Auszüge aus Martin E. P. Seligman's
"Erlernte Hilflosigkeit"

Über Depression, Entwicklung und Tod

Das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, hilflos zu sein, kann weitreichende Folgen haben: Depression, Angst und schließlich Apathie. Martin Seligmans bahnbrechende Untersuchung aus dem Jahre 1974 ist ein Standardwerk der Sozialwissenschaften. "Erlernte Hilflosigkeit ist ein vielseitig anwendbares Erklärungsmodell für die Entstehung psychischer Fehlentwicklungen und ihrer Bewältigung." Zeitschrift für Heilpädagogik

Über dieses Buch:
Hilflosigkeit. Über Depression, Entwicklung und Tod, wie der Titel der amerikanischen Originalausgabe lautet, ist 25 Jahre nach seinem Erscheinen bereits ein Klassiker, der Eingang in verschiedenste wissenschaftliche Disziplinen gefunden hat. Martin Seligmans bahnbrechender Erklärungsansatz, wie die Erfahrung von Unkontrollierbarkeit zu Hilflosigkeit und in Folge zu Depression, Angst und Apathie führt, war Ausgangspunkt unzähliger Untersuchungen und theoretischer Erklärungsmodelle sowohl in der Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie und Klinischen Psychologie wie auch in der Pädagogik und Soziologie. Die Bandbreite des Modells der "Erlernten Hilflosigkeit" reicht von der Erklärung psychopathologischer Symptome bis hin zur Erforschung gesellschaftlicher Zustände wie Armut und Arbeitslosigkeit. Das Buch von Seligman, der seine Theorie anhand von anschaulichen Beispielen entwickelt, ist ein Standardwerk der Sozialwissenschaften. Im Anhang stellt Franz Petermann neue Konzepte und Anwendungen der Theorie Seligmans vor.
Der Autor:
Martin E. P. Seligman ist Professor für Sozialpsychologie und Klinische Psychologie an der Universität von Pennsylvania.

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Einführung

Depressionen

Kürzlich bat mich eine Frau mittleren Alters um psychotherapeutische Behandlung. Jeder Tag, so sagte sie, sei ein einziger Kampf, nur um gerade so über die Runden zu kommen. An schlechten Tagen bringe sie es nicht einmal fertig, aus dem Bett aufzustehen, und wenn ihr Ehemann abends nach Hause komme, sei sie noch im Schlafanzug und habe kein Essen vorbereitet. Sie weine sehr viel; selbst Phasen besserer Stimmung würden von Gedanken an Versagen und Wertlosigkeit unterbrochen. Kleine, alltägliche Beschäftigungen wie Einkaufen oder Ankleiden kämen ihr sehr schwierig vor, und jedes kleinste Hindernis erscheine ihr wie eine unüberwindliche Barriere. Als ich sie darauf hinwies, daß sie eine gutaussehende Frau sei, und ihr vorschlug, sich ein neues Kleid zu kaufen, antwortete sie: "Das ist einfach viel zu schwer für mich. Ich müßte mit dem Bus durch die Stadt fahren und würde mich wahrscheinlich verirren. Selbst wenn ich tatsächlich zu dem Geschäft hinfände, so würde ich ja doch kein passendes Kleid finden. Was würde das Ganze letztlich auch bringen, ich bin doch wirklich so unattraktiv".

Sie geht und spricht langsam, und ihr Gesicht sieht traurig aus. Bis zum letzten Herbst war sie lebhaft und aktiv gewesen, war Vorsitzende des Elternbeirats in ihrem Vorort, eine charmante Gastgeberin, Tennisspielerin und Hobbydichterin. Dann geschah zweierlei: ihre Zwillingssöhne kamen aufs College und gingen damit zum ersten Mal von zu Hause fort, und ihr Mann wurde innerhalb seiner Firma auf eine Position mit größerem Verantwortungsbereich befördert, eine Position, die ihn häufiger von zu Hause fernhielt. Jetzt grübelt sie darüber nach, ob ihr Leben überhaupt noch lebenswert sei, und hat bereits mit dem Gedanken gespielt, den Inhalt ihrer Flasche Antidepressiva auf einmal zu schlucken.

Das Sonntagskind

Nancy kam mit einem glänzenden Abgangszeugnis von der Oberschule an die Universität. Sie war Klassensprecherin gewesen und ein beliebter und hübscher Cheerleader. Alles was sie wollte, war ihr stets in den Schoß gefallen; sie erzielte ohne Mühe gute Noten, und die jungen Männer traten sich gegenseitig auf die Füße im Wettstreit um ihre Gunst. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern; diese waren vernarrt in sie und beeilten sich, ihr jeden Wunsch zu erfüllen; Nancys Erfolge erlebten sie als ihren Triumph, Mißerfolge bereiteten ihnen Seelenqualen. Freunde gaben Nancy den Spitznamen "Sonntagskind".

Als ich Nancy in ihrem zweiten Studienjahr kennenlernte, war sie kein Sonntagskind mehr. Sie sagte, daß sie sich ganz leer fühle, daß sie alles unberührt lasse; ihre Kurse wären langweilig, und das ganze akademische System käme ihr wie eine tyrannische Verschwörung vor, um ihre Kreativität zu ersticken. Im vergangenen Semester hatte sie zweimal die Note "Sechs" bekommen. Sie hatte "es" mit einer ganzen Reihe von jungen Männern "gemacht" und lebte derzeit mit einem Gammler zusammen. Nach jedem sexuellen Kontakt fühlte sie sich ausgenutzt und wertlos; ihre derzeitige Beziehung hatte einen Tiefpunkt erreicht, und sie fühlte wenig mehr als Verachtung gegenüber ihrem Freund und gegenüber sich selbst. Sie hatte ausgiebig leichte Rauschmittel genommen und es anfangs auch genossen, von ihnen fortgetragen zu werden. Aber jetzt hatten selbst Drogen geringe Anziehungskraft.

Sie hatte als Hauptfach Philosophie belegt und fühlte sich in stark emotional gefärbter Weise vom Existentialismus angezogen: sie war wie die Existentialisten davon überzeugt, daß das Leben absurd sei und daß die Menschen selbst ihrem Leben einen Sinn geben müßten. Diese Überzeugung erfüllte sie mit Verzweiflung. Ihre Verzweiflung wuchs noch, als sie ihre eigenen Bemühungen, ihrem Leben einen Sinn zu geben – durch die Teilnahme an den Aktionen für Frauenemanzipation und gegen den Vietnamkrieg – als fruchtlos wahrnahm. Als ich sie darauf hinwies, daß sie doch eine begabte Studentin gewesen war und immer noch ein attraktiver und wertvoller Mensch sei, brach sie in Tränen aus: "Also habe ich Sie auch getäuscht".

Angst und Unvorhersagbarkeit

Während ich diese Zeilen schreibe, ist zwischen den Leserzuschriften im Reiseteil der Sonntagsausgabe der New York Times eine Debatte in vollem Gange. Sie mag manchem wie ein Sturm im Wasserglas vorkommen, ist aber zufällig von beträchtlicher theoretischer und praktischer Bedeutung. Eine Mrs. Samuels war Passagier an Bord einer Boeing 747 gewesen, die von Los Angeles nach New York flog; sie wandte sich mit einer Klage an die Times. Über den Rocky Mountains – sie wartete gerade darauf, daß das Mittagessen serviert würde – wurde den Passagieren mitgeteilt, daß man aus "technischen Gründen" eine nicht eingeplante Zwischenlandung in Chicago einschieben müsse. Einige Minuten später meldete sich der Pilot noch einmal: "Einige der Passagiere möchten gerne darüber aufgeklärt werden, was 'technische Gründe' wirklich bedeutet. Einer der Motoren ist ausgefallen, so daß eine Zwischenlandung aus Sicherheitsgründen angezeigt ist. Natürlich könnte das Flugzeug auch mit nur zwei Motoren bis New York weiterfliegen".

Mrs. Samuels berichtete, daß die Aufregung beträchtlich gewesen sei und meinte, daß man die Passagiere, die ja nun einmal dafür bezahlten, Entscheidungen dem Piloten zu überlassen, über ihre Lage hätte im Dunkeln lassen sollen; sie konnten ohnehin nichts an der Situation ändern außer einen erhöhten Blutdruck zu bekommen. Mrs. Samuels schloß mit der Frage: "Wie viele Leser denken wie ich über die freiwillige Offenheit des Piloten – wenn das Flugzeug wirklich nicht in Schwierigkeiten war, wie behauptet wurde? Und wie viele meinen andererseits, daß ihre Grundrechte verletzt werden, wenn sie überhaupt nichts erfahren?". Es ist interessant, daß die meisten Leser, die auf Mrs. Samuels Frage antworteten, die volle Wahrheit erfahren wollen, wenn es Schwierigkeiten gibt.

Versagen in der Kindheit

Victor ist ein neunjähriger Junge von außergewöhnlicher Intelligenz – zumindest denken seine Mutter und seine Freunde so. Sein Lehrer – Victor geht in die dritte Klasse einer rein schwarzen Grundschule in Philadelphia – ist gänzlich anderer Meinung. Zu Hause ist Victor lebendig, schlagfertig, gesprächig und geht aus sich heraus. Bei seinen Spielkameraden auf der Straße ist er der anerkannte Führer. Er ist zwar etwas kleiner als seine Spielkameraden, doch machen sein Charme und seine Phantasie seine geringe Körpergröße mehr als wett. Im Klassenzimmer ist Victor jedoch ein Problem. Er tat sich bereits schwer, als im Kindergarten und in der ersten Klasse der Leseunterricht begann. Er bemühte sich zwar, war aber einfach nicht fähig, die Verbindung zwischen dem Wort auf dem Papier und dem gesprochenen Wort herzustellen. Zunächst übte er fleißig, machte aber keine Fortschritte; er meldete sich oft, aber seine Antworten waren durchweg falsch. Je häufiger er versagte, um so widerwilliger versuchte er es von neuem; er beteiligte sich immer weniger am Unterricht. Im zweiten Schuljahr machte er im Musik- und Kunstunterricht lebhaft mit, verstummte aber stets, wenn es ans Lesen ging. Sein Lehrer erteilte ihm eine Weile zusätzlichen Unterricht, aber beide gaben bald auf. Zu diesem Zeitpunkt wäre Victor vielleicht fähig gewesen zu lesen, aber der bloße Anblick eines Wortkärtchens oder einer Fibel löste bei ihm trotziges Schweigen oder einen Wutanfall aus. Diese Haltung dehnte sich langsam auf den gesamten Schultag aus. In seinen Stimmungen schwankte er zwischen Mutlosigkeit und Widerspenstigkeit.

Dann ereignete sich im vergangenen Sommer etwas Erstaunliches. Zwei Psychologen einer nahegelegenen Universität kamen in die Schule, um einigen "lernschwierigen" Kindern das Lesen beizubringen. Natürlich wurde Victor mit einbezogen; wie gewöhnlich machte er keine Fortschritte. Schon der Anblick eines an die Tafel geschriebenen Satzes versetzte ihn in eine seiner Launen. Daraufhin versuchten die Wissenschaftler etwas anderes: sie schrieben ein chinesisches Schriftzeichen an die Tafel und sagten dazu, dies heiße "Messer". Victor lernte es sofort; dann schrieben sie das Zeichen für "scharf" auf. Auch das lernte er. Innerhalb von wenigen Stunden las Victor in chinesische Schriftzeichen "kodierte" englische Sätze und kurze Abschnitte. Inzwischen ist der Sommer vorüber, und die Wissenschaftler sind an die Universität zurückgekehrt. Victor verfügt über einen Wortschatz von 150 Schriftzeichen, kann aber weder Englisch lesen noch schreiben. Er macht noch mehr Schwierigkeiten in der Schule, und sein neuer Lehrer hält ihn für geistig behindert.

Plötzlicher psychosomatischer Tod

1967 kam eine Frau kurz vor ihrem 23. Geburtstag völlig aufgelöst ins Städtische Krankenhaus von Baltimore gelaufen und bat um Hilfe. Sie und zwei andere Mädchen hatten, wie es schien, verschiedene Mütter, waren aber bei derselben Hebamme an einem Freitag, dem 13., im Okefenokee-Sumpf zur Welt gekommen. Die Hebamme hatte alle drei Babys verflucht und prophezeit, daß die eine vor ihrem 16. Geburtstag, die zweite vor ihrem 21. Geburtstag und die dritte vor ihrem 23. Geburtstag sterben würde. Die erste war mit 15 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen; die zweite war am Abend vor ihrem 21. Geburtstag bei einer Schlägerei in einem Nachtclub versehentlich erschossen worden. Nun wartete die dritte voller Entsetzen auf ihren eigenen Tod.

Die Klinik nahm sie etwas skeptisch zur Beobachtung auf. Am nächsten Morgen, zwei Tage vor ihrem 23. Geburtstag, wurde sie tot in ihrem Klinikbett aufgefunden – ohne erkennbare organische Todesursache.

***

Was haben nun alle diese Beispiele gemeinsam? Sie alle veranschaulichen Aspekte menschlicher Hilflosigkeit. Wenn der Leser sie nach der Lektüre dieses Buches besser versteht, habe ich mein Ziel erreicht. Um das Grundgerüst des Buches deutlich zu machen, folgt nun eine Zusammenfassung der Zielsetzung und Schlußfolgerungen der einzelnen Kapitel.
Um sich mit Problemen wie dem plötzlichen Tod und Depression, mit Ängsten und mit der Vorhersagbarkeit von Gefahren, mit Mißerfolgserlebnissen in der Kindheit und mit der Entwicklung der Motivation auseinandersetzen zu können, muß der Leser zunächst jene Konzepte beherrschen, die zum Verständnis von Hilflosigkeit notwendig sind. Im nachfolgenden Kapitel werden die Begriffe der Hilflosigkeit und Unkontrollierbarkeit definiert, analysiert und zu lerntheoretischen Konzepten in Beziehung gesetzt. Wenn der zu behandelnde Gegenstand definiert ist, werden dem Leser im dritten Kapitel beispielhaft Experimente zur Hilflosigkeit vorgestellt. Laborexperimente zur Hilflosigkeit führen zu drei Störungen oder Defiziten: die Motivation zu reagieren wird untergraben, es wird langsamer gelernt, daß eigene Reaktionen Konsequenzen bewirken, und es kommt zu emotionalen Störungen, vor allem zu Depression und Ängsten.
In Kapitel 4 stelle ich eine einheitliche Theorie vor, die die motivationalen, kognitiven und emotionalen Störungen integriert, die in den zugrunde liegenden Experimenten zur Hilflosigkeit beobachtet wurden. Darüber hinaus lassen sich aus dieser Theorie Ansätze für Heilung und Prävention der Hilflosigkeit ableiten. Der Leser wird erfahren, auf welche Weise die Theorie bisher überprüft wurde und kann alternative psychologische Theorien der Hilflosigkeit sowie einige physiologische Ansätze durchdenken. Dieses Kapitel vervollständigt konzeptuelle und experimentelle Grundlagen, die es dem Leser ermöglichen, in der zweiten Hälfte des Buches Phänomene wie Depression, Ängste, die Entstehung motivierten Verhaltens und plötzlichen psychosomatischen Tod genau zu analysieren.
Das fünfte Kapitel handelt von depressiven Reaktionen bei Menschen und diskutiert Parallelen zwischen diesen depressiven Reaktionen bei Menschen in ihrer natürlichen Umgebung und der im Laboratorium induzierten Hilflosigkeit, die sich sowohl aus Beobachtungen als auch aus experimentellen Ergebnissen zwingend ergeben. In diesem Kapitel wird eine Theorie der Depression vorgestellt und Möglichkeiten zu Heilung und Prävention von Depression aufgezeigt. Vor dem Hintergrund dieser Theorie drängen sich mir einige spekulative Überlegungen zu Depressionen bei unserer "jeunesse dorée" auf, und ich behaupte, daß eine Kindheit, in der man alle begehrenswerten Dinge im täglichen Leben unabhängig vom eigenen Verhalten erhält, zu depressiven Reaktionen im Erwachsenenalter führen kann, weil man weitgehend unfähig ist, Streß zu bewältigen.
Angstreaktionen, die durch Unkontrollierbarkeit und Unvorhersagbarkeit verursacht werden, sind Thema des sechsten Kapitels. Unkontrollierbarbarkeit und Unvorhersagbarkeit sind unmittelbar miteinander verwandt. Unvorhersagbarkeit wird im sechsten Kapitel definiert und zu den vorausgegangenen Diskussionen über Hilflosigkeit in Beziehung gesetzt. Im allgemeinen wird Vorhersagbarkeit gegenüber Unvorhersagbarkeit vorgezogen. Streß und Angst sind beträchtlich größer, wenn Ereignisse unvorhersagbar eintreten, und geringer, wenn die Ereignisse vorhersagbar sind; und das Verhalten von Mensch und Tier kann durch Unvorhersagbarkeit ernsthaft gestört werden; z.B. kommt es unter Panik und Schrecken vermehrt zur Bildung von Magengeschwüren. In einem theoretischen Rahmen wird das Bedürfnis nach Sicherheit zu den Auswirkungen von Unvorhersagbarkeit in Beziehung gesetzt, und diese Theorie wird mit alternativen theoretischen Annahmen verglichen. Der Leser wird dann in der Lage sein, diese Theorie in Verbindung mit seinem Wissen über Hilflosigkeit auf die Frage anzuwenden, was bei der Behandlung von Angstreaktionen eigentlich abläuft. Die systematische Desensibilisierung ist eine überaus wirksame Methode zur Behandlung neurotischer Angstreaktionen; ich möchte diese Form der Verhaltenstherapie im Kontext einer "Sicherheitssignal-Hilflosigkeit"-These erklären.
In Kapitel 5 und 6 werden Unvorhersagbarkeit und Unkontrollierbarkeit zu Zuständen (states) reaktiver Depression und Angst in Beziehung gesetzt. Welches sind nun aber die langfristigen Auswirkungen von Hilflosigkeit, Auswirkungen also, die sich in Persönlichkeitsmerkmalen (traits) niederschlagen? Das Kind beginnt sein Leben in einem Zustand der Hilflosigkeit und lernt dann, die wichtigsten Ereignisse in seiner Welt zu kontrollieren. Kapitel 7 untersucht die Auswirkungen von Unvorhersagbarkeit und Unkontrollierbarkeit auf die emotionale und motivationale Entwicklung von Kindern. Der Leser wird angeleitet, aus der Perspektive der vorgeschlagenen Theorie der Hilflosigkeit eine Reihe von Phänomenen zu betrachten: den Hospitalismus, das Verhalten von jungen Affen, die von ihren Müttern getrennt werden, das Verhalten junger Katzen, die asynchrone Rückmeldung erfahren, die Entwicklung des Selbstwertgefühls, die Auswirkungen von Überbevölkerung und das Schulversagen. Begriffe wie Ich-Stärke und Kompetenz werden mit der Bewältigung bzw. Kontrolle von Ereignissen in Beziehung gesetzt; ich werde die Hypothese aufstellen, daß das Zusammentreffen, die Kontingenz von Reaktion und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für eine gesunde Entwicklung entscheidend ist. Ich werde ferner die Zusammenhänge zwischen Hilflosigkeit und Armut untersuchen und spekulative Überlegungen über die Beziehung zwischen der Erfahrung eigener Kontrolle und dem Erleben von Freiheit formulieren.
Hilflosigkeit spielt nicht nur bei mißerfolgsorientierter oder mangelnder Motivation in früher Kindheit eine Rolle, sondern entfaltet gerade am Lebensende einige ihrer dramatischsten Wirkungen. Durch Hilflosigkeit hervorgerufener, plötzlicher psychosomatischer Tod ist Thema des achten und letzten Kapitels. Ich werde dort die Hypothese aufstellen, daß Hilflosigkeit häufige Ursache plötzlichen, unerwarteten Sterbens bei Tier und Mensch ist. Der Leser wird in diesem Kapitel mit dem Voodoo-Tod bei Einwohnern der Karibischen Inseln bekannt gemacht, mit dem Tod von Kakerlaken durch Unterwerfung, mit Todesfällen, die die moderne Organisation in Altersheimen bedingt, mit anaklitischen Depressionen und durch Hospitalismus verursachten Tod von Kindern, mit dem plötzlichen Ertrinken wilder Ratten und der hohen Sterblichkeitsrate bei Tieren, die in Zoologischen Gärten leben. Unkontrollierbarkeit – wie in Kapitel 2 definiert – könnte den Kern dieser ebenso eigenartigen wie realen Phänomene darstellen.

Die Theorie, die zuerst zur Erklärung der experimentellen Befunde und dann zum Verständnis von Erscheinungen im täglichen Leben herangezogen wird, entstand aufgrund tierexperimenteller Studien. Dieses Buch ist analog aufgebaut. Die zweite Hälfte des Buches bedient sich der Konzepte und Experimente, die in der ersten Hälfte entwickelt wurden, um alltägliche, wirklichkeitsnahe Probleme wie Depression, Angst, Motivationsverlust und plötzlichen Tod zu erklären.

Kontrollierbarkeit

Hilflosigkeit ist der psychologische Zustand, der häufig hervorgerufen wird, wenn Ereignisse unkontrollierbar sind. Was heißt nun, ein Ereignis ist unkontrollierbar? Welchen Stellenwert hat Kontrolle im Leben von Organismen? Unsere spontanen Ideen sind ein guter Ausgangspunkt: ein Ereignis ist unkontrollierbar, wenn wir nichts daran ändern können, wenn nichts von dem, was wir tun, etwas bewirkt. Untersuchen wir unsere Idee anhand einiger Beispiele. Dies ermöglicht es mir, präzise zu definieren, was Unkontrollierbarkeit ist und eine Vielfalt von Phänomenen – einige zu unserer Überraschung – als Beispiele für Hilflosigkeit erkennen.

Ihre fünfjährige Tochter kommt aus dem Hinterhof ins Haus. Sie weint, und Blut läuft ihr am Bein hinunter. Als erfahrene Eltern mit oberflächlichen Kenntnissen in erster Hilfe werden Sie sie zuerst einmal in den Arm nehmen und mit einigen tröstenden Worten beruhigen. Dann werden Sie den Schmutz vom Knie waschen und dabei eine mittelgroße Wunde freilegen; Sie werden die Wunde säubern und die Blutung mit einer Kompresse stillen. Während Sie damit beschäftigt sind, fängt Ihre Tochter wieder an zu schluchzen; also erzählen Sie, um ihre Ängste zu stillen, wie Sie sich selbst mit sechs Jahren in den Arm geschnitten haben. Das Schluchzen hört bald auf. Sie tragen etwas Antiseptikum auf und legen einen Verband an. Ihr kleines Mädchen ist wieder fröhlich, und die Blutung hat aufgehört.

Beachten Sie bei diesem kleinen Beispiel, wie oft Sie aktiv Kontrolle über das Problem Ihres Kindes ausgeübt haben. Durch Ihre Aktionen haben Sie es beruhigt; durch Säubern und Verbinden der Wunde taten Sie alles für eine rasche Heilung. Bei alledem linderten Sie gekonnt die Ängste Ihres Kindes und linderten den Schmerz, indem Sie ihm eine Geschichte erzählten. Ohne Ihre Intervention wäre alles viel schlimmer gewesen.

Nun stellen Sie sich vor, das Ganze hätte sich so entwickelt: Sie wachen in der Nacht vom lauten Weinen Ihrer Tochter auf: sie hat hohes Fieber, ihr Bein ist angeschwollen und rote Streifen gehen von der Wunde aus. Sie bringen sie sofort in die Ambulanz eines Krankenhauses, müssen dort aber drei Stunden lang warten, während Schwestern, Pfleger und Ärzte vorbeilaufen, ohne Sie zu beachten. Ihr kleines Mädchen wimmert und schwitzt. In Ihrer Verzweiflung halten Sie einen vorbeigehenden Medizinalassistenten fest und versuchen, ihm Ihr Problem zu schildern. Er hört Ihnen nicht zu und sagt nur, indem er weiter eilt, Sie müßten Geduld haben. Dann gehen Sie zur Anmeldung. Dort stellt sich heraus, daß die Formulare, die Sie gleich bei Ihrer Ankunft ausgefüllt hatten, verlegt worden sind; Sie müssen also neue ausfüllen. Um sieben Uhr morgens endlich holt ein Arzt Ihre kleine Tochter in den Untersuchungsraum; eine halbe Stunde später ist sie zurück. Der Arzt sagt Ihnen nur, er habe ihr eine Spritze gegeben und eilt ohne weitere Erklärung zu seinem nächsten Patienten. Nach wenigen Stunden erholt sich Ihr Kind.

Bei dieser Variante des Beispiels waren die meisten Ihrer Aktionen ohne Belang. Das Klinikpersonal schenkte Ihrer Not keine Beachtung, verschlampte die Formulare und ignorierte Ihre Bitten um eine Erklärung; Ihr Kind erholte sich ohne Ihr Zutun. Der Verlauf der Ereignisse war unkontrollierbar, der Ausgang unabhängig von Ihren willentlichen Handlungen. In diesem letzten Satz steckt bereits eine klare Definition von Unkontrollierbarkeit. Die entscheidenden Begriffe sind willentliche Reaktionen (voluntary response) und Unabhängigkeit von Reaktion und Konsequenz (response-outcome independence); beide Begriffe sind eng miteinander verknüpft.

Willentliche Reaktionen

Pflanzen und die meisten niederen Tiere können über Dinge in ihrer Umgebung keine Kontrolle ausüben; sie reagieren nur auf sie. Die Wurzeln der Tulpe reagieren, indem sie vom Licht weg wachsen, der Stengel wächst zum Licht hin. Eine Amöbe reagiert auf ein Stück Nahrung, indem sie es mit ihren Pseudopodien einfängt und es umfließt. Warum bezeichne ich derartige Bewegungen als Reaktionen und nicht als willentliche Reaktionen? Warum kann man nicht sagen, daß diese Bewegungen bestimmte Ereignisse in der Umgebung des Organismus kontrollieren? Was diesen Bewegungen fehlt, ist die Fähigkeit zur Veränderung, ist Plastizität. Sie ändern sich nicht, wenn sich die Kontingenz, d.h. die Beziehung zwischen der Bewegung und ihren Konsequenzen ändert, denn sie sind an Stimuli gebunden, die sie hervorrufen. Würde man z.B. in einem Experiment die Kontingenzen umkehren, also eine Amöbe nur dann füttern, wenn sie die Nahrung nicht zu umfließen vermochte, so könnte die Amöbe ihr Verhalten doch nicht ändern, auch wenn sie wiederholt keine Nahrung erhielte. Ähnlich würde es in keinem Experiment gelingen, die Wurzeln einer Tulpe nach oben wachsen zu lassen, indem man ihr nur dann Wasser gibt, wenn sie nach oben wachsen. Kurz, ich möchte nur solche Reaktionen als willentliche Handlungen bezeichnen, die durch Belohnung oder Bestrafung modifiziert werden können.

Kennzeichen dieser Reaktionen ist, daß wir sie häufiger ausführen, wenn wir für sie belohnt werden, und sie bleiben lassen, wenn wir für sie bestraft werden. Reaktionen, die wir unabhängig von Belohnung oder Bestrafung ausführen, werden als Reflexe, blinde Reaktionen, Instinkte oder Tropismen bezeichnet. Wenn ich im nächsten Satz das Wort "pickle" schreibe, dann tue ich das willentlich; wenn Sie mir eine Million Dollar dafür geben. daß ich das Wort "pickle" schreibe, so werde ich dies sicherlich tun – und ich könnte es noch zwei oder dreimal schreiben, damit das Maß voll wird. Wenn Sie mir einen starken elektrischen Schlag versetzen, wenn ich "pickle" schreibe, dann wird das Wort "pickle" nicht mehr erscheinen. Dagegen zieht sich die Pupille im Auge unwillkürlich zusammen, wenn Licht auf sie fällt. Auch wenn Sie mir eine Million Dollar für den Fall versprechen, daß sich meine Pupille bei Lichteinfall nicht verengt, wird sie sich kontrahieren.

Willentliche Reaktionen stellen den zentralen Gegenstand eines bedeutenden Ansatzes der Lerntheorien dar, den E. L. Thorndike begründete und B. F. Skinner entwickelt und bekanntgemacht hat: den Ansatz der operanten Konditionierung. Auch wenn die Details dieses Forschungssektors dem Studenten mysteriös erscheinen mögen, so ist die der Theorie zugrundeliegende Prämisse doch einfach: die Vertreter der operanten Konditionierung glauben, daß sie die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten willentlichen Handelns aufdecken können, indem sie die Gesetzmäßigkeiten desjenigen Verhaltens erforschen, das sich durch Belohnung oder Bestrafung verändern läßt – instrumentell oder "operant" werden diese Verhaltensweisen genannt, weil sie auf ihre Umgebung wirken (i.e. "operate" on the environment). Der Begriff der operanten Reaktion ist für meine Definitionsansätze von Bedeutung, und zwar nicht nur, weil mich Ratten, die für Futter auf Hebel drücken, und Tauben, die für Körner auf Tasten picken, an sich schon faszinieren, sondern weil dieser Begriff sehr gut mit dem übereinstimmt, was ich unter willentlichem Handeln verstehe. Wenn ein Organismus keine operante Reaktion ausführen kann, die Einfluß auf ihre Konsequenz hat, so möchte ich diese Konsequenz als unkontrollierbar bezeichnen.

Die Vertreter der operanten Konditionierung untersuchen also willentliche Reaktionen; der andere bedeutsame Ansatz innerhalb der Lerntheorien – die Pavlovsche oder klassische Konditionierung – befaßt sich dagegen ausschließlich mit Reaktionen, die nicht willentlich ausgeführt werden. In einem typischen Experiment zur Pavlovschen Konditionierung hört eine Versuchsperson einen Ton, dem ein kurzer, schmerzhafter elektrischer Schlag folgt. Der Ton wird als konditionierter Stimulus (CS), der Schlag als unkonditionierter Stimulus (US) bezeichnet. Die durch den Schlag ausgelöste Schmerzreaktion wird unkonditionierte Reaktion (UR) genannt. Wenn die Versuchsperson einmal gelernt hat, den Schlag zu antizipieren, wird sie schwitzen und Herzklopfen bekommen, sobald sie den Ton hört. Diese Erwartungsreaktion nennt man konditionierte Reaktion (CR). Nun sollte man unbedingt beachten, daß konditionierte Reaktionen keine Kontrolle auf den elektrischen Schlag ausüben können; das Individuum erhält ihn unabhängig davon, ob es schwitzt oder nicht. Was ein Pavlovsches Experiment zu einem Pavlovschen macht und es von einem Experiment zur operanten Konditionierung unterscheidet, ist genau genommen Hilflosigkeit. Keine Reaktion, sei sie konditioniert oder irgendwie anders gelernt, kann den CS oder den US verändern. In einem Experiment zur operanten Konditionierung muß dagegen stets eine Reaktion gegeben sein, die belohnt wird oder Bestrafung reduziert. Mit anderen Worten: das Individuum erlernt beim instrumentellen Lernen eine Reaktion, die die Konsequenzen kontrolliert; im Pavlovschen Experiment dagegen ist es hilflos.

Reaktionsunabhängigkeit und Reaktionskontingenz

Eine willentliche Reaktion ist eine Reaktion, deren Auftretenswahrscheinlichkeit zunimmt, wenn sie belohnt wird, und sinkt, wenn sie bestraft wird. Wenn aber eine Reaktion explizit belohnt oder bestraft wird, dann liegt es auf der Hand, daß ihre Konsequenz von der Reaktion abhängig ist. Was Reaktionsunabhängigkeit und Reaktionsabhängigkeit aber genau bedeuten, ist eine der tiefgreifendsten Fragen der modernen Lerntheorie.

Es liegt natürlich nahe, daß die Lerntheorie zunächst mit den einfachsten Prämissen über das Lernen begann. Welcher Art Beziehungen zwischen Handlungen und Effekten können Tier und Mensch erlernen? Die erste Antwort auf diese Frage war ziemlich unflexibel: Lernen findet nur dann statt, wenn ein Organismus eine Reaktion ausführt, der unmittelbar eine Belohnung oder eine Bestrafung folgen. Sie betreten z.B. jeden Tag um neun Uhr morgens die Eingangshalle Ihres Bürogebäudes; innerhalb der nächsten dreißig Sekunden drücken Sie auf den Fahrstuhlknopf, und der Fahrstuhl kommt, wenn die dreißig Sekunden abgelaufen sind. Dies läuft mit absoluter Sicherheit jeden Tag ab.

Dieses einfache Zusammentreffen von Reaktion und Konsequenz – als kontinuierliche Verstärkung bezeichnet – ist nur eine der vielen möglichen Kontingenzen, die gelernt werden; Sie lernen auch, wenn auf eine Reaktion hin überhaupt nichts geschieht. Z.B. drücken Sie eines Tages auf den Fahrstuhlknopf, aber der Fahrstuhl kommt nicht (vielleicht ist der Strom ausgefallen). Natürlich bleiben Sie nicht ewig dort stehen und drücken immer weiter auf den Knopf. Sie werden es nach einer Weile aufgeben und Ihren Weg über die Treppen nehmen. Diese Form des Lernens wird als Extinktion bezeichnet: eine Reaktion, die einmal zu einer Konsequenz geführt hat, löst nun nichts mehr aus. Also räumten die Lerntheoretiker ein, daß reagierende Organismen zwei "magische Momente" ("magic moments") erlernen können: die eindeutige Verknüpfung von Reaktion und Konsequenz und ihre explizite Unabhängigkeit. Ich nenne diese Kontingenzen "magische Momente", um darauf aufmerksam zu machen, daß es sich um sehr kurze Augenblicke handelt; die Hauptbegründung, sie den fundamentalen Kontingenzen zuzurechnen, ist, daß sie fast schnappschußartig erfolgen; sie werden im Gedächtnis gespeichert und kodiert, ohne daß eine komplexe Integration über die Zeit hinweg notwendig ist.

Aber dieses Schema beschreibt bei weitem noch nicht alle Möglichkeiten zu lernen. Ende der dreißiger Jahre entdeckten L. J. Humphreys und B. F. Skinner unabhängig voneinander die partielle oder intermittierende Verstärkung, wodurch das Ganze etwas komplizierter wurde. Z.B. drücken Sie am Montag- und am Dienstagmorgen auf den Fahrstuhlknopf, und der Fahrstuhl kommt; Mittwoch und Donnerstag drücken Sie ebenfalls, aber der Fahrstuhl kommt nicht, und am Freitag funktioniert er wieder. Wie viele Tage werden Sie wohl noch – wenn der Fahrstuhl schließlich seinen Geist endgültig aufgibt – auf den Knopf drücken, bevor Sie endgültig aufgeben und gleich die Treppen hinaufgehen? Wenn Sie zuerst intermittierend verstärkt worden sind, werden Sie noch einige Wochen auf den Knopf drücken, bevor Sie aufgeben; wenn Sie aber nur kontinuierlich verstärkt worden sind, werden Sie schon nach einigen Tagen aufgeben.

Menschen und Tiere lernen leicht, daß ihre Reaktionen nur gelegentlich von einer Konsequenz gefolgt werden. Außerdem werden ihre Reaktionen außerordentlich löschungsresistent, wenn sie dies einmal gelernt haben. Um diese Phänomene einordnen zu können, muß man sich einen etwas komplizierteren Organismus vorstellen, der die beiden verschiedenen Momente – eindeutige Unabhängigkeit von Reaktion und Konsequenz und eindeutige Koinzidenz von Reaktion und Konsequenz – zu einem Mittelwert verarbeiten kann. Organismen können mit anderen Worten "manchmal" und "vielleicht" genauso zu unterscheiden lernen wie "immer und "nie".

Was geschieht nun, wenn die Konsequenz eintritt, ohne daß man eine Reaktion ausgeführt hat? Bei intermittierenden Verstärkungsplänen und in einfacheren Beispielen kam es niemals vor, daß ein Organismus ohne vorausgegangene Reaktion verstärkt wurde. Lernfähige Organismen sind jedoch differenziert genug, um auch zu lernen, daß Konsequenzen eintreten, ohne daß sie vorher eine bestimmte Reaktion ausgeführt haben. In der Terminologie der operanten Konditionierung werden derartige Kontingenzen als DRO – differentielle Verstärkung anderer Verhaltensweisen (differential reinforcement of other reactions) – bezeichnet. Um zu unserem Beispiel zurückzukehren: Sie stehen eines Morgens nur einfach dreißig Sekunden lang vor dem Fahrstuhl, ohne auf den Knopf zu drücken, und der Aufzug kommt trotzdem. Es mag eine Weile dauern, aber mit der Zeit lernen Sie, einfach nicht mehr auf den Knopf zu drücken, wenn der Aufzug seltsamerweise nur dann erscheint, wenn der Knopf nicht gedrückt wird.

Dieses Beispiel beschreibt zwei andere "magische Momente" neben der expliziten Koinzidenz von Reaktion und Konsequenz und deren eindeutiger Unabhängigkeit: Sie werden verstärkt, obwohl Sie nicht reagiert haben; oder Sie reagieren nicht und werden auch nicht verstärkt. Diese Kontingenzen können ebenso in intermittierender Abfolge auftreten, wie dies bei eindeutiger Kontingenz und Inkontingenz von Reaktion und Konsequenz der Fall ist. Sie drücken z.B. an den folgenden zehn Tagen nicht auf den Fahrstuhlknopf; an sieben Tagen kommt der Aufzug, an den drei übrigen Tagen nicht.

Diese Art Lernprozeß setzt noch immer einen ziemlich primitiven Lernapparat voraus: der Organismus lernt die Konsequenzen von ausgeführten und unterlassenen Reaktionen separat. Prinzipiell lernfähige Organismen können jedoch auch gleichzeitig Informationen über beide Dimensionen aufnehmen. Betrachten wir eine letzte, noch kompliziertere Variante unseres Beispiels: manchmal kommt der Aufzug auf Ihren Knopfdruck hin innerhalb von dreißig Sekunden, aber es ist ebenso möglich, daß er auch innerhalb von dreißig Sekunden eintrifft, ohne daß Sie auf den Knopf gedrückt haben. Alle vier "magischen Momente" können sich bei demselben Aufzug an verschiedenen Tagen ereignen: Knopfdruck → Aufzug, Knopfdruck → kein Aufzug, kein Knopfdruck → Aufzug, kein Knopfdruck → kein Aufzug. Was lernen Sie also über den Zusammenhang zwischen Ihren Reaktionen und dem Erscheinen des Aufzugs? Sie lernen, daß der Aufzug mit gleicher Wahrscheinlichkeit kommt, wenn Sie auf den Knopf drücken und wenn Sie nicht auf den Knopf drücken. Dies aber trifft den Kern dessen, was mit Reaktionsunabhängigkeit gemeint ist.

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Gelernte Hilflosigkeit beim Hund

Das Verhalten hilfloser Hunde ist typisch für das Verhalten vieler anderer Tierarten, wenn sie mit Unkontrollierbarkeit konfrontiert werden. Folgendes Standardverfahren wandten wir an, um gelernte Hilflosigkeit bei Hunden hervorzurufen und nachzuweisen: Am ersten Tag wurde das Versuchstier im Pavlovschen Geschirr fixiert und erhielt 64 elektrische Schocks von jeweils fünf Sekunden Dauer und einer Intensität von 6.0 Milliampère (mäßig schmerzhaft). Diesen Schocks ging keinerlei Signal voraus, und sie waren zufällig über die Zeit verteilt. 24 Stunden später wurde das Versuchstier zehn Durchgänge lang einem Flucht-Vermeidungstraining mit Warnreiz in einer shuttle box, einem Versuchskäfig mit zwei Abteilen und elektrisch aufladbarem Boden, unterworfen: der Hund mußte über die Trennwand von einem Käfigabteil ins andere springen, um dem Schock zu entfliehen oder ihn zu vermeiden. Elektrische Schläge konnten in beiden Käfigabteilen verabreicht werden, so daß es keinen Ort gab, an dem das Tier immer sicher gewesen wäre, während die Reaktion des Hinüberwechselns oder Springens immer zu Sicherheit führte. Jeder Durchgang begann mit dem Einsatz des Warnreizes (Verringerung der Lichtintensität), und dieses Signal blieb bis zum Ende des Durchgangs bestehen. Zwischen dem Einsatz des Warnreizes und dem elektrischen Schlag lag ein Intervall von zehn Sekunden; sprang der Hund innerhalb dieses Intervalles über die schulterhohe Trennwand, so endete das Signal und der Schock blieb aus. Gelang es dem Tier nicht, innerhalb des Signal-Schock-Intervalles zu springen, so bekam es einen elektrischen Schlag von 4.5 Milliampère, der anhielt, bis der Hund über die Barriere sprang. Schaffte es der Hund nicht, innerhalb von 60 Sekunden nach Einsatz des Signals über die Barriere zu springen, so wurde der Durchgang automatisch abgebrochen.
Von 1965 bis 1969 untersuchten wir das Verhalten von ungefähr 150 Hunden, die in dieser Weise unvermeidbaren elektrischen Schlägen ausgesetzt worden waren. Von diesen Tieren reagierten zwei Drittel (ungefähr 100) hilflos. Diese Tiere machten die von mir beschriebene eigenartige Verhaltenssequenz des Aufgebens durch. Das andere Drittel der Versuchstiere verhielt sich völlig normal; wie naive Hunde führten sie erfolgreich Fluchtreaktionen aus und lernten rasch, den elektrischen Schlag zu vermeiden, indem sie über die Trennwand sprangen, bevor der Schock einsetzte. Ein Mittelding zwischen diesen beiden Verhaltensweisen wurde nicht beobachtet. Gelegentlich sprangen hilflose Hunde zwischen den Durchgängen über die Trennwand. Außerdem kam es vor, daß ein Hund, der z.B. ganz still in der linken Kammer der shuttle box gesessen und einen Schock nach dem anderen über sich ergehen lassen hatte, oftmals mit gewaltigen Sätzen quer durch den ganzen Käfig sprang, um aus dem Versuchskäfig überhaupt zu entfliehen, wenn am Ende der Versuchssitzung die Tür zur rechten Kammer geöffnet wurde. Da die hilflosen Hunde körperlich in der Lage waren, über die Barriere zu springen, mußte ihr Problem psychologischer Natur gewesen sein.

Es ist interessant, daß von den mehreren hundert Hunden, die dem Training in der shuttle box ausgesetzt wurden, ungefähr 5% hilflos reagierten, auch ohne zuvor unvermeidbare Schocks erfahren zu haben. Ich bin der Überzeugung, daß die Lerngeschichte dieser Hunde, bevor sie ins Laboratorium kamen, bestimmend dafür war, ob ein naiver Hund hilflos wurde oder ob ein Hund, dem unvermeidbare elektrische Schläge versetzt wurden, gegen Hilflosigkeit immun war. Wenn ich im nächsten Kapitel Möglichkeiten zur Prävention von Hilflosigkeit diskutiere, werde ich genauer darauf eingehen, wie man gegen Hilflosigkeit immunisiert werden kann.

Hilflosigkeit tritt bei Hunden unter einer Vielzahl unterschiedlicher Bedingungen auf und kann leicht induziert werden. Hilflosigkeit hängt nicht von irgendeinem spezifischen Parameter des elektrischen Schlages ab; wir haben Frequenz, Intensität, Häufigkeit, Dauer und zeitliche Verteilung der Schocks variiert und konnten den Effekt immer noch hervorrufen. Darüber hinaus spielt es überhaupt keine Rolle, ob dem unvermeidbaren Schock ein Warnsignal vorausgeht. Schließlich spielt es auch keine Rolle, mit welchen experimentellen Hilfsmitteln die Schocks appliziert werden oder wo das Flucht-Vermeidungs-Training stattfindet: shuttle box und Pavlovsches Geschirr sind austauschbar. Verabreicht man dem Hund zuerst unvermeidbare Schocks in der shuttle box und verlangt dann von ihm, mit seinem Kopf auf Pedale zu drücken, um im Pavlovschen Geschirr elektrischen Schlägen zu entfliehen, so reagiert er ebenso hilflos. Darüber hinaus sind Hunde nach der Erfahrung unkontrollierbarer Schocks nicht nur unfähig, dem Schock selbst zu entfliehen, sondern scheinen auch nicht imstande zu sein, ihn zu verhindern oder ihn zu vermeiden. Overmier (1968) verabreichte Hunden im Pavlovschen Geschirr unvermeidbare Schocks und setzte sie dann in die shuttle box: wenn der Hund nun sprang, nachdem das Signal abbrach, aber noch bevor der Schock einsetzte, konnte er diesen vermeiden. Ein Entfliehen war dagegen nicht möglich, denn wenn es dem Hund nicht gelang, während des Signal-Schock-Intervalles zu springen, so wurde die Trennwand geschlossen, und der Hund bekam einen unvermeidbaren elektrischen Schlag. Es gelang den hilflosen Hunden ebenso wenig zu vermeiden, wie es ihnen nicht gelungen war zu entfliehen. Demnach bewältigen hilflose Hunde die Signale, die den Schock ankündigen, ebenso schlecht wie den Schock selbst.

Auch außerhalb der shuttle box verhalten sich hilflose Hunde anders als Hunde, die nicht hilflos sind. Wenn ein Forscher den Hundezwinger betritt und versucht, einen nicht-hilflosen Hund herauszuholen, so fügt sich dieser nicht bereitwillig: er bellt, läuft in den hinteren Teil des Käfigs und sträubt sich gegen jede Manipulation. Dagegen erscheinen hilflose Hunde völlig willfährig: sie strecken sich passiv auf dem Boden aus, rollen sich gelegentlich sogar auf den Rücken und nehmen eine unterwürfige Haltung ein: sie üben keinen Widerstand.

Der triadische Versuchsplan

Was führt uns zu der Aussage, daß gelernte Hilflosigkeit aus der Unfähigkeit resultiert, ein physisches Trauma zu kontrollieren und nicht lediglich aus dem Erleben dieses Traumas? Anders ausgedrückt: wie können wir behaupten, daß Hilflosigkeit ein psychologisches Phänomen ist und nicht nur die Folge des erfahrenen körperlichen Stresses?
Es gibt einen einfachen und eleganten experimentellen Versuchsplan, mit dessen Hilfe die Effekte von Kontrollierbarkeit von den Auswirkungen des Reizes, der kontrolliert wird, getrennt werden können. Bei diesem triadischen Versuchsplan werden drei Gruppen von Versuchspersonen bzw. Versuchstieren untersucht: eine Gruppe erfährt als Vortraining eine Konsequenz, die sie mit Hilfe irgendeiner Reaktion kontrollieren kann. Eine zweite Gruppe ist mit der ersten so verbunden (yoked), daß jede Versuchsperson bzw. jedes Versuchstier genau die gleichen physischen Konsequenzen erfährt wie sein Gegenüber aus der ersten Gruppe, jedoch führt keine Reaktion, die diese Kontrollpersonen oder -tiere ausführen, zu irgendeiner Modifikation dieser Konsequenz. Die dritte Gruppe erhält kein Vortraining. Anschließend werden alle Gruppen in einer neuen Aufgabe untersucht.

Der triadische Versuchsplan erlaubt eine direkte Überprüfung der Hypothese, daß nicht der Schock selbst Hilflosigkeit verursacht, sondern die Erfahrung, daß der Schock unkontrollierbar ist. Es folgen zwei Beispiele für den triadischen Versuchsplan. Im ersten Beispiel wurden drei Gruppen von jeweils acht Hunden untersucht. Die Hunde der "Flucht"-Gruppe lernten im Pavlovschen Geschirr Schocks zu entfliehen, indem sie mit ihren Schnauzen auf eine Taste drückten. Die yoked-Kontrollgruppe erhielt Schocks in gleicher Anzahl, Dauer und Verteilung, wie sie der Flucht-Gruppe verabreicht wurden. Die yoked-Kontrollgruppe unterschied sich von der Flucht-Gruppe nur hinsichtlich der instrumentellen Kontrolle über den Schock: das Drücken der Taste beeinflußte die für die yoked-Kontrollgruppe vorprogrammierten Schocks nicht. Eine naive Vergleichsgruppe erhielt keine Schocks.

24 Stunden nach diesem Training wurden alle drei Gruppen einem Flucht-Vermeidungstraining in der shuttle box ausgesetzt. Die Tiere der Flucht-Gruppe und die naiven Kontrolltiere reagierten gut: sie sprangen leicht über die Barriere. Im Gegensatz dazu reagierten die Tiere der yoked-Kontrollgruppe signifikant langsamer. Sechs der acht Kontrolltiere versagten vollständig und führten keine einzige erfolgreiche Fluchtreaktion aus. Es war also nicht der Schock selbst, sondern die Unmöglichkeit, den Schock zu kontrollieren, die zu diesem Versagen führte.

Maier (1970) lieferte eine noch schlagendere Bestätigung dieser Hypothese. Nachdem die Hunde im Pavlovschen Geschirr fixiert worden waren, wurde ihnen anstatt einer aktiven Reaktion wie Hebeldrücken eine passive Reaktion beigebracht, durch die sie den elektrischen Schlag beenden konnten. Die Hunde dieser Gruppe (passive Fluchtgruppe) wurden im Geschirr ganz festgebunden, und dann wurden über und neben ihren Köpfen Pedale in einem Abstand von ½ cm angebracht. Nur wenn sie den Kopf nicht bewegten, sich also ganz still verhielten, konnten diese Hunde den Schock beenden. Eine andere Gruppe von zehn Hunden war ebenfalls angeschirrt und erhielt die gleichen Schocks, jedoch unabhängig von jeder Reaktion, also unkontrollierbar. Eine dritte Gruppe bekam keine elektrischen Schläge verabreicht. Später, in der shuttle box, reagierten die Hunde der yoked-Kontrollgruppe überwiegend hilflos, während die naive Kontrollgruppe normale Fluchtreaktionen ausführte. Die Tiere der passiven-Fluchtgruppe bewegten sich zunächst kaum; sie schienen nach irgendeiner Möglichkeit zu suchen, um passiv den Schock im Versuchskäfig möglichst gering zu halten. Nachdem sie auf diese Weise keinen Erfolg hatten, fingen alle Tiere an, lebhaft zu entfliehen und zu vermeiden. Demnach ist nicht das traumatische Ereignis allein ausreichend, um bei der Fluchtreaktion zu versagen, sondern die Erfahrung, daß überhaupt keine Reaktion – weder aktiv noch passiv – die traumatischen Bedingungen beeinflussen kann.

Mangelnde Motivation bei verschiedenen Tierarten

Studenten, die einen Einführungskurs in Psychologie beginnen – oder besser gesagt Studenten, die diesen Kurs vermeiden – , sind sich in einem Punkt einig:. "Ratten! Was haben Ratten mit Menschen zu tun?". Diese Reaktion ist nicht annähernd so naiv, wie sie sich für das geplagte Ohr des professionellen Psychologen anhört. Zu oft haben reine Laborforscher vorschnell angenommen, daß Gesetze, die für eine Tierart als gültig nachgewiesen wurden, generell für alle anderen Arten, vor allem auch für den Menschen zutreffen. Die Geschichte der vergleichenden Psychologie ist durchsetzt von schlecht validierten Experimenten und zweifelhaften Theorien, die diese Behauptung ohne Berechtigung machten. Neuere Entwicklungen haben uns jedoch gelehrt, sehr vorsichtig mit unbewiesenen Verallgemeinerungen von einer Tierart auf eine andere umzugehen. Die Art und Weise, wie eine Wachtel lernt, traumatische Ereignisse zu bewältigen, unterscheidet sich stark von dem, was eine Ratte oder ein Mensch lernen wird. Gibt man einer Wachtel vergiftetes Wasser von blauer Farbe und saurem Geschmack, so wird sie später blaues, nicht aber saures Wasser vermeiden; eine Ratte oder ein Mensch dagegen werden saures, nicht aber blaues Wasser vermeiden. Selbst innerhalb derselben Tierart gibt es sehr deutliche Unterschiede z.B. zwischen der Art, wie die Ratte lernt, Schocks zu bewältigen und der Art und Weise, wie sie Gift zu bewältigen lernt: bekommt eine Ratte einen elektrischen Schlag versetzt, nachdem sie blaues, saures Wasser getrunken hat, so wird sie später blaues Wasser vermeiden; wird sie durch das Wasser vergiftet, so wird sie saures Wasser vermeiden. Wenn wir gelernte Hilflosigkeit als Grundlage für die Erklärung solch bedeutsamer Phänomene wie Depression und psychosomatischen Tod heranziehen, so ist es unumgänglich herauszufinden, ob diese auch in einer Vielzahl verschiedener Tierarten, den Menschen eingeschlossen, auftritt. Anderenfalls können wir Hilflosigkeit als spezies-spezifisches Verhalten aufgeben, ähnlich dem eigenartigen Ritual eines männlichen Stichlings, der um das Weibchen wirbt.

Mangelnde Motivation aktiv zu werden als Folge unkontrollierbarer Konsequenzen ist bei Katzen, Ratten, Mäusen, Vögeln, Primaten, Fischen, Küchenschaben und Menschen nachgewiesen worden. Gelernte Hilflosigkeit scheint ein allgemeines Merkmal lernfähiger Tierarten zu sein, so daß sie mit einiger Sicherheit als eine Erklärung für eine Vielfalt von Phänomenen herangezogen werden kann.

Angst und die Sicherheitssignal-Hypothese

Angst ist wie Depression ein umgangssprachlicher Terminus und hat als solcher keine notwendigen und hinreichenden Definitionskriterien. Dennoch wird in der psychoanalytischen Literatur eine nützliche Trennung zwischen Angst und Furcht getroffen: Furcht bezeichnet einen unangenehmen emotionalen Zustand mit einem Zielobjekt wie z.B. Furcht vor tollwütigen Hunden; Angst bezeichnet einen weniger spezifischen Zustand, eher chronisch und nicht an ein Objekt gebunden. Ich habe unter experimentellen Bedingungen zwei emotionale Zustände beobachtet, die dieser Differenzierung annähernd entsprechen und tatsächlich ein exakt definiertes Modell dieser Trennung abgeben können. Als Furcht möchte ich den akuten Zustand bezeichnen, der auftritt, wenn ein Signal ein bedrohliches Ereignis – wie z.B. einen elektrischen Schlag – ankündigt. Unter Angst möchte ich chronische Furcht verstehen, die sich einstellt, wenn ein bedrohliches Ereignis in der Luft liegt, aber unvorhersagbar ist. Vor dem Hintergrund einer solchen Definition, anhand derer wir derartige angstauslösende Situationen erkennen können, können wir die störenden emotionalen Konsequenzen von Unvorhersagbarkeit untersuchen. Befunde zur Unvorhersagbarkeit sind vielfältig und lassen sich am einfachsten mit Hilfe der sogenannten Sicherheitssignal-Hypothese strukturieren.

Die Sicherheitssignal-Hypothese

Auf welche Weise ruft die Unvorhersagbarkeit eines Erdbebens die Angst, Nervosität und Schlaflosigkeit hervor, unter denen Marshall leidet? Stellen wir uns eine Welt vor, in der Erdbeben zuverlässig durch einen zehnminütigen Ton angekündigt werden. In solch einer Welt bedeutet das Ausbleiben des Tones zuverlässig Sicherheit bzw. das Ausbleiben von Erdbeben. Solange der Ton nicht ausgestrahlt wird, können Sie sich entspannen und Ihrem Beruf nachgehen. Wenn der Ton ausgestrahlt wird, werden Sie erschrecken, aber Sie verfügen immerhin über brauchbare Sicherheitssignale. Wenn traumatische Ereignisse vorhersagbar sind, dann ist auch das Ausbleiben des traumatischen Ereignisses vorhersagbar – durch Ausbleiben des Warnsignales für das Trauma. Sind traumatische Situationen jedoch unvorhersagbar, dann ist auch Sicherheit unvorhersagbar: kein Stimulus sagt Ihnen zuverlässig, daß das traumatische Ereignis nicht eintreffen wird und Sie sich entspannen können.

Der Gegensatz zwischen Erdbeben und Bombenangriffen auf London im Zweiten Weltkrieg veranschaulicht dies. Nach einer Weile arbeitete das britische Luftwarnsystem ganz gut: jeder Luftangriff wurde von minutenlangem Sirenengeheul angekündigt. Wenn keine Sirenen heulten, setzten die Londoner ihr tägliches Leben in bewundernswerter Weise fort, ohne übermäßige Spannung und gutgelaunt. Auf der anderen Seite gibt es keinen Stimulus, der Erdbeben voraussagt, und deshalb auch keinen Stimulus, dessen Abwesenheit das Ausbleiben von Erdbeben vorhersagt. Marshall verfügt über kein Sicherheitssignal, kein Ereignis, das ihn sicher macht, daß kein Erdbeben kommt. Die Angst, die er zeigt, seine Nervosität, sein mitternächtliches Aufschrecken, seine Einschlafstörungen weisen auf das Fehlen eines sicheren Ortes in seinem Leben hin, auf das Fehlen einer Zeit, in der er sich entspannen kann, in der er weiß, daß kein Erdbeben kommen wird.

Dies ist der Kern der Sicherheitssignal-Hypothese: im Kielwasser traumatischer Erfahrungen werden Menschen und Tiere zu jeder Zeit Ängste erleben außer in Anwesenheit eines Stimulus, der zuverlässig Sicherheit voraussagt. Ohne Sicherheitssignal bleiben Organismen in Angst und chronischer Furcht. So gesehen sind Menschen und Tiere immer auf der Suche nach Sicherheitssignalen. Sie suchen Prädiktoren für unvermeidbare Gefahren, weil solches Wissen gleichzeitig auch Wissen um Sicherheit bedeutet. Viele Menschen möchten erfahren, wenn sie eine tödliche Krankheit haben. Ich glaube, daß diesem Wunsch zwei Motive zugrundeliegen: zum ersten kann ein Mensch, wenn er weiß, daß er sterben wird, seine Hinterlassenschaften ordnen – seinen Beruf aufgeben, alte Fehden begraben, nach Paris fahren, seine Ersparnisse verschwenden. Wichtiger als das und häufig übersehen sind die Sicherheitssignale, die durch das Wissen gegeben sind. Nehmen wir an, daß Sie sich Sorgen um Ihr Herz machen und Ihr Arzt Sie untersucht hat. Wenn Sie nicht die Vereinbarung getroffen haben, über eine tödliche Krankheit informiert zu werden, bleiben Sie wahrscheinlich ängstlich, egal was Ihr Arzt Ihnen erzählt; Ihr Leben wird von der Angst vor dem Tod überschattet. Haben Sie aber die Vereinbarung getroffen, können Sie sich entspannen, solange Ihr Arzt Ihnen nicht mitteilt, daß Sie sterben müssen; Sie leben im Schutze eines Sicherheitssignales. Was Sie sich mit solch einer Vereinbarung erkaufen – unter der Bedingung, daß Sie Ihrem Arzt vertrauen – ist ein Leben voll Sicherheitssignale und wenig Angst – wenn Sie nicht tatsächlich sterben müssen. Was Sie aufgeben, ist die Wahrscheinlichkeit eines glückseligen, unerwarteten Todes.

Unvorhersagbarkeit und der Warncharakter der Furcht

Furcht und Angst sind hypothetische Konstrukte, die heutzutage in der psychologischen Theorienbildung häufig verwendet werden. Wie Hunger können sie niemals direkt beobachtet werden, sondern werden aus der Beobachtung von physiologischen Reaktionen und subjektiven Berichten erschlossen. Die Zahl der Stunden unter Nahrungsentzug, die Intensität elektrischer Schläge, die eine Ratte toleriert, um Futter zu bekommen, oder die Intensität, mit der ein Mensch arbeitet, um an Nahrung zu kommen, und eine unbegrenzte Liste anderer Variablen definieren den Zustand des Hungers. Unter ähnlicher Perspektive werden Veränderungen des Hautwiderstandes (PGR, psychogalvanischer Hautreflex), Verkriechen und Zittern, Magengeschwüre, Veränderungen der Herzfrequenz und viele andere abhängige Variablen gemessen, um die Zustände Angst und Furcht zu erfassen. Der vielleicht am häufigsten verwendete Indikator ist die CER (conditioned emotional response, konditionierte emotionale Reaktion), wie sie zum ersten Mal von W. K. Estes und B. F. Skinner 1941 in ihrer klassischen Arbeit SOME QUANTITATIVE PROPERTIES OF ANXIETY beschrieben wurde. Bei ihrem Verfahren lernt eine Ratte zuerst, einen Hebel mit hoher und gleichmäßiger Frequenz zu drücken, um Futter zu bekommen. Dann wird während des Hebeldrückens irgendein Stimulus – z.B. ein Ton – mit einem elektrischen Schlag gepaart. Die Hebeldruckreaktion ist unabhängig von der Darbietung des elektrischen Schlages: der Schock ist unkontrollierbar. Die Ratte lernt durch klassische Konditionierung, den Ton zu fürchten und zeigt dies, indem sie sich in einer Ecke verkriecht und dadurch auch nicht mehr den Hebel für Futter drücken kann. Das Absinken der Hebeldruckfrequenz wird als konditionierte emotionale Reaktion auf den Ton bezeichnet und ist wahrscheinlich der zuverlässigste und am meisten verwendete Angstindikator.

Dieses Verfahren gestattet eine ziemlich direkte Prüfung der Sicherheitssignal-Hypothese; und eine ganze Reihe von Untersuchungen sind bereits durchgeführt worden, in denen CER mittels vorhersagbarer und unvorhersagbarer elektrischer Schläge hervorgerufen wurden. Da diese Studien in ihren Ergebnissen übereinstimmen, will ich hier nur eine ausführlich darstellen (Seligman, 1968).

Zwei Gruppen hungriger Ratten lernten zuerst, einen Hebel mit hoher Reaktionsrate zu drücken, um Futter zu erhalten. Eine Gruppe erhielt 15 Tage lang jeweils eine Sitzung von 50 Minuten Dauer, in denen drei jeweils einminütige Signale (CS) – vorhersagbar – mit einem elektrischen Schlag endeten. Eine zweite Gruppe erfuhr die gleichen Signale und elektrischen Schläge, doch waren diese – unvorhersagbar – zufällig über die Zeit verstreut, so daß die Wahrscheinlichkeit, einen Schock zu erhalten, gleich war, ob nun das Signal gesetzt wurde oder nicht. Unabhängig davon führte Hebeldrücken weiterhin zu Futter.

Die Ergebnisse waren verblüffend. Zuerst hörten die Tiere der Gruppe mit vorhersagbaren Kontingenzen auf, den Hebel zu drücken und zwar unabhängig davon, ob ein Signal gesetzt wurde oder nicht. Nach und nach lernten sie aber, zwischen den Kontingenzen Signal/Schock und kein Signal/kein Schock zu diskriminieren und unterdrückten ihre Reaktionen nur noch während des Signals und drückten den Hebel, wenn der CS aussetzte: sie zeigten also Furcht während des CS, aber keine Furcht, solange der CS ausblieb.

Die Gruppe mit unvorhersagbaren Kontingenzen verfügte über kein Sicherheitssignal, in dessen Anwesenheit kein Schock erfolgen würde. Sie stellten die Hebeldruckreaktionen völlig ein, unabhängig von dem CS, und drückten den Hebel während der verbleibenden 15 Experimentalsitzungen kein einziges Mal mehr. Vielmehr lagen sie während der ganzen Sitzungen zusammengekauert in einer Ecke und zeigten deutliche Zeichen chronischer Furcht oder Angst. Im Gegensatz zu den Versuchstieren der Gruppe mit vorhersagbaren Kontingenzen entwickelten die Tiere mit unvorhersagbaren Kontingenzen massive Magengeschwüre.

Davis und McIntire (1969) beobachteten in einem vergleichbaren Experiment bei der Gruppe mit unvorhersagbaren elektrischen Schlägen eine gewisse Erholung der Hebeldruckreaktion nach vielen Sitzungen. Seligman und Meyer (1970) vermuteten, daß dieser Erholungseffekt dadurch verursacht sein könnte, daß die Tiere in jeder Sitzung genau drei elektrische Schläge erhielten. Möglicherweise waren die Ratten in der Lage, bis drei zu zählen und zu lernen, daß nach dem dritten Schock kein weiterer folgen würde; demnach dürfte die Erholung erst nach dem dritten elektrischen Schlag eintreten, da die Ratten den dritten Schock als Sicherheitssignal nutzten. Eine Bestätigung dieser Vermutung würde die Sicherheitssignal-Hypothese nicht widerlegen, sondern im Gegenteil bekräftigen und ausweiten. Um dies zu überprüfen verabreichten Seligman und Meyer zwei Gruppen von Ratten an 70 aufeinander folgenden Tagen mit jeweils einer Sitzung pro Tag unvorhersagbare elektrische Schläge. Die Versuchstiere der einen Gruppe erhielten genau drei elektrische Schläge pro Tag, während die Versuchstiere der anderen Gruppe ein bis fünf – durchschnittlich drei – Schocks pro Tag erfuhren. Während der letzten 30 Sitzungen zeigten die Tiere der ersten Gruppe einen gewissen Erholungseffekt: sie führten 61,6% aller ihrer Hebeldruckreaktionen während des nach dem dritten Schock verbleibenden letzten Viertels einer Sitzung aus. Die Tiere der zweiten Gruppe führten nur 25% der ohnehin spärlichen Hebeldruckreaktionen während der nach dem dritten Schock verbleibenden 25% der Sitzung aus. Ratten können scheinbar bis drei zählen und das Eintreffen des dritten elektrischen Schlages dann als Sicherheitssignal wahrnehmen.
Ebenso wurde der Psychogalvanische Hautreflex, ein Angstindikator, der in Beziehung zur Schweißdrüsenaktivität steht, während vorhersagbarer und unvorhersagbarer traumatischer Bedingungen gemessen.

Price und Geer (1972) konfrontierten männliche Studienanfänger mit einer Reihe von Bildern blutüberströmter Leichen. Für die Gruppe mit vorhersagbaren Kontingenzen kündigte ein acht Sekunden dauernder Ton jedes Diapositiv an, so daß die Versuchspersonen wußten, daß ohne Ton keine Leichen vor ihnen erscheinen würden. Die Gruppe unter Unvorhersagbarkeitsbedingungen hörte keinen Ton: sowohl der Anblick der toten Körper als auch Sicherheit waren unvorhersagbar. Die Gruppe unter Vorhersagbarkeitsbedingungen zeigte während des Tones, nicht aber zwischen den Tönen, starke PGR-Ausschläge. Wie erwartet war bei der Gruppe unter Unvorhersagbarkeitsbedingungen während der gesamten Versuchsphase gleichbleibend erhöhte Schweißaktivität zu beobachten. Die Messung von CER und PGR läßt also annehmen, daß während unvorhersagbarer traumatischer Ereignisse chronische Furcht erlebt wird, weil kein Sicherheitssignal zur Verfügung steht.

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