist, die vor der Frage in Worten lag und dieser entspricht. Ort und Identität müßten in ihr noch zusammenfallen; eines ohne das andere müßte sinnlos sein. Diese archaische Situation hat sich gefunden: Es ist die zweifelnde Berührung der Beute. Wer bist du? Kann man dich essen? Das Tier, unaufhörlich auf Nahrungssuche aus, berührt und beschnüffelt alles, was es findet. Es steckt seine Nase in alles hinein: Kann man dich essen? Wie schmeckst du? Die Antwort ist ein Geruch, ein Gegendruck, eine leblose Starre. Der fremde Leib ist hier sein eigener Ort, und durch Schnüffeln und Berühren macht man sich mit ihm vertraut oder, in unsere menschlichen Sitten übersetzt: man benennt es.

In der frühen Erziehung des Kindes scheinen zwei Vorgänge, die sich kreuzen, ins Maßlose gesteigert; sie wirken disproportioniert und gehören doch eng zusammen. Es ist so, daß unaufhörlich Befehle starker und nachdrücklicher Art von den Eltern ausgehen, vom Kinde aber eine Unsumme von Fragen. Diese frühen Fragen des Kindes sind wie sein Schrei nach Nahrung, in einer zweiten und nun schon höheren Form. Sie sind harmlos, da sie dem Kinde auf keinen Fall das volle Wissen der Eltern geben; deren Überlegenheit bleibt ungeheuer.

Welches sind die Fragen, mit denen das Kind beginnt? Zu den frühesten gehören solche, die sich auf einen Ort beziehen: "Wo ist ...?" Andere frühe Fragen sind: "Was ist das?" und: "Wer?" Man sieht, welche Rolle Ort und Identität schon spielen. Sie sind wirklich das erste, wonach das Kind sich erkundigt. Erst später, am Ende des dritten Jahres, beginnen die Fragen mit "Warum?", und viel später noch "Wann?" und "Wie lang?", die Fragen nach der Zeit. Es dauert eine ganze Weile, bis das Kind sich genaue Vorstellungen über Zeit macht.

Die Frage, die mit zweifelnder Berührung beginnt, sucht, wie schon gesagt wurde, weiter einzudringen. Sie hat etwas Trennendes, sie wirkt wie ein Messer. Man erkennt das am Widerstand, den sehr kleine Kinder Doppelfragen entgegensetzen. "Was möchtest du lieber, einen Apfel oder eine Birne?" Das Kind wird schweigen oder es wird 'Birne' sagen, weil dies das letzte Wort ist. Aber eine wirkliche Entscheidung, die eine Trennung zwischen Apfel und Birne wäre, fällt ihm schwer, im Grunde möchte es beides.
Ihre eigentliche Schärfe erreicht die Trennung dort, wo nur die beiden einfachsten aller Antworten möglich sind, ja oder nein. Da sie einander genau entgegengesetzt sind, da alles zwischen ihnen ausgelassen wird, ist die Entscheidung für die eine oder die andere von besonderer Verbindlichkeit und Tragweite.

Bevor die Frage einem gestellt worden ist, weiß man oft nicht, was man denkt. Sie zwingt einen, das Für und Wider zu sondern. Soweit sie höflich ist und einen nicht bedrängt, überläßt sie einem die Entscheidung.

Sokrates wird in den platonischen Dialogen zu einer Art König des Fragens gekrönt. Er verschmäht jede übliche Art von Macht und weicht allem, was daran gemahnen könnte, beflissen aus. Die Weisheit, die seine Überlegenheit ist, kann sich, wer immer will, bei ihm holen. Er teilt sie aber nicht oft in zusammenhängender Rede mit, sondern er stellt seine Fragen. In den Dialogen ist dafür gesorgt, daß er die meisten und die wichtigsten Fragen stellt. So läßt er seine Hörer nicht mehr los und zwingt sie zu Trennungen mannigfachster Art. Seine Herrschaft über sie erlangt er ausschließlich durch Fragen.

Wichtig sind die Formen der Gesittung, die das Fragen einschränken. Nach gewissen Dingen darf man einen Fremden nicht fragen. Tut man es doch, so rückt man ihm an den Leib, man dringt in ihn ein; er hat Anlaß, sich verletzt zu fühlen. Zurückhaltung aber soll ihn davon überzeugen, wie sehr man ihn achtet. Der Fremde wird so behandelt, als ob er ein Stärkerer wäre, eine Form der Schmeichelei, die ihn zu derselben Haltung veranlaßt. Nur so, in einer gewissen Distanz voneinander, von Fragen nicht gefährdet, als wären sie alle Starke und in dieser Stärke gleich, fühlen sich Menschen sicher und geben Frieden.

Eine ungeheure Frage ist die nach der Zukunft. Man könnte sie die höchste aller Fragen nennen; es ist auch die intensivste. Die Götter, an die sie gerichtet ist, sind nicht zur Antwort verpflichtet. Diese Frage an das Stärkste ist eine verzweifelte Frage. Die Götter legen sich nie fest, man kann nie weiter in sie dringen. Ihre Äußerungen sind zweideutig, sie lassen sich nicht zerlegen. Alle Fragen an sie bleiben erste Fragen, auf die nur eine Antwort gegeben wird. Sehr oft besteht die Antwort bloß aus Zeichen. Sie werden von den Priestern mancher Völker in großen Systemen gesammelt. Von den Babyloniern sind Tausende von solchen Zeichen überliefert. Es fällt auf, daß jedes von diesen Zeichen isoliert neben dem anderen steht. Sie folgen nicht auseinander, sie haben keinen inneren Zusammenhang. Es sind Listen von Zeichen, nicht mehr, auch wer sie alle kennt, kann doch immer nur aus jedem einzelnen von ihnen separat auf etwas Separates in der Zukunft schließen.

Das Verhör, genau im Gegensatz dazu, stellt die Vergangenheit wieder her, und zwar in der Vollkommenheit ihres Ablaufes. Es ist gegen einen Schwächeren gerichtet. Aber bevor man sich der Deutung des Verhörs zuwendet, ist es geraten, einige Worte über eine Einrichtung zu verlieren, die sich heute in den meisten Ländern durchgesetzt hat, die allgemeine polizeiliche Erfassung der Menschen. Eine bestimmte Gruppe von Fragen hat sich herausgebildet, die überall dieselben sind und die im wesentlichen der Sicherung und der Ordnung dienen. Man will wissen, wie gefährlich jemand werden könnte, und wenn er es wird, will man ihn gleich packen können. Die erste Frage, die amtlich an einen Menschen gerichtet wird, ist die nach seinem Namen; die zweite gilt seinem Wohnort, der Adresse. Es sind, wie man nun schon weiß, die beiden ältesten Fragen, die nach Identität und Ort. Der Beruf, als nächstes, verrät seine Tätigkeit; daraus und aus dem Alter schließt man auf Einfluß und Prestige: wie ist er anzufassen? Der Stand gibt seinen engeren Menschenbesitz an, seien es Mann, Frau oder Kinder. Herkunft und Nationalität liefern einen Hinweis auf seine mögliche Gesinnung; im Zeitalter fanatischer Nationalismen, heute, bezeichnender als der Glaube, der an Bedeutung verloren hat. Mit alledem – zu Bild und Unterschrift – ist schon viel festgesetzt.
Antworten auf solche Fragen werden hingenommen. Sie stehen vorläufig nicht unter Verdacht. Erst im Verhör, das auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist, lädt sich die Frage mit Mißtrauen. Da bildet sich dann ein System von Fragen heraus, das der Kontrolle der Antworten dient; an sich könnte jetzt jede falsch sein. Der Verhörte steht in einem Verhältnis der Feindschaft zum Verhörenden. Als der weitaus Schwächere entschlüpft er nur, wenn er glaubhaft macht, daß er kein Feind ist.

Bei gerichtlichen Untersuchungen stellt das Fragen nachträglich eine Allwissenheit des Fragenden als des Mächtigen her. Die Wege, die einer ging, die Räume, in denen er war, die Stunden, die er erlebt hat, die alle damals frei und unverfolgt schienen, werden plötzlich unter Verfolgung gesetzt. Alle Wege müssen wieder begangen, alle Räume wieder betreten werden, bis möglichst wenig von jener alten und vergangenen Freiheit übrig ist. Der Richter soll sehr viel wissen, bevor er urteilen darf. Seine Macht ganz besonders ist auf Allwissenheit gegründet. Sie zu erwerben, hat er das Recht auf jede Frage: "Wo warst du? Wann warst du da? Was hast du getan?" In der Beantwortung, die dem Alibi dient, wird Ort gegen Ort, Identität gegen Identität gesetzt. "Ich war zu der Zeit an einem anderen Ort. Ich bin nicht der, der es getan hat."
In einer wendischen Sage heißt es:

Einst lag um die Mittagszeit bei Dehsa ein junges Bauernmädchen im Grase und schlief. lhr Bräutigam saß neben ihr. Er dachte bei sich nach, wie er seine Braut loswerden könne. Da kam die Mittagsfrau und legte ihm Fragen vor. Soviel er auch antwortete, immer stellte sie neue Fragen. Als die Glocke eins schlug, stand sein Herz still. Die Mittagsfrau hatte ihn zu Tode gefragt.

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