Auszüge aus Wilhelm Reich's
"Die Funktion des Orgasmus"

Die Entdeckung des Orgons – Band 1

In Die Funktion des Orgasmus hat Wilhelm Reich radikaler als jede Sexualkritik vor und nach ihm die zentrale Bedeutung der Sexualökonomie für den Einzelnen und die Gesellschaft erkannt. Über Freud hinaus, der die Notwendigkeit der Triebstimulierung für die kulturelle Entwicklung postuliert, weist er nach, daß jede Neurose Folge einer gestauten Sexualenergie ist, die von der autoritären Familien- und Sozialstruktur immer wieder neu erzeugt, wird. Orgastische Potenz aber ist für ihn soziale Potenz, die Humanisierung und Leistungsfähigkeit erst garantiert. Reich analysiert die biologischen Abläufe des Orgasmus und entwickelt aus ihnen seine Vegetotherapie mit dem Ziel, die muskulären und charakterlichen "Panzerungen" zu lösen und die unterdrückte Genitalität freizusetzen. Die Funktion des Orgasmus in der vorliegenden Form folgt in der Beschreibung des Orgasmus dem 1927 erschienenen gleichnamigen Buch, ist aber sonst eine 1942 in Amerika entstandene Neufassung. In einem abschließenden Kapitel führt Reich die Sexualität auf die bio-physikalische Kraft des Orgons zurück, mit dessen Erforschung sich Reich in seinen letzten Jahren beschäftigte.

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Vorwort von Mary Higgins

Mit dem Tode Wilhelm Reichs forderte die "emotionale Pest" ihren stärksten Gegner. Seit es geschichtliche Überlieferung gibt, waren diejenigen, die durch die Wirkungen dieser spezifisch menschlichen Krankheit getötet wurden, ausnahmslos ihre "unschuldigen" Opfer. Reich wurde jedoch nicht unwissend zum Opfer. Er war der erste Mensch, der die biopathologische Grundlage dieser Geißel, die durch die Unterdrückung des genitalen Liebeslebens im weitesten Sinne erzeugt wird, besonnen erforschte und hinreichend verstand. Sein ganzes Leben hindurch suchte er nach einer anwendbaren Methode, um sie zu bekämpfen. Er versäumte nie, die Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu richten, daß die "emotionale Pest" der einzige Feind des Menschen ist, die, wenn sie nicht genau verstanden und wirksam bekämpft wird, die Beseitigung der Todesangst des Kindes, des Jugendlichen und der Masse biophysikalisch und emotional kranker Menschen unmöglich macht. Folglich geschah es nicht unerwartet, daß er auch ein Opfer dieser Krankheit wurde. Er erkannte die darin eingeschlossene Gefahr und setzte sich selbst mit dem Mut eines wahren Wissenschaftlers ihren zerstörerischen Wirkungen aus. Er suchte während des Fortschreitens der Erkrankung einen Weg aus dem legalistischen Geschwätz, in das ihn die "Pest" verstrickt hatte, ohne die wissenschaftliche Wahrheit zu kompromittieren.

Seit Reichs Tod gab es eine ständige Nachfrage nach seinen Schriften, was deutlich zeigt, daß die "Pest" ihr Ziel nicht erreicht hat – die Verdeckung der Wahrheit. Die verleumderischen Angriffe auf seine Person, die dazu bestimmt waren, ihn zu diskreditieren, um damit die Aufmerksamkeit von seinen wissenschaftlichen Entdeckungen abzulenken, haben einiges – unglücklicherweise nicht alles – von ihrer Schlagkraft verloren, und es sollte jetzt möglich sein, sich einer nüchternen Beurteilung seines Werkes zuzuwenden.

Die Funktion des Orgasmus war die erste von Reichs Schriften, die ins Englische übersetzt wurde. Es ist kein Lehrbuch, eher eine wissenschaftliche Biographie. "Eine systematische Darstellung hätte weder dem Leser ein Bild davon geben können, wie ... ein Problem und seine Lösung zu einem anderen führen, noch hätte es gezeigt, daß dieses Werk keine reine Erfindung ist und daß jeder Teil dieses Werkes seine Existenz einem eigenen Weg wissenschaftlicher Logik verdankt."

Daß Wilhelm Reich, der ein Werkzeug dieser Logik war, in einer staatlichen Anstalt sterben mußte, ist erschütternd. Daß diejenigen, die sich um ihn kümmerten, hilflos waren und daß es viele gab, die das wußten und sich nicht darum kümmerten, ist tragisch. Man kann nicht länger abseits stehen und sagen: "Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Es wird Zeit, daß wir einen Weg finden, um diesen chronischen Mord am Leben und am Wissen vom Leben zu beenden. Dieses Wissen liegt vor, und mit der Veröffentlichung von Reichs Werken ist es wieder zugänglich gemacht worden. Wir müssen lernen, die Wahrheit zu ertragen. Wir müssen die bioenergetische Funktion der orgastischen Konvulsion verstehen und anerkennen lernen, und wir müssen verstehen lernen, was wir werden und was wir tun, wenn diese Funktion vereitelt und verleugnet wird.

Dieses Buch enthält Erkenntnis, und in dieser Erkenntnis liegt die Hoffnung.

Vorwort zur zweiten Auflage

Die Entdeckung des Orgons war das Ergebnis beständiger klinischer Erforschung des Begriffs "psychische Energie", anfangs auf dem Gebiet der Psychiatrie. Das vorliegende Werk kann als eine umfassende Einführung in dies neu eröffnete Gebiet der Orgon-Biophysik betrachtet werden. Viele Ergebnisse der biophysikalischen und physikalischen Orgonforschung, die etwa 1934 begann, wurden veröffentlicht im International Journal of Sex-economy and Orgone Research, 1942–1945, und sollen nun im zweiten Band der Entdeckung des Orgons herausgebracht werden unter dem Titel Die Krebs-Biopathie. Die Erfahrung hat zweifelsfrei gezeigt, daß die Kenntnis der emotionalen Funktionen der biologischen Energie für das Verständnis ihrer physiologischen und physikalischen Funktionen unentbehrlich ist. Die biologischen Emotionen, die die psychischen Prozesse beherrschen, sind in sich der unmittelbare Ausdruck einer rein physikalischen Energie, des kosmischen Orgons.

Die zweite Auflage dieses Bandes blieb unverändert.

Überblick

Dieses Buch faßt meine ärztliche und wissenschaftliche Arbeit am lebendigen Organismus in den vergangenen zwanzig Jahren zusammen. Es war zunächst für die Schreibtischlade bestimmt. So durfte ich aussprechen, was sonst Rücksichten auf Existenz, guten Ruf im gemeinen Verstand und manche noch unabgeschlossene Gedankengänge verwehrt hätten.

Es ist den wenigsten verständlich, wie es möglich ist, daß ich mich auf so verschiedenartigen Gebieten wie Tiefenpsychologie, Soziologie, Physiologie und nun auch noch Biologie gleichzeitig betätige. Manche Psychoanalytiker wünschen, ich möchte zur Psychoanalyse zurückkehren; die Politiker verweisen mich in die Naturwissenschaft und die Biologen in die Psychologie.

Das Thema Sexualität geht seinem Wesen nach quer durch alle wissenschaftlichen Forschungsgebiete. Im Zentralphänomen, dem sexuellen Orgasmus, treffen sich Fragestellungen aus dem Gebiete der Psychologie ebenso wie dem der Physiologie, aus dem der Biologie nicht minder wie dem der Soziologie. Es gibt in der Naturwissenschaft kaum ein zweites Forschungsfeld, das derart geeignet wäre, die Einheitlichkeit des Lebendigen darzubieten und vor engem, trennendem Spezialistentum zu bewahren. Die Sexualökonomie wurde eine selbständige Disziplin, mit eigenen Forschungsmethoden und neuen Tatsachen ausgestattet. Sie ist eine naturwissenschaftliche, experimentell fundierte Theorie der Sexualität. Die Darstellung ihrer Entwicklung wurde notwendig. Ich ergreife dabei gern die Gelegenheit klarzustellen, was ich als Eigengut in Anspruch nehmen darf, was meine Arbeit mit anderen Arbeitsgebieten verknüpft und was sich hinter leeren Gerüchten über meine Tätigkeit verbirgt.

Die Sexualökonomie wurde im Schoße der Psychoanalyse Freuds zwischen 1919 und 1923 geboren. Die sachliche Loslösung vom Mutterboden erfolgte etwa 1928, meine Trennung von der Organisation der Psychoanalytiker erst 1934.

Diese Schrift ist kein Lehrbuch, eher eine Erzählung. Systematische Darstellung des Stoffes hätte dem Leser in keiner Weise zu zeigen vermocht, wie sich im Laufe dieser zwanzig Jahre Probleme und Lösungen aneinanderreihten, daß nichts ersonnen werden konnte und daß alles sein Dasein dem so merkwürdigen Gang wissenschaftlicher Logik verdankt. Es ist nicht falsche Bescheidenheit, wenn ich sage, daß ich mich nur als Funktionsorgan dieser Logik fühle.

Die funktionelle Forschungsmethode wirkt wie ein Kompaß in unbekannter Gegend. Ich wüßte keinen schöneren Beweis für die Richtigkeit der sexualökonomischen Theorie des Lebendigen als den Umstand, daß die im Jahre 1922 entdeckte "orgastische Potenz", das wichtigste Stück der Sexualökonomie, sich in der Entdeckung des Orgasmusreflexes, 1935, und der Orgonstrahlung, 1939, fortsetzte und ihre naturwissenschaftliche Begründung fand. Diese Logik in der Entwicklung der Sexualökonomie ist der Ruhepunkt im Gewirr der Meinungen, im Kampf gegen Mißverständnisse und im Überwinden schwerer Zweifel in Zeiten, wo Verworrenheit die klare Sicht zu ersticken droht.

Es ist nützlich, wissenschaftliche Biographien in jungen Jahren zu schreiben. Manche Illusionen, die man im mittleren Lebensalter über die Bereitschaft der Menschen, aufrüttelnde Erkenntnisse aufzunehmen, noch hat, befähigen einen, an den Grundtatsachen festzuhalten, den so mannigfaltigen Versuchungen zum Kompromiß zu widerstehen und scharfe Feststellungen weder der Bequemlichkeit des Denkens noch dem Bedürfnis nach seelischer Ruhe oder dem Druck der Welt zu opfern. Die Verlockung, die sexuelle Verursachung so vieler Erkrankungen abzuleugnen, ist im Falle der Sexualökonomie noch weit größer, als es bei der Psychoanalyse zutraf. Es gelang mir nur mit Mühe, den Ausdruck "Sexualökonomie" durchzusetzen. Dieser Begriff soll ein neues wissenschaftliches Gebiet decken: die Erforschung der biopsychischen Energie. Sexualität ist der heutigen Lebensanschauung zufolge anstößig; ihre Bedeutung für das menschliche Leben wieder in Vergessenheit zu bringen, liegt zu nahe. Es wird vermutlich der Arbeit vieler Generationen bedürfen, ehe die Sexualität von der offiziellen Wissenschaft und den Laien ernst genommen wird; wohl nicht eher, als bis gesellschaftliche Fragen von Leben und Tod unerbittlich dazu zwingen werden, den Sexualprozeß gesellschaftlich geschützt zu erfassen und zu bewältigen.
Eine solche Frage ist die Krebsendemie, eine andere die seelische Pest, die die Diktaturen gebar.

Die Sexualökonomie ist eine naturwissenschaftliche Disziplin. Sie schämt sich des sexuellen Themas nicht und weist jeden als Vertreter zurück, der die anerzogene soziale Angst vor sexueller Diffamierung nicht überwunden hat. Der Ausdruck "Vegetotherapie", der die sexualökonomische Heilungstechnik bezeichnet, ist eigentlich eine Konzession an die Schamhaftigkeit der Welt in sexuellen Dingen. Ich hätte die ärztliche Technik viel lieber, auch korrekter, "Orgasmotherapie" genannt, denn nichts anderes ist im Grunde die Vegetotherapie. Es war zu bedenken, daß dieser Ausdruck dem jungen Sexualökonomen für seine Praxis eine allzu große soziale Belastung darstellen würde. Die Menschen lachen nun mal bösartig oder höhnisch, wenn vom Kern ihrer naturhaften Sehnsüchte und religiösen Gefühle die Rede ist.

Es ist zu befürchten, daß sich die Schule der Sexualökonomen in ein oder zwei Jahrzehnten in zwei Gruppen spalten wird, die einander heftig bekämpfen werden. Die eine Gruppe wird etwa erklären, die sexuelle Funktion sei der allgemeinen Lebensfunktion untergeordnet – und daher streichbar. Die andere Gruppe der Sexualökonomen wird stürmisch radikale Opposition machen und die Ehre der Sexualforschung zu retten versuchen. Dabei könnte die prinzipielle Identität von Sexualprozeß und Lebensprozeß in Vergessenheit geraten. Auch ich könnte nachgeben und ableugnen, was in jungen Kampfjahren ehrliche wissenschaftliche Überzeugung war. Denn es könnte der faschistisierten Welt gelingen, unsere schwere Arbeit noch einige Male mit Vernichtung durch moralistische Erbpsychiater und Parteibürokraten zu bedrohen wie in Europa. Meine Freunde, die den norwegischen Skandal der faschistischen Pressekampagne gegen die Sexualökonomie kennen, wissen, was ich meine. Deshalb ist es unerläßlich, rechtzeitig festzulegen, was gemeint ist, wenn von Sexualökonomie die Rede ist, ehe ich selbst unter dem Drucke veralteter gesellschaftlicher Verhältnisse anders zu denken anfange und die Wahrheitsforschung der kommenden wissenschaftlichen Jugend mit meiner Autorität erschwere.

Die Theorie der sexualökonomischen Lebensforschung ist in wenigen Sätzen zu fassen.

Die seelische Gesundheit hängt von der orgastischen Potenz ab, das heißt vom Ausmaß der Hingabe- und Erlebnisfähigkeit am Höhepunkt der sexuellen Erregung im natürlichen Geschlechtsakt. Ihre Grundlage bildet die unneurotische charakterliche Haltung der Liebesfähigkeit. Die seelischen Erkrankungen sind Folgen der Störung der natürlichen Liebesfähigkeit. Bei orgastischer Impotenz, unter der die überwiegende Mehrzahl der Menschen leidet, entstehen Stauungen biologischer Energie, die zu Quellen irrationaler Handlungen werden. Die Heilung der seelischen Störungen fordert in erster Linie die Herstellung der natürlichen Liebesfähigkeit. Sie ist von sozialen Bedingungen ebenso abhängig wie von psychischen.

Die seelischen Krankheiten sind Ergebnisse der gesellschaftlichen Sexualunordnung. Diese Unordnung hat seit Jahrtausenden die Funktion, die Menschen den jeweils vorhandenen Seinsbedingungen psychisch zu unterwerfen, die äußere Mechanisierung des Lebens zu verinnerlichen. Sie dient der seelischen Verankerung der mechanisierten und autoritären Zivilisation durch Verunselbständigung der Menschen.

Die Lebenskräfte regeln sich natürlicherweise selbst ohne Zwangspflicht oder Zwangsmoral; beide sind sichere Anzeichen für vorhandene anti-soziale Regungen. Die antisozialen Handlungen entstammen sekundären, durch die Unterdrückung des natürlichen Lebens entstandenen Trieben, die der natürlichen Sexualität widersprechen.
Der lebens- und sexualverneinend erzogene Mensch erwirbt eine Lustangst, die physiologisch in chronischen Muskelspannungen verankert ist. Die neurotische Lustangst ist die Grundlage der Reproduktion der lebensverneinenden, Diktatur begründenden Weltanschauungen durch die Menschen selbst. Sie ist der Kern der Angst vor selbständiger, freiheitlicher Lebensführung. Dies wird die wichtigste Kraftquelle jeder Art politischer Reaktion, der Herrschaft von Einzelpersonen oder Gruppen über die Mehrheit der arbeitenden Menschen. Sie ist bio-physiologische Angst und bildet das Kernproblem des psychosomatischen Forschungsgebietes. Sie war bisher das größte Hindernis im Erforschen der unwillkürlichen Lebensfunktionen, die der neurotische Mensch nur unheimlich und angstvoll erleben kann.

Die charakterliche Struktur des heutigen Menschen, der eine sechstausend Jahre alte patriarchalisch-autoritäre Kultur fortpflanzt, ist durch charakterliche Panzerung gegen die innere Natur und gegen die äußere gesellschaftliche Misere gekennzeichnet. Sie ist die Grundlage von Vereinsamung, Hilfsbedürftigkeit, Autoritätssucht, Angst vor Verantwortung, mystischer Sehnsucht, sexuellem Elend, neurotisch-hilfloser Rebellion ebenso wie krankhaft-widernatürlicher Duldsamkeit. Die Menschen haben sich dem Lebendigen in sich feindselig entfremdet. Diese Entfremdung ist nicht biologischen, sondern sozialökonomischen Ursprungs. Sie fehlt in den Stadien der Menschheitsgeschichte vor der Entwicklung des Patriarchats.

An die Stelle der natürlichen Arbeitsfreude und Tätigkeit ist seitdem die Zwangspflicht getreten. Die durchschnittliche Struktur der Menschenmasse veränderte sich im Sinne der Ohnmacht und Lebensangst, so daß autoritäre Diktaturen sich nicht nur durchsetzen, sondern sogar mit Berufung auf vorhandene menschliche Haltungen, wie Verantwortungslosigkeit und Kindlichkeit, rechtfertigen können. Die internationale Katastrophe, die wir durchleben, ist die äußerste Konsequenz dieser Lebensentfremdung.
Die Zentralstelle der autoritären Strukturierung der Menschenmasse ist nicht die natürliche Elternliebe, sondern die autoritäre Familie. Ihr Hauptmittel ist die Unterdrückung der Geschlechtlichkeit des Kleinkindes und des Puberilen.

Natur und Kultur, Trieb und Moral, Sexualität und Leistung wurden infolge der Spaltung der Menschenstruktur unvereinbar. Die von jeher ersehnte Einheit und Widerspruchslosigkeit von Kultur und Natur, Arbeit und Liebe, Moral und Geschlechtlichkeit bleibt ein Traum, solange die Menschen die biologische Anforderung der natürlichen (orgastischen) Sexualbefriedigung nicht zulassen. Solange bleiben auch echte Demokratie und verantwortungsbewußte Freiheit Illusion. Hilflose Unterwerfung unter die chaotischen gesellschaftlichen Umstände prägen die menschliche Existenz. Es herrscht die Tötung des Lebendigen in Zwangserziehung und Krieg.

Auf psychotherapeutischem Gebiet erarbeitete ich die Technik der charakteranalytischen Vegetotherapie. Ihr Grundprinzip ist die Wiederherstellung der biopsychischen Beweglichkeit durch Auflösung der charakterlichen und muskulären Erstarrungen ("Panzerungen"). Experimentell begründet wurde diese Technik der Neurosenheilung durch die Enthüllung der bio-elektrischen Natur der Sexualität und der Angst. Sie sind entgegengesetzte Funktionsrichtungen des lebenden Organismus: lustvolle Expansion und ängstliche Kontraktion.

Die Orgasmusformel, die die sexualökonomische Forschung lenkt, lautet: Mechanische Spannung bioelektrische Ladung Entladung mechanische Entspannung. Sie erwies sich als die Formel des lebendigen Funktionierens schlechthin. Sie führte zur experimentellen Erforschung der Organisierung lebender aus nichtlebender Materie, zur experimentellen Bionforschung und vor kurzem zur Entdeckung der Orgonstrahlung. Sexualitäts- und Bionforschung eröffneten einen neuen Zugang zum Problem der Krebserkrankung und einigen anderen Störungen des vegetativen Lebens.

Daß die Menschen als einzige Spezies das Naturgesetz der Sexualität nicht erfüllen, ist die unmittelbare Ursache einer Reihe vernichtender Seuchen. Die äußere gesellschaftliche Lebensverneinung hat Massensterben zur Folge, in Gestalt der Kriege ebensowohl wie infolge seelischer und körperlicher Störungen der Lebensfunktion.
Der Sexualitätsprozeß, mit anderen Worten der expansive biologische Lustprozeß, ist der produktive Lebensprozeß schlechthin! Das ist viel auf einmal und klingt fast "zu einfach". Diese "Einfachheit" bildet das Geheimnis, das manche in meiner Arbeit wittern. Ich will darzustellen versuchen, wie sich mir der Knoten löste, der diese Probleme der menschlichen Einsicht bisher verschloß. Ich hoffe sehr zu überzeugen, daß keine Zauberei vorliegt, daß im Gegenteil meine Theorie allgemeines, doch uneingestandenes menschliches Wissen über das Lebendige ist. Es war die Leistung der allgemeinen Lebensentfremdung, die von mir gefundenen Tatsachen und Zusammenhänge übersehen und konsequent verhüllt zu haben.

Die Geschichte der Sexualökonomie ist ohne Darstellung der Beteiligung ihrer Freunde unvollständig. Meine Freunde und Mitarbeiter werden begreifen, weshalb ich es mir versagen muß, ihre Leistungen hier entsprechend zu würdigen. Ich kann allen, die für die Sexualökonomie gekämpft und oft gelitten haben, die Versicherung geben, daß ohne ihre Leistungen die Gesamtentwicklung undurchführbar gewesen wäre.

Die Darstellung der Sexualökonomie erfolgt hier ausschließlich vom Standpunkt der europäischen Verhältnisse, die zur Katastrophe führten. Der Sieg der Diktaturen beruhte auf der seelischen Massenerkrankung der europäischen Menschen, die die Demokratien weder wirtschaftlich noch sozial oder psychologisch zu meistern wußten. Ich bin zu kurz in den Vereinigten Staaten, um beurteilen zu können, inwieweit diese Darstellung auch amerikanische Verhältnisse trifft oder verfehlt. Die Verhältnisse, die ich meine, sind nicht nur die äußeren menschlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Zustände, sondern vielmehr die Tiefenstruktur des amerikanischen Menschen und seiner Gesellschaft. Es erfordert Zeit, sie kennenzulernen.

Ich bin darauf vorbereitet, daß die englische Ausgabe dieses Buches verschiedenartige Ablehnung hervorrufen wird. In Europa war ich durch vieljährige Erfahrung geübt genug, an bestimmten Anzeichen die Bedeutung eines Angriffs, einer Kritik oder eines Lobes zu beurteilen. Da nicht anzunehmen ist, daß die Reaktionen gewisser Kreise hier grundsätzlich anders sein werden als jenseits des Ozeans, möchte ich kommende Anwürfe im voraus beantworten.

Die Sexualökonomie hat nichts mit irgendeiner der bestehenden politischen Organisationen oder Ideologien zu tun. Die politischen Begriffe, die die verschiedenen Schichten und Klassen der Gesellschaft trennen, lassen sich auf die Sexualökonomie nicht anwenden. Die soziale Verkennung des natürlichen Liebeslebens und seine Versagung für Kindheit und Jugend sind allgemein menschliche, über alle Staats- und Gruppengrenzen hinwegreichende Tatbestände.

Die Sexualökonomie wurde von Vertretern sämtlicher parteipolitischer Richtungen angefeindet. Meine Publikationen wurden von den Kommunisten ebenso verboten wie von den Faschisten, von polizeilichen Instanzen ebenso angegriffen und angeklagt wie von Sozialisten und Bürgerlich-Liberalen. Sie fanden dagegen Anerkennung und Achtung in allen Schichten und Kreisen der Bevölkerung. Im speziellen die Aufhellung der Funktion des Orgasmus fand die Zustimmung von fachwissenschaftlichen und kulturpolitischen Gruppen jeder Art.

Sexualverdrängung, biologische Steifheit, Moralisterei und Asketentum sind nicht auf bestimmte Klassen oder Bevölkerungsschichten beschränkt. Sie finden sich überall. Ich weiß von Priestern, die die Unterscheidung von natürlichem und unnatürlichem Geschlechtsleben begrüßen und die wissenschaftliche Gleichstellung des Gottbegriffs mit dem Naturgesetz anerkennen; ich weiß von anderen Priestern, die in der Aufhellung und praktischen Verwirklichung des kindlichen und jugendlichen Geschlechtslebens eine Gefahr für die Existenz der Kirche erblicken und daher zu scharfen Maßnahmen greifen. Lob und Haß beriefen sich jeweils auf dieselbe Ideologie. Man sah den Liberalismus und die Demokratie ebenso gefährdet wie die Diktatur des Proletariats oder die Ehre des Sozialismus oder die Ehre der deutschen Frau. In Wirklichkeit ist durch die Aufhellung der Funktion des Lebendigen nur eine Haltung und nur eine Art gesellschaftlicher und moralischer Regelung bedroht: das autoritär-diktatorische Regime jeder Sorte, das durch Zwangsmoral und Zwangsarbeit die spontane Anständigkeit und die natürliche Selbstregelung der Lebenskräfte zu vernichten sucht.
Die autoritäre Diktatur findet man aber – und da wollen wir endlich ehrlich sein – nicht nur in den totalitären Staaten. Man findet sie in der Kirche ebenso wie in den akademischen Organisationen, bei den Kommunisten ebenso wie bei parlamentarischen Regierungen. Sie ist eine durch die Unterdrückung des Lebendigen entstandene allgemein menschliche Neigung; sie bildet die massenpsychologische Basis in allen Nationen für die Aufnahme und Aufrichtung der Diktatur. Ihre Grundelemente sind Mystifizierung des Lebensprozesses, reale Hilflosigkeit materieller und sozialer Art, Angst vor Verantwortung für die Bestimmung des eigenen Lebens und daher Sucht nach illusionärer Sicherheit und Autorität, aktiv oder passiv. Die echte uralte Bestrebung zur Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens beruht auf Selbstbestimmung, natürlicher Sozialität und Moral, auf freudiger Arbeit und irdischem Liebesglück. Sie betrachtet jede Illusion als Gefahr. Sie wird daher die naturwissenschaftliche Erfassung des Lebendigen nicht nur nicht fürchten, sondern zu Hilfe nehmen, um entscheidende Probleme der menschlichen Strukturbildung wissenschaftlich-praktisch und nicht illusionär zu bewältigen. Allenthalben sind Bestrebungen am Werk, die formale Demokratie zur echten Demokratie aller Schaffenden, zur Arbeitsdemokratie, entsprechend der natürlichen Organisation des Arbeitsprozesses, zu entwickeln.

Es geht auf dem Gebiet der Mentalhygiene um die große Aufgabe, an die Stelle der sexuellen Unordnung, des Bordellwesens, der sexuellen Schmutzliteratur und des sexuellen Geschäfts das natürliche Liebesglück, gesellschaftlich gesichert, zu setzen. Darin liegt weder die Absicht, "die Familie zu zerstören", noch die "Moral zu untergraben". Familie und Moral werden von Zwangsfamilie und Zwangsmoral untergraben. Wir stehen fachlich vor der Aufgabe, die Schäden zu meistern, die die sexuelle und familiäre Unordnung in Form von seelischen Erkrankungen anrichtet. Um die seelische Pest zu meistern, muß man zwischen der natürlichen Liebe von Eltern und Kindern zueinander und dem familiären Zwang in jeder Beziehung scharf unterscheiden. Die endemische Krankheit Familitis zerstört alles, was ehrliche menschliche Bestrebungen zu erreichen versuchen.

Wenn ich auch keiner politischen oder religiösen Organisation angehöre, so habe ich doch eine Anschauung vom sozialen Leben. Sie ist im Gegensatz zu allen Arten politischer, rein ideologischer oder mystischer Weltanschauung wissenschaftlich-rational. Dieser Anschauung zufolge glaube ich, daß unsere Erde keinen dauernden Frieden finden und daß sie vergebens bemüht sein wird, die Funktion der Vergesellschaftung des Menschen zu erfüllen, solange sachlich ahnungslose Politiker und Diktatoren welcher Art immer neurotisch verseuchte und sexuell kranke Massen führen werden. Die Vergesellschaftung des Menschen hat die natürliche Funktion, Arbeit und natürliche Liebeserfüllung zu sichern. Diese beiden biologischen Betätigungen der Menschen hängen seit Urzeiten von wissenschaftlicher Forschungs- und Denkarbeit ab. Wissen, Arbeit und natürliche Liebe sind die Quellen unseres Lebens. Sie sollen es auch regieren, in voller Verantwortung getragen von den schaffenden Menschenmassen.
Seelische Massenhygiene fordert die Macht des Wissens gegen die Macht der Unwissenheit; die Macht der lebensnotwendigen Arbeit gegen jede Art von Parasitentum, sei sie nun wirtschaftlicher, geistiger oder philosophischer Art. Die Naturwissenschaft kann, wenn sie sich ernst nimmt, einzig und allein gegen diejenigen Kräfte ankämpfen, die das Leben zerstören, wo immer und durch wen immer dies geschehen mag. Es liegt in der Natur der Sache, daß es keinen Menschen gibt, der allein das Wissen beherrscht, das notwendig ist, um die natürliche Funktion des Lebens zu sichern. Die wissenschaftlich-rationale Weltanschauung schließt Diktatur aus und fordert Arbeitsdemokratie.
Die gesellschaftliche Macht, ausgeübt vom Volk, durch das Volk und für das Volk, getragen von natürlichem Lebensempfinden und Respekt vor der Arbeitsleistung, wäre unüberwindbar. Diese Macht setzt aber voraus, daß die arbeitenden Menschenmassen seelisch unabhängig und fähig werden, die Verantwortung für das gesellschaftliche Sein voll zu tragen und ihr Leben rational selbst zu bestimmen. Was sie daran hindert, ist die seelische Massenneurose, die sich in der Diktatur jeder Art ebenso wie im politischen Geschwätz materialisiert. Um die Massenneurose und den Irrationalismus im gesellschaftlichen Leben zu bewältigen, mit anderen Worten, um echte Mentalhygiene zu leisten, bedarf es eines sozialen Rahmens, der vor allem die materielle Not beseitigt und die freie Entwicklung der Lebenskräfte in jedem Einzelnen sichert. Dieser soziale Rahmen kann nur die echte Demokratie sein.

Die echte Demokratie aber ist kein Zustand einer "Freiheit", die einer Menschengruppe von gewählten oder aufgezwungenen Regierungsorganen geschenkt, gegönnt oder garantiert werden könnte. Die echte Demokratie ist ein schwieriger, langwieriger Prozeß, in dem die Menschenmasse, sozial und gesetzlich geschützt, alle Möglichkeiten hat (nicht etwa "bekommt"), sich in der Verwaltung des lebendigen, individuellen und gesellschaftlichen Lebens zu schulen und zu immer besseren Lebensformen vorzudringen. Die echte Demokratie ist also keine abgeschlossene Entwicklung, die nun wie ein Greis ihre glorreiche, kämpferische Vergangenheit genießt, sondern sie ist ein Prozeß unausgesetzten Ringens mit den Problemen der unabbrechbaren Entwicklung neuer Gedanken, neuer Entdeckungen und neuer Lebensformen. Die Entwicklung in die Zukunft ist nur dann unabbrechbar und ununterbrechbar, wenn das Alte und Greisenhafte, das seine Rolle auf einer früheren Stufe der demokratischen Entwicklung erfüllt hat, nun weise genug ist, dem Jungen und Neuen Platz zu machen und es nicht mit Berufung auf Würde oder formale Autorität zu ersticken.

Die Tradition ist wichtig. Sie ist demokratisch, wenn sie ihre natürliche Funktion erfüllt, das neue Geschlecht mit den guten und den bösen Erfahrungen der Vergangenheit auszurüsten, das heißt zu befähigen, aus alten Fehlern zu lernen, keine neuen derselben Sorte zu begehen. Die Tradition wird zum Töter der Demokratie, wenn sie der kommenden Jugend die Möglichkeit der Wahl nicht läßt, wenn sie zu diktieren versucht, was unter neuen Bedingungen des Lebens als "gut" oder als "schlecht" anzusehen ist. Die Tradition vergißt leicht und gern, daß ihr die Fähigkeit abhanden kam zu beurteilen, was eben nicht Tradition ist. Die Verbesserung des Mikroskops war nicht etwa eine Vernichtung des ersten Exemplars, sondern seine Bewahrung und Fortführung entsprechend einer höheren Stufe menschlichen Wissens. Ein Mikroskop aus Pasteurs Zeiten hat nicht die Fähigkeit, sehen zu lassen, was der heutige Virusforscher sucht. Man stelle sich vor, daß das Pasteursche Mikroskop nun die Macht und den Ehrgeiz hätte, das Elektronenmikroskop zu verbieten.

Es gäbe nur Ehrfurcht für das Überlieferte und keinen Haß gegen es, wenn die Jugend ungefährdet sagen könnte: "Dies übernehmen wir von euch, denn es ist stark, ehrlich, noch immer zeitgerecht und entwicklungsfähig. Doch das können wir nicht übernehmen. Es war nützlich und wahr zu eurer Zeit, es wurde unbrauchbar für uns." Diese Jugend wird bereit sein müssen, dasselbe von ihren eigenen Kindern zu hören.

Die Entwicklung der Vorkriegsdemokratie zur vollen und echten Arbeitsdemokratie bedeutet die Eroberung der realen Bestimmung des Seins durch die Allgemeinheit anstelle der formalen, stück- und lückenhaften Bestimmung. Sie bedeutete die Ersetzung der irrationalen politischen Willensbildungen der Masse durch rationale Beherrschung des sozialen Prozesses; dies fordert fortschreitende Selbsterziehung der Menschenmassen zu freiheitlicher Verantwortung anstelle der kindhaften Erwartung, daß man Freiheit geschenkt oder von jemand anderem garantiert bekommen kann. Die Demokratie hat zu beweisen, wenn sie die Diktaturneigung in den Menschenmassen aus der Welt schaffen will, daß sie die Armut zu töten und die rationale Selbständigkeit der Menschen zu erzielen vermag. Dies und nur dies kann organische gesellschaftliche Entwicklung genannt werden.

Ich glaube, daß die europäischen Demokratien im Kampfe mit der Diktatur unterlagen, weil viel zuviel in den demokratischen Systemen formal und viel zuwenig sachlich praktisch demokratisch war. Angst vor dem lebendigen Leben beherrschte jede erzieherische Maßnahme. Demokratie war als Zustand garantierter "Freiheit" und nicht als Entwicklung der Massenverantwortung angesehen. Erziehung zu autoritärer Gefolgschaft gab und gibt es auch in den Demokratien. Die katastrophalen Zeitereignisse lehrten: Zur autoritären Gefolgschaft welcher Art immer erzogen, stehlen sich die Menschen die Freiheit; sie erschlagen den Spender der Freiheit und rennen mit dem Diktator davon.

Ich bin kein Politiker und verstehe nichts von Politik, aber ich bin sozial bewußter Wissenschaftler. Als solcher nehme ich mir das Recht zu sagen, was ich für wahr erkannte. Wenn meine wissenschaftlichen Aussagen geeignet sind, einer besseren Ordnung der menschlichen Verhältnisse förderlich zu sein, sehe ich den Zweck meiner Arbeit erfüllt. Die menschliche Gesellschaft wird nach dem Zusammenbruch der Diktaturen Wahrheiten brauchen, und gerade unbeliebte Wahrheiten. Diejenigen Wahrheiten, die uneingestandene Gründe des sozialen Chaos von heute treffen, werden sich früher oder später, ob nun die Menschen es wollen oder nicht, durchsetzen. Eine solche Wahrheit ist, daß die Diktatur in der irrationalen Lebensangst der Menschenmassen wurzelt. Wer solche Wahrheiten vertritt, ist sehr gefährdet, doch er kann warten. Er hat es nicht nötig, um Macht zu kämpfen, um die Wahrheit durchzusetzen. Seine Macht besteht darin, daß er Tatsachen kennt, die allgemein menschlich sind. Mögen solche Tatsachen noch so verpönt sein: In Zeiten höchster gesellschaftlicher Not zwingt der Lebenswille der Gesellschaft dazu, sie dennoch anzuerkennen.

Der Wissenschaftler ist verpflichtet, sich unter allen Umständen das Recht der freien Meinungsäußerung zu bewahren und es nicht den Vertretern der Lebensunterdrückung zu überlassen. Es ist soviel die Rede von der Pflicht der Soldaten, ihr Leben zu lassen. Es ist zu wenig die Rede von der Pflicht der Wissenschaftler, unter allen Umständen die einmal erkannte Wahrheit zu vertreten, koste es, was es will.

Der Arzt oder der Pädagoge hat nur eine Verpflichtung, seinen Beruf ohne Rücksicht auf die Mächte der Unterdrückung des Lebendigen kompromißlos auszuüben und nur das Wohl derer im Auge zu haben, die ihm anvertraut sind. Er hat keine Ideologien zu vertreten, die dem Arzttum oder dem Erziehertum widersprechen.

Wer dem Forscher, dem Arzt, dem Erzieher, dem Techniker oder dem Schriftsteller dieses Recht bestreitet und sich Demokrat nennt, ist ein Heuchler oder zumindest das Opfer der Pest des Irrationalismus. Der Kampf gegen die Diktaturpest ist ohne Entschlossenheit und Ernst in Lebensfragen aussichtslos, denn die Diktatur lebt – und kann nur leben – im Dunkel der unerkannten Lebensfragen. Der Mensch ist hilflos, wo ihm Wissen fehlt; die Hilflosigkeit durch Unwissenheit ist der Dünger der Diktatur. Man kann eine gesellschaftliche Ordnung nicht demokratisch nennen, wenn sie das Aufwerfen entscheidender Fragen, die Findung ungewohnter Antworten und den Kampf der Meinungen darum fürchtet. Sie unterliegt dann dem geringsten Angriff auf ihre Institutionen durch Diktaturaspiranten. So geschah es in Europa.

Die "Freiheit der Religion" ist Diktatur, wenn es keine Freiheit der Wissenschaft daneben und daher keine freie Konkurrenz in der Deutung des Lebensprozesses gibt. Es muß einmal endgültig klar werden, ob "Gott" eine bärtige, übermächtige Gestalt im Himmel oder ob er das uns beherrschende kosmische Naturgesetz darstellt. Nur wenn Gott und Naturgesetz identisch sind, ist ein Verständnis zwischen Wissenschaft und Religion möglich. Von der Diktatur der irdischen Gottesvertreter zur Diktatur der gottgesandten Retter der Völker ist nur ein Schritt.

"Die Moral" ist Diktatur, wenn sie Menschen natürlichen Lebensgefühls mit der Pornographie zusammentut. Ob sie will oder nicht, sie läßt solcherweise den sexuellen Schmutz weiterleben und das natürliche Liebesglück der Menschen kaputtgehen. Man muß scharf dagegen protestieren, daß derjenige unmoralisch genannt wird, der sein soziales Verhalten auf innere Gesetze statt auf äußere Zwangsformen stützt. Man ist Mann und Frau, nicht weil man die Segnung bekam, sondern weil man sich als Mann und Frau fühlt. Das innere und nicht das äußere Gesetz ist das Maß der echten Freiheit. Die moralistische Heuchelei ist der gefährlichste Feind der natürlichen Moralität. Mankann die moralistische Heuchelei nicht mit einer anderen Art von Zwangsmoral, sondern nur mit Wissen um das natürliche Gesetz des Sexualprozesses bekämpfen.

Natürliches moralisches Verhalten setzt Freiheit des natürlichen Lebensprozesses voraus. Dagegen gehen Zwangsmoral und krankhafte Sexualität Hand in Hand.

Die Linie des Zwanges ist die Linie des geringsten Widerstandes. Es ist leichter, Disziplin zu fordern und autoritär durchzusetzen, als Kinder zu selbsttätiger Arbeitsfreude und natürlichem sexuellem Verhalten zu erziehen. Es ist leichter, sich als von Gott gesandter Führer und allwissend zu erklären und zu dekretieren, was Millionen denken und tun sollen, als im Kampf der Meinungen sich dem Ringen zwischen Rationalem und Irrationalem auszusetzen. Es ist leichter, auf gesetzlicher Erfüllung von Achtung und Liebe zu bestehen, als Freundschaft durch menschliches Verhalten zu erringen. Es ist leichter, seine Unabhängigkeit für materielle Sicherheit zu verkaufen, als eine verantwortungsvolle, selbständige Existenz zu führen und Herr über sich selbst zu sein. Es ist bequemer, Untergeordneten ihr Verhalten zu diktieren, als dieses Verhalten unter Wahrung der fremden Eigenheit zu lenken. Deshalb ist auch die Diktatur immer leichter als die echte Demokratie. Deshalb beneidet der bequeme demokratische Führer den Diktator und versucht, ihn unzulänglich nachzuahmen. Es ist leicht, den Gemeinplatz, und schwer, die Wahrheit zu vertreten.

Wer das Vertrauen zum Lebendigen nicht hat oder verlor, ist daher dem unterirdischen Einfluß der Lebensangst ausgeliefert, die die Diktatur erzeugt. Das Lebendige ist in sich "vernünftig". Es wird eine Fratze, wenn man es nicht leben läßt. Als Fratze kann das Leben nur Schrecken einjagen. Daher kann nur die Kenntnis des Lebendigen den Schrecken verjagen. Wie immer die blutigen Kämpfe unserer aus den Fugen geratenen Welt die kommenden Jahrhunderte gestalten mögen: Die Wissenschaft vom Leben ist mächtiger als alle Lebensfeindschaft und Tyrannei. Galilei und nicht Nero, Pasteur und nicht Napoleon, Freud und nicht Schicklgruber haben die Technik begründet, die Seuchen bekämpft, das Seelische ergründet, also unser Sein gesichert. Die anderen haben die Erfolge der Großen immer zum Töten des Lebens mißbraucht. Die Wurzeln der Naturwissenschaft reichen unendlich tiefer als der so oder so faschistische Lärm des Tages.

Peer Gynt

Die Sache der Psychoanalyse war groß und stark. Sie schlug dem üblichen menschlichen Denken ins Gesicht. Du glaubst, daß du mit freiem Willen dein Handeln bestimmst? Falsch! Dein bewußtes Handeln ist nur ein Tropfen auf der Oberfläche eines Meeres unbewußter Vorgänge, von denen du nichts wissen kannst, die zu wissen du fürchtest. Du bist stolz auf die "Individualität deiner Persönlichkeit" und die "Weite deines Geistes"? Falsch! Du bist im Grunde nur ein Spielball deiner Triebe, die mit dir tun, was sie wollen. Das kränkt deine Eitelkeit schwer, gewiß! Doch ebenso kränktest du dich, als du erfahren mußtest, daß du von den Affen abstammst und daß die Erde, auf der du kriechst, nicht das Zentrum der Sternenwelt ist, wie du einmal gerne glaubtest. Du glaubst noch immer, daß die Erde unter den Milliarden Sternen als einziger Stern belebte Materie trägt. Du bist kurzerhand bestimmt von Vorgängen, die du nicht beherrschst, nicht kennst, fürchtest und falsch auslegst. Es gibt eine seelische Wirklichkeit, die weit über dein Bewußtsein reicht. Dein Unbewußtes ist wie das Kantsche "Ding an sich": Es ist nie selbst zu fassen, es gibt sich nur in Äußerungen zu erkennen. Ibsens Peer Gynt fühlt es:

"Hin und zurück, 's ist der gleiche Weg –
Hinaus und hinein, 's ist der gleiche Steg!
Da ist er! Rings, wo ich mich weise!
Wähn' ich mich draußen, steh' ich mitten im Kreise.
Nenn' Dich! Laß sehn Dich! Was bist Du, Verkapptes?"

Es ist der "große Krumme". Ich las den Peer Gynt wieder und wieder. Ich las die vielen Interpretationen darüber.

Die affektive Ablehnung der Freudschen Theorie des Unbewußten begründete sich nicht nur in der traditionellen Abwehr neuer großer Gedanken. Der Mensch muß existieren, materiell und psychisch, existieren in einer Gesellschaft, die einem vorgeschriebenen Wege folgt und sich zusammenhalten muß. Das fordert das tägliche Leben. Abweichen von Bekanntem, Gewohntem, Eingebahntem kann Wirrwarr und Untergang bedeuten. Die Angst der Menschen vor dem Ungewissen, Bodenlosen, dem Kosmischen ist berechtigt, zumindest verständlich. Wer davon abweicht, wird leicht ein Peer Gynt, ein Phantast, ein Geisteskranker. Peer Gynt schien mir ein großes Geheimnis enthüllen zu wollen, ohne es ganz zu können. Es ist die Geschichte eines Menschen, der, mit unzureichenden Mitteln ausgerüstet, aus der marschierenden Reihe dieser Menschenhorde hinausspringt. Er wird nicht verstanden. Man verlacht ihn, wenn er harmlos, man versucht, ihn zu vernichten, wenn er kräftig ist. Begreift er die Unendlichkeit nicht, in die seine Gedanken und Taten hineingestellt sind, dann geht er an sich selbst kaputt. Alles drehte sich und schwankte, als ich den Peer Gynt las und verstand, als ich Freud kennenlernte und begriff. Ich stand draußen wie Peer Gynt. Sein Schicksal fühlte ich als die wahrscheinlichste Lösung des Unterfangens, aus der Reihe der geschlossenen Marschkolonnen anerkannter Wissenschaft und üblichen Denkens zu springen. Wenn Freud recht hatte mit seiner Lehre des Unbewußten, woran ich nicht zweifelte, dann war die innere, seelische Unendlichkeit erfaßt. Man wurde ein Würmchen im Strom des eigenen Erlebens. Das alles fühlte ich nebelhaft, gar nicht "wissenschaftlich". Die wissenschaftliche Theorie ist, betrachtet vom Standpunkt des lebendigen Lebens, ein künstlicher Haltepunkt im Chaos der Erscheinungen. Sie hat daher den Wert eines seelischen Schutzes. Man droht nicht zu versinken in diesem Chaos, wenn man die Erscheinungen fein säuberlich eingeteilt, registriert, beschrieben hat und somit verstanden zu haben glaubt. Man kann derart das Chaos sogar ein Stück weit meistern. Das tröstete mich wenig. Ich hatte in den letzten zwanzig Jahren immer hart mit der Abgrenzung des zu bewältigenden Stoffes meiner wissenschaftlichen Arbeit in der Unendlichkeit des lebendigen Lebens zu kämpfen. Im Hintergrunde jeder Detailarbeit stand das Empfinden vom Würmchen im Weltall. Wenn man in einem Flugzeug 1000 Meter hoch längs einer Landstraße fliegt, kriechen die Autos ganz armselig dahin. Ich studierte in den folgenden Jahren Astronomie, Elektrik, die Plancksche Quantentheorie und die Einsteinsche Relativitätslehre. Heisenberg und Bohr wurden lebendige Begriffe. Die Ähnlichkeit der Gesetze, die die Welt der Elektronen wie die der Planetensysteme lenken, waren mehr als wissenschaftliche Lehren. So wissenschaftlich das alles ist, man entgeht keinen Augenblick Weltallsempfindungen. Die Phantasie, ganz allein im Weltenraume zu schweben, ist mehr als eine Mutterleibsphantasie. Die dahinkriechenden Autos und die Vorträge über die kreisenden Elektronen kommen einem dann sehr klein vor. Ich wußte, daß das Erlebnis des Geisteskranken grundsätzlich in dieser Richtung liegt. Die Psychoanalyse behauptete, daß beim Geisteskranken das Unbewußte das System des Bewußtseins überschwemmt. Dadurch geht die Sperre gegen das Chaotische im eigenen Unbewußten und die Realitätsprüfung gegenüber der äußeren Welt verloren. Die Phantasie der Schizophrenen, daß die Welt untergeht, leitet den seelischen Zusammenbruch ein.

Ich war tief berührt von der Ernsthaftigkeit, mit der Freud die Geisteskranken zu begreifen versuchte. Er stand berghoch über den spießig-überlegenen Meinungen, die die Psychiater alter Schulen über die Geisteskrankheit äußerten. Das wäre eben "verrückt". Als ich als Rigorosant der Psychiatrie das Fragenschema für Geisteskranke lernte, schrieb ich ein kleines Szenenstück. Dort schilderte ich die Verzweiflung eines Geisteskranken, der mit dem starken Erleben in sich nicht fertig wird, nach Hilfe ringt und Klarheit sucht. Man denke an die katatonen Stereotypien, bei denen etwa ein Finger ständig wie in Grübelei an die Stirn gedrückt wird. Man denke an den tiefen, selbstentfremdeten, suchenden und in die Ferne schweifenden Blick und Gesichtsausdruck dieser Kranken. Doch der Psychiater fragte: "Wie alt sind Sie?", "Wie heißen Sie?", "Wieviel ist drei mal sechs?", "Was ist der Unterschied zwischen einem Kind und einem Zwerg?" Er stellte Desorientiertheit, Spaltung des Bewußtseins und Größenwahn fest, punktum! Der Wiener "Steinhof" umfaßte etwa 20.000 derartige Menschen. Jeder einzelne von ihnen hatte seine Welt versinken erlebt und, um sich zu halten, eine neue Wahnwelt aufgebaut, in der er existieren konnte. Daher verstand ich Freuds Anschauung, daß der Wahn eigentlich ein Versuch der Rekonstruktion des verlorengegangenen Ichs ist, sehr gut. Doch Freud befriedigte nicht ganz. Seine Lehre von der Schizophrenie blieb mir zu früh in der Rückführung dieser Erkrankung auf autoerotische Regression stecken. Er meinte, daß eine Fixierung der seelischen Entwicklung des Kleinkindes in der primärnarzißtischen Periode des Säuglings eine Disposition zur Geisteskrankheit bilde. Ich hielt das für richtig, doch unvollständig. Es war nicht greifbar. Mir schien die Gemeinsamkeit zwischen dem in sich gekehrten Säugling und dem erwachsenen Schizophrenen in der Art des Erlebens der Umwelt zu liegen. Für den Neugeborenen kann die Umwelt mit den unendlich vielen Reizen nichts als ein Chaos sein, in dem das Empfinden vom eigenen Körper mitklingt. Ich und Welt bilden dem Erleben nach eine Einheit. Zunächst, so dachte ich, unterscheidet der seelische Apparat die lustvollen von den unlustvollen Reizen. Alles Lustvolle gehört einem erweiterten Ich an, alles Unlustvolle dem Nicht-Ich. Mit der Zeit verändert sich dieser Zustand. Teile des Ichempfindens, die in der Außenwelt lokalisiert sind, werden ins Ich verlegt. Und ebenso werden Teile der Umwelt, die lustvoll sind, wie etwa die mütterliche Brustwarze, als der Außenwelt zugehörig erkannt. So schält sich allmählich das eigentliche Ich aus dem Chaos der Innen- und Außenempfindungen los und beginnt die Grenze zwischen Ich und Außenwelt zu spüren. Erlebt nun das Kind in der Zeit dieses Loslösungsprozesses einen schweren Schock, so bleiben die Grenzen zur Welt verwischt, unklar oder unsicher im Empfinden (Der triebhafte Charakter, IV. Kap., 1925). Eindrücke der Außenwelt können dann als innere Erlebnisse erlebt oder umgekehrt innere Körperempfindungen als der Außenwelt zugehörig gefühlt werden. Im ersten Fall kommt es zu melancholischen Selbstvorwürfen, die einmal als äußere Mahnungen real erlebt wurden. Im zweiten Fall glaubt der Kranke etwa von einem geheimen Feind elektrisiert zu werden, während er nur seine vegetativen Störungen wahrnimmt.

Von der Echtheit der Körperempfindungen der Geisteskranken wußte ich damals nichts. Ich versuchte mir bloß eine Beziehung zwischen Icherleben und Welterleben herzustellen. Dort liegen die Ansätze zu meiner späteren Überzeugung, daß die schizophrenen Verluste an Wirklichkeitssinn mit der Mißdeutung der eigenen durchbrechenden Organempfindungen beginnen. Wir sind alle nur eine besonders organisierte elektrische Maschine, die mit der Energie des Weltalls in Wechselwirkung steht. Darauf komme ich noch zurück. Jedenfalls mußte ich einen Gleichklang von Welt und Ich annehmen. Anders schien mir ein Durchkommen nicht möglich. Heute weiß ich, daß die Geisteskranken diesen Gleichklang ohne die Grenze zwischen Ich und Welt erleben und daß die Spießer keine Ahnung vom Gleichklang haben und nur ihr liebes Ich scharf umgrenzt als Zentrum der Welt erleben. Der tiefe Geisteskranke ist menschlich wertvoller als der Spießer mit nationalen Idealen! Jener hat zumindest geahnt, was Weltenraum ist. Dieser gruppiert alle seine Größenvorstellungen um seine Stuhlverstopfung und inferiore Potenz. Dies alles ließ mich den Peer Gynt genau studieren. Durch den Peer Gynt sprach ein großer Dichter über seine Empfindungen von Welt und Leben. Ibsen hatte einfach die Misere undurchschnittlicher Menschen geschildert. Zuerst ist man voll von Phantasien und Kraftgefühl. Man ist ungewöhnlich im Alltag, ein Träumer und Nichtstuer. Die anderen gehen brav zur Schule oder zur Arbeit und verlachen den Träumer. Sie sind selbst Peer Gynts im Negativen. Peer Gynt fühlt den Puls des Lebens, das höchst undiszipliniert davonstürmt. Der Alltag ist eng und fordert strikten Gang. Hier ist die Phantasie des Peer Gynt, dort die "Realpolitik". Der Realpolitiker kapselt sich aus Angst vor dem Unendlichen auf einem Fleckchen Erde ab und sichert sein Leben. Es ist ein bescheidenes Problem, das er als Wissenschaftler sein Leben lang bearbeitet. Es ist ein bescheidenes Handwerk, das er als Schuster übt. Man denkt nicht über das Leben nach, man geht ins Kontor, aufs Feld, in die Fabrik, ins Büro, zum Kranken, in die Schule. Man tut seine Pflicht und schweigt. Den Peer Gynt in sich hat man längst erledigt. Es ist zu mühselig und zu gefährlich. Die Peer Gynts sind eine Gefahr für die Seelenruhe. Es wäre zu verlockend. Man trocknet zwar ein, doch man hat einen unproduktiven "kritischen Verstand", Ideologien oder faschistisches Selbstbewußtsein.

Man ist ein Knecht und Alltagswurm, aber die eigene Nation ist "reine Rasse" oder nordisch, der "Geist" beherrscht den Körper, und die Generäle verteidigen die "Ehre".
Peer Gynt birst vor Kraftgefühl und Körperfreude. Die andern haben eine Ahnung von der Gemütsverfassung des Elefantenbabys aus Kiplings Geschichten. Es lief der Mutter davon, kam an die Küste und reizte das Krokodil. Es war zu neugierig und lebenslustig. Das Krokodil packte es an der Nase. Damals war sie noch ganz kurz, die Elefanten hatten noch keine langen Rüssel. Das Elefantenbaby wehrt sich, so gut es kann. Es stemmt beide Vorderbeine an. Das Krokodil zerrt und zerrt. Das Elefantenbaby stemmt und stemmt. Die Nase wird immer länger und länger. Nachdem die Nase ganz lang wurde, läßt das Krokodil los. Das Elefantenbaby aber ruft verzweifelt: "Su swer für ein Elefantenbaby!" Dann schämt es sich der langen Nase. Das ist die Strafe für Aberwitz und Unfolgsamkeit. So kamen die Elefanten zu ihrem Rüssel. Man ist lieber hochnäsig! Man wird schon recht behalten! Peer Gynt wird den Kragen brechen mit seinem Aberwitz. Man wird es schon immer vorausgesagt haben! Schuster, bleib bei deinen Leisten! Die Welt ist bösartig, sonst gäbe es keine Peer Gynts. Man sorgt dafür, daß er den Kragen bricht. Er stürmt los, doch er wird wie ein angeketteter Hund zurückgerissen, der einer vorbeigehenden Hündin nachstürmt. Er verläßt die Mutter und das Mädchen, das er heiraten soll. Er hat ein schlechtes Gewissen, gerät in verlockende und gefährliche Gebiete des Teufels. Er wird ein Tier, bekommt einen Schwanz. Er reißt sich nochmals los und entgeht der Gefahr. Er hält zu seinen Idealen. Aber die Welt kennt nur Business. Alles andere ist komischer Spleen. Er will die Welt erobern, doch sie will sich nicht erobern lassen. Man muß sie bewältigen. Sie ist zu kompliziert, zu brutal. Die Ideale hat sie für die Dummen parat. Um sie zu bewältigen, braucht man Wissen, viel gründliches, kräftiges Wissen. Peer Gynt aber ist ein Träumer, der nichts Gescheites gelernt hat. Er will die Welt verändern und trägt sie in sich. Er träumt von großer Liebe zu seinem Weibe, seinem Mädchen, das ihm Mutter, Geliebte, Kameradin ist und seine Kinder gebiert. Doch Solveig ist als Frau unberührbar; die Mutter schilt ihn, wenn auch liebevoll. Er gleicht ihr zu sehr seinem verrückten Vater. Und die andere, Anitra, ist nichts als eine gemeine Dirne! Wo ist die Frau, die man lieben kann, die den Träumen entspricht? Man muß Brand sein, um das zu erreichen, was Peer Gynt will. Doch Brand ist wieder nicht phantasievoll genug. Brand hat die Kraft, Peer fühlt das Leben. Zu dumm, daß alles so verteilt ist! Er landet unter den Kapitalisten. Er verliert sein Vermögen auf korrekte Weise; die andern sind realpolitische Kapitalisten und keine Träumer. Sie verstehen das Geschäft besser, sind nicht Stümper im Business wie Peer. Gebrochen und ausgepumpt kehrt er als Greis in die Waldhütte zurück, zu Solveig, die ihm die Mutter ersetzt. Er ist von seinem Wahn genesen, er hat gelernt, was das Leben gibt, wenn man es zu fühlen wagt. So geht es den meisten, die nicht stillehalten. Und die andern wollen sich gar nicht erst blamieren. Sie sind von vornherein klug und überlegen gewesen.

Das war Ibsen, und das ist sein Peer Gynt. Ein Drama, das erst dann inaktuell werden wird, wenn die Peer Gynts schließlich doch recht behalten werden. Bis dahin werden die Guten und Gerechten Grund zum Lachen haben.

Ich verfaßte eine lange gelehrte Untersuchung über den "Libidokonflikt und Wahn des Peer Gynt". Im Sommer 1920 trat ich der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung als Gast bei. Es war kurz vor dem Haager Kongreß. Freud leitete die Sitzungen. Es gab Vorträge meist klinischer Art. Man sprach sachlich und anständig über die Fragen. Freud pflegte sehr gut und kurz die Ergebnisse zusammenzufassen und mit einigen Sätzen am Schlusse seine Meinung zu sagen. Es war ein großer Genuß, ihn zu hören. Er sprach gewählt, ohne Affekt, doch mit Witz, oft mit beißender Ironie. Er genoß endlich den Erfolg von vielen entbehrungsreichen Jahren. Damals saßen noch keine offiziellen Psychiater in der Vereinigung. Der einzige aktive Psychiater, Tausk, ein begabter Mensch, hatte kurz vorher Selbstmord begangen. Seine Arbeit Über den Beeinflussungsapparat bei der Schizophrenie war bedeutend. Er wies nach, daß die Beeinflussungsapparate Projektionen des eigenen Körpers, im besonderen der Geschlechtsorgane sind. Richtig verstand ich diese Sache erst, als ich in den vegetativen Strömungen bioelektrische Erregungen entdeckte. Tausk hatte recht: Der Geisteskranke schizoider Art empfindet sich selbst als Verfolger. Ich kann hinzufügen: Er wird mit den vegetativen Strömungen, die durchbrechen, nicht fertig. Er muß sie als fremd, der Außenwelt zugehörig und als böse Absicht fühlen. In der Schizophrenie ist nur ein Zustand grotesk verschärft, der den heutigen Menschen allgemein kennzeichnet. Er ist seiner eigentlichen Natur, dem biologischen Kern seines Wesens, entfremdet und empfindet sie als feindselig und fremd. Er muß jeden hassen, der sie ihm wieder nahebringt.

Die psychoanalytische Vereinigung wirkte wie eine Gemeinde von Menschen, die geschlossen gegen eine Welt von Feinden kämpfen mußte. Es war schön. Man mußte Achtung vor solcher Wissenschaft haben. Ich war der einzige junge Mediziner unter lauter "Erwachsenen", meist um 10 bis 20 Jahre Älteren.

Am 13. Oktober 1920 hielt ich meinen Vortrag als Kandidat für die Mitgliedschaft in der Vereinigung. Freud liebte es nicht, wenn man Vorträge aus dem Manuskripte las. Er sagte, der Zuhörer käme sich dabei vor wie ein Mensch, der mit hängender Zunge einem rasch fahrenden Wagen nachläuft, in dem der Vortragende gemächlich dahinfährt. Er hatte recht. Ich bereitete mich daher gründlich auf freie Rede vor. Das Manuskript hielt ich wohlweislich parat. Richtig, ich hatte keine drei Sätze gesprochen, verlor sich der Faden in einem Nebel von Gedanken. Ich fand glücklicherweise sofort die Fortsetzung im Manuskript. Die Sache ging gut. Allerdings, Freuds Wunsch war nicht erfüllt. Solche Details sind wichtig. Es würden viel mehr Menschen Kluges und viel weniger Menschen Unsinn vorbringen, wenn die autoritäre Angst vor dem Reden nicht bremste. Freie Rede mit guter innerer Übersicht über den beherrschten Stoff ist jedem möglich. Doch man möchte besonders imponieren, sich ja nicht blamieren, man fühlt die Augen vieler auf sich gerichtet – und blickt daher lieber ins Manuskript. Ich habe später Hunderte Reden frei gehalten und war als Redner gerühmt. Das verdanke ich dem frühen Entschluß, kein Manuskript mehr zu einem Vortrag mitzunehmen und lieber zu "schwimmen".

Mein Referat wurde sehr gut aufgenommen. In der folgenden Sitzung wurde ich als Mitglied in die Vereinigung der Psychoanalytiker aufgenommen.

Freud verstand es sehr gut, Distanz zu halten und sich Respekt zu verschaffen. Er war nicht hochmütig, im Gegenteil sehr freundlich. Man spürte dahinter Kälte. Nur selten taute er auf. Er war groß, wenn er einen verfrühten Besserwisser beißend scharf zur Rede stellte oder gegen die Psychiater auftrat, die sich scheußlich gegen ihn benahmen. Berührte er einen brennenden Punkt der Theorie, war er unnachgiebig. Technische Vorträge gab es kaum. Diesen Mangel spürte ich hart in meiner Arbeit am Patienten. Es gab weder Lehrinstitute noch geordneten Lehrgang. Jeder war auf sich selbst angewiesen. Ich ging oft zu den älteren Kollegen, um mir Rat zu holen. Es war spärlich, was sie sagten. "Analysieren Sie nur geduldig weiter", hieß es, "es wird schon werden!" Wie und was werden sollte, wußte man nicht recht. Das schwierigste war, mit gehemmten oder gar schweigenden Patienten weiterzukommen. Diejenigen, die später hinzukamen, haben dieses "Schwimmen" im Technischen nie so trostlos erlebt. Wenn ein Patient keine Assoziationen brachte, keine Träume "haben wollte" oder nichts dazu zu sagen wußte, saß man stundenlang ohnmächtig da. Die Technik der Widerstandsanalyse war zwar theoretisch begründet, doch nicht praktisch geübt. Ich wußte, daß die Hemmungen Widerstände gegen die Aufdeckung unbewußter Inhalte bedeuteten, auch daß ich sie beseitigen mußte, doch wie? Sagte man, "Sie haben einen Widerstand!" so sah einen der Patient verständnislos an. Es war ja auch keine sehr intelligente Auskunft. Sagte man ihm, er "wehre sich gegen sein Unbewußtes", war's nicht besser. Versuchte man ihn zu überzeugen, daß das Schweigen oder Sträuben keinen Sinn hätte, daß es Angst oder Mißtrauen wäre, so war es etwas besser und intelligenter, aber nicht fruchtbarer. Und die Auskunft der Analytiker lautete immer wieder: "Analysieren Sie nur ruhig weiter." An dieses Ruhig-weiter-Analysieren schließt meine ganze charakteranalytische Fragestellung an. Das ahnte ich nicht 1920. Ich ging zu Freud. Freud verstand es großartig, den Knoten einer komplizierten Situation theoretisch zu lösen. Technisch war es unbefriedigend. Analysieren, sagte er, bedeute vor allem, Geduld zu haben. Das Unbewußte wäre zeitlos. Man sollte seinen therapeutischen Ehrgeiz meistern. Andere Male wieder ermunterte er mich zu kräftigem Eingreifen. Ich begriff schließlich, daß die Heilungsarbeit nur dann echt ist, wenn man die Geduld aufbrachte, den Heilungsprozeß zu verstehen. Man wußte noch allzu wenig über das Wesen der seelischen Erkrankung. Diese Details mögen unwichtig erscheinen, wenn die Funktion des Lebendigen dargestellt werden soll. Sie sind sehr wichtig: Die Frage nach dem Wie und Woher der Verkrustungen und Erstarrungen des menschlichen Gefühlslebens war der Leitfaden ins Gebiet des vegetativen Lebens.

In einer der späteren Sitzungen schränkte Freud die ursprüngliche Heilungsformel ein. Sie lautete ursprünglich, das Symptom müßte verschwinden, wenn der unbewußte Sinn bewußt gemacht wäre. Nun sagte Freud: "Wir müssen korrigieren. Das Symptom kann, es muß nicht schwinden, wenn der unbewußte Sinn aufgedeckt ist." Das machte großen Eindruck. Welche Bedingung führt vom "kann" zum "muß"? Wenn das Bewußtwerden des Unbewußten nicht unbedingt dazu führt, was muß hinzutreten, um das Verschwinden des Symptoms zu sichern? Niemand wußte die Antwort. Freuds Einschränkung seiner Symptomheilungsformel fiel nicht einmal sehr auf. Man deutete weiter Träume, Fehlhandlungen, Assoziationsketten der Kranken. Über den Mechanismus der Heilung gab man sich wenig Rechenschaft. Die Frage: "Weshalb heilen wir nicht?" tauchte nicht auf. Das ist aus der Situation der Psychotheraphie in jenen Jahren verständlich. Die üblichen neurologischen Heilmethoden wie Brom oder "Sie sind nur nervös, Ihnen fehlt nichts" ödeten die Kranken so an, daß sie es bereits als eine Wohltat empfanden, wenn sie sich mal auf dem Sofa ruhig ihren Gedanken überlassen konnten. Sie waren sogar zur Regel angehalten, "alles zu sagen, was ihnen durch den Kopf ginge". Daß niemand diese Regel wirklich befolgte oder befolgen konnte, sprach Ferenczi erst viele Jahre später offen aus. Heute ist es uns so selbstverständlich, daß wir es gar nicht erst erwarten.

1920 glaubte man, durchschnittliche Neurosen in etwa drei bis höchstens sechs Monaten "heilen" zu können. Freud schickte mir Kranke mit dem Vermerk, "Zur Psychoanalyse, Impotenz, drei Monate". Ich quälte mich ab. Draußen tobten die Suggesteure und Psychiater gegen die "Verderbtheit" der Psychoanalyse. Man lebte von der Arbeit. Man war von ihrer Korrektheit tief überzeugt. Jeder Fall zeigte, wie unglaublich recht Freud hatte. Und die älteren Kollegen sagten immerzu: "Analysieren Sie nur geduldig weiter!" Meine ersten Arbeiten waren klinisch-theoretisch, nicht technisch. Es stand fest, daß man erst noch weit mehr begreifen mußte, ehe sich die Erfolge bessern konnten. Das versetzte in gute Kämpfer- und Forscherstimmung. Man gehörte zu einer Elite von wissenschaftlichen Kämpfern und grenzte sich gegen die Kurpfuscherei in der Neurosentherapie ab. Diese historischen Details mögen Vegetotherapeuten von heute geduldiger stimmen, wenn die "orgastische Potenz" auf sich warten läßt.

Die Entwicklung der charakteranalytischen Technik

Die psychoanalytische Technik bediente sich der Gedankenassoziation, um die unbewußten Phantasien aufspüren und deuten zu können. Es hatte sich gezeigt, daß die heilende Wirkung der Deutung begrenzt ist. Patienten mit der Fähigkeit zu freiem, unwillkürlichem Gedankeneinfall gab es kaum. Die Besserungen, die man erzielte, waren Erfolge von genitalen Durchbrüchen. Sie waren meist durch die Auflockerung des seelischen Apparats infolge der freien Einfälle zufällig hervorgerufen. Ich konnte sehen, daß genitale Lösungen große Heilwirkungen erzielten, doch ich hatte ihre Lenkung und Durchsetzung nicht in meiner Macht. Man wußte nie recht anzugeben, welchen Vorgängen im Kranken der zufällige Durchbruch zuzuschreiben war. Daraus folgte die Notwendigkeit, Orientierung in den Gesetzmäßigkeiten der analytischen Technik zu gewinnen.

Ich beschrieb bereits die Trostlosigkeit der damaligen technischen Situation. Als ich das Wiener Technische Seminar im Herbst 1924 übernahm, hatte ich ein Bild von der notwendigen Arbeit. In den vorausgegangenen zwei Jahren hatte sich die Systemlosigkeit in den Berichten über Krankheitsfälle störend gezeigt. Ich entwarf ein Schema für geordneten Bericht. Die Fälle bieten eine verwirrende Fülle von Erlebnissen. Ich schlug daher vor, aus dieser Fülle nur dasjenige vorzubringen, das zur technischen Problemstellung erforderlich war. In der Diskussion würde sich das übrige von selbst einstellen. Früher pflegte man die Kindheitsgeschichte des Falles völlig ohne Bezug auf das therapeutische Problem darzustellen und am Schluß unzusammenhängende Ratschläge zu erteilen. Das schien mir sinnlos. Wenn die Psychoanalyse eine kausale wissenschaftliche Therapie war, dann mußte die jeweils notwendige technische Maßnahme sich aus der Struktur des Falles von selbst ergeben. Die Struktur der Neurose konnte nur von den Fixierungen in kindlichen Situationen bestimmt sein. Es hatte sich ferner gezeigt, daß man die Widerstände umging, teils weil man sie nicht erkannte, teils weil man glaubte, daß der Widerstand ein Hindernis der Arbeit und daher möglichst zu vermeiden wäre. Im ersten Jahre meiner Tätigkeit als Seminarleiter wurden daher ausschließlich Widerstandssituationen besprochen. Im Anfang waren wir völlig hilflos. Doch wir lernten bald sehr viel und in rascher Folge hinzu. Das wichtigste Ergebnis des ersten Jahres seminaristischer Arbeit war die entscheidende Einsicht, daß die Analytiker unter "Übertragung" nur die positive und nicht die negative verstanden, obgleich die Unterscheidung von Freud theoretisch längst getroffen war. Die Analytiker scheuten sich, ablehnende Meinungen und peinliche Kritik des Patienten herauszuarbeiten, anzuhören, zu bestätigen oder zu entkräften. Man fühlte sich kurzerhand menschlich und persönlich unsicher wegen des sexuellen Stoffes und der so problematischen menschlichen Natur. Es zeigte sich ferner, daß es unbewußte feindselige Einstellungen des Patienten gab, die Pfeiler der Gesamtneurose waren. Jede Deutung von Zusammenhängen unbewußten Materials prallte an dieser geheimen Feindseligkeit ab. Folgerichtig durfte nichts Unbewußtes gedeutet werden, ehe die geheimen ablehnenden Haltungen aufgedeckt und beseitigt waren. Das lag zwar in der Linie bekannter Grundsätze der praktischen Arbeit. Doch es mußte erst geübt werden.
Die praktischen Fragestellungen räumten mit vielen unrichtigen und bequemen Haltungen der Therapeuten auf. So mit dem sogenannten "Abwarten". Abwarten sollte einen Sinn haben. Meist war es Hilflosigkeit. Wir verurteilten die Gewohnheit vieler, dem Kranken, wenn er Widerstände gegen die Behandlung zeigte, einfach Vorwürfe zu machen. Es lag ganz im Sinne der psychoanalytischen Grundsätze, daß wir den Widerstand zu begreifen und mit analytischen Mitteln zu beseitigen versuchten. Man pflegte damals, wenn die Behandlungen verödeten, Termine zu setzen. Der Patient sollte sich bis zu einem bestimmten Datum entschließen, den "Widerstand gegen die Gesundung aufzugeben". Konnte er es nicht, dann hatte er eben "unüberwindliche Widerstände". Wir vergessen nicht, daß das Ambulatorium fortdauernd hohe Anforderungen an unser Können stellte. Von der physiologischen Verankerung solcher Widerstände ahnte niemand etwas.

Es gab eine Reihe falscher technischer Maßnahmen, die beseitigt werden mußten. Da ich selbst diese Fehler fünf Jahre lang mit größten Mißerfolgen begangen hatte, kannte ich sie gut und erkannte sie beim anderen. So die unsystematische Arbeit am Gedankenmaterial, das der Patient brachte. Man deutete das Material "so, wie es kam", ohne Rücksicht auf seine Tiefe, auf die gegen echtes Verständnis vorgebauten Widerstände. Das führte oft zu grotesken Situationen. Die Kranken hatten sehr bald heraus, was der Psychoanalytiker theoretisch erwartete, und lieferten die betreffenden "Assoziationen". Sie brachten Material dem Analytiker zuliebe. Waren sie listige Charaktere, so führten sie halb bewußt irre, träumten zum Beispiel äußerst verworren, so daß sich niemand auskannte. Gerade die ständige Verworrenheit der Träume war das entscheidende Problem, nicht deren Inhalt. Oder sie produzierten Symbolik über Symbolik. Die sexuellen Bedeutungen hatten sie bald heraus und konnten nun leicht mit Begriffen operieren. Sie sprachen vom "Ödipuskomplex" ohne eine Spur von Affekt. Innerlich glaubten sie nicht an die Deutungen der gelieferten Einfälle, die der Analytiker für bare Münze zu nehmen pflegte. Fast alle Behandlungen waren chaotisch. Es gab keine Ordnung im Material, keinen Aufbau in der Behandlung und daher auch keine Abwicklung eines Prozesses. Die meisten Fälle versandeten nach zwei oder drei Jahren Behandlung. Es gab hier und dort Besserungen, doch niemand wußte weshalb. So prägten sich uns die Begriffe von geordneter und systematischer Arbeit an den Widerständen. Die Neurose zerfällt in der Behandlung sozusagen in Einzelwiderstände, die man säuberlich auseinanderhalten und gesondert beseitigen muß, immer vom Oberflächlichsten, dem bewußten Empfinden des Kranken Nächstliegenden her. Das war nicht neu, nur konsequente Durchführung der Freudschen Auffassung. Ich riet ab, den Patienten "überzeugen" zu wollen, daß eine Deutung richtig wäre. Ist der entsprechende Widerstand gegen eine unbewußte Regung begriffen und beseitigt, dann greift der Kranke von selbst dazu. Im Widerstand ist ja dasjenige Triebelement, wogegen er sich richtet, enthalten. Erkennt er den Sinn der Abwehr, dann ist er auch schon dabei, das Abgewehrte zu erfassen. Doch das erfordert genaue und konsequente Aufdeckung jeder leisesten Regung von Mißtrauen und Ablehnung im Patienten. Es gab keinen ohne tiefes Mißtrauen gegen die Behandlung. Sie verbargen es nur verschieden. Ich brachte einmal einen Fall vor, der das geheime Mißtrauen in geschicktester Weise durch Überhöflichkeit und Zustimmung zu allem verbarg. Hinter dem Mißtrauen wirkte die eigentliche Angstquelle. Deshalb opferte er alles, doch ohne sich in Wirklichkeit mit seinen Aggressionen zu verraten. Die Sachlage forderte, daß ich seine sehr klaren Träume von Inzest mit der Mutter nicht deutete, ehe er die Aggression gegen mich herausbrachte. Das widersprach völlig der damaligen Praxis des Deutens jedes einzelnen Traumstückes oder Einfalls. Doch es entsprach den Grundsätzen der Widerstandsanalyse.

Ich spürte sehr bald, daß ich in einen Konflikt geriet. Da die Praxis der Theorie nicht entsprach, mußten sich manche Analytiker empören. Sie sollten ihre Praxis der Theorie anpassen, das heißt technisch umlernen. Das war eine Zumutung. Wir waren nämlich, ohne es zu ahnen, mit der Eigentümlichkeit des heutigen menschlichen Charakters zusammengestoßen, echte sexuelle und aggressive Regungen mit unechten, verkrampften, irreführenden Haltungen abzuwehren. Die Anpassung der Technik an diese charakterliche Heuchelei der Kranken hatte Konsequenzen, die keiner ahnte und alle unbewußt fürchteten: Es ging um die wirkliche Entbindung der Aggression und der Sexualität im Kranken. Es ging um die persönliche Struktur der Behandelnden, die solches zu ertragen und zu lenken hatten. Doch wir Analytiker waren Kinder unserer Zeit. Wir operierten mit einem Stoff, den wir theoretisch anerkannten und praktisch scheuten. Wir wollten ihn nicht erleben. Wir waren in formeller akademischer Konvention wie festgebunden. Die analytischen Situationen forderten Konventionslosigkeit und ein hohes Maß an freiheitlicher Stellung zur Sexualität. Von der Herstellung der Orgasmusfähigkeit war in den ersten Jahren des Seminars noch keine Rede. Ich vermied das Thema instinktiv. Man liebte es nicht und geriet in Affekt dabei. Ich war selbst nicht ganz fest darin. Es war auch gar nicht einfach, die Klosettgewohnheiten und geschlechtlichen Merkwürdigkeiten der Kranken unter Wahrung ihrer sozialen oder akademischen Würden korrekt zu fassen. Daher sprach man lieber über "anale Fixierung" oder "orale Begehrlichkeiten". Das Tier war und blieb unberührt.

Die Situation war auch sonst schwierig. Ich hatte eine Reihe von klinischen Beobachtungen zu einer Hypothese über die Therapie der Neurosen zusammengefaßt. Das forderte von der technischen Geschicklichkeit viel, wenn man das gesetzte Ziel in der Praxis durchsetzen wollte. Es war wie der anstrengende Marsch zu einem bestimmten Ziel, das deutlich sichtbar ist und dennoch bei jedem Schritt weiterrückt. Je häufiger mir die klinische Erfahrung bestätigte, daß Neurosen bei Ermöglichung der genitalen Befriedigung rasch heilen, desto mehr Schwierigkeiten boten die anderen Fälle, bei denen es nicht oder unvollständig gelang. Das spornte zu energischem Studium der Hindernisse und der vielen Stationen zum Ziele an. Es ist nicht leicht, dies übersichtlich darzustellen. Doch ich will versuchen, ein möglichst lebendiges Bild davon zu geben, wie allmählich die Genitalitätslehre der Neurosentherapie sich immer enger mit dem Ausbau der charakteranalytischen Technik verfocht. Sie wurden im Laufe einiger Jahre zu einer untrennbaren Einheit. Je klarer und fester das Fundament dieser Arbeit wurde, desto mehr wuchsen die Konflikte mit den Psychoanalytikern alter Schule an.
In den ersten zwei Jahren ging es ohne Konflikt. Doch dann begann eine Opposition von seiten der älteren Kollegen störend einzusetzen. Sie kamen einfach nicht mit, fürchteten für ihre Reputation als "erfahrene Autoritäten". Sie mußten daher zu neuen Dingen, die wir erarbeiteten, entweder sagen: "Das ist ja alles banal, steht schon bei Freud", oder sie erklärten, es wäre "falsch". Auf die Dauer ließ sich nämlich die Rolle der Genitalbefriedigung in der Neurosentherapie nicht verheimlichen. Sie drängte sich in der Diskussion jedes Falles unabweisbar auf. Das stärkte meine Position, doch es schaffte mir Feinde. Das Ziel "orgastische genitale Befriedbarkeit" bestimmte die Technik in folgender Weise: Die Kranken sind sämtlich genital gestört. Sie müssen genital gesunden. Es müssen daher alle krankhaften Haltungen aufgesucht und zerstört werden, die die Herstellung der orgastischen Potenz verhindern. Das war eine technische Aufgabe für eine Generation von analytischen Therapeuten. Denn die Hindernisse der Genitalität waren unzählbar und unendlich formenreich. Sie waren sozial nicht minder verankert als psychisch, und in erster Linie physiologisch, wie sich erst viel später herausstellte. Ich legte vorerst das Hauptgewicht der Arbeit auf das Studium der prägenitalen Fixierungen, der abwegigen sexuellen Befriedigungsarten und der sozialen Schwierigkeiten, die einem befriedigenden Geschlechtsleben im Wege stehen. Ohne daß ich es beabsichtigte, traten allmählich Fragen der Ehe, der Pubertät, der sozialen Hemmungen der Sexualität in den Vordergrund der Diskussionen. Das schien alles noch durchaus im Rahmen der psychoanalytischen Forschungsarbeit zu liegen. Die jungen Kollegen bezeugten viel Arbeitswillen und große Arbeitsfreude. Sie machten aus ihrer Liebe zu meinem Seminar kein Hehl. Ihr recht unärztliches und unwissenschaftliches Verhalten später, als es zum Bruch kam, vermag die Anerkennung ihrer Leistungen im Seminar nicht zu beeinträchtigen.

1923 erschien Freuds Das Ich und das Es. Es wirkte auf die tägliche Praxis, die unausgesetzt mit den Sexualschwierigkeiten der Kranken zu tun hat, zunächst verwirrend. Mit dem "Über-Ich" und den "unbewußten Schuldgefühlen", die theoretische Formulierungen über noch sehr dunkle Tatsachen waren, wußte man in der Praxis nichts anzufangen. Eine Technik dazu war nicht angegeben. Man operierte lieber mit der Onanieangst und dem sexuellen Schuldgefühl. 1920 war Jenseits des Lustprinzips erschienen, in dem zunächst hypothetisch der Todestrieb als dem Sexualtrieb gleichberechtigt, ja sogar noch tiefere Triebkraft eingeführt wurde. Diejenigen Analytiker, die keine Praxis ausübten, und diejenigen, die die Sexualtheorie strukturell nicht begriffen, fingen an, die neue Ichlehre anzuwenden. Es war sehr schlimm. Statt Sexualität sagte man nun "Eros". Das Über-Ich, das als theoretische Hilfsvorstellung für die seelische Struktur aufgestellt war, konnten die schlechten Praktiker "mit Händen fassen". Sie operierten damit wie mit realen Tatsachen. Das Es war "bösartig", das Über-Ich saß da mit langem Bart und war "streng", und das arme Ich versuchte zu "vermitteln". An die Stelle der lebendigen fließenden Tatsachenbeschreibung trat ein mechanisches Schema, das einem jedes weitere Nachdenken ersparte. Die klinischen Diskussionen verloren sich immer mehr und mehr, und die Spekulation begann. Es kamen bald Fremde, die nie analysiert hatten, und hielten gedankensprühende Vorträge über das Ich und Über-Ich oder Schizophrenien, die sie nie gesehen hatten. Beim Bruch 1934 fungierten sie offiziell als "geistig transzendierte" Vertreter der Psychoanalyse gegen das sexualökonomische Prinzip der Tiefenpsychologie. Die Klinik verödete. Die Sexualität wurde wesenlos, der Begriff der "libido" verlor jeden sexuellen Gehalt und wurde zu einer Redensart. Der Ernst der psychoanalytischen Mitteilungen verlor sich. Er machte immer mehr einer Pathetik Platz, die an die von Ethikern erinnerte. Man begann die Neurosenlehre in die Sprache der "Ichpsychologie" zu übersetzen. Die Atmosphäre "reinigte" sich!

Sie reinigte sich langsam, aber sicher von allen Errungenschaften, die Freuds Tat kennzeichneten. Die Anpassung an die Welt, die vor kurzem noch mit Vernichtung gedroht hatte, vollzog sich zunächst unauffällig. Man sprach noch von Sexualität, doch man meinte sie nicht mehr. Man hatte gleichzeitig ein Stück alten Pionierstolzes behalten. Daher bekam man schlechtes Gewissen und usurpierte meine neuartigen Befunde als altgewohnte Bestandteile der Psychoanalyse, in der Absicht, sie zu vernichten. Das Formale überwucherte den Inhalt, die Organisation ihre eigene Aufgabe. Es begann der Verfallsprozeß, der bisher alle großen sozialen Bewegungen der Geschichte vernichtete: Wie sich das Urchristentum Jesus zur Kirche verwandelte und die Marxsche Wissenschaft zur faschistischen Diktatur, so wurden bald viele Psychoanalytiker die schlimmsten Feinde der eigenen Sache. Der Sprung innerhalb der Bewegung war nicht mehr zu reparieren. Das ist heute, 15 Jahre nachher, jedem evident geworden. Ich erfaßte es klar erst 1934. Zu spät. Bis dahin kämpfte ich gegen meine innere Überzeugung für meine Sache im Rahmen der IPV, offiziell und vor mir selbst im Namen der Psychoanalyse.

Etwa 1935 entstand eine Schere in der psychoanalytischen Theoriebildung, die den Vertretern zunächst unzugänglich war, doch heute sich völlig klar abzeichnet. Wenn die Vertretung der Sache an Boden verliert, so gewinnt ihn im gleichen Maße die persönliche Intrige. Was äußerlich als sachliches Interesse ausgegeben wird, ist von nun an Kulissenpolitik, Taktik, Diplomatie. Ich verdanke dem schmerzhaften Erleben dieser Entwicklung der IPV die vielleicht wichtigste Frucht meiner Mühen: die Erkenntnis des Mechanismus jeder Art von Politik, der großen ebenso wie der kleinen.

Die Schilderung dieser Tatsachen ist keineswegs abwegig. Ich habe zu zeigen, daß gerade die kritische Auseinandersetzung mit diesen Zersetzungserscheinungen der psychoanalytischen Bewegung, wie etwa der Todestrieblehre, unerläßliche Voraussetzungen des Durchbruchs ins Gebiet des vegetativen Lebens waren, der mir einige Jahre später glückte.

Reik hatte ein Buch Geständniszwang und Strafbedürfnis herausgegeben, in dem die ganze ursprüngliche Auffassung der seelischen Erkrankung auf den Kopf gestellt war. Daß es Beifall fand, war um so schlimmer. Auf die einfachste Formel gebracht, läßt sich seine Neuerung als Streichung der Strafangst für sexuelle Vergehen beim Kind beschreiben. Freud hatte in Jenseits des Lustprinzips und in Das Ich und das Es ein unbewußtes Strafbedürfnis angenommen, das den Widerstand gegen das Gesundwerden begründen sollte. Gleichzeitig war der "Todestrieb" in die Theorie eingeführt worden. Freud nahm an, daß die lebende Substanz von zwei entgegengesetzten Triebrichtungen gesteuert werde; einerseits von den Lebenstrieben, die er dem Sexualtrieb (Eros) gleichsetzte, und von dem Todestrieb (Thanatos). Sie hatten nach ihm die Aufgabe, die lebende Substanz aus dem anorganischen Ruhezustand herauszuholen, Spannung zu erzeugen, das Leben zu immer größeren Einheiten zusammenzufassen. Sie wären laut, lärmend und bedingten das Getöse des Lebens. Doch hinter ihnen wirkte der "stumme", doch "weit gewichtigere" Todestrieb (Thanatos), die Tendenz, das Lebendige zum leblosen Zustand, zum Nichts, zum Nirwana zurückzuführen. Das Leben war nach dieser Auffassung eigentlich nur eine Störung des ewigen Schweigens, des Nichts. In der Neurose wirkte nach dieser Auffassung den vorwärtstreibenden Lebens- bzw. Sexualtrieben der Todestrieb entgegen. Den Todestrieb selbst könnte man zwar nicht wahrnehmen. Doch seine Äußerungen wären zu deutlich, um übersehen zu werden. Die Menschen zeigten überall die Tendenz zur Selbstvernichtung. Der Todestrieb äußerte sich in den masochistischen Strebungen. Die Heilung von der Neurose würde deshalb abgelehnt. Diese speisten das unbewußte Schuldgefühl, das man auch Strafbedürfnis nennen könnte. Die Kranken wollten einfach nicht gesund werden, weil dieses Strafbedürfnis, das in der Neurose Befriedigung findet, es ihnen verbiete.
Wo Freud fehlzugehen begann, erkannte ich erst bei Reik. Reik übertrieb richtige Einsichten, zum Beispiel die, daß Verbrecher sich leicht selbst verraten oder viele Menschen eine Erleichterung empfinden, wenn sie ein Verbrechen gestehen können.

Bis dahin galt die Neurose als Resultat eines Konfliktes zwischen Sexualanspruch und Angst vor der Strafe. Nun hieß es, die Neurose wäre ein Konflikt zwischen Sexualanspruch und Strafanspruch, also dem geraden Gegenteil der Angst vor Strafe für sexuelle Handlungen. Das war die komplette Liquidierung der psychoanalytischen Neurosenlehre. Es widersprach jeder klinischen Einsicht. Diese ließ keinen Zweifel darüber, daß Freuds erste Formulierungen recht hatten. Die Kranken waren an der Angst vor Strafe für sexuelle Betätigung gescheitert und nicht am Wunsch, für Sexuelles gestraft zu werden. Allerdings, manche Fälle entwickelten nachträglich, aus den komplizierten Verwicklungen, in die sie durch die Bremsung ihrer Sexualität gerieten, die masochistische Haltung, gestraft werden zu wollen, sich selbst zu schädigen oder an der Krankheit festzuhalten. Es war unzweifelhaft die Aufgabe der Behandlung, ihnen diese Wünsche nach Selbstbestrafung als neurotische seelische Neubildungen zu zersetzen, ihre Angst vor Strafe zu beseitigen und die Sexualität zu befreien; und nicht die, die Selbstschädigungen als Äußerungen tiefer biologischer Strebungen zu bestätigen. Die Vertreter des Todestriebs, die sich immer reichlicher und würdevoller einfanden, da sie nunmehr von "Thanatos" statt von Sexualität reden konnten, führten die neurotische Selbstschädigungsabsicht des kranken seelischen Organismus auf einen biologischen Urtrieb der lebenden Substanz zurück. Davon hat sich die Psychoanalyse nie mehr erholt.

Reik folgte dann Alexander. Dieser untersuchte einige Kriminelle und fand heraus, daß das Verbrechen ganz allgemein Folge eines zur verbrecherischen Tat drängenden unbewußten Strafbedürfnisses wäre. Er fragte nicht nach der Herkunft dieses lebenswidrigen Verhaltens. Er nannte mit keinem Worte die gewaltige soziale Grundlage der Verbrechen. Das ersparte alles weitere Nachdenken. Wenn man nicht heilte, war der Todestrieb daran schuld. Wenn Menschen mordeten, so taten sie es, um ins Gefängnis zu kommen. Kinder stahlen, um sich von einem quälenden Gewissensdruck zu befreien. Ich staune heute über die Energie, die damals auf die Diskussion solcher Meinungen angewendet wurde. Dennoch hatte Freud etwas gemeint, das großer Mühen wert war. Das werde ich später darstellen. Die Bequemlichkeit jedoch klammerte sich daran und verdarb die Mühen von Jahrzehnten.

Die "negative therapeutische Reaktion" der Kranken erwies sich später als einfaches Ergebnis der technischen und theoretischen Unfähigkeit, die orgastische Potenz herzustellen, mit anderen Worten, die Lustangst der Kranken zu bewältigen.

Mit diesen Sorgen ging ich eines Tages zu Freud. Ich fragte ihn, ob er den Todestrieb als eine klinische Theorie eingeführt haben wollte. Er selbst hatte ja geleugnet, daß der Todestrieb klinisch faßbar wäre. Freud beruhigte mich. Es handelte sich "nur um eine Hypothese". Sie könnte ebensogut wegbleiben. Am Grundriß des psychoanalytischen Lehrgebäudes änderte sich dadurch gar nichts. Er hätte eben einmal eine Spekulation zugelassen. Er wüßte genau, daß man seine Spekulation mißbrauchte. Ich sollte mich darum nicht kümmern, sondern ruhig klinisch weiterarbeiten. Ich ging erleichtert weg. Doch ich war entschlossen, in meinem Arbeitsbereich das Gerede vom Todestrieb scharf zu bekämpfen.

Meine abweisende Besprechung des Reikschen Buches und der Artikel gegen Alexander erschienen 1927. In meinem Technischen Seminar hörte man nur wenig vom Todestrieb und vom unbewußten Strafbedürfnis als den Ursachen der therapeutischen Mißerfolge. Das ließ die peinlich genaue klinische Darstellung der Fälle nicht zu. Nur gelegentlich versuchte der eine oder der andere Todestriebtheoretiker seine Meinung anzubringen. Ich vermied sorgfältig jeden direkten Angriff auf diese Irrlehre. Sie sollte, das war klar, durch die klinische Arbeit selbst lebensunfähig gemacht werden. Je genauer wir die Mechanismen der Erkrankungen studieren würden, desto sicherer mußten wir siegen. In der Vereinigung dagegen blühte die falsche Auslegung der Ich-Theorie immer mehr. Die Spannung wurde immer größer. Man entdeckte mit einemmal, daß ich sehr aggressiv wäre, "nur mein Steckenpferd ritte" und die Bedeutung der Genitalität allzu einseitig übertriebe.

Auf dem Salzburger Kongreß der Psychoanalytiker im April 1924 hatte ich die ersten Formulierungen über die therapeutische Bedeutung der Genitalität durch die Einführung der "orgastischen Potenz" ergänzt. Der Vortrag behandelte zwei grundsätzliche Tatsachen:

1.  Die Neurose ist Ausdruck einer Störung der Genitalität, und nicht nur der Sexualität im allgemeinen.

2.  Der Rückfall in die Neurose nach einer analytischen Heilung wird in dem Maße vermieden, in dem die orgastische Befriedigung im Geschlechtsakt gesichert ist. Ich hatte viel Erfolg. Abraham beglückwünschte mich zur gelungenen Formulierung des ökonomischen Faktors der Neurose.

Um die orgastische Potenz bei den Kranken herzustellen, genügte es nicht, die vorhandenen genitalen Erregungen von den Hemmungen und Verdrängungen zu befreien. Die sexuelle Energie wird in den Symptomen gebunden. Jede Symptomauflösung entbindet daher einen Betrag an seelischer Energie. Die beiden Begriffe "seelische Energie" und "sexuelle Energie" waren damals durchaus nicht identisch. Die frei gewordene Energiemenge übertrug sich spontan auf das genitale System: Die Potenz besserte sich. Die Kranken wagten sich an einen Partner heran, gaben die Abstinenz auf, oder sie erlebten tiefer in den geschlechtlichen Umarmungen. Doch die Erwartung, daß dadurch auch die orgastische Funktion sich einstellen würde, wurde nur in wenigen Fällen erfüllt. Die Überlegung sagte: Offenbar ist nicht genügend Energie aus neurotischen Bindungen befreit. Die Kranken verloren zwar Symptome, konnten recht und schlecht Arbeit leisten, doch im ganzen blieben sie gesperrt. So drängte sich von selbst die Frage auf: Wo noch, außer in den neurotischen Symptomen, ist sexuelle Energie gebunden? Diese Frage war damals in der Psychoanalyse neu, doch sie trat nicht aus ihrem Rahmen. Im Gegenteil, sie bedeutete nur eine folgerichtige Anwendung der analytischen Denkmethode über das neurotische Einzelsymptom hinaus. Ich wußte vorerst keine Antwort auf diese Frage. Klinische und therapeutische Fragen lassen sich nie durch Nachdenken lösen. Sie beantworten sich von selbst im Gang der Bewältigung praktischer Aufgaben. Das gilt wohl allgemein für jede Art von wissenschaftlicher Arbeit. Eine aus der Praxis abgeleitete korrekte Fragestellung zieht weitere Fragen konsequent nach sich, die sich allmählich zu einem einheitlichen Bilde vom Gesamtproblem verdichten.

Aufgrund der psychoanalytischen Neurosenlehre lag es nahe, die fehlende Energie für die Herstellung der vollen Orgasmusfähigkeit in den nichtgenitalen, also frühkindlich prägenitalen Betätigungen und Phantasien zu suchen. Ist das sexuelle Interesse in hohem Maße auf Saugen, Beißen, Nur-Geliebtwerden, anale Gewohnheiten etc. gerichtet, so leidet darunter die genitale Erlebnisfähigkeit. Dadurch verschärfte sich die Anschauung, daß die einzelnen sexuellen Triebe nicht gesondert voneinander funktionieren, sondern wie eine Flüssigkeit in kommunizierenden Röhren eine Einheit bilden. Es kann nur eine einheitliche Sexualenergie geben, die sich an verschiedenen erogenen Zonen und seelischen Vorstellungen zu befriedigen versucht. Es widersprach Anschauungen, die gerade um diese Zeit zu blühen begannen. Ferenczi publizierte seine Genitalitätstheorie, nach der sich die genitale Erregungsfunktion aus prägenitalen Erregungen, analen, oralen und aggressiven, zusammensetzt. Das widersprach meiner klinischen Erfahrung. Ich sah, daß gerade umgekehrt jede Beimengung nichtgenitaler Erregungen beim Geschlechtsakt oder bei der Onanie die orgastische Potenz schwächt.

Eine Frau, die ihre Vagina unbewußt dem After gleichsetzt, fürchtet etwa, während der Erregung einen Flatus [Pupser] zu lassen und sich dadurch zu blamieren. Eine solche Haltung vermag die gesamte Lebenstätigkeit zu lähmen. Ein Mann, der seinen Penis unbewußt als Messer ansieht oder als Beweis der Potenz gebraucht, ist unfähig zu restloser Hingabe im Akt. Helene Deutsch publizierte ein Buch über die weibliche Sexualität, in dem sie behauptete, daß der Höhepunkt der sexuellen Befriedigung für das Weib im Geburtsakt liege. Ihrer Auffassung nach gibt es keine originäre vaginale Erregung. Diese setzte sich aus Erregungen zusammen, die vom Mund und vom After auf die Scheide verschoben würden. Otto Rank publizierte zur selben Zeit sein Trauma der Geburt, in dem er behauptete, daß der Geschlechtsakt einer "Rückkehr in den Mutterleib" entspräche. Ich stand mit diesen Psychoanalytikern sehr gut, schätzte ihre Ansichten, doch meine Erfahrungen und Anschauungen gerieten mit den ihren in scharfen Konflikt. Allmählich wurde klar, daß es grundsätzlich falsch ist, das Erlebnis im Geschlechtsakt psychisch deuten zu wollen, darin einen Sinn wie etwa in einem neurotischen Symptom zu suchen. Im Gegenteil: Jede seelische Vorstellung während des Aktes kann nur das Versinken in der Erregung behindern. Überdies bedeuteten solche Deutungen der Genitalität Leugnung ihrer biologischen Funktion. Indem man sie aus nichtgenitalen Erregungen zusammensetzt, leugnet man ihre Existenz. Ich hatte dagegen gerade in der Orgasmusfunktion den qualitativen Grundunterschied zwischen Genitalität und Prägenitalität erkannt. Nur der genitale Apparat kann Orgasmus vermitteln und biologische Energie voll entladen. Die Prägenitalität kann vegetative Spannungen nur erhöhen. Man merkt die tiefe Kluft, die sich hier in der psychoanalytischen Anschauung von der Triebfunktion bildete.

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