Auszüge aus Wilhelm Reich's
"Die Massenpsychologie des Faschismus"

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Vorwort von Mary Higgins

In der 1946 erschienenen englischen Erstauflage der Massenpsychologie des Faschismus konstatierte Reich, daß seine sexual-ökonomische Theorie in der Anwendung auf das Faschismusstudium "der Prüfung durch die Zeit standgehalten" hatte. Wenn nun, nahezu vierzig Jahre nach der Veröffentlichung der Originalausgabe in Deutschland, diese dritte, erweiterte Auflage vorgelegt wird, so geschieht das unter allen Anzeichen dafür, daß dem Werk nicht bloß historisches Interesse zukommt, sondern daß es weiterhin der "Prüfung durch die Zeit" standhält. Tatsächlich liefert der heftige Kampf, der gegenwärtig zwischen den Kräften der Repression und denen der natürlichen Selbstregulierung stattfindet, deutlich Beweise für die Gültigkeit der Aussagen Reichs. Diese stehen auf festerem Grund als je zuvor, und jeder Versuch, ihnen die fundamentale Richtigkeit abzusprechen, muß sich nun messen mit der Kenntnis von der physikalischen Orgonenergie, dem gemeinsamen Prinzip des Funktionierens, das für alle biologischen und gesellschaftlichen Erscheinungen gilt. So überspannt es klingen und so phantastisch die Entdeckung selber anmuten mag: Man kann voraussagen, daß sie weiterhin irrationaler Ablehnung, die auf Gleichgültigkeit, Gerüchtemacherei und mechanistische Fehlinterpretation zurückgeht, ebenso widerstehen wird wie gleichermaßen irrationaler, mystifizierender Anerkennung oder fragmentarischer Aneignung, die zwischen dem Erwünschten und dem Unerwünschten einen willkürlichen Strich zieht. Die letztere stellt bei der überhandnehmenden Neigung, Reichs Werk aufgrund der eigenen, beschränkten Interessen und vorgefaßten Meinungen zu beurteilen, mit denen das Vermögen, in unerforschte Wissensbereiche zu folgen, nicht einhergeht, ein besonders lästiges Problem dar. So gibt es manchen Beweis dafür, daß trotz Reichs Warnung vor politischem Gebrauch seiner Entdeckungen die andersdenkende Jugend gewisse Teile seines Frühwerks ihren eigenen Zwecken zunutze begierig aufgreift, während sie gleichzeitig dessen logische Fortentwicklung in den biologischen und physikalischen Bereich hinein außer acht läßt. Reichs frühe Arbeit in der psychohygienischen Bewegung und seine Forschungen über die menschliche Charakterstruktur lassen sich ebensowenig von seiner späteren, ausschlaggebenden Entdeckung der Lebensenergie trennen, wie das Tier Mensch sich vom Leben selber trennen läßt. Wenn Die Massenpsychologie des Faschismus je begriffen und praktisch nutzbar gemacht werden soll, wenn "versagtes" Leben je sich befreien und aus "Frieden" und "Liebe" mehr werden soll als leere Schlagwörter, dann müssen die Existenz und das Funktionieren der Lebensenergie anerkannt und verstanden werden. Wie sehr sie auch verspottet und verlästert wird, die Entdeckung kann nicht ignoriert werden, wenn der Mensch sich mit den bislang mysteriösen Kräften in seinem Innern jemals auseinandersetzen soll.

In der vorliegenden Arbeit hat Reich seine klinischen Kenntnisse von der menschlichen Charakterstruktur auf den gesellschaftlich-politischen Bereich angewandt. Er verneint nachdrücklich die Auffassung, Faschismus sei die Ideologie oder Handlungsweise einer einzelnen Individualität oder Nationalität oder irgendeiner ethnischen oder politischen Gruppe. Er lehnt auch die rein sozio-ökonomische Deutung ab, wie marxistische Ideologen sie vorbringen. Faschismus begreift er als Ausdruck der irrationalen Charakterstruktur des Durchschnittsmenschen, dessen primäre, biologische Bedürfnisse und Antriebe seit Jahrtausenden unterdrückt werden. Die gesellschaftliche Funktion dieser Unterdrückung und die entscheidende Rolle, welche die autoritäre Familie und die Kirche darin spielen, werden sorgfältig analysiert. Reich zeigt, wie jede Form von organisiertem Mystizismus, auch der Faschismus, auf die unbefriedigte orgastische Sehnsucht der Massen baut.

Die heutige Bedeutung dieses Werkes kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die menschliche Charakterstruktur, die organisierte faschistische Bewegungen hervorbrachte, besteht fort; sie herrscht in unseren gegenwärtigen gesellschaftlichen Konflikten. Wenn Chaos und Agonie unserer Zeit jemals überwunden werden sollen, müssen wir unser Augenmerk auf die Charakterstruktur richten, die jene erzeugt: Wir müssen die Massenpsychologie des Faschismus verstehen.

Vorwort zur dritten korrigierten und erweiterten Auflage

Umfassende und gewissenhafte Heilarbeit am menschlichen Charakter hat mir die Überzeugung beigebracht, daß wir beim Beurteilen menschlicher Reaktionen grundsätzlich mit drei verschiedenen Schichten der biophysischen Struktur zu rechnen haben. Diese Schichten der Charakterstruktur sind, wie ich in meinem Buch Charakteranalyse dargelegt habe, autonom funktionierende Ablagerungen der sozialen Entwicklung. In der oberflächlichen Schichte seines Wesens ist der durchschnittliche Mensch verhalten, höflich, mitleidig, pflichtbewußt, gewissenhaft. Es gäbe keine soziale Tragödie des Menschentiers, wenn diese oberflächliche Schichte des Wesens mit dem tiefen natürlichen Kern unmittelbar in Kontakt wäre. Dies ist nun tragischerweise nicht der Fall: Die oberflächliche Schichte der sozialen Kooperation ist ohne Kontakt mit dem tiefen biologischen Kern der Person; sie ist getragen von einer zweiten, einer mittleren Charakterschichte, die sich durchwegs aus grausamen, sadistischen, sexuell lüsternen, raubgierigen und neidischen Impulsen zusammensetzt. Sie stellt das Freudsche "Unbewußte" oder "Verdrängte" dar, die Summe aller sogenannten "sekundären Triebe" in der Sprache der Sexualökonomie.

Die Orgonbiophysik vermochte das Freudsche Unbewußte, das Antisoziale im Menschen, als sekundäres Resultat der Unterdrückung primärer biologischer Antriebe zu begreifen. Dringt man durch diese zweite Schichte des Perversen tiefer ins biologische Fundament des Menschentieres vor, so entdeckt man regelmäßig die dritte und tiefste Schichte, die wir den biologischen Kern nennen. Zutiefst, in diesem Kern, ist der Mensch ein unter günstigen sozialen Umständen ehrliches, arbeitsames, kooperatives, liebendes oder, wenn begründet, rational hassendes Tier. Man kann nun in keinem Falle charakterlicher Auflockerung des Menschen von heute zu dieser tiefsten, so hoffnungsreichen Schichte vordringen, ohne erst die unechte scheinsoziale Oberfläche zu beseitigen. Fällt die Maske der Kultiviertheit, so kommt aber zunächst nicht die natürliche Sozialität, sondern nur die pervers-sadistische Charakterschichte zum Vorschein.

Diese unglückselige Strukturierung ist dafür verantwortlich, daß jeder natürliche, soziale oder libidinöse Impuls, der aus dem biologischen Kern zur Aktion vordringen will, die Schichte der sekundären perversen Triebe zu passieren hat und dabei abgebogen wird. Diese Abbiegung verändert den ursprünglich sozialen Charakter der natürlichen Impulse ins Perverse und zwingt derart zur Hemmung jeder echten Lebensäußerung.

Übertragen wir unsere menschliche Struktur ins Soziale und Politische.

Es ist unschwer zu erkennen, daß die verschiedenen politischen und ideologischen Gruppierungen der menschlichen Gesellschaft den verschiedenen Schichten der menschlichen Charakterstruktur entsprechen. Wir verfallen natürlich nicht dem Fehler der idealistischen Philosophie, anzunehmen, daß diese menschliche Struktur von aller Ewigkeit in alle Ewigkeit unwandelbar besteht.

Nachdem soziale Umstände und Veränderungen die ursprünglichen biologischen Ansprüche des Menschen zur Charakterstruktur geformt haben, reproduziert die Charakterstruktur in Form der Ideologien die soziale Struktur der Gesellschaft.

Der biologische Kern des Menschen ist nun seit dem Untergange der primitiven arbeitsdemokratischen Organisation ohne soziale Vertretung geblieben. Das "Natürliche" und "Hohe" im Menschen, dasjenige, das ihn mit seinem Kosmos verbindet, ist nur in den großen Künsten, besonders in der Musik und in der Malerei, zu echtem Ausdruck gekommen. Es blieb aber bisher ohne wesentlichen Einfluß auf die Gestaltung der menschlichen Gesellschaft, wenn man unter Gesellschaft nicht die Kultur einer kleinen reichen Oberschichte, sondern die Gemeinschaft aller Menschen versteht.

In den ethischen und sozialen Idealen des Liberalismus erkennen wir die Vertretung der Züge der oberflächlichen, auf Selbstbeherrschung und Toleranz bedachten Charakterschichte. Dieser Liberalismus betont seine Ethik zum Zwecke der Niederhaltung des "Untiers im Menschen", unserer zweiten Schichte der "sekundären Triebe", des Freudschen "Unbewußten". Die natürliche Sozialität der tiefsten, dritten Schicht, der Kernschichte, ist dem Liberalen fremd. Er bedauert und bekämpft die menschliche Charakterperversion mittels ethischer Normen, aber die sozialen Katastrophen des XX. Jahrhunderts lehrten, daß er damit nicht weit kam.

Alles echt Revolutionäre, jede echte Kunst und Wissenschaft stammt aus dem natürlichen biologischen Kern des Menschen. Weder der echte Revolutionär noch der Künstler oder der Wissenschaftler hat bisher Massen gewonnen, geführt oder, wenn geführt, dauernd im Bereiche der Lebensinteressen halten können.

Anders, und im Gegensatze zum Liberalismus und zur echten Revolution, ist es um den Faschismus bestellt. Er stellt in seinem Wesen weder die oberflächliche noch die tiefste, sondern wesentlich die zweite, mittlere Charakterschichte der sekundären Triebe dar.

Der Faschismus wurde zur Zeit der ersten Niederschrift dieses Buches allgemein als eine "politische Partei" betrachtet, die wie andere "soziale Gruppierungen" eine "politische Idee" organisiert vertrat. Demzufolge "führte die faschistische Partei den Faschismus mittels Gewalt oder durch 'politische Manöver' ein".

Im Gegensatz dazu hatten mich meine ärztlichen Erfahrungen mit Menschen vieler Schichten, Rassen, Nationen, Glaubensbekenntnissen etc. gelehrt, daß "Faschismus" nur der politisch organisierte Ausdruck der durchschnittlichen menschlichen Charakterstruktur ist, eine Struktur, die weder an bestimmte Rassen oder Nationen noch an bestimmte Parteien gebunden ist, die allgemein und international ist. In diesem charakterlichen Sinne ist "Faschismus" die emotionelle Grundhaltung des autoritär unterdrückten Menschen der maschinellen Zivilisation und ihrer mechanistisch-mystischen Lebensauffassung.

Der mechanistisch-mystische Charakter der Menschen unserer Epoche schafft die faschistischen Parteien und nicht umgekehrt.

Der Faschismus wird auch heute noch, infolge des politischen Fehldenkens, als eine spezifische Nationaleigenschaft der Deutschen oder der Japaner aufgefaßt. Aus der ersten Fehlauffassung folgen alle weiteren Fehldeutungen.

Der Faschismus wurde und wird noch immer, zum Schaden der echten Freiheitsbestrebungen, als die Diktatur einer kleinen reaktionären Clique aufgefaßt.
Die Hartnäckigkeit dieses Irrtums ist der Angst vor dem Erkennen der wirklichen Sachlage zuzuschreiben: Der Faschismus ist eine internationale Erscheinung, die sämtliche Körperschaften der menschlichen Gesellschaft aller Nationen durchsetzt. Dieser Schluß ist in Übereinstimmung mit den internationalen Vorgängen der letzten 15 Jahre.
Meine charakteranalytischen Erfahrungen überzeugten mich dagegen, daß es heute keinen einzigen lebenden Menschen gibt, der nicht in seiner Struktur die Elemente des faschistischen Fühlens und Denkens trüge. Der Faschismus als politische Bewegung unterscheidet sich von anderen reaktionären Parteien dadurch, daß er von Menschenmassen getragen und vertreten wird.

Mir ist die Verantwortungsfülle solcher Behauptungen voll bewußt. Ich wünschte im Interesse dieser zerschundenen Welt, daß der arbeitenden Menschenmasse ihre Verantwortung für den Faschismus ebenso klar wäre.

Man muß scharf zwischen gewöhnlichem Militarismus und Faschismus unterscheiden. Das Wilhelminische Deutschland war militaristisch, aber nicht faschistisch.
Da der Faschismus stets und überall als eine von Menschenmassen getragene Bewegung auftritt, verrät er alle Züge und Widersprüche der Charakterstruktur des Massenmenschen: Er ist nicht, wie allgemein geglaubt wird, eine rein reaktionäre Bewegung, sondern er stellt ein Amalgam dar zwischen rebellischen Emotionen und reaktionären sozialen Ideen.

Versteht man unter Revolutionärsein die rationale Auflehnung gegen unerträgliche Zustände in der menschlichen Gesellschaft, den rationalen Willen, "allen Dingen auf den Grund zu gehen" ("radikal" – "radix" = "Wurzel") und sie zu bessern, dann ist der Faschismus nie revolutionär. Er mag zwar im Gewande revolutionärer Emotionen auftreten. Aber man wird nicht den Arzt revolutionär nennen, der gegen eine Krankheit mit ausgelassenen Schimpfworten vorgeht, sondern denjenigen, der still, mutig und gewissenhaft die Ursachen der Krankheit erforscht und bekämpft. Faschistisches Rebellentum entsteht immer dort, wo eine revolutionäre Emotion durch Angst vor der Wahrheit in die Illusion umgebogen wird.

Der Faschismus ist in seiner reinen Form die Summe aller irrationalen Reaktionen des durchschnittlichen menschlichen Charakters. Dem bornierten Soziologen, dem der Mut zur Anerkennung der überragenden Rolle des Irrationalen in der Geschichte der Menschheit fehlt, erscheint die faschistische Rassentheorie bloß als imperialistisches Interesse oder, milder, als "Vorurteil". Ebenso dem verantwortungslosen, phrasenhaften Politikanten. Die Rasanz und die weite Verbreitung dieser "Rassevorurteile" bezeugt ihre Herkunft aus dem irrationalen Teil des menschlichen Charakters. Die Rassentheorie ist keine Schöpfung des Faschismus. Umgekehrt: Der Faschismus ist eine Schöpfung des Rassenhasses und sein politisch organisierter Ausdruck. Demzufolge gibt es einen deutschen, italienischen, spanischen, anglosächsischen, jüdischen und arabischen Faschismus. Die Rassenideologie ist ein echt biopathischer Charakterausdruck des orgastisch impotenten Menschen.

Der sadistisch-perverse Charakter der Rassenideologie verrät sein Wesen auch in der Stellung zur Religion. Der Faschismus wäre, so heißt es, Rückkehr zum Heidentum und ein Todfeind der Religion. Weit davon entfernt, ist der Faschismus der extreme Ausdruck des religiösen Mystizismus. Als solcher tritt er in besonderer sozialer Gestalt auf. Der Faschismus stützt diejenige Religiosität, die aus der sexuellen Perversion stammt, und er verwandelt den masochistischen Charakter der Leidensreligion des alten Patriarchats in eine sadistische Religion. Demzufolge versetzt er die Religion aus dem Jenseitsbereiche der Leidensphilosophie in das Diesseits des sadistischen Mordens.
Die faschistische Mentalität ist die Mentalität des kleinen, unterjochten, autoritätssüchtigen und gleichzeitig rebellischen "kleinen Mannes". Es ist kein Zufall, daß sämtliche faschistische Diktatoren aus dem Lebensbereiche des kleinen reaktionären Mannes stammen. Der Großindustrielle und der feudale Militarist nützt diese soziale Tatsache für seine Zwecke aus, nachdem sie sich im Bereiche der allgemeinen Lebensunterdrückung entwickelt hat. Die mechanistisch autoritäre Zivilisation erhält in Gestalt des Faschismus nur vom kleinen, unterdrückten Manne wieder, was sie seit Jahrhunderten an Mystik, Feldwebeltum, Automatismus in die Massen der kleinen unterdrückten Menschen gesät hat. Dieser kleine Mann hat dem großen Mann sein Verhalten allzugut abgeguckt, und er bringt es verzerrt und vergrößert wieder. Der Faschist ist der Feldwebel in der Riesenarmee unserer tief kranken, großindustriellen Zivilisation. Man macht dem kleinen Menschen nicht ungestraft das große Tamtam der hohen Politik vor: Der kleine Feldwebel hat den imperialistischen General in allem übertroffen: in der Marschmusik, im Stechschritt, im Befehlen und Gehorchen, in der tödlichen Angst vor dem Denken, in der Diplomatie, Strategie und Taktik, im Uniformieren und Paradieren, im Dekorieren und Medaillieren. Ein Kaiser Wilhelm erwies sich in all diesen Dingen als ein elender Stümper, verglichen mit dem hungernden Beamtensohn Hitler. Wenn sich ein "proletarischer" General seine Brust mit Medaillen auf beiden Seiten, und darüber hinaus von der Kehle bis zum Nabel vollhängt, so demonstriert der den kleinen Mann, der hinter dem "echten", großen General nicht zurückbleiben möchte.
Man muß den Charakter des kleinen unterdrückten Menschen jahrelang gründlich studiert haben, so wie sich die Dinge hinter der Fassade abspielen, um zu begreifen, auf welche Mächte sich der Faschismus stützt.

In der Rebellion der Masse der mißhandelten Menschentiere gegen die nichtssagenden Höflichkeiten des falschen Liberalismus (ich meine nicht den echten Liberalismus und die echte Toleranz) kam die charakterliche Schichte der sekundären Triebe zum Vorschein.

Man kann den faschistischen Amokläufer nicht unschädlich machen, wenn man ihn, je nach politischer Konjunktur, nur im Deutschen oder Italiener und nicht auch im Amerikaner und Chinesen sucht; wenn man ihn nicht in sich selbst aufspürt; wenn man nicht die sozialen Institutionen kennt, die ihn täglich ausbrüten.

Man kann den Faschismus nur schlagen, wenn man ihm sachlich und praktisch mit gut begründeter Kenntnis der Lebensprozesse entgegentritt. Das Politisieren, Diplomatisieren und Paradieren macht ihm keiner nach. Doch auf praktische Lebensfragen hat er keine Antwort, denn er sieht alles nur im Spiegel der Ideologie oder in Gestalt der staatlichen Uniform.

Wenn man einen faschistischen Charakter welcher Färbung immer die "Ehre der Nation" (statt die Ehre des Menschen) oder die "Rettung der heiligen Familie und der Rasse" (statt die Gesellschaft der arbeitenden Menschheit) predigen hört; wenn er sich aufpustet und das Maul voll von Schlagworten hat, so frage man ihn öffentlich still und einfach:

"Was tust du praktisch, um die Nation zu füttern, ohne andere Nationen zu morden? Was tust du als Arzt gegen die chronischen Krankheiten, was als Erzieher zur Förderung kindlichen Lebensglücks, was als Ökonom gegen Armut, was als Sozialarbeiter gegen die Zermürbung kinderreicher Mütter, was als Baumeister zur Förderung der Wohnungshygiene? Nun aber schwätze nicht, sondern gib konkrete praktische Antwort oder halte deinen Mund!"

Daraus folgt: Der internationale Faschismus wird nie durch politische Manöver besiegt werden. Er wird der internationalen natürlichen Organisation der Arbeit, der Liebe und des Wissens erliegen.

Noch verfügen Arbeit, Liebe und Wissen in unserer Gesellschaft nicht über die Macht der Bestimmung des menschlichen Daseins. Mehr, diese großen Mächte des positiven Lebensprinzips sind sich ihrer Gewaltigkeit, ihrer Unersetzlichkeit, ihrer überragenden Bedeutung für das soziale Sein nicht bewußt. Deshalb findet sich heute die menschliche Gesellschaft, ein Jahr nach der militärischen Besiegung des parteilichen Faschismus, weiter am Rande des Abgrundes. Der Sturz unserer Zivilisation ist unaufhaltbar, wenn die Träger der Arbeit, die Naturwissenschaftler aller Lebens- (nicht Todes-) Zweige und die Spender und Empfänger der natürlichen Liebe sich ihrer Riesenverantwortung nicht rasch genug bewußt werden sollten.

Das Lebendige kann ohne den Faschismus, aber der Faschismus kann ohne das Lebendige nicht sein. Er ist der Vampyr am Körper des Lebendigen, der Mordimpulse auslebt, wenn im Frühling die Liebe nach Erfüllung ruft.

"Wird die menschliche und soziale Freiheit, wird die Selbstverwaltung unseres Lebens und des Lebens unserer Nachkommen friedlich oder gewaltsam durchdringen?" So lautet eine bange Frage. Niemand kennt die Antwort.

Doch wer die Funktionen des Lebendigen am Tier, am neugeborenen Kinde, am hingebungsvollen Arbeiter, sei er nun Mechaniker, Forscher oder Künstler, kennt, der hört auf, in Begriffen zu denken, die das Parteiunwesen in diese Welt gesetzt hat. Das Lebendige kann keine "Macht gewalttätig ergreifen", denn es wüßte nicht, was mit Macht anzufangen ist. Bedeutet dieser Schluß, daß das lebendige Leben für immer dem politischen Gangstertum ausgeliefert, immer sein Opfer und Erdulder sein wird, daß der Politikant immer an seinem Blute saugen wird? Dieser Schluß wäre falsch.

Als Arzt habe ich Krankheiten zu heilen, als Forscher unbekannte Naturzusammenhänge zu enthüllen. Käme nun ein politischer Windbeutel daher, um mich zu zwingen, meine Kranken und mein Mikroskop im Stiche zu lassen, so würde ich mich nicht stören lassen, sondern ihn zur Türe hinauswerfen, wenn er nicht freiwillig ginge. Ob ich Gewalt anwenden muß, um meine Arbeit am Leben vor Eindringlingen zu schützen, hängt nicht von mir oder meiner Arbeit, sondern vom Grade der Frechheit des Eindringlings ab. Man stelle sich nun vor, daß alle, die Arbeit am Lebendigen leisten, den politischen Windbeutel rechtzeitig erkennen könnten. Sie würden nicht anders handeln. Vielleicht liegt in diesem vereinfachten Beispiel ein Stück Antwort auf die Frage, wie sich früher oder später das Lebendige gegen seine Störer und Zerstörer wehren wird.

Die Massenpsychologie des Faschismus entstand in den deutschen Krisenjahren 1930-1933. Sie wurde 1933 niedergeschrieben; sie erschien im September 1933 in erster und im April 1934 in zweiter Auflage in Dänemark.

Seither sind 10 Jahre verstrichen. Die Enthüllung der irrationalen Natur der faschistischen Ideologie brachte dem Buch oft allzu begeisterte, von Wissen und Tat unbeschwerte Zustimmung in allen politischen Lagern. Es ging – zum Teil unter Decknamen – massenweise über die deutschen Grenzen. Die illegale revolutionäre Bewegung in Deutschland nahm es freudig auf. Es stellte jahrelangen Kontakt mit der deutschen antifaschistischen Bewegung her.

Die Faschisten verboten das Buch 1935 zusammen mit der gesamten Literatur der politischen Psychologie. Teile daraus wurden in Frankreich, Amerika, Tschechoslowakei, Skandinavien etc. abgedruckt, und es wurde in ausführlichen Artikeln gewürdigt. Nur die ökonomisch festgefahrenen Parteisozialisten und die bezahlten Parteibeamten, die über die politischen Machtorgane verfügten, wußten bis zum heutigen Tage damit nichts anzufangen. Von den kommunistischen Parteiführungen z. B. in Dänemark und Norwegen wurde es heftig angegriffen und als "konterrevolutionär" gebrandmarkt. Es ist dagegen bezeichnend, daß revolutionär gesinnte Jugendliche aus faschistischen Verbänden die sexual-ökonomische Erklärung der irrationalen Rassentheorie verstanden.

1942 kam aus England der Vorschlag, die Massenpsychologie des Faschismus ins Englische zu übersetzen. Dies stellte mich vor die Aufgabe, das Buch 10 Jahre nach der Abfassung auf seine Brauchbarkeit zu prüfen. Das Resultat dieser Überprüfung spiegelt genau die riesenhaften Umwälzungen im Denken des letzten Jahrzehnts wieder. Es ist auch der Prüfstein für die Tragfähigkeit der sozialen Sexualökonomie und ihrer Beziehung zu den sozialen Umwälzungen unseres Jahrhunderts. Ich hatte dieses Buch mehrere Jahre nicht mehr in den Händen gehabt. Als ich es nun zu korrigieren und zu erweitern begann, erlebte ich die vor 15 Jahren begangenen Denkfehler, die Umwälzungen im Denken und die wissenschaftlichen Anforderungen, die die Überwindung des Faschismus stellt, in erschütternder Weise.

Zunächst durfte ich es mir gestatten, einen großen Triumph zu genießen. Die sexualökonomische Analyse der Ideologie des Faschismus hielt der Kritik der Zeit nicht nur stand, sondern sie war im wesentlichen durch die letzten 10 Jahre glänzend bestätigt. Sie überdauerte den Untergang der ökonomistischen, vulgärmarxistischen Auffassung, mit der die deutschen marxistischen Parteien dem Faschismus beizukommen versuchten. Es spricht für die Massenpsychologie, daß sie 10 Jahre nach der Abfassung neu angefordert wird. Dessen kann sich keine marxistische Schrift aus der Zeit um 1930 rühmen, deren Verfasser die Sexualökonomie verdammt hatten.
Die Umwälzungen im Denken prägten sich bei der Umarbeitung der zweiten Auflage wie folgt aus:

Um 1930 hatte ich keine Ahnung von den natürlichen arbeitsdemokratischen Beziehungen der werktätigen Menschen. Die jungen sexualökonomischen Einsichten in die menschliche Strukturbildung waren damals im Rahmen des Denkens der marxistischen Parteien untergebracht. Ich arbeitete zu der Zeit in liberalen, sozialistischen und kommunistischen Kulturorganisationen und war routinemäßig gezwungen, die üblichen marxistisch-soziologischen Begriffe im Zusammenhange mit den sexualökonomischen Darstellungen zu gebrauchen. Der Riesenwiderspruch zwischen sozialer Sexualökonomie und vulgärem Ökonomismus kam schon damals in peinlichen Auseinandersetzungen mit verschiedenen Funktionären der Parteien zum Ausdruck. Mir war aber, als ich noch an die grundsätzlich wissenschaftliche Natur der marxistischen Parteien glaubte, unverständlich, aus welchem Grunde die Parteileute die sozialen Wirkungen meiner ärztlichen Arbeit gerade dann am schärfsten bekämpften, wenn Massen von Angestellten, Industriearbeitern, kleinen Kaufleuten, Studenten etc. in die sexualökonomisch orientierten Organisationen strömten, um sich Wissen über das lebendige Leben zu holen. Ich werde nie den "roten Professor" aus Moskau vergessen, der 1928 in einen meiner Wiener Studentenvorträge beordert war, um den "Parteistandpunkt" gegen mich zu vertreten. Der Mann erklärte unter anderem, "der Ödipuskomplex wäre ein Blödsinn", so etwas existierte nicht. 14 Jahre später verbluteten seine russischen Genossen unter den Tanks der führerhörigen deutschen Maschinenmenschen.

Man hätte doch erwarten müssen, daß Parteien, die die menschliche Freiheit zu erkämpfen vorgaben, über die Wirkungen meiner politisch-psychologischen Arbeit nur erfreut sein würden. Wie die Archive unseres Instituts überzeugen, war das gerade Gegenteil der Fall: Je größer die sozialen Wirkungen der massenpsychologischen Arbeit waren, desto schärfer wurden die Gegenmaßnahmen der Parteipolitiker. Schon 1929-1930 sperrte die österreichische Sozialdemokratie ihre Kulturorganisationen den Referenten unserer Organisation. Die sozialistischen sowohl wie die kommunistischen Organisationen verboten, trotz scharfen Protestes der Mitglieder, den Vertrieb der Schriften des "Verlags für Sexualpolitik" in Berlin schon 1932. Mir wurde gedroht, daß ich an die Wand gestellt werden würde, sobald der Marxismus zur Macht in Deutschland gelangte. 1932 sperrten die kommunistischen Organisationen in Deutschland, gegen den Willen der Mitglieder, ihre Versammlungslokale für den sexualökonomischen Arzt. Mein Ausschluß aus beiden Organisationen erfolgte aus dem Grunde, daß ich die Sexuologie in die Sozialwissenschaft einführte und die Konsequenzen für die menschliche Strukturbildung zog. In den Jahren zwischen 1934 und 1937 waren es immer wieder Funktionäre der kommunistischen Partei, die die faschistisch orientierten Kreise in Europa auf die "Gefährlichkeit" der Sexualökonomie hinwiesen. Dies ist dokumentarisch belegt. Die sexualökonomischen Schriften wurden an der sowjetrussischen Grenze ebenso zurückgewiesen wie die Massenscharen von Flüchtlingen, die sich vor dem deutschen Faschismus zu retten versuchten. Dagegen gibt es kein gültiges Argument.
Diese damals sinnlos scheinenden Vorgänge wurden mir vollends verständlich, als ich die Massenpsychologie des Faschismus nun neu bearbeitete. Die sexualökonomisch-biologischen Tatsachenfeststellungen waren in die marxistische Vulgärterminologie eingezwängt wie ein Elefant in ein Fuchsloch. Ich hatte schon bei der Neubearbeitung meines Jugendbuches [gemeint ist Der sexuelle Kampf der Jugend] 1938 festgestellt, daß jedes sexualökonomische Wort seine Bedeutung nach 8 Jahren beibehalten, daß aber jedes Parteischlagwort, das ich in das Buch hineingenommen hatte, sinnlos geworden war. Ebenso ging es mit der dritten Auflage der Massenpsychologie des Faschismus:

Heute ist es ganz allgemein klar geworden, daß "Faschismus" keine Tat eines Hitler oder Mussolini, sondern Ausdruck der irrationalen Struktur der Massenmenschen ist. Es ist heute klarer als vor 10 Jahren, daß die Rassentheorie biologischer Mystizismus ist. Man ist heute dem Verstehen der orgastischen Massensehnsucht zugänglicher als vor 10 Jahren, und man ahnt bereits allgemein, daß der faschistische Mystizismus orgastische Sehnsucht unter der Bedingung der mystischen Abbiegung und Hemmung der natürlichen Sexualität ist. Die sexualökonomischen Aussagen über den Faschismus gelten heute noch besser als vor 10 Jahren. Die marxistischen Parteibegriffe im Buch dagegen mußten durch die Bank gestrichen und neu ersetzt werden.

Bedeutet dies, daß die Wirtschaftstheorie des Marxismus grundsätzlich falsch ist? Ich möchte diese Frage durch ein Beispiel verdeutlichen. Ist das Mikroskop aus der Zeit Pasteurs oder die Wasserpumpmaschine, die Leonardo da Vinci konstruierte, "falsch"? Der Marxismus ist eine wissenschaftliche Wirtschaftstheorie, die den sozialen Verhältnissen des Anfangs und der Mitte des 19. Jahrhunderts entstammt. Der soziale Prozeß hatte aber nicht Halt gemacht, sondern er hatte sich in den grundsätzlich andersartigen Prozeß des 20. Jahrhunderts fortgesetzt. In diesem neuen sozialen Prozeß finden wir ebenso alle wesentlichen Grundzüge des 19. Jahrhunderts, wie wir im modernen Mikroskop die Grundstruktur des Pasteurschen Mikroskops, oder wie wir in der modernen Wasserleitung das Grundprinzip Leonardo da Vincis wiederfinden. Aber man könnte weder mit dem Pasteurschen Mikroskop noch mit der Pumpe von Leonardo da Vinci heute irgend etwas anfangen. Sie sind überholt durch grundsätzlich neue Vorgänge und Funktionen, die einer grundsätzlich neuen Auffassung und Technik entsprechen. Die marxistischen Parteien in Europa versagten und gingen unter (das ist nicht schadenfroh gesagt!), weil sie den Faschismus, des 20. Jahrhunderts, eine grundsätzlich neue Erscheinung, mit Begriffen zu fassen versuchten, die dem 19. Jahrhundert entsprachen. Sie gingen als soziale Organisationen unter, weil sie es versäumten, die lebendigen Entwicklungsmöglichkeiten, die jeder wissenschaftlichen Theorie anhaften, lebendig zu erhalten und fortzuentwickeln. Ich bedauere nicht, mich jahrelang als Arzt in den marxistischen Organisationen betätigt zu haben. Ich habe meine soziologischen Kenntnisse nicht aus Büchern, sondern wesentlich aus praktischem Miterleben der Kämpfe der Menschenmassen um ein würdiges, freies Dasein erworben. Die besten sexualökonomischen Einsichten entstammen gerade den Irrtümern im Denken derselben Menschenmassen, die ihnen dann die faschistische Pest einbrachten. Als Arzt war mir der internationale arbeitende und sorgende Mensch in einer Weise zugänglich wie keinem Parteipolitiker. Der Parteipolitiker sah nur "die Arbeiterklasse", die er mit "Klassenbewußtsein erfüllen" wollte. Ich sah das Lebewesen Mensch, das unter gesellschaftliche Verhältnisse schlimmster Art geraten war, die es selbst geschaffen hatte, die es charakterlich verankert in sich trug und von denen es sich vergeblich zu befreien versuchte. Die Kluft zwischen ökonomistischer und biosoziologischer Anschauung wurde unüberbrückbar. Der "Theorie des Klassenmenschen" trat die irrationale Natur der Gesellschaft des Tieres "Mensch" gegenüber.

Heute weiß jeder, daß die marxistischen Wirtschaftsanschauungen das Denken der modernen Menschheit mehr oder minder durchdrungen und beeinflußt haben, sehr oft ohne daß die betreffenden Ökonomen und Soziologen sich dessen bewußt sind, von wem ihre Anschauungen herstammen. Begriffe wie: "Klasse", "Profit", "Ausbeutung", "Klassenkampf", "Ware" und "Mehrwert" sind menschliches Allgemeingut geworden. Es gibt dagegen heute keine Partei, die als Erbin und lebendige Vertreterin des wissenschaftlichen Guts des Marxismus gelten kann, wenn es um soziologische Entwicklungstatsachen und nicht um Schlagworte geht, die sich mit dem Inhalt nicht mehr decken.

In den Jahren zwischen 1937 und 1939 entwickelte sich der neue Begriff der "Arbeitsdemokratie". Die dritte Auflage der Massenpsychologie des Faschismus enthält die Darstellung der Grundzüge dieses neuen soziologischen Begriffs. Er umfaßt die besten, noch heute gültigen soziologischen Funde des Marxismus. Er trägt gleichzeitig den sozialen Veränderungen Rechnung, die sich im Verlaufe der letzten hundert Jahre am "Arbeiter" vollzogen haben. Ich weiß aus Erfahrung, daß es gerade die "einzigen Vertreter der Arbeiterschaft" und die gewesenen und kommenden "Führer des internationalen Proletariats" sein werden, die diese Fortentwicklung des sozialen Arbeiterbegriffs als "faschistisch", "trotzkistisch", "konterrevolutionär", "parteifeindlich" etc. bekämpfen werden. Organisationen von Arbeitern, die Neger ausschließen und Hitlerei betreiben, verdienen es nicht, als Gründer einer neuen, freien Gesellschaft betrachtet zu werden. Die Hitlerei macht eben nicht an den Grenzen der Nazi-Partei oder Deutschlands halt; sie durchsetzt die Arbeitsorganisationen der liberalen und demokratischen Kreise. Faschismus ist keine politische Partei, sondern eine bestimmte Lebensauffassung und Einstellung zu Mensch, Liebe und Arbeit. Dies wird nichts an der Tatsache ändern, daß die Politik der marxistischen Parteien der Vorkriegszeit ausgespielt und keine Zukunft mehr hat. Genauso wie der Begriff der sexuellen Energie innerhalb der psychoanalytischen Organisation unterging und in der Entdeckung des Orgons kräftig und jung neu erstand, so ging auch der Begriff des internationalen Arbeiters im marxistischen Parteiwesen unter und ersteht neu im Rahmen der sozialen Sexualökonomie. Denn die Tätigkeiten des Sexualökonomen sind nur im Rahmen aller übrigen gesellschaftlich notwendigen Arbeit und sie sind nicht im Rahmen des reaktionären, mystifizierten, nichtarbeitenden Lebens möglich.

Die sexualökonomische Soziologie wurde in den Anstrengungen, die Tiefenpsychologie Freuds mit der Ökonomielehre von Marx in Einklang zu bringen, geboren. Triebhafte und sozial-ökonomische Prozesse bestimmen das menschliche Sein. Aber wir müssen die eklektischen Versuche ablehnen, die "Trieb" und "Wirtschaft" willkürlich zusammensetzen. Die sexualökonomische Soziologie löst den Widerspruch auf, der die Psychoanalyse den sozialen Faktor und den Marxismus den tierischen Ursprung des Menschen vergessen ließ. Wie ich es an anderer Stelle ausdrückte: Die Psychoanalyse ist die Mutter, die Soziologie der Vater der Sexualökonomie. Aber ein Kind ist mehr als die Summe der Eltern. Es ist ein neues, selbständiges, zukunftsträchtiges Lebewesen.

Entsprechend der neuen, sexualökonomischen Fassung des Begriffs der "Arbeit" wurden folgende Veränderungen in der Terminologie des Buches vorgenommen. Die Begriffe "kommunistisch", "sozialistisch", "klassenbewußt" etc. wurden durch soziologisch und psychologisch eindeutige Worte wie "revolutionär" und "wissenschaftlich" ersetzt. Sie bedeuten "radikal umwälzend", "rational tätig", "die Dinge an der Wurzel fassend".

Dies trägt der Tatsache Rechnung, daß heute nicht mehr die kommunistischen oder sozialistischen Parteien, sondern im Gegensatz zu ihnen viele unpolitische Menschengruppen und gesellschaftliche Schichten jeder politischen Schattierung immer mehr revolutionär gesinnt werden, d. h. nach einer grundsätzlich neuen, rationalen Gesellschaftsordnung streben. Es ist allgemeines gesellschaftliches Bewußtsein geworden, und es wurde selbst von alten bürgerlichen Politikern ausgesprochen, daß die Welt durch den Kampf gegen die faschistische Pest in den Prozeß einer riesenhaften, internationalen, revolutionären Umwälzung geriet. Die Worte "Proletarier" und "proletarisch" wurden vor mehr als hundert Jahren zur Kennzeichnung einer völlig rechtlosen, in der Masse verelendeten Schichte der Gesellschaft geprägt. Zwar gibt es noch heute solche Menschengruppen, aber die Urenkelkinder der Proletarier des 19. Jahrhunderts sind zu spezialisierten, technisch hochentwickelten, unentbehrlichen, verantwortlichen und fachbewußten Industriearbeitern geworden. An die Stelle des Wortes "Klassenbewußtsein" tritt das Wort "Fachbewußtsein" oder "soziale Verantwortlichkeit".

Im Marxismus des 19. Jahrhunderts war das "Klassenbewußtsein" eingeschränkt auf den Handarbeiter. Die Arbeitenden aber, die in anderen lebensnotwendigen Berufen tätig sind, ohne die die Gesellschaft nicht funktionieren könnte, wurden als "Intellektuelle" oder "Kleinbourgeoisie" dem "Handarbeiter-Proletariat" gegenübergestellt. Diese schematische und heute unzutreffende Gegenüberstellung war am Siege des Faschismus in Deutschland ganz wesentlich beteiligt. Der Begriff "Klassenbewußtsein" ist nicht nur zu eng, sondern er deckt sich nicht einmal mit der Struktur der Handarbeiterschaft. "Industriearbeit" und "Proletarier" wurden daher ersetzt durch die Begriffe "lebensnotwendige Arbeit" und "der Arbeitende". Diese beiden Begriffe umfassen alle Werktätigen, die gesellschaftlich lebensnotwendige Arbeit leisten. Also neben den Industriearbeitern die Ärzteschaft, Erzieherschaft, Technikerschaft, die Laboratoriumsarbeiter, Schriftsteller, gesellschaftliche Administratoren, Farmerschaft, wissenschaftliche Arbeiter etc. Dadurch hebt sich eine Kluft auf, die gar nicht wenig zur Zersplitterung der arbeitenden menschlichen Gesellschaft und mithin zum Faschismus, ob schwarz oder rot, beigetragen hat.

Die Marxsche Soziologie stellte aus Unkenntnis der Massenpsychologie den "Bürger" dem "Proletarier" gegenüber. Dies ist psychologisch falsch. Die charakterliche Struktur ist nicht auf den Kapitalisten beschränkt, sondern durchsetzt die Arbeitenden aller Berufe. Es gibt freiheitliche Kapitalisten und reaktionäre Arbeiter. Es gibt keine charakterlichen Klassengrenzen. Daher wurden die ökonomischen Begriffe "Bourgeoisie" und "Proletariat" durch die charakterlichen Begriffe "reaktionär" und "revolutionär" oder "freiheitlich" ersetzt. Diese Änderung wurde durch die faschistische Pest aufgezwungen.

Der dialektische Materialismus, den Engels in seinem Anti-Dühring in den Grundzügen entwickelt hatte, entwickelt sich zum energetischen Funktionalismus. Diese Entwicklung vorwärts war ermöglicht durch die Entdeckung der biologischen Energie, des Orgons (1936-1939). Soziologie und Psychologie erwarben ein solides biologisches Fundament. Eine solche Entwicklung konnte nicht ohne Einfluß auf das Denken bleiben. Mit der Entwicklung des Denkens verändern sich alte Begriffe, neue treten an Stelle von unbrauchbar gewordenen. Das Marxsche Wort "Bewußtsein" wurde durch "dynamische Struktur", die "Bedürfnisse" wurden durch "orgonotische Triebprozesse" ersetzt; "Tradition" durch "biologische und charakterliche Versteifung" etc. etc.

Der vulgärmarxistische Begriff der "Privatwirtschaft" war von der Irrationalität der Menschen so mißdeutet worden, als ob die freiheitliche Entwicklung der Gesellschaft die Aufhebung jedes Privateigentums bedeutete. Das wurde natürlich von der politischen Reaktion weidlich ausgenützt. Nun hat die Entwicklung der gesellschaftlichen und individuellen Freiheit nichts mit der sogenannten "Aufhebung des Privateigentums" zu tun. Der Marxsche Begriff des Privateigentums betraf nicht Hemden, Hosen, Schreibmaschinen, Klosettpapier, Bücher, Betten, Ersparnisse, Wohnhäuser, Landstücke etc. der Menschen. Dieser Begriff betraf ausschließlich den privaten Besitz an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln, die den allgemeinen Gang der Gesellschaft bestimmen. Also: Eisenbahnen, Wasserwerke, Elektrizitätswerke, Berggruben etc. Die "Vergesellschaftung der Produktionsmittel" wurde zu einem roten Tuch gerade durch ihre Vermengung mit der "privaten Enteignung" der Hühner, Hemden, Bücher, Wohnstätten etc., wie es der Ideologie der Besitzlosen entsprach. Die Verstaatlichung der gesellschaftlichen Produktionsmittel hat im letzten Jahrhundert in sämtlichen kapitalistischen Ländern, hier mehr, dort weniger, ihre private Verfügbarkeit zu zersetzen begonnen.

Da die Arbeitenden sich in ihrer Struktur und Freiheitsfähigkeit nicht der Riesenentwicklung der gesellschaftlichen Organisationen anpaßten, vollzog der "Staat" diejenigen Akte, die eigentlich der "Gesellschaft" der Arbeitenden vorbehalten waren. In Sowjetrußland, der angeblichen Hochburg des Marxismus, ist von "Vergesellschaftung der Produktionsmittel" keine Rede. Die marxistischen Parteien hatten einfach "Vergesellschaftung" und "Verstaatlichung" verwechselt. Es zeigt sich in diesem Kriege, daß die amerikanische Regierung genauso das Recht und die Möglichkeit hat, schlecht funktionierende Betriebe zu verstaatlichen. Eine Vergesellschaftung der gesellschaftlichen Produktionsmittel, ihre Überführung vom Privatbesitz einzelner in gesellschaftliches Eigentum, klingt weit weniger horrend, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es heute infolge des Krieges in den kapitalistischen Ländern nur noch wenige unabhängige Einzelbesitzer und dagegen viele staatlich verantwortliche Kollektivbesitzer gibt; daß ferner in Sowjetrußland die gesellschaftlichen Betriebe in keiner Weise den Arbeitern dieser Betriebe, sondern Gruppen von Staatsfunktionären zur Verfügung stehen. Die Vergesellschaftung der gesellschaftlichen Produktionsmittel wird erst dann spruchreif und möglich sein, wenn die Massen der Arbeitenden strukturell reif, d. h. verantwortungsbewußt sein werden, sie zu verwalten. Sie sind heute in überwiegender Mehrzahl weder gewillt noch reif dazu. Ferner: Eine Vergesellschaftung großer Betriebe in dem Sinne, daß nur die Handarbeiter sie verwalten, die Techniker, Ingenieure, Verwalter, Administratoren, Distributoren etc. aber nicht dazugerechnet werden, ist soziologisch und ökonomisch sinnlos. Eine solche Idee wird heute selbst von den Handarbeitern abgelehnt. Wäre dem nicht so, dann hätten die marxistischen Parteien die Macht längst überall erobert.

Dies ist der wesentlichste soziologische Grund, weshalb sich die Privatwirtschaft des 19. Jahrhunderts überall immer mehr in eine staatskapitalistische Planungswirtschaft verwandelt. Es muß klar ausgesprochen werden, daß es auch in Sowjetrußland keinen Staatssozialismus, sondern einen strengen Staatskapitalismus gibt; dies im streng Marxschen Sinne. Der gesellschaftliche Zustand "Kapitalismus" ist nach Marx nicht, wie die Vulgärmarxisten glauben, durch das Vorhandensein individueller Kapitalisten, sondern durch das Vorhandensein der spezifisch "kapitalistischen Produktionsweise" gegeben. Also, durch Warenwirtschaft anstelle von "Gebrauchswirtschaft", durch Lohnarbeit der Menschenmassen und durch Mehrwertproduktion, gleichgültig ob dieser Mehrwert dem Staat über der Gesellschaft, oder individuellen Kapitalisten durch private Aneignung der gesellschaftlichen Produktion zugute kommt. In diesem streng Marxschen Sinne besteht aber in Rußland das kapitalistische System fort. Und es wird fortbestehen, solange die Menschenmassen irrational verseucht und autoritätssüchtig sein werden, wie sie jetzt sind.

Die sexualökonomische Strukturpsychologie fügt nun der wirtschaftlichen Beschreibung der Gesellschaft die charakterliche und biologische an. Mit der Beseitigung individueller Kapitalisten und der Errichtung des Staatskapitalismus in Rußland anstelle des Privatkapitalismus hat sich an der typisch hilflosen, autoritären Charakterstruktur der Menschenmassen nicht das geringste geändert.

Ferner: Die politische Ideologie der marxistischen Parteien Europas operierte mit rein wirtschaftlichen Zuständen, die einem Zeitraum von etwa 200 Jahren, also etwa vom 17. bis 19. Jahrhundert der Maschinenentwicklung, entsprachen. Der Faschismus des 20. Jahrhunderts warf im Gegensatz dazu die Grundfrage der menschlichen Charakterbeschaffenheit, der menschlichen Mystik und Autoritätssucht auf, die einem Zeitraum von etwa 4000 bis 6000 Jahren entsprechen. Auch hier versuchte der Vulgärmarxismus einen Elefanten in ein Fuchsloch zu stecken. Die soziale Sexualökonomie befaßt sich mit einer menschlichen Struktur, die nicht in den letzten 200 Jahren entstand, sondern eine viele tausend Jahre alte patriarchalisch-autoritäre Zivilisation wiedergibt. Ja, sie behauptet sogar, daß die schändlichen Exzesse der kapitalistischen Ära der letzten 300 Jahre (Raub-Imperialismus, Rechtlosigkeit der Werktätigen, Rassenunterdrückung etc.) nicht möglich gewesen wären ohne die autoritätssüchtige, freiheitsunfähige, mystische Struktur der Millionenmassen, die all dies erduldet haben. Daß diese Struktur sozial und erzieherisch erzeugt wurde und nicht naturgegeben ist, ändert an ihrer Wirkung nichts, er gibt aber den Ausweg der freiheitlichen Umstrukturierung. Der Standpunkt der sexualökonomischen Biophysik ist also im strengen und guten Sinne unendlich radikaler als der der Vulgärmarxisten, wenn man unter Radikalsein "den Dingen an die Wurzel fassen" versteht.

Aus all dem geht hervor, daß man die faschistische Massenpest ebensowenig mit sozialen Maßnahmen des Rahmens der letzten 300 Jahre bewältigen kann, wie man einen Elefanten (6000 Jahre) in ein Fuchsloch (300 Jahre) hineinzuzwängen vermag.

Die Entdeckung der natürlich biologischen Arbeitsdemokratie im internationalen menschlichen Verkehr ist als die Antwort auf den Faschismus zu betrachten. Dies auch dann, wenn nicht ein einziger gegenwärtig lebender Sexualökonom, Orgonophysiker oder Arbeitsdemokrat ihr ausschließliches Funktionieren und ihren Sieg über die Irrationalität im sozialen Leben erleben sollte.

Die autoritäre Familienideologie in der Massenpsychologie des Faschismus

Führer und Massenstruktur

Ließe die Geschichte des gesellschaftlichen Prozesses den reaktionären Historikern Zeit, Betrachtungen über die deutsche Vergangenheit nach einigen Jahrzehnten anzustellen, sie würden im Erfolg Hitlers in den Jahren 1928-1933 sicher den Beweis dafür erblicken, daß nur der große Mann Geschichte macht, indem er die Massen mit "seiner Idee" entflammt: Die nationalsozialistische Propaganda baute sich in der Tat auf dieser "Führerideologie" auf. Sowenig den Propagandisten des Nationalsozialismus die Mechanik ihres Erfolges bekannt war, sowenig durften sie den historischen Boden der nationalsozialistischen Bewegung erfassen. Es war daher vollkommen konsequent, wenn der Nationalsozialist Wilhelm Stapel in seiner Schrift Christentum und Nationalsozialismus (Hanseatische Verlagsanstalt) seinerzeit schrieb: "Weil der Nationalsozialismus eine elementare Bewegung ist, darum kann man ihm nicht mit 'Argumenten' beikommen. Argumente würden nur wirken, wenn die Bewegung durch Argumente groß geworden wäre." Die nationalsozialistischen Versammlungsreden zeichneten sich entsprechend dieser Charakteristik durch sehr geschickte Maßnahmen aus, mit den Gefühlen der Massenindividuen zu operieren und sachliche Argumentation tunlichst zu vermeiden. Hitler betonte an verschiedenen Stellen seines Buches Mein Kampf, daß die richtige massenpsychologische Taktik auf Argumentation verzichten und nur das "große Endziel" unausgesetzt den Massen vorführen müsse. Wie es dann mit dem Endziel nach der Machtergreifung aussah, läßt sich am italienischen Faschismus leicht zeigen, wie ja auch die Erlasse Görings gegen die wirtschaftlichen Organisationen des Mittelstandes, die Absage an die von den Anhängern erwartete "zweite Revolution", die Nichterfüllung der versprochenen sozialistischen Maßnahmen etc. bereits die reaktionäre Funktion des Faschismus enthüllten. Wie wenig Hitler selbst den Mechanismus seiner Erfolge kannte, zeigte folgende Ansicht:

Diese große Linie allein, die nie verlassen werden darf, läßt bei immer gleichbleibender konsequenter Betonung den endgültigen Erfolg heranreifen. Dann aber wird man mit Staunen feststellen können, zu welch ungeheuren, kaum verständlichen Ergebnissen solch eine Beharrlichkeit führt. (Mein Kampf, S. 203)

Hitlers Erfolg ließ sich also keinesfalls aus seiner reaktionären Rolle in der Geschichte des Kapitalismus erklären, denn diese hätte, wäre sie in der Propaganda offen zugestanden gewesen, das Gegenteil des Beabsichtigten erzielt. Die Erforschung der massenpsychologischen Wirkung Hitlers mußte von der Voraussetzung ausgehen, daß ein Führer oder der Vertreter einer Idee nur dann Erfolg haben kann (wenn auch nicht in historischer, so doch in begrenzter Perspektive), wenn seine persönliche Anschauung, seine Ideologie oder sein Programm an die durchschnittliche Struktur einer breiten Schicht von Massenindividuen anklingt. Dann ergibt sich die weitere Frage, welcher historischen und soziologischen Situation diese Massenstrukturen ihr Entstehen verdanken. So verlegt sich die Fragestellung der Massenpsychologie aus der Metaphysik der "Führerideen" in die Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens. Nur dann, wenn die Struktur einer Führerpersönlichkeit mit massenindividuellen Strukturen breiter Kreise zusammenklingt, kann ein "Führer" Geschichte machen. Und ob er endgültig Geschichte macht oder nur vorübergehend, hängt einzig und allein davon ab, ob sein Programm in der Richtung des fortschreitenden gesellschaftlichen Prozesses liegt oder sich dagegen anstemmt. Es ist daher irreführend, wenn man den Hitlerschen Erfolg allein aus der Demagogie der Nationalsozialisten, mit der "Vernebelung der Massen", ihrer "Irreführung" oder gar mit dem vagen, nichtssagenden Begriff der "Nazipsychose" zu erklären versuchte, wie die Kommunisten und später andere Politiker es taten. Kommt es doch gerade darauf an zu begreifen, weshalb sich die Massen der Irreführung, Vernebelung und psychotischen Situation zugänglich erwiesen. Ohne die genaue Kenntnis dessen, was in den Massen vorgeht, kann man das Problem nicht lösen. Die Angabe der reaktionären Rolle der Hitler-Bewegung genügt nicht. Denn der Massenerfolg der NSDAP widersprach dieser ihrer reaktionären Rolle. Millionenmassen bejahten ihre eigene Unterdrückung, ein Widerspruch, der nur massenpsychologisch, und nicht politisch oder ökonomisch, zu lösen ist.

Der Nationalsozialismus bediente sich gegenüber den verschiedenen Schichten verschiedener Mittel und machte, je nach der sozialen Schicht, die er gerade brauchte, verschiedene Versprechungen. So trat z. B. im Frühjahr 1933 in der Propaganda die Betonung des revolutionären Charakters der Nazi-Bewegung hervor, weil man die Industriearbeiter gewinnen wollte, und man "feierte" den 1. Mai, nachdem man in Potsdam den Adel zufriedengestellt hatte. Wollte man daraus ableiten, daß der Erfolg nur politischem Schwindel zuzuschreiben ist, man geriete in Widerspruch mit der freiheitlichen Grundidee und würde praktisch die Möglichkeit der sozialen Revolution negieren. Die Grundfrage ist: Weshalb lassen sich die Massen politisch beschwindeln? Sie hatten alle Möglichkeiten, die Propaganda der verschiedenen Parteien zu beurteilen. Weshalb entdeckten sie nicht, daß Hitler den Arbeitern Enteignung des Besitzes an Produktionsmitteln und den Kapitalisten Schutz vor Enteignung gleichzeitig versprach?
Hitlers persönliche Struktur und seine Lebensgeschichte sind für das Verständnis des Nationalsozialismus von keinerlei Belang. Es ist allerdings interessant, daß die kleinbürgerliche Herkunft seiner Ideen sich mit den Massenstrukturen, die diese Ideen bereitwillig aufnahmen, in den Hauptzügen deckte.

Hitler stützte sich wie jede reaktionäre Bewegung auf die verschiedenen Schichten des Kleinbürgertums. Der Nationalsozialismus offenbarte sämtliche Widersprüche, die die Massenpsychologie des Kleinbürgertums kennzeichnen. Es kommt nun darauf an, erstens diese Widersprüche selbst zu erfassen, zweitens die gemeinsame Herkunft dieser Widersprüche aus den imperialistischen Produktionsverhältnissen kennenzulernen. Wir schränken uns auf die sexual-ideologischen Fragen ein.

Hitlers Herkunft

Der Führer des deutschen rebellierenden Mittelstandes war selbst Beamtensohn. Er berichtete selbst über einen die kleinbürgerliche Massenstruktur spezifisch kennzeichnenden Konflikt, den er durchzumachen hatte. Sein Vater wollte ihn zum Beamten machen, der Sohn rebellierte aber gegen den väterlichen Plan, beschloß, "unter keinen Umständen" Folge zu leisten, wurde Maler und geriet dabei in Armut. Aber neben dieser Rebellion gegen den Vater blieb die Hochachtung und Anerkennung seiner Autorität bestehen. Diese zwiespältige Einstellung zur Autorität: Rebellion gegen die Autorität mit gleichzeitiger Anerkennung und Unterwerfung, ist ein Grundzug jeder kleinbürgerlichen Struktur am Übergang von der Pubertät zur völligen Erwachsenheit und besonders ausgeprägt bei materiell eingeschränkter Lebensführung.

Von der Mutter spricht Hitler mit großer Sentimentalität. Er versichert, er hätte nur einmal in seinem Leben geweint, als nämlich seine Mutter starb. Aus der Rassen- und Syphilistheorie (vgl. nächstes Kapitel) geht seine Sexualablehnung und die neurotische Idealisierung der Mutterschaft eindeutig hervor.

Als junger Nationalist beschloß Hitler, der in Österreich lebte, den Kampf gegen das österreichische Herrscherhaus aufzunehmen, das das "deutsche Vaterland der Slawisierung" preisgab. Bei der Polemik gegen die Habsburger nimmt der Vorwurf, daß es unter ihnen einige Syphilitiker gab, eine bemerkenswerte Stellung ein. Man würde daran achtlos vorübergehen, wenn nicht die Idee der "Vergiftung des Volkskörpers" und die gesamte Stellung zur Frage der Syphilis in besonderer Weise immer wiederkehrte und später nach der Machtergreifung ein zentrales Stück der Innenpolitik gebildet hätte.

Hitler sympathisierte ursprünglich mit der Sozialdemokratie, weil sie den Kampf um das allgemeine und geheime Wahlrecht führte und dies zu einer Schwächung des ihm verhaßten "Habsburgerregiments" führen konnte. Doch die Betonung der Klassen, die Negierung der Nation, der staatlichen Autorität, des Eigentumsrechts an gesellschaftlichen Produktionsmitteln, der Religion und Moral stießen Hitler ab. Den entscheidenden Anstoß zu seiner Abkehr gab die Aufforderung, die von seiten seiner Baustelle an ihn gerichtet wurde, der Gewerkschaft beizutreten. Er lehnte ab und begründet das mit der ersten Einsicht in die Rolle der Sozialdemokratie.

Sein Ideal wurde Bismarck, weil er die Einigung der deutschen Nation herbeiführte und gegen das österreichische Herrscherhaus kämpfte. Der Antisemit Lueger und der Deutschnationale Schönerer bestimmten entscheidend die weitere Entwicklung Hitlers. Er ging nunmehr von nationalistisch-imperialistischen Zielen aus, die er mit anderen, geeigneteren Mitteln als dem alten "bürgerlichen" Nationalismus zu verwirklichen gedachte. Die Wahl dieser Mittel ergab sich aus der Erkenntnis der Macht des organisierten Marxismus, aus der Erkenntnis der Bedeutung der Masse für jede politische Bewegung.

Erst wenn der – politisch durch den organisierten Marxismus geführten – internationalen Weltanschauung eine ebenso einheitlich organisierte und geleitete völkische gegenübertritt, wird sich bei gleicher Kampfesenergie der Erfolg auf die Seite der ewigen Wahrheit schlagen.

Was der internationalen Weltauffassung den Erfolg gab, war ihre Vertretung durch eine sturmabteilungsmäßig organisierte politische Partei; was die gegenteilige Weltanschauung unterliegen ließ, war der bisherige Mangel einer einheitlich geformten Vertretung derselben. Nicht in einer unbegrenzten Freigabe der Auslegung einer allgemeinen Anschauung, sondern nur in der begrenzten und damit zusammenfassenden Form einer politischen Organisation kann eine Weltanschauung kämpfen und siegen. (Mein Kampf, S. 422-423)

Hitler erkannte früh die Inkonsequenz der sozialdemokratischen Politik und die Ohnmacht der alten bürgerlichen Parteien, eingeschlossen der deutschnationalen.
Dies alles aber war nur die zwangsläufige Folge des Fehlens einer grundsätzlichen, dem Marxismus entgegengesetzten neuen Weltanschauung von stürmischem Eroberungswillen. (1. c. S. 190)

Je mehr ich mich damals mit dem Gedanken einer notwendigen Änderung der Haltung der staatlichen Regierungen zur Sozialdemokratie als der augenblicklichen Verkörperung des Marxismus beschäftigte, um so mehr erkannte ich das Fehlen eines brauchbaren Ersatzes für diese Lehre. Was sollte man denn den Massen geben, wenn, angenommen, die Sozialdemokratie gebrochen worden wäre? Nicht eine Bewegung war vorhanden, von der man hätte erwarten können, daß es ihr gelingen würde, die großen Scharen der nun mehr oder weniger führerlos gewordenen Arbeiter in ihren Bann zu ziehen. Es ist unsinnig und mehr als dumm, zu meinen, daß der aus der Klassenpartei ausgeschiedene internationale Fanatiker nun augenblicklich in eine bürgerliche Partei, also in eine neue Klassenorganisation einrücken werde. (1. c. S. 190)
Die "bürgerlichen" Parteien, wie sie sich selbst bezeichnen, werden niemals mehr die "proletarischen" Massen an ihr Lager fesseln, da sich hier zwei Welten gegenüberstehen, teils natürlich, teils künstlich getrennt, deren Verhaltungszustand zueinander nur der Kampf sein kann. Siegen aber wird hier der Jüngere – und dies wäre der Marxismus." (1. c. S. 191)

Die antisowjetische Grundtendenz des Nationalsozialismus kam früh zum Vorschein.

Wollte man in Europa Grund und Boden, dann konnte dies im großen und ganzen nur auf Kosten Rußlands geschehen, dann mußte sich das neue Reich wieder auf der Straße der einstigen Ordensritter in Marsch setzen, um mit dem deutschen Schwert dem deutschen Pflug die Scholle, der Nation aber das tägliche Brot zu geben. (1. c. S. 154)

Solchermaßen sieht sich Hitler vor folgende Fragen gestellt: Wie ist dem nationalsozialistischen Gedanken zum Siege zu verhelfen? Wie läßt sich der Marxismus wirksam bekämpfen? Wie kann man an die Massen herankommen?

Zu diesem Zweck appelliert Hitler an die nationalistischen Gefühle der Massen, beschließt aber, dabei sich wie der Marxismus auf einer Massenbasis zu organisieren, eine eigene Propagandatechnik zu entwickeln und konsequent durchzuführen.

Er will also, was offen zugegeben wird, den nationalistischen Imperialismus mit Methoden durchsetzen, die er dem Marxismus und seiner Technik der Massenorganisierung entlehnt.

Daß diese Massenorganisierung gelang, lag an den Massen und nicht an Hitler. Es lag an der autoritären, freiheitsängstlichen Struktur der Menschen, daß seine Propaganda Wurzeln fassen konnte. Daher kommt das, was an Hitler soziologisch wichtig ist, nicht aus seiner Persönlichkeit, sondern aus der Bedeutung, die er von den Massen bekommt. Und das Problem war um so brennender, als Hitler die Massen, mit deren Hilfe er seinen Imperialismus durchsetzen wollte, gründlichst verachtete. Dafür anstelle vieler nur ein freimütiges Bekenntnis:

Die Stimmung des Volkes war immer nur ein Ausdruck dessen, was man von oben in die öffentliche Meinung hineintrichterte. (1. c. S. 140)

Wie waren die Strukturen der Masse beschaffen, daß sie trotz alledem bereit waren, Hitlers Propaganda aufzusaugen?

Zur Massenpsychologie des Kleinbürgertums

Wir sagten, der Erfolg Hitlers sei weder aus seiner "Persönlichkeit" noch aus der objektiven Rolle, die seine Ideologie im zerrütteten Kapitalismus spielt, zu verstehen. Ebensowenig aus einer bloßen "Vernebelung" der Massen, die ihm folgten. Wir stellten die Frage ins Zentrum, was in den Massen vorging, daß sie einer Partei Gefolgschaft leisteten, deren Führung objektiv sowohl wie subjektiv den Interessen der arbeitenden Menschenmassen genau entgegengesetzt war.

Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst festzuhalten, daß die nationalsozialistische Bewegung in ihrem ersten erfolgreichen Anlauf sich auf die breiten Schichten des sogenannten Mittelstandes stützte, also der Millionen privater und öffentlicher Beamter, der mittleren Kaufmannschaft und des mittleren und kleinen Bauerntums. Vom Standpunkt seiner sozialen Basis gesehen, war der Nationalsozialismus ursprünglich eine kleinbürgerliche Bewegung, und dies überall, wo er auftrat, ob in Italien, Ungarn, Argentinien oder Norwegen. Dieses Kleinbürgertum, das vorher im Lager der verschiedenen bürgerlich-demokratischen Parteien stand, mußte also eine innere Wandlung durchgemacht haben, daß es seinen politischen Standort wechselte. Aus der sozialen Lage und der ihr entsprechenden psychologischen Struktur des Kleinbürgertums erklären sich sowohl die grundsätzlichen Gleichheiten wie die Verschiedenheiten der bürgerlich-liberalen und der faschistischen Ideologien.

Das faschistische Kleinbürgertum ist das gleiche wie das kleinbürgerliche demokratisch liberale, nur in einer anderen historischen Epoche des Kapitalismus. Der Nationalsozialismus bezog seinen Zuwachs in den Wahljahren 1930 bis 1932 fast ausschließlich aus der deutschnationalen Partei, der Wirtschaftspartei und den kleineren Splitterparteien des Deutschen Reiches. Nur das katholische Zentrum bewahrte sogar in der Preußenwahl 1932 seine Position. Erst bei der Preußenwahl 1932 gelang dem Nationalsozialismus auch der Einbruch in die Industriearbeitermassen. Doch nach wie vor blieb der Mittelstand die Kerntruppe des Hakenkreuzes. In der schwersten wirtschaftlichen Erschütterung des kapitalistischen Systems seit seinem Bestande (1929-1932) trat in Gestalt des Nationalsozialismus der Mittelstand auf die politische Tribüne und hielt den revolutionären Umbau der Gesellschaft auf. Die politische Reaktion wußte diese Bedeutung des Kleinbürgertums sehr richtig einzuschätzen. "Der Mittelstand ist für die Existenz eines Staates von entscheidender Bedeutung", hieß es in einem Flugblatt der Deutschnationalen vom 8. April 1932.

Die Frage nach der sozialen Bedeutung des Mittelstandes spielte innerhalb der Linken in den Diskussionen nach dem 30. Januar 1933 eine große Rolle. Bis zum 30. Januar war die Beachtung des Mittelstandes beträchtlich zu kurz gekommen, weil alle Interessen von der Beachtung der Entwicklung der politischen Reaktion, der autoritären Staatsführung gefesselt waren und weil die massenpsychologische Fragestellung den Politikern fernlag. Nachher begann man an verschiedenen Stellen die "Rebellion des Mittelstandes" in den Vordergrund zu rücken. Verfolgt man die Diskussion über diese Frage, so kann man feststellen, daß sich zwei Hauptmeinungen herausbildeten: die eine vertrat den Standpunkt, der Faschismus sei "nichts anderes" als die Parteigarde der Großbourgeoisie; die andere übersah diesen Tatbestand nicht, rückte jedoch die "Rebellion des Mittelstandes" in den Vordergrund, was ihren Vertretern den Vorwurf eintrug, daß sie die reaktionäre Rolle des Faschismus verwischten; man berief sich dabei auf die Berufung Thyssens zum Wirtschaftsdiktator, auf die Auflösung der wirtschaftlichen Mittelstandsorganisationen, auf das Abblasen der "zweiten Revolution", kurz, auf den ab etwa Ende Juni 1933 immer mehr und offener hervortretenden rein reaktionären Charakter des Faschismus.

Man konnte einige Unklarheiten in der sehr heftigen Diskussion feststellen: Die Tatsache, daß der Nationalsozialismus sich nach der Machtergreifung immer mehr als imperialistischer Nationalismus enthüllte, der eifrig bestrebt war, alles "Sozialistische" aus der Bewegung auszuschalten und den Krieg mit allen Mitteln vorbereitete, widerspricht nicht der anderen Tatsache, daß der Faschismus, von seiner Massenbasis her gesehen, in der Tat eine Mittelstandsbewegung war.

Ohne das Versprechen, den Kampf gegen das Großkapital aufzunehmen, hätte Hitler die Mittelstandsschichten nie gewonnen. Sie verhalfen ihm zum Siege, weil sie gegen das Großkapital waren. Unter ihrem Drucke mußten die führenden Stellen zu antikapitalistischen Maßnahmen ansetzen, wie sie sie unter dem Drucke des Großkapitals wieder abstoppen mußten. Wenn man nicht die subjektiven Interessen in der Massenbasis einer reaktionären Bewegung von der objektiven reaktionären Funktion unterscheidet, die einander widersprechen (und in der Ganzheit der Nazi-Bewegung zunächst vereinigt waren), muß man aneinander vorbeireden, indem der eine die reaktionäre Rolle des Faschismus, der andere die reaktionären Interessen der faschistischen Massen meint, wenn er von "Faschismus" spricht. In der Gegensätzlichkeit dieser zwei Seiten des Faschismus sind sämtliche seiner Widersprüche begründet, ebenso wie ihre Vereinigung in der einen Form: "Nationalsozialismus", die die Hitlerbewegung kennzeichnet. Sofern der Nationalsozialismus seinen Charakter als Mittelstandsbewegung hervorzukehren gezwungen war (vor der Machtergreifung und knapp nachher), ist er in der Tat antikapitalistisch und revolutionär; sofern er zur Festigung und Erhaltung der einmal errungenen Macht – da er das Großkapital nicht entrechtet – immer mehr seinen antikapitalistischen Charakter abstreift und seine kapitalistische Funktion immer ausschließlicher hervorkehrt, wird er zum extremen imperialistischen Verfechter und Festiger der großkapitalistischen Wirtschaftsordnung. Dabei ist völlig gleichgültig, ob und wie viele seiner Führer ehrlich oder unehrlich "sozialistisch" (in ihrer Auffassung!) gesinnt waren, ebensowenig wie, ob und wie viele Volksbetrüger und Machtjäger sind. Darauf kann man gründliche antifaschistische Politik nicht basieren. Aus der Geschichte des italienischen Faschismus hätte man alles für das Verständnis des deutschen Faschismus und seiner Zwiespältigkeit lernen können, denn auch der italienische Faschismus zeigte die beiden genannten einander strikt widersprechenden Funktionen zu einem Ganzen vereint.

Diejenigen, die die Funktion der Massenbasis des Faschismus entweder leugnen oder nicht gebührend einschätzen, stehen gebannt vor der Tatsache, daß der Mittelstand, weil er weder über die Hauptproduktionsmittel verfügt noch an ihnen arbeitet, auf die Dauer keine Geschichte machen kann, daher zwischen Kapital und Arbeiterschaft hin- und herschwanken muß. Sie übersehen, daß der Mittelstand, wenn auch nicht auf die Dauer, so doch für geschichtlich kurz begrenzte Zeit "Geschichte machen" kann und macht, wie es der italienische und deutsche Faschismus lehren. Nicht nur die Zerschlagung der Arbeiterorganisationen, die unzähligen Opfer, der Einbruch der Barbarei sind dabei gemeint, sondern vor allem die Verhinderung der Entwicklung der ökonomischen Krise zur politischen Umwälzung der Gesellschaft, zur sozialen Revolution. Es ist klar: Je größer Umfang und Gewicht der Mittelstandsschichten in einer Nation sind, desto entscheidendere Bedeutung kommt ihnen als entscheidend wirkender gesellschaftlicher Kraft zu. 1933 bis 1942 ergab sich das Paradoxon, daß der nationalistische Faschismus den sozialrevolutionären Internationalismus als internationale Bewegung überflügeln konnte. Die Sozialisten und Kommunisten hatten Illusionen über das Fortschreiten der revolutionären Bewegung im Verhältnis zu dem der Reaktion und begingen derart schlechthin politischen Selbstmord, auch wenn die besten Motive zugrunde lagen. Diese Frage verdient die allergrößte Aufmerksamkeit. Der Prozeß, der sich im letzten Jahrzehnt in den Mittelstandsschichten aller Länder abspielte, verdient weit mehr Aufmerksamkeit als die banale, bekannte Tatsache, daß der Faschismus extremste wirtschaftliche und politische Reaktion bedeutet. Mit dem letzten allein kann man politisch nichts anfangen, was ja auch die Geschichte zwischen 1928 und 1942 reichlich bewiesen hat.

Der Mittelstand geriet in Bewegung und trat in der Gestalt des Faschismus als gesellschaftliche Kraft auf. Es kommt deshalb nicht auf die reaktionäre Absicht der Hitler und Göring, sondern auf die sozialen Interessen der Mittelstandsschichten an. Der Mittelstand hat infolge seiner charakterlichen Struktur eine ungeheure soziale Macht, weit über seine wirtschaftliche Geltung hinaus. Es ist die Schicht, die nichts Geringeres als mehrere tausend Jahre Patriarchat konserviert und mit allen seinen Widersprüchen lebendig hält.

Daß eine faschistische Bewegung überhaupt existiert, ist zweifellos gesellschaftlicher Ausdruck des nationalistischen Imperialismus. Daß aber diese faschistische Bewegung zu einer Massenbewegung werden, ja an die Macht gelangen konnte, was die imperialistische Funktion erst erfüllt, ist die Wirkung der Massenbewegung des Mittelstandes. Nur unter Beachtung dieser Gegensätze und Widersprüche, jedes zu seiner Zeit, kann man die einander widersprechenden Erscheinungen des Faschismus erfassen.
Die soziale Stellung des Mittelstandes ist bestimmt:

a)   durch seine Stellung im kapitalistischen Produktionsprozeß,
b)   durch seine Stellung im autoritären Staatsapparat,
c)   durch seine besondere familiäre Situation, die unmittelbar von der Stellung im Produktionsprozeß bestimmt ist und den Schlüssel zum Verständnis seiner Ideologie abgibt.

Die Stellung des Kleinbauerntums, des Beamtentums und der mittleren Kaufmannschaft zeigt wirtschaftliche Verschiedenheiten, kennzeichnet sich aber durch eine in den Grundzügen gleichartige familiäre Situation.

Die rasche Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft im 19. Jahrhundert, die stetig und rasch fortschreitende Mechanisierung der Produktion, die Zusammenfassung der verschiedenen Produktionszweige in monopolistische Syndikate und Trusts sind die Grundlage der fortschreitenden Pauperisierung der kleinbürgerlichen Kaufleute und Gewerbetreibenden. Der Konkurrenz der billiger und rationeller arbeitenden Großindustrie nicht gewachsen, verfallen die kleinen Unternehmungen unrettbar.

Der Mittelstand hat von diesem System nichts anderes zu erhoffen als schonungslose Vernichtung. Darum also geht es: Ob alle in eine große graue und öde Masse von Proletariat versinken, wo alle dasselbe haben, nämlich nichts, oder ob die Kraft und der Fleiß den einzelnen wieder in die Lage versetzen sollen, sich in mühevoller Lebensarbeit ein Eigentum zu schaffen. Mittelstand oder Prolet! Darum geht es!

mahnten die Deutschnationalen vor der Reichspräsidentenwahl 1932. Die Nationalsozialisten gingen nicht so plump vor, eine breite Kluft zwischen Mittelstand und Industriearbeiterschaft in der Propaganda aufzureißen, und hatten damit mehr Erfolg.

In der Propaganda der NSDAP spielte der Kampf gegen die großen Kaufhäuser eine große Rolle. Doch der Widerspruch zwischen der Rolle, die der Nationalsozialismus für die Großindustrie spielte, und den Interessen des Mittelstandes, auf die er sich stützte, kam etwa in Hitlers Gespräch mit Knickerbocker zum Ausdruck: "Wir werden die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht von einem Kramladen abhängig machen (gemeint war das Schicksal von Woolworth in Berlin) ... die Existenz derartiger Unternehmungen bedeutet eine Förderung des Bolschewismus ... Sie zerstören viele kleine Existenzen. Deshalb werden wir sie nicht billigen, aber Sie können versichert sein, daß Ihre Unternehmungen dieser Art in Deutschland um nichts anders behandelt werden sollen als ähnliche deutsche Unternehmungen." Die ausländischen Privatschulden belasteten den Mittelstand ungeheuer. Während aber Hitler für die Zahlung der Privatschulden war, weil er außenpolitisch von der Erfüllung der Auslandsforderungen abhing, forderten seine Anhänger die Annullierung dieser Schulden. Das Kleinbürgertum rebellierte also "gegen das System", worunter es die "marxistische Herrschaft" der Sozialdemokratie verstand.

Sosehr nun diese Schichten des Kleinbürgertums in der Krise zum organisatorischen Zusammenschluß drängten, die wirtschaftliche Konkurrenz der kleinen Unternehmungen hatte sich doch gegen die Grundlegung eines Solidaritätsgefühls, dem des Industriearbeiters entsprechend, ausgewirkt. Schon infolge seiner sozialen Lage kann der Kleinbürger sich weder mit seiner sozialen Schichte noch auch mit dem Industriearbeiter solidarisieren; mit seiner eigenen Schichte nicht, weil da die Konkurrenz vorherrscht, mit dem Industriearbeiter nicht, weil er gerade die Proletarisierung am meisten fürchtet. Trotzdem bewirkte die faschistische Bewegung einen Zusammenschluß des Kleinbürgertums. Auf welcher massenpsychologischen Basis?

Die Antwort darauf gibt die soziale Stellung des kleinen und mittleren staatlichen und privaten Beamtentums. Der durchschnittliche Beamte ist wirtschaftlich schlechter gestellt als der durchschnittliche spezialisierte Industriearbeiter; diese schlechtere Stellung wird zum Teil wettgemacht durch die geringfügige Aussicht auf Karriere, beim Staatsbeamten vor allem durch die lebenslängliche Versorgung. Derart von der obrigkeitlichen Autorität abhängig, bildet sich in dieser Schichte eine Konkurrenzhaltung gegenüber den Kollegen heraus, die der Entwicklung von Solidarität entgegenwirkt. Das soziale Bewußtsein des Beamten ist nicht gekennzeichnet durch Schicksalsgemeinschaft mit seinen Arbeitskollegen, sondern durch seine Stellung zur staatlichen Obrigkeit und zur "Nation". Diese besteht in einer völligen Identifizierung mit der Staatsmacht, beim privaten Angestellten in einer Identifizierung mit dem Unternehmen, dem er dient. Er ist ebenso Untertan wie der Industriearbeiter. Weshalb entwickelt er kein Solidaritätsgefühl wie dieser? Das beruht auf seiner Zwischenstellung zwischen Obrigkeit und Handarbeiterschaft. Nach oben Untergebener ist er nach unten Vertreter dieser Obrigkeit und genießt als solcher eine besondere moralische (nicht materielle) Schutzstellung. Die restlose Ausbildung dieses massenpsychologischen Typs finden wir in den Feldwebeln der verschiedenen Armeen.

Die Macht dieser Identifizierung mit dem Dienstgeber erkennen wir in krasser Form bei Angestellten adeliger Häuser, Kammerdienern etc., die sich durch Übernahme von Haltung, Denkart, Auftreten der herrschenden Klasse restlos verändern und sogar, um die niedere Herkunft zu übertönen, dieses Wesen übertreiben.

Diese Identifizierung mit der Behörde, dem Unternehmen, dem Staat, der Nation etc., die sich in die Formel kleiden läßt: "Ich bin der Staat, die Behörde, das Unternehmen, die Nation", stellt eine psychische Realität dar und ist eines der besten Beispiele für eine zur materiellen Kraft gewordene Ideologie. Zunächst schwebt dem Angestellten, dem Beamten nur das Ideal, so wie der Vorgesetzte zu sein, vor, bis allmählich durch die chronische materielle Abhängigkeit sich das Wesen im Sinne der herrschenden Schichte umbaut. Ständig den Blick nach oben gerichtet, bildet der Kleinbürger eine Schere aus zwischen seiner wirtschaftlichen Lage und seiner Ideologie.

Er lebt in kleinen Verhältnissen, aber er tritt nach außen repräsentativ auf, dies oft bis zur Lächerlichkeit übertreibend. Er ernährt sich schlecht und ungenügend, aber er legt großen Wert auf "anständige Kleidung". Der Zylinder und der Bratenrock werden die materiellen Symbole dieser charakterlichen Struktur. Und weniges ist für die massenpsychologische Beurteilung einer Bevölkerung auf den ersten Blick geeigneter als die Beobachtung ihrer Kleidung. Durch den "Blick nach oben" unterscheidet sich die kleinbürgerliche Struktur spezifisch von der Struktur des Industriearbeiters.

Wie tief reicht nun diese Identifizierung mit der Autorität? Daß eine solche besteht, war bekannt. Die Frage ist aber, in welcher Weise außer unmittelbar wirkenden wirtschaftlichen Seinsfaktoren emotionelle Umstände die kleinbürgerliche Haltung unterbauen und derart festlegen, daß die kleinbürgerliche Struktur auch in Zeiten der Krise, auch in Zeiten, in denen die Arbeitslosigkeit die unmittelbare wirtschaftliche Basis zerstört, nicht ins Wanken gerät.

Wir sagten früher, daß die wirtschaftliche Stellung der verschiedenen Schichten des Kleinbürgertums eine verschiedene, ihre familiäre Lage aber in den Grundzügen die gleiche sei.

In dieser familiären Lage haben wir den Schlüssel zum emotionellen Unterbau der früher beschriebenen Struktur.

Familienbindung und nationalistisches Empfinden

Zunächst ist die familiäre Lage der verschiedenen Schichten des Kleinbürgertums nicht gesondert von ihrer unmittelbaren wirtschaftlichen Stellung. Die Familie bildet – das Beamtentum ausgenommen – gleichzeitig den wirtschaftlichen Kleinbetrieb. In dem Unternehmen des kleinen Kaufmannes arbeitet die Familie mit, werden doch dadurch fremde und teure Arbeitskräfte erspart. In der kleinen und mittleren Bauernwirtschaft ist das Zusammenfallen von Familie und Produktionsweise noch ausgesprochener. Darauf beruht im Grunde die Wirtschaftsweise des Großpatriarchats (z.B. die Zadruga). In der innigen Verflochtenheit von Familie und Wirtschaft liegt die Lösung der Frage, warum das Bauerntum "erdgebunden", "traditionell" und darum der politischen Reaktion so leicht zugänglich ist. Nicht als ob die Wirtschaftsweise allein die Erdgebundenheit und Tradition bedingte, sondern in dem Sinne, daß die Produktionsweise des Bauern eine strenge familiäre Bindung aller Familienmitglieder aneinander erfordert, und diese Bindung setzt weitgehende sexuelle Unterdrückung und Sexualverdrängung voraus. Erst auf dieser doppelten Basis erhebt sich dann das typische bäuerliche Denken, dessen Zentrum die patriarchalische Sexualmoral bildet. Ich habe an anderer Stelle die Schwierigkeiten geschildert, denen die sowjetische Regierung bei der Kollektivierung der Landwirtschaft begegnete; es war nicht nur die "Liebe zur Scholle", sondern ganz wesentlich die durch die Scholle vermittelte Familienbindung, die so große Schwierigkeiten bereitete.

Schon die Möglichkeit der Erhaltung eines gesunden Bauernstandes als Fundament der gesamten Nation kann niemals hoch genug eingeschätzt werden. Viele unserer heutigen Leiden sind nur die Folge des ungesunden Verhältnisses zwischen Stadt- und Landvolk. Ein fester Stock kleiner und mittlerer Bauern war noch zu allen Zeiten der beste Schutz gegen soziale Erkrankungen, wie wir sie heute besitzen. Dies ist aber auch die einzige Lösung, die eine Nation das tägliche Brot im inneren Kreislauf einer Wirtschaft finden läßt. Industrie und Handel treten von ihrer ungesunden führenden Stellung zurück und gliedern sich in den allgemeinen Rahmen einer nationalen Bedarfs- und Ausgleichswirtschaft ein. (Mein Kampf, S. 151-152)

Das war die Stellungnahme Hitlers. So unsinnig sie wirtschaftlich war, so wenig es der politischen Reaktion je gelingen kann, die Entwicklung der maschinellen Großlandwirtschaft und damit den Untergang der Kleinwirtschaften auszuschalten, so bedeutungsvoll ist diese Propaganda massenpsychologisch, so sehr wirkt sie auf die familiär gebundenen Strukturen der kleinbürgerlichen Schichten.

Die innige Verflochtenheit von Familienbindung und bäuerlicher Wirtschaftsform mußte nach der Machtergreifung durch die NSDAP ihren Ausdruck finden. Da die Hitlerbewegung ihrer Massenbasis und ideologischen Struktur nach eine Bewegung des Kleinbürgertums darstellte, war einer der ersten Schritte, die der Sicherung der Mittelschichten galten, der Erlaß über die "Neuordnung der bäuerlichen Besitzverhältnisse" vom 12. Mai 1933, der auf uralte Formen zurückgriff und von der "unlöslichen Verbundenheit von Blut und Boden" ausging.

Hier der Wortlaut einiger kennzeichnender Stellen:

Die unablösbare Verbundenheit von Blut und Boden ist die unerläßliche Voraussetzung für das gesunde Leben eines Volkes. Die bäuerliche Bodenverfassung früherer Jahrhunderte sicherte in Deutschland diese aus dem natürlichen Lebensgefühl des Volkes herausgeborene Verknüpfung auch gesetzlich. Der Bauernhof war das unveräußerliche Erbe des angestammten Bauerngeschlechts. Artfremdes Recht drang ein und zerstörte die gesetzliche Grundlage dieser bäuerlichen Verfassung. Trotzdem bewahrte der deutsche Bauer mit gesundem Sinn für seines Volkes Lebensgrundlage im Wege der Sitte in vielen Gauen des Landes den Bauernhof von Geschlecht zu Geschlecht ungeteilt.

Unabweisbare Pflicht der Regierung des erwachten Volkes ist die Sicherung der nationalen Erhebung durch gesetzliche Festlegung der in deutscher Sitte bewahrten unauflöslichen Verbundenheit von Blut und Boden durch das bäuerliche Erbhofrecht.

Der in der Anerbenrolle des zuständigen Amtsgerichtes eingetragene land- und forstwirtschaftliche Besitzer (Erbhof) vererbt sich nicht dem Anerbenrecht. Der Eigentümer dieses Erbhofes heißt Bauer. Mehrere Erbhöfe hat ein Bauer nicht. Der Bauer hat nur ein Kind, welches den Erbhof übernehmen kann. Das ist der Anerbe. Die Miterben werden bis zur wirtschaftlichen Selbständigkeit vom Hof versorgt. Geraten sie unverschuldet in Not, so können sie auch in späteren Jahren noch auf dem Hof Zuflucht suchen (Heimatzuflucht). Ist der zur Eintragung in die Anerbenrolle geeignete Hof nicht eingetragen, so besteht das Recht zur Übernahme kraft Anerbenrechts.

Einen Erbhof kann als Bauer nur besitzen, wer deutscher Staatsbürger und deutschen Blutes ist. Deutschen Blutes ist nicht, wer unter seinen Vorfahren im Mannesstamm oder wer unter seinen übrigen Vorfahren bis ins vierte Glied eine Person jüdischer oder farbiger Herkunft hat. Deutschen Blutes im Sinne dieses Gesetzes ist aber selbstverständlich jeder Germane. Eine in Zukunft erfolgende Eheschließung mit einer Person nicht deutschen Blutes macht die Nachkommen dauernd unfähig, als Besitzer eines Erbhofes Bauer zu sein.

Das Gesetz hat den Zweck, die Bauernhöfe vor Überschuldung und schädlicher Zersplitterung im Erbgange zu schützen, um sie dauernd als Erbe in der Familie freier Bauern zu erhalten. Zugleich will das Gesetz auf eine gesunde Verteilung der landwirtschaftlichen Besitzgrößen hinwirken. Eine große Anzahl lebensfähiger kleiner und mittlerer Bauernhöfe, möglichst gleichmäßig über das ganze Land verteilt, ist für die Gesunderhaltung von Staat und Volk notwendig.

Welche Tendenzen drücken sich in diesem Gesetz aus? Das Gesetz stand in Widerspruch zu den Interessen der Großagrarier, die zur Aufsaugung der mittleren und kleineren Bauernwirtschaften auf eine immer größer werdende Teilung in Besitzer von Boden und besitzloses Landproletariat zielen. Dieser Widerspruch war aber reichlich wettgemacht durch ein zweites mächtiges Interesse der Großagrarier, den bäuerlichen Mittelstand zu erhalten, weil er die Massenbasis ihrer Macht darstellte. Nicht nur ist der Kleinbesitzer mit dem Großbesitzer als Privateigentümer identifiziert; das hätte wenig Gewicht, wenn nicht mit dem Klein- und Mittelbesitz eine ideologische Atmosphäre erhalten bliebe, die der kleinwirtschaftenden Familie, aus der die besten nationalistischen Krieger hervorzugehen pflegen und die die Frauen im Sinne der nationalistischen Ideologie strukturell verändert. Hier liegt der Hintergrund des vielgenannten "sittlich erhaltenden Einflusses des gesunden Bauerntums". Diese Frage ist aber eine sexualökonomische.

Die hier beschriebene Verflechtung von individualistischer Produktionsweise und autoritärer Familie im kleinen Bürgertum ist eine der vielen Quellen der faschistischen Ideologie von der "kinderreichen Familie". Diese Frage wird in anderem Zusammenhange noch wiederkehren.

Der wirtschaftlichen Abgrenzung der kleinen Betriebe gegeneinander entspricht die familiäre Abkapselung und die Konkurrenz der Familien untereinander, die für das Kleinbürgertum typisch sind, trotz der Ideologie "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" und dem "korporativen Gedanken" des Faschismus. Die Kernelemente der faschistischen Ideologie bleiben individualistisch, wie das "Führerprinzip", die Familienpolitik etc. Das Kollektivistische im Faschismus entstammt den sozialistischen Tendenzen aus der Massenbasis, wie das Individualistische den Interessen des Großkapitals und der faschistischen Führung entstammt.

Diese wirtschaftliche und familiäre Situation wäre in Anbetracht der natürlichen Organisation der Menschen unhaltbar, wenn sie nicht durch weitere Tatbestände gesichert wäre. Dazu gehört ein bestimmtes Verhältnis von Mann und Frau, das wir als das patriarchalische bezeichnen, und eine bestimmte sexuelle Lebensweise.

In seinem Bestreben, sich vom Handarbeiter abzugrenzen, kann das städtische Kleinbürgertum, da es wirtschaftlich nicht besser gestellt ist als die Industriearbeiterschaft, nur auf seine familiären und sexuellen Lebensformen sich stützen, die es dann in bestimmter Weise ausbaut. Was wirtschaftlich unzulänglich ist, muß sexualmoralisch kompensiert werden. Dieses Motiv ist beim Beamtentum das wirksamste Element seiner Identifizierung mit der Staatsmacht. Da man nicht so gestellt ist wie das Großbürgertum, gleichzeitig aber mit ihm identifiziert ist, müssen die sexualmoralischen Ideologien wettmachen, was die wirtschaftliche Lage nimmt. Die sexuellen und die von ihnen abhängigen kulturellen Lebensformen dienen im wesentlichen der Abgrenzung gegen unten.

Die Summe dieser moralischen Haltungen, die sich um die Stellung zum Sexuellen gruppieren und gemeinhin als "Spießertum" bezeichnet werden, gipfelt in den Vorstellungen – wir sagen Vorstellungen, nicht Taten – von Ehre und Pflicht.

Man muß die Wirkung dieser beiden Worte auf das Kleinbürgertum richtig einschätzen, um es auch der Mühe wert zu halten, sich mit ihnen eingehend zu beschäftigen. Kehren sie doch auch in der faschistischen Diktatur-Ideologie und Rassentheorie immer wieder. Praktisch zwingen ja gerade die kleinbürgerliche Daseinsweise und der kleinbürgerliche Warenverkehr vielfach das gerade gegenteilige Verhalten auf. In der privaten Warenwirtschaft gehört ein Stück Unehrenhaftigkeit sogar zur Existenz. Kauft ein Bauer ein Pferd, so wird er es in jeder Weise entwerten. Verkauft er das gleiche Pferd ein Jahr später, so wird es jünger, besser und tüchtiger geworden sein als ein Jahr vorher. Die "Pflicht" beruht auf Geschäftsinteressen und nicht auf nationalen Charaktereigenschaften. Die eigene Ware wird immer die beste sein, die fremde immer die schlechtere. Die Entwertung des Konkurrenten, meist eine jeder Ehrlichkeit bare Handlung, ist ein wesentliches Werkzeug des "Geschäfts". Auftreten und Benehmen der kleinen Geschäftsleute zeugen in Überhöflichkeit und in Unterwerfung unter den Kunden von dem grausamen Zwang der wirtschaftlichen Daseinsweise, die den besten Charakter auf die Dauer verbiegen muß. Trotzdem spielt der Begriff der "Ehre" und der "Pflicht" im Kleinbürgertum eine so entscheidende Rolle. Das läßt sich aus Verdeckungsabsichten grob materieller Herkunft nicht allein erklären. Denn bei aller Heuchelei, die Ekstase dabei ist echt. Es fragt sich nur, aus welchen Quellen sie strömt.
Sie kommt aus Quellen des unbewußten Gefühlslebens, die man zunächst nicht beachtet, deren Zusammenhang vor allem mit jener Ideologie man typisch und gern übersieht. Die Analyse des Kleinbürgers läßt aber keinen Zweifel über die Bedeutung des Zusammenhanges seines sexuellen Lebens mit seiner Ideologie von "Pflicht" und "Ehre".

Zunächst spiegelt sich die staatliche und ökonomische Stellung des Vaters in seinem patriarchalischen Verhältnis zur übrigen Familie wieder. Der autoritäre Staat hat als seinen Vertreter in jeder Familie den Vater, wodurch sie sein wertvollstes Machtinstrument wird.

Die autoritäre Stellung des Vaters gibt seine politische Rolle wieder und enthüllt die Beziehung der Familie zum autoritären Staat. Die gleiche Stellung, die der Vorgesetzte dem Vater gegenüber im Produktionsprozeß einnimmt, hält dieser innerhalb der Familie fest. Und seine Untertanenstellung zur Obrigkeit erzeugt er neu in seinen Kindern, besonders seinen Söhnen. Aus diesen Verhältnissen strömt die passive, hörige Haltung der kleinbürgerlichen Menschen zu Führergestalten. Hitler baute, ohne es in der Tiefe zu ahnen, auf diese Haltungen der kleinbürgerlichen Massen, wenn er schrieb:

Das Volk ist in seiner überwiegenden Mehrheit so feminin veranlagt und eingestellt, daß weniger nüchterne Überlegung, vielmehr gefühlsmäßige Empfindung sein Denken und Handeln bestimmt. Diese Empfindung aber ist nicht kompliziert, sondern sehr einfach und geschlossen. Es gibt hier nicht viel Differenzierungen, sondern ein Positiv oder ein Negativ, Liebe oder Haß, Recht oder Unrecht, Wahrheit oder Lüge, niemals aber halb so und halb so oder teilweise usw. (Mein Kampf, S. 201)

Es handelt sich nicht um eine "Veranlagung", sondern um ein typisches Beispiel der Reproduktion eines autoritären gesellschaftlichen Systems in den Strukturen seiner Mitglieder.

Diese Stellung des Vaters erfordert nämlich strengste Sexualeinschränkung der Frauen und Kinder. Entwickeln die Frauen unter kleinbürgerlichen Einflüssen eine resignierende Haltung, die unterbaut ist von verdrängter sexueller Rebellion, so die Söhne neben einer untertänigen Stellung zur Autorität gleichzeitig eine starke Identifizierung mit dem Vater, die später zur gefühlsbetonten Identifizierung mit jeder Obrigkeit wird. Es wird noch lange ein ungelöstes Rätsel bleiben, wie es möglich ist, daß die Herstellung der psychischen Strukturen der tragenden Schichte einer Gesellschaft genauso in das ökonomische Gefüge und zu den Zwecken der herrschenden Mächte paßt wie die Teile einer Präzisionsmaschine. Was wir als massenpsychologische strukturelle Reproduktion des ökonomischen Systems einer Gesellschaft beschreiben, ist jedenfalls der Kernmechanismus des Prozesses der politischen Ideenbildung.

Zur Entwicklung der Struktur des Kleinbürgertums trägt die wirtschaftliche und soziale Konkurrenzeinstellung erst sehr spät bei. Was hier an reaktionären Ideologien gebildet wird, baut sich sekundär auf psychischen Prozessen auf, die sich schon im Kleinkind abspielen, das im autoritären Familienmilieu aufwächst. Da ist zunächst die Konkurrenz zwischen den Kindern und den Erwachsenen, ferner die weittragendere zwischen den Kindern ein und derselben Familie in ihrer Beziehung zu den Eltern. Diese Konkurrenz, die später in der Erwachsenheit und im außerfamiliären Leben eine überwiegend wirtschaftliche ist, spielt sich in der Kindheit hauptsächlich an den stark gefühlsbetonten Haß-Liebesbeziehungen der Familienmitglieder ab. Hier ist nicht der Ort, diese Zusammenhänge in ihre Details zu verfolgen. Das ist Spezialuntersuchungen vorbehalten. Hier genügt die Feststellung: Die sexuellen Hemmungen und Schwächungen, die die wichtigsten Voraussetzungen des Bestehens der autoritären Familie bilden und die wesentlichsten Grundlagen der Strukturbildung des kleinbürgerlichen Menschen sind, werden mit Hilfe der religiösen Angst durchgesetzt, die sich derart mit sexuellem Schuldgefühl erfüllt und gefühlsmäßig tief verankert. Hier zweigt das Problem der Beziehung der Religion zur Verneinung der sexuellen Lust ab. Die sexuelle Schwäche hat eine Herabsetzung des Selbstbewußtseins zur Folge, die in dem einen Falle durch Brutalisierung des Geschlechtlichen, im anderen durch starre Charakterzüge wettgemacht wird. Der Zwang zur sexuellen Selbstbeherrschung, zur Aufrechterhaltung der sexuellen Verdrängung, führt zur Entwicklung krampfhafter, besonders gefühlsmäßig betonter Vorstellungen von Ehre und Pflicht, Tapferkeit und Selbstbeherrschung. Die Krampfhaftigkeit und Affektbetontheit dieser psychischen Haltungen steht aber in seltsamem Widerspruch zur Wirklichkeit des persönlichen Verhaltens. Der genital befriedigte Mensch ist ehrenhaft, pflichtbewußt, tapfer und beherrscht, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Diese Haltungen sind in seiner Persönlichkeit organisch eingebaut. Der genital Geschwächte, in seiner Sexualstruktur Widerspruchsvolle, muß sich ständig mahnen, seine Sexualität zu beherrschen, seine sexuelle Ehre zu wahren, tapfer gegen Versuchungen zu sein u.s.f. Den Kampf gegen die Versuchung der Onanie macht ausnahmslos jeder Jugendliche und jedes Kind durch. In diesem Kampf entwickeln sich ausnahmslos alle Strukturelemente des reaktionären Menschen. Im Kleinbürgertum ist diese Struktur am stärksten ausgebildet und am tiefsten verwurzelt. Aus dieser zwangsmäßigen Unterdrückung des Geschlechtslebens bezieht die Mystik jeder Art ihre stärksten Energien und zum Teil auch ihre Inhalte. Sofern die Schichten der Industriearbeiterschaft von den gleichen Einflüssen der Gesellschaft erfaßt sind, bilden auch ihre Angehörigen die entsprechenden Haltungen aus; doch sind in der Industriearbeiterschaft infolge ihrer speziellen, vom Kleinbürgertum unterschiedenen Daseinsweise die gegenteiligen sexualbejahenden Kräfte weit deutlicher ausgeprägt und auch bewußter. Die affektive Verankerung dieser Strukturen mit Hilfe unbewußter Angst, ihre Verschleierung durch vollkommen asexuell aussehende Charakterzüge sind dafür verantwortlich, daß man mit Argumenten des Verstandes allein an diese tiefen Schichten der Persönlichkeit nicht herankommt. Welche Bedeutung diese Feststellung für die praktische Sexualpolitik hat, werden wir im letzten Kapitel besprechen.
Der unbewußte Kampf gegen die eigenen sexuellen Ansprüche kann in seiner Bedeutung für die Züchtung metaphysischen und mystischen Denkens hier nicht im einzelnen behandelt werden. Wir erwähnen nur eine solche Art, die für die nationalsozialistische Ideologie typisch ist. Immer wieder wird eine Reihe aufgezählt: persönliche Ehre, Sippenehre, Stammesehre, Volksehre. Sie ist folgerichtig, aufgestellt nach der Reihenfolge der Stufen in der individuellen Strukturbildung. Sie unterläßt es nur, den ökonomisch-soziologischen Boden einzubeziehen: Kapitalismus bzw. Patriarchat – Zwangsehe-Institution – Sexualunterdrückung – persönlicher Kampf gegen die eigene Sexualität, persönliches kompensatorisches Ehrgefühl etc. Der äußerste Punkt der Reihe ist die Ideologie der "Volksehre". Sie ist identisch mit dem irrationalen Kern des Nationalismus. Zu seinem Verständnis bedarf es aber einer weiteren Ableitung.

Der Kampf gegen die Sexualität der Kinder und Jugendlichen von seiten der autoritären Gesellschaft und der von ihr abhängige Kampf im eigenen Ich spielt sich im Rahmen der autoritären Familie ab, die sich bisher als die beste Institution erwies, diesen Kampf auch erfolgreich durchzuführen. Die sexuellen Ansprüche drängen natürlicherweise zu jeder Art Berührung mit der Welt, zu innigem Kontakt mit ihr in den verschiedensten Formen. Werden sie unterdrückt, so bleibt ihnen nur die Möglichkeit, sich im engen Familienrahmen zu betätigen. Sexuelle Hemmung ist ebenso die Grundlage der familiären Abkapselung der Individuen, wie sie die Grundlage des individualistischen Persönlichkeitsbewußtseins ist. Man muß streng beachten, daß metaphysisches, individualistisches und familiär sentimentales Verhalten nur verschiedene Seiten ein und desselben Grundprozesses der Sexualverneinung sind, während der Wirklichkeit zugewandtes, unmystisches Denken mit lockerer Haltung zur Familie und zumindest Gleichgültigkeit gegenüber asketischer Sexualideologie einhergeht. Wichtig ist hier, daß die sexuelle Hemmung das Mittel der Bindung an die autoritäre Familie ist, daß die Versperrung des Weges in die sexuelle Wirklichkeit die ursprüngliche biologische Bindung des Kindes an die Mutter und auch der Mutter an die Kinder zur unlösbaren sexuellen Fixierung und zur Unfähigkeit, andere Bindungen einzugehen, gestaltet. Im Kern der Familienbindung wirkt die Mutterbindung. Die Vorstellungen von Heimat und Nation sind in ihrem subjektiv-gefühlsmäßigen Kern Vorstellungen von Mutter und Familie. Die Mutter ist die Heimat des Kindes im Bürgertum, wie die Familie seine "Nation im kleinen" ist. So wird verständlich, aus welchem Grunde der Nationalsozialist Goebbels als Motto zu seinen zehn Geboten im nationalsozialistischen Volkskalender 1932 folgende Worte wählte, zweifellos ohne Kenntnis der tieferen Zusammenhänge: "Die Heimat ist die Mutter Deines Lebens, vergiß das nie." Zum "Muttertag" 1933 hieß es im Angriff:

Muttertag. Die nationale Revolution hat alles Kleinliche weggefegt! Ideen führen wieder und führen zusammen. – Familie, Gesellschaft, Volk. Die Idee des Muttertages ist dazu angetan, das zu ehren, was die deutsche Idee versinnbildlicht: Die deutsche Mutter! Nirgendwo fällt der Frau und Mutter diese Bedeutung zu als im neuen Deutschland. Sie ist die Wahrerin eines Familienlebens, aus dem die Kräfte sprießen, die unser Volk wieder aufwärts führen sollen. Sie – die deutsche Mutter – ist die alleinige Trägerin deutschen Volksgedankens. Mit dem Begriff "Mutter" ist "Deutschsein" ewig verbunden – kann uns etwas enger zusammenführen als der Gedanke gemeinsamer Mutterehrung?

So unwahr diese Sätze wirtschaftlich und sozial sind, so sehr treffen sie strukturell zu. Das nationalistische Empfinden ist demnach die direkte Fortsetzung der familiären Bindung und wurzelt wie diese zuletzt in der fixierten Mutterbindung. Das ist nicht biologisch auszulegen. Denn diese Mutterbindung ist selbst, soweit sie sich zu familiärer und nationalistischer Bindung fortentwickelt, gesellschaftliches Produkt. Sie würde in der Pubertät anderen Bindungen – etwa natürlichen Sexualbeziehungen – Platz machen, wenn nicht die sexuellen Einschränkungen des Liebeslebens sie verewigen würden. Erst in dieser gesellschaftlich begründeten Verewigung wird sie die Grundlage des Nationalgefühls des erwachsenen Menschen, erst hier wird sie zu einer reaktionären gesellschaftlichen Kraft. Wenn die Industriearbeiterschaft weit geringere nationale Einstellungen entwickelt als das Kleinbürgertum, so ist das seiner verschiedenen sozialen und dementsprechend lockeren familiären Daseinsweise zuzuschreiben.

Man komme jetzt nicht ängstlich mit dem Vorwurf, daß wir die Soziologie biologisieren, denn wir haben keinen Augenblick vergessen, daß diese verschiedene familiäre Daseinsweise der Industriearbeiterschaft selbst durch seine Stellung im Produktionsprozeß der Gesellschaft bedingt ist. Man muß sich doch die Frage vorlegen, weshalb die Industriearbeiterschaft dem Internationalismus spezifisch zugänglich ist, das Kleinbürgertum dagegen so stark dem Nationalismus zuneigt. In der objektiven ökonomischen Lage läßt sich der unterschiedliche Faktor erst dann feststellen, wenn man die früher beschriebenen Beziehungen ihrer Ökonomie und ihres familiären Daseins einbezieht. Anders nicht. Das merkwürdige Sträuben der marxistischen Theoretiker, das familiäre Dasein als gleichwertigen, was die Verankerung des Gesellschaftssystems anlangt, sogar entscheidenden Faktor der Strukturbildung anzusehen, ist auf die eigenen familiären Bindungen zurückzuführen. Man kann die Tatsache, daß die familiäre Bindung die intensivste und affektvollste ist, nicht hoch genug einschätzen.

Die wesenhafte Einheit von familiärer und nationalistischer Ideologie läßt sich weiter verfolgen. Die Familien sind ebenso gegeneinander abgegrenzt wie die Nationen. Die Grundlagen hierfür sind in beiden Fällen letzten Endes wirtschaftliche Motive. Die Familie des Kleinbürgers (Beamten, kleinen Angestellten usw.) steht unter dem ständigen Druck von Nahrungs- und sonstigen materiellen Sorgen. Die wirtschaftliche Expansionstendenz der kinderreichen Kleinbürgerfamilie reproduziert somit gleichzeitig die imperialistische Ideologie: "Nation braucht Raum und Nahrung." Deshalb muß der Kleinbürger der imperialistischen Ideologie besonders leicht zugänglich sein. Er vermag sich mit der personifiziert gedachten Nation voll zu identifizieren. Derart reproduziert sich der staatliche Imperialismus ideologisch im familiären Imperialismus.

In diesem Zusammenhang interessant sind Sätze von Goebbels aus der Broschüre Die verfluchten Hakenkreuzler (Eher-Verlag, München, S. 18 u. S. 16), die er als Antwort auf die Frage, ob der Jude ein Mensch sei, schrieb:

Wenn jemand deine Mutter mit der Peitsche mitten durchs Gesicht schlägt, sagst du dann auch: Danke schön! Er ist auch ein Mensch!? Das ist kein Mensch, das ist ein Unmensch! Wieviel Schlimmeres hat der Jude unserer Mutter Deutschland (v. Ref. gesp.) angetan und tut es ihr heute noch an! Er (der Jude) hat unsere Rasse verdorben, unsere Kraft angefault, unsere Sitte unterhöhlt und unsere Kraft gebrochen ... Der Jude ist der plastische Dämon des Verfalls ... beginnt sein verbrecherisches Schächtwerk an den Völkern.

Man muß die Bedeutung der Vorstellung von der Kastration als der Strafe für sexuelles Begehren kennen, man muß den sexualpsychologischen Hintergrund der Ritualmordphantasien wie des Antisemitismus überhaupt erfassen und zudem das sexuelle Schuldgefühl und die sexuelle Angst des reaktionären Menschen richtig einschätzen, um beurteilen zu können, wie solche vom Schreiber unbewußt abgefaßten Sätze auf das unbewußte Gemütsleben der Leser aus den Massen einwirken. Hier liegt die psychologische Wurzel des Antisemitismus der Nationalsozialisten. Das sollten nur Vernebelungsaktionen sein? Gewiß, auch Vernebelung. Man übersah, daß der Faschismus ideologisch das Aufbäumen einer sexuell ebenso wie wirtschaftlich todkranken Gesellschaft gegen die schmerzhaften, aber entschiedenen Tendenzen revolutionären Denkens zur sexuellen ebenso wie ökonomischen Freiheit ist, einer Freiheit, bei deren bloßen Vorstellung den reaktionären Menschen Todesangst überkommt. Das heißt: Mit der Herstellung der ökonomischen Freiheit der Arbeitenden geht eine Auflösung der alten, insbesondere sexuellen Einrichtungen einher, der der reaktionäre Mensch und auch der Industriearbeiter, soweit er reaktionär fühlt, nicht ohne weiteres gewachsen ist. Insbesondere die Angst vor der "sexuellen Freiheit", die sich in der Vorstellung des reaktionären Denkens als sexuelles Chaos und sexuelle Verlotterung darstellt, wirkt sich hemmend gegenüber der Sehnsucht nach Freiheit vom Joch der wirtschaftlichen Ausbeutung aus. Das gilt nur so lange, als eben diese Vorstellung vom sexuellen Chaos besteht. Und sie kann nur bestehen infolge der Ungeklärtheit dieser so sehr entscheidenden Fragen in den Menschenmassen. Daher gehört die Sexualökonomie in das Zentrum jeder Ordnung gesellschaftlicher Verhältnisse überhaupt. Je weiter und tiefer die reaktionäre Strukturierung der arbeitenden Massen gegriffen hat, desto entscheidendere Bedeutung gewinnt die sexualökonomische Arbeit an der Erziehung der Menschenmassen zu sozialer Verantwortung.

In diesem Zusammenspiel der wirtschaftlichen und strukturellen Tatbestände stellt sich die autoritäre Familie als erste und wesentlichste Reproduktionsstätte jeder Art reaktionären Denkens, als reaktionäre Ideologie- und Strukturfabrik dar. Der "Schutz der Familie", d. h. der autoritären und kinderreichen Familie, ist daher das erste Gebot jeder reaktionären Kulturpolitik. Dies verbirgt sich wesentlich hinter der Phrase des "Schutzes des Staates, der Kultur und der Zivilisation".

In einem Wahlaufruf der NSDAP zu den Präsidentenwahlen 1932 (Adolf Hitler: Mein Programm) hieß es:

Die Frau ist von Natur und Schicksal die Lebensgefährtin des Mannes. Beide sind dadurch aber nicht nur Lebens-, sondern auch Arbeitsgenossen. So wie die wirtschaftliche Entwicklung der Jahrtausende die Arbeitsbereiche des Mannes veränderte, veränderte sie logisch auch die Arbeitsgebiete der Frau. Über dem Zwang zur gemeinsamen Arbeit steht über Mann und Frau noch die Pflicht, den Menschen selbst zu erhalten. In dieser edelsten Mission der Geschlechter liegen auch ihre besonderen Veranlagungen begründet, die die Vorsehung in ihrer urewigen Weisheit als unveränderlich den beiden gab. Es ist daher die höchste Aufgabe, den beiden Lebensgefährten und Arbeitsgenossen auf der Welt die Bildung der Familie zu ermöglichen. Ihre endgültige Zerstörung würde das Ende jedes höheren Menschentums bedeuten. So groß die Tätigkeitsbereiche der Frau gezogen werden können, so muß doch das letzte Ziel einer wahrhaft organischen und logischen Entwicklung immer wieder in der Bildung der Familie liegen. Sie ist die kleinste, aber wertvollste Einheit im Aufbau des ganzen Staatsgefüges. Die Arbeit ehrt die Frau wie den Mann. Das Kind aber adelt die Mutter.

In dem gleichen Aufruf hieß es unter der Überschrift "Rettung des Bauernstandes heißt Rettung der deutschen Nation":

Ich sehe weiter in der Erhaltung und Förderung eines gesunden Bauerntums den besten Schutz gegen soziale Erkrankungen sowohl als gegen das rassische Verkommen unseres Volkes.

Man darf hier die traditionelle Familienbindung des Bauerntums keinen Augenblick vergessen, wenn man nicht fehlgehen will. Weiter:

Ich glaube, daß ein Volk zur Erhöhung seines Widerstandes nicht nur nach vernunftmäßigen Gründen leben soll, sondern daß es auch eines geistigen und religiösen Haltes bedarf. Die Vergiftung und Zersetzung des Volkskörpers durch die Erscheinungen unseres Kulturbolschewismus sind fast noch verheerender als die Wirkung des politischen und wirtschaftlichen Kommunismus.

Als eine Partei, die ebenso wie der italienische Faschismus von Interessen des Großagrariertums ihren Ausgang nahm, mußte die NSDAP die Massen der Klein- und Mittelbauern gewinnen, sich in ihnen eine soziale Basis schaffen. Dabei konnte sie natürlich nicht die Interessen des Großagrariertums zur Propaganda herausstreichen, sondern sie mußte an die Strukturen der Kleinbauern appellieren, wie sie durch Zusammenfallen der familiären und wirtschaftlichen Daseinsweise erzeugt wurden. Nur vom Standpunkt dieser Schichte des Kleinbürgertums gilt der Satz, daß Mann und Frau Arbeitsgenossen sind. Das gilt nicht für die Industriearbeiterschaft. Es gilt auch für den Bauern nur formal, denn die Bauernfrau ist in Wirklichkeit die Magd des Bauern. Die faschistische Ideologie vom hierarchischen Aufbau des Staates ist in dem hierarchischen Aufbau der Bauernfamilie vorgebildet und verwirklicht. Die Bauernfamilie ist eine Nation im kleinen, und jedes Mitglied dieser Familie ist mit dieser kleinen Nation identifiziert. Der Boden für die Aufnahme der großimperialistischen Ideologie ist somit in der Bauernschaft und überall dort im Kleinbürgertum, wo wirtschaftlicher Kleinbetrieb und Familie zusammenfallen, gegeben. Dabei fällt die Idealisierung der Mutterschaft auf. Wie hängt die Idealisierung mit der politischen Sexualreaktion zusammen?

...

Die sexualökonomischen Voraussetzungen der autoritären Familie

Da sich die autoritäre Gesellschaft mit Hilfe der autoritären Familie in den massenindividuellen Strukturen reproduziert, muß die autoritäre Familie von der politischen Reaktion als die Grundlage des "Staates der Kultur und der Zivilisation" angesprochen und verteidigt werden. Sie kann sich in dieser Propaganda auf tiefe irrationale Faktoren bei den Massen stützen. Der reaktionäre Politiker kann die tatsächlichen Absichten in seiner Propaganda nicht nennen. Die deutschen Massen hätten der Parole "Eroberung der Welt" nicht zugestimmt. In der politischen Propaganda, bei der es sich um massenpsychologische Wirkung handelt, hat man es nicht unmittelbar mit den ökonomischen Prozessen zu tun, sondern mit menschlichen Strukturen. Dieser Gesichtspunkt diktiert bestimmte Verhaltungsweisen in der mentalhygienischen Arbeit, und seine Vernachlässigung kann zu massenpsychologischen Fehlern führen. Die revolutionäre Sexualpolitik kann sich demnach nicht mit dem Herausstellen der objektiven Grundlagen der autoritären Familie begnügen, sie muß vielmehr, wenn sie massenpsychologisch richtig vorgehen will, sich auf die Sehnsucht in den Menschen nach Lebens- und Liebesglück stützen.

Vom Standpunkt der sozialen Entwicklung kann die Familie nicht als die Grundlage des autoritären Staates angesehen werden, sondern nur als eine seiner wichtigsten stützenden Institutionen. Wohl aber müssen wir sie als die zentrale reaktionäre Keimzelle ansprechen, als die wichtigste Produktionsstätte des reaktionären und konservativen Menschen. Selbst aufgrund bestimmter sozialer Prozesse entstanden und sich wandelnd, wird sie zur wesentlichsten Institution der Konservierung des sie bedingenden autoritären Systems. Hier sind heute wie ehedem die Funde von Morgan und Engels voll gültig. Doch uns interessiert in diesem Zusammenhange nicht die Geschichte der Familie, sondern die aktuelle sexualpolitisch wichtige Frage, welche Wege die Sexualökonomie einzuschlagen hat, um der reaktionären Sexual- und Kulturpolitik, in deren Zentrum die Frage der autoritären Familie mit soviel Erfolg gestellt ist, fruchtbar entgegenzutreten. Eine genaue Erörterung der Auswirkungen und Grundlagen der autoritären Familie ist um so notwendiger, als in dieser Frage auch in revolutionären Kreisen große Unklarheit herrscht.

Die autoritäre Familie enthält einen Widerspruch, dessen genaue Kenntnis von entscheidender Bedeutung für eine durchschlagende sexualökonomische Massenhygiene ist.
Zur Erhaltung der autoritären Familieninstitution gehört nicht nur die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau und der Kinder vom Mann und Vater. Diese Abhängigkeit ist für die Unterdrückten nur unter der Bedingung erträglich, daß das Bewußtsein, ein geschlechtliches Wesen zu sein, bei Frauen und Kindern so gründlich wie möglich ausgeschaltet wird. Die Frau darf nicht als Sexualwesen, sondern nur als Gebärerin erscheinen. Die Idealisierung der Mutterschaft, ihre Verhimmelung, die in so krassem Widerspruch steht zur Brutalität, mit der die Mütter des werktätigen Volkes in Wirklichkeit behandelt werden, dienen im wesentlichen als Mittel, in den Frauen das geschlechtliche Bewußtsein nicht aufkommen, die gesetzte Sexualverdrängung nicht durchbrechen, die sexuelle Angst und das sexuelle Schuldgefühl nicht untergehen zu lassen. Die Frau als Sexualwesen, dazu noch bejaht und anerkannt, würde den Zusammenbruch der gesamten autoritären Ideologie bedeuten. Die konservative Sexualreform hat immer den Fehler begangen, daß sie die Parole vom "Recht der Frau auf den eigenen Körper" nicht genügend konkretisiert, daß sie nicht eindeutig und unmißverständlich die Frau als sexuelles Wesen nannte und verteidigte, zumindest ebenso wie als Mutter. Sie hat fernerhin ihre Sexualpolitik überwiegend auf die Fortpflanzungsfunktion gestützt, statt die reaktionäre Gleichsetzung von Sexualität und Fortpflanzung aufzuheben. Deshalb konnte sie der Mystik nicht kräftig genug gegenübertreten.

Zur Stütze der autoritären Familie gehört die Ideologie vom "Segen des Kinderreichtums"; dies nicht nur im Interesse des kriegerischen Imperialismus, sondern ganz wesentlich mit der Absicht, die Sexualfunktion der Frau gegenüber ihrer Gebärfunktion in den Schatten zu stellen. Die Gegenüberstellung von "Mutter" und "Dirne", wie etwa beim Philosophen Weininger, entspricht der Gegensätzlichkeit von Geschlechtslust und Fortpflanzung im Sinne des reaktionären Menschen. Der Geschlechtsakt um der Lust willen entwürdigt nach dieser Auffassung die Frau und Mutter, und "Dirne" ist, wer die Lust bejaht und danach lebt. Die Auffassung, das Geschlechtsleben wäre nur im Dienst der Fortpflanzung moralisch, jenseits der Fortpflanzung gäbe es nichts, das zu bejahen wäre, ist der wichtigste Grundzug der reaktionären Sexualpolitik. Diese Auffassung ist nicht weniger reaktionär, wenn sie von Kommunisten, wie etwa Salkind und Stoliarow, vertreten wird.

Der Kriegsimperialismus fordert, daß in den Frauen keinerlei Auflehnung gegen die ihnen aufgehalste Funktion, nur Gebärmaschine zu sein, aufkomme. Das heißt, die Funktion der Sexualbefriedigung darf die der Fortpflanzung nicht stören; zudem würde eine sexualbewußte Frau niemals willig den reaktionären Parolen folgen, die ihre Versklavung beabsichtigen. Dieser Gegensatz von Sexualbefriedigung und Fortpflanzung gilt nur für die autoritäre Gesellschaft, nicht für die Arbeitsdemokratie; es kommt darauf an, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen die Frauen gebären sollen, unter günstigen, von der Gesellschaft betreuten Verhältnissen, oder unter Bedingungen, die keinen zureichenden Mutterschutz und Säuglingsschutz zulassen. Wenn also die Frauen ohne irgendwelchen Schutz der Gesellschaft, ohne Gewähr für die Sicherheit der Aufzucht ihrer Kinder willig gebären sollen, ohne selbst die Zahl der zu gebärenden Kinder bestimmen zu dürfen, willig, ohne Auflehnung gebären sollen, muß die Mutterschaft im Gegensatz zur sexuellen Funktion der Frau idealisiert werden.

Wenn wir also die Tatsache begreifen sollen, daß die Partei Hitlers, ebenso wie das Zentrum, sich trotzdem vorwiegend auf Frauenstimmen stützte, müssen wir den Irrationalismus begreifen. Der irrationale Mechanismus ist die Gegenüberstellung von Frau als Gebärerin und Frau als Sexualwesen. Wir verstehen dann gründlicher Stellungnahmen des Faschismus, wie etwa die folgende Art:

Die Erhaltung der schon vorhandenen kinderreichen Familie ist eine Angelegenheit des Sozialgefühls, die Erhaltung der kinderreichen Familienform eine solche biologischer Auffassung und völkischer Gesinnung. Die kinderreiche Familie ist nicht zu erhalten, weil sie hungert, sondern sie ist zu erhalten als hochwertiger, unentbehrlicher Bestandteil des deutschen Volkes. Hochwertig und unentbehrlich nicht nur, weil sie allein die Erhaltung der Volkszahlen in der Zukunft gewährleistet (objektive imperialistische Funktion, W. R.), sondern weil Volkssittlichkeit und Volkskultur in ihr die stärkste Stütze finden ... Die Erhaltung der lebenden kinderreichen Familien ist mit der Erhaltung des Typs der kinderreichen Familie verquickt, weil diese beiden Probleme tatsächlich nicht voneinander zu trennen sind ... Die Erhaltung der kinderreichen Familienform ist eine Forderung staats- und kulturpolitischer Notwendigkeit ... Diese Gesinnung widerspricht auch strikte der Aufhebung des Paragraph 218 und betrachtet empfangenes Leben als unantastbar. Denn die Freigabe der Schwangerschaftsunterbrechung widerspricht dem Sinn der Familie, deren Aufgabe ja gerade die Erziehung des Nachwuchses ist, und diese Freigabe würde endgültige Vernichtung der kinderreichen Familie überhaupt sein.

So schrieb der Völkische Beobachter am 14. Oktober 1931. Also auch in der Frage der Schwangerschaftsunterbrechung ist die reaktionäre Familienpolitik der Schlüsselpunkt, weit wesentlicher als die bisher in den Vordergrund geschobenen Faktoren des Interesses an industrieller Reservearmee und Kanonenfutter für den imperialistischen Krieg. Das Argument der Reservearmee hat in den Jahren der Wirtschaftskrise mit Erwerbslosenmassen von vielen Millionen in Deutschland, 1932 etwa 40 Millionen in der ganzen Welt, an Bedeutung fast völlig verloren. Wenn die politische Reaktion uns immer wieder sagt, die Aufrechterhaltung des Abtreibungsparagraphen sei notwendig im Interesse der Familie und der "sittlichen Ordnung", wenn der sozialdemokratische Sozialhygieniker Grothjan hier die gleiche Linie bezog wie die Nationalsozialisten, so müssen wir ihnen glauben, daß "autoritäre Familie" und "moralistische Sittlichkeit" entscheidend wichtige reaktionäre Kräfte sind. Wir dürfen sie nicht als unwesentlich beiseite schieben. Es geht um die Bindung der Frauen an die autoritäre Familie mit Hilfe der Unterdrückung ihrer sexuellen Bedürfnisse; es geht um den Einfluß, den diese Frauen auf ihre Männer im reaktionären Sinne ausüben; es geht um die Sicherstellung der Wirkung, die die reaktionäre Sexualpropaganda auf die Millionen sexuell Unterdrückter und diese Unterdrückung duldender Frauen hat. Man tut vom revolutionären Standpunkt aus unrecht, der Reaktion nicht überall dorthin zu folgen, wo sie ihre Wirkung entfaltet. Man muß sie dort schlagen, wo sie ihr System verteidigt. Das Interesse an der autoritären Familie als "staatserhaltender" Institution steht also an erster Stelle in allen Fragen der reaktionären Sexualpolitik. Es trifft zusammen mit dem gleichgerichteten Interesse aller Schichten des kleingewerbetreibenden Mittelstandes, für die die Familie die wirtschaftliche Einheit bildet, oder besser, seinerzeit gebildet hat. Von diesem Standpunkt sieht die faschistische Ideologie Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Von diesem durch die alte Wirtschaftsweise des Kleinbürgertums bestimmten Standpunkt ist auch die reaktionäre Sexualwissenschaft beherrscht, wenn sie an den Staat mit der Vorstellung, er sei ein "organisches Ganzes", herantritt. Für die Werktätigen in der modernen Zivilisation fallen Familie und soziale Daseinsweise auseinander, ist die Familie nicht wirtschaftlich verwurzelt; sie sind daher in der Lage, das Wesen des "Staates" als eine Zwangseinrichtung der Gesellschaft zu sehen; für ihre Sexualwissenschaft und ihre Sexualökonomie gilt nicht der "biologische" Standpunkt, daß der Staat ein "organisches Ganzes" sei. Sofern der Arbeitende sich dieser reaktionären Anschauung zugänglich erweist, beruht das auf dem Einfluß der autoritären familiären Erziehung, die er genossen hat. Und das Kleinbauerntum und Kleinbürgertum wäre der Einsicht in ihre gesellschaftliche Verantwortlichkeit zugänglicher, wenn nicht seine familiäre Situation organisch mit seiner wirtschaftlichen verflochten wäre.

In der Weltwirtschaftskrise zeigte es sich, daß sich mit dem wirtschaftlichen Ruin der kleinen Wirtschaften dieser Zusammenhang von Familie und Wirtschaft lockerte. Das Wesen der vielgenannten Tradition des Kleinbürgertums, nämlich ihre autoritär-familiäre Gebundenheit, wirkte sich nachträglich noch aus. Es mußte daher der faschistischen Ideologie von der "kinderreichen Familie" viel zugänglicher sein als der revolutionären von der Geburtenregelung, vor allem deshalb, weil die revolutionäre Bewegung keine Klarheit in diesen Fragen schuf und sie nicht in die vorderste Front stellte.

So eindeutig dieser Tatbestand ist, wir würden fehlgehen, wenn wir ihn nicht im Zusammenhange mit anderen ihm widersprechenden Tatbeständen beurteilen würden. Wir würden unausweichlich zu einer falschen Einschätzung gelangen, wenn wir die Widersprüche im Leben des sexualgehemmten Menschen übersehen würden. Zunächst ist der Widerspruch entscheidend zwischen dem sexualmoralischen Denken und Fühlen und der konkreten sexuellen Daseinsweise. Ein Beispiel: Im Westen Deutschlands gab es eine große Anzahl von Geburtenregelungsvereinen vorwiegend "sozialistischen" Charakters. In der Wolf-Kienle-Kampagne 1931 gab es Abstimmungen über den Abtreibungsparagraphen, wobei dieselben Frauen, die Zentrum oder NSDAP wählten, für die Abschaffung des Paragraphen waren, während ihre Parteien dagegen Sturm liefen. Diese Frauen stimmten für die sexualökonomische Geburtenregelung, weil sie sich ihre Sexualbefriedigung sichern wollten; aber gleichzeitig stimmten sie für ihre Parteien, nicht weil sie ohne Kenntnis von deren reaktionären Absichten waren, sondern weil sie gleichzeitig, ohne sich des Widerspruchs bewußt zu sein, erfüllt waren von der reaktionären Ideologie der "reinen Mutterschaft", des Gegensatzes von Mutterschaft und Geschlechtlichkeit, vor allem von der autoritären Ideologie. Diese Frauen wußten zwar nichts von der soziologischen Rolle der autoritären Familie in der Diktatur, aber sie standen unter dem Einfluß der Sexualpolitik der politischen Reaktion: sie bejahten die Geburtenregelung, aber sie fürchteten die Verantwortung, die ihnen die revolutionäre Welt aufbürdete.

Die Sexualreaktion bediente sich ja auch aller Mittel, die Sexualangst für ihre Zwecke auszunützen. Einer durchschnittlichen christlichen oder nationalistisch gesinnten Arbeiter- oder Kleinbürgerfrau mußte Propaganda folgender Art sich einprägen, wenn eine entsprechende sexualökonomische Gegenpropaganda von revolutionärer Seite fehlte.

Im Jahre 1918 gab die "Vereinigung zur Bekämpfung des Bolschewismus" ein Plakat heraus, das folgendermaßen lautete:

Deutsche Frauen!
Ahnt Ihr, womit Euch der Bolschewismus bedroht?
Der Bolschewismus will die Sozialisierung der Frauen:
1.  Das Eigentumsrecht auf Frauen zwischen 17 und 32 Jahren wird aufgehoben.
2.  Alle Frauen sind Eigentum des Volkes.
3.  Die bisherigen Eigentümer behalten außer der Reihe das Recht auf ihre Frauen.
4.  Jeder Mann, der ein Exemplar des Volkseigentums benützen will, bedarf einer Bescheinigung vom Arbeitskomitee.
5.  Der Mann hat kein Recht, eine Frau öfter als dreimal wöchentlich und länger als drei Stunden für sich in Anspruch zu nehmen.
6.  Jeder ist verpflichtet, die sich widersetzenden Frauen anzuzeigen.
7.  Jeder nicht zur Arbeiterklasse gehörende Mann hat für das Recht der Benutzung dieses Volkseigentums monatlich 100 Rubel zu zahlen.

Die Niedertracht solcher Propaganda ist ebenso klar wie ihre Lügenhaftigkeit, aber die erste Regung jeder Frau ist eindeutig entsetzte Ablehnung, die Regung fortschrittlicher Frauen dagegen etwa folgender Art: (Brief aus einer Arbeiterkorrespondenz):

Ich gebe zu, daß es nur einen Ausweg aus dem heutigen Elend gibt für uns Werktätige, und das ist der Sozialismus. Aber er muß in gewissen mäßigen Grenzen bleiben und nicht alles, was war, als schlecht und unnötig verwerfen. Sonst wird das zu einer Verwilderung der Sitten führen, die noch viel schrecklicher ist als die heutige traurige materielle Lage. Und leider wird vom Sozialismus ein sehr wichtiges, hohes Ideal angegriffen: die Ehe. Man will da volle Freiheit, volle Zügellosigkeit fordern, gewissermaßen den Sexualbolschewismus. Jeder Mensch soll sich dann frei und ohne Hemmung ausleben, austoben. Es soll nicht mehr die Zusammengehörigkeit von Mann und Frau geben, sondern man ist eben heute mit dem beisammen, morgen mit jenem, wie es einem gerade die Laune eingibt. Das nennt man Freiheit, freie Liebe, neue Sexualmoral. Aber diese schönen Namen können mich nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier große Gefahren lauern. Es werden die höchsten, edelsten Gefühle des Menschen dadurch beschmutzt: Die Liebe, die Treue, die Aufopferung. Es ist ganz unmöglich, es ist naturwidrig, daß ein Mann oder eine Frau zur gleichen Zeit mehrere andere lieben kann. Die Folge würde nur eine unabsehbare Verrohung sein, die die Kultur vernichtet. Ich weiß ja nicht, wie diese Dinge in der Sowjetunion aussehen, aber entweder sind die Russen besondere Menschen oder sie haben diese absolute Freiheit doch nicht erlaubt und es gibt dort auch gewisse Zwangsmaßnahmen. – So schön also die sozialistischen Theorien sind und so sehr ich in allen wirtschaftlichen Fragen mit euch übereinstimme, in der Sexualfrage komme ich nicht mit und dadurch zweifle ich oft an der ganzen Sache.

Dieser Brief gibt klar den Zwiespalt wieder, vor den sich jeder durchschnittliche Mensch gestellt sieht: Der sexuellen Zwangsmoral ist die sexuelle Anarchie gegenübergestellt. Er kennt nicht die sexualökonomische Regulierung des Geschlechtslebens, die der Zwangsmoral ebenso widerspricht wie der Anarchie. Unter schwerem Zwang stehend, reagiert er darauf mit promiskuen Impulsen; er wehrt sich gegen beide. Die Moral ist eine Last und der Trieb erscheint als Riesengefahr. Der autoritär erzogene und gehaltene Mensch kennt die natürlichen Gesetze der Selbststeuerung nicht, er hat kein Vertrauen zu sich selbst; er hat Angst vor seiner Sexualität, weil er nie gelernt hat, sie natürlich zu leben. Er lehnt daher jede Verantwortung für seine Handlungen und Entscheidungen ab und er fordert Direktion und Führung.

Die revolutionäre Bewegung hatte bisher mit ihrer Sexualpolitik deshalb keinen Erfolg im Verhältnis zu den Möglichkeiten einer konsequenten revolutionären Sexualpolitik, weil sie gegen die erfolgreichen Versuche der Reaktion, sich auf die sexualverdrängenden Mächte im Menschen zu stützen, nicht mit den entsprechenden Waffen reagierte. Hätte die Sexualreaktion einzig und allein ihre bevölkerungspolitischen Thesen propagiert, sie hätte keine Katze hinter dem Ofen hervorgelockt. Sie arbeitete jedoch erfolgreich mit der Sexualangst der Frauen und weiblichen Jugendlichen; sie verband geschickt ihre bevölkerungspolitischen Ziele mit den zwangsmoralischen Hemmungen der Bevölkerung, und dies in allen Kreisen. Die Hunderttausende christlich organisierter Arbeiter bewiesen das.

Hier noch ein Beispiel für die Propagandamethode der Reaktion:

In ihrem zerstörenden Feldzuge gegen die ganze bürgerliche Welt hatten die Bolschewiken von Anfang an ihr besonderes Augenmerk auf die Familie, "diesen besonders starken Überrest des verfluchten alten Regimes", gerichtet. Die Vollversammlung des Komintern vom 10. Juni 1924 erklärte schon: "Die Revolution ist machtlos, solange der Begriff Familie und Familienbeziehung bestehen". Infolge dieser Einstellung entbrannte auch sofort ein heftiger Kampf gegen die Familie. Bigamie und Polygamie sind nicht verboten und somit erlaubt. Das Verhalten der Bolschewiken zur Ehre wird durch folgende Definition des Ehebündnisses gekennzeichnet, die Professor Goichbarg vorgeschlagen hatte: "Die Ehe ist ein Institut für bequemere und weniger gefährliche Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse". Wie weit der Zerfall der Familie und Ehe unter den gegebenen Bedingungen geht, beweist die Statistik der allgemeinen Volkszählung 1927. Die Iswestija schreibt: "In Moskau hat die Volkszählung zahlreiche Fälle der Vielweiberei und Vielmännerei festgestellt. Fälle, wo zwei, ja sogar drei Frauen denselben Mann als ihren Ehegatten bezeichnen, können als eine alltägliche Erscheinung angesehen werden." Man darf sich nicht wundern, wenn der deutsche Professor Sellheim die Familienverhältnisse in Rußland folgendermaßen schildert: "Es ist ein vollkommener Rückfall in die Sexualordnung der grauen Vorzeit, aus der sich die Ehe und eine brauchbare Sexualordnung im Laufe der Jahrtausende entwickelt hat."

Das zwangsmäßige Ehe- und Familienleben wird auch durch Verkündigungen der völligen Freiheit des geschlechtlichen Verkehrs angegriffen. Die bekannte Kommunistin Smidowitsch stellte ein Schema der sexuellen Moral auf, nach dem sich besonders die Jugend beider Geschlechter betätigt. Das Schema enthält etwa folgendes:

1.  Jeder Student der Arbeiterfakultät, wenn auch minderjährig, ist berechtigt und verpflichtet, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.

2.  Wenn ein Mann ein junges Mädchen begehrt, sei es eine Studentin, eine Arbeiterin oder sogar ein Mädchen im schulpflichtigen Alter, so ist dieses Mädchen verpflichtet, sich dieser Begierde zu fügen, da sie sonst als Bürgerstochter angesehen wird, die nicht als echte Kommunistin gelten kann.

Die Prawda schreibt offen:

"Zwischen Mann und Frau gibt es bei uns nur sexuelle Beziehungen, wir erkennen keine Liebe an, die Liebe ist als etwas Psychologisches zu verachten, bei uns ist nur die Physiologie existenzberechtigt."

Infolge dieser kommunistischen Einstellung ist jede Frau oder jedes Mädchen verpflichtet, den sexuellen Trieb des Mannes zu befriedigen. Da das ja nun doch nicht immer ganz freiwillig geschieht, ist die Vergewaltigung von Frauen in Sowjetrußland geradezu eine Plage geworden.

Solche Lügen der politischen Reaktion können nicht dadurch außer Funktion gesetzt werden, daß man sie als Lügen entlarvt, gewiß auch nicht dadurch, daß man sich ihrer durch Beteuerungen erwehrt, man wäre ebenso "sittlich" wie sie, die Revolution zerstöre die autoritäre Familie und die Moralisterei nicht etc. Tatsache ist, daß sich das Geschlechtsleben in der Revolution verändert, daß sich die alte Zwangsordnung auflöst. Diese Tatsache darf man nicht ableugnen. Man kann auch nicht die sexualökonomische Stellung finden, wenn man im eigenen Lager asketische Einstellungen zu diesen Fragen duldet und sich auswirken läßt. Wir werden später noch genau darauf einzugehen haben.

Die freiheitliche Sexualpolitik unterließ es, die sexualökonomische Ordnung des Geschlechtslebens dauernd zu erklären und zu begründen, die Sexualangst der Frauen vor der geschlechtlichen Gesundheit zu begreifen und zu bewältigen, vor allem aber in den eigenen Reihen Klarheit zu schaffen durch konsequente und dauernde Scheidung der reaktionären von den sexualökonomischen Auffassungen. Die Erfahrung lehrt, daß jeder durchschnittliche Mensch der sexualökonomischen Ordnung des Geschlechtslebens zustimmt, wenn man sie ihm genügend klarmacht.

Von den Weltanschauungen der politischen Reaktion, die ökonomisch durch die wirtschaftliche Daseinsweise des Kleinbürgertums und ideologisch durch die Mystik gehalten wird, strahlt die antirevolutionäre Bewegung aus. Der Kern der Kulturpolitik der politischen Reaktion ist die Sexualfrage. Dementsprechend muß der Kern der revolutionären Kulturpolitik ebenfalls die Sexualfrage werden.

Die Sexualökonomie gibt die politische Antwort auf das Chaos, das durch den Widerspruch von Zwangsmoral und sexuellem Libertinismus geschaffen wurde.

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