Auszüge aus Hubert Schleichert's
"Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren"

Anleitung zum subversiven Denken

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Vorwort

Argumentieren ist eine fundamentale Tätigkeit des Menschen: Er versucht, mit den Mitteln der Sprache seine Mitmenschen für seine Position, seine Thesen, zu gewinnen. Manchmal gelingt das, oft mißlingt es; aber selbst in Fällen, wo der Mißerfolg von vorneherein abzusehen ist und die historische Erfahrung die argumentierende Auseinandersetzung als hoffnungslos erscheinen läßt – in den großen ideologischen oder religiösen Kontroversen, finden sich immer wieder Versuche dazu, sozusagen auf Hoffnung, wo nichts zu hoffen ist. Wie ist das noch zu begreifen? Es ist die Absicht dieses Buches, nach Bereitstellung der nötigen methodischen Mittel ein wenig Licht in diese logisch dunkle Ecke zu werfen.

Eine Untersuchung über das Argumentieren wird dem Leser kaum etwas völlig Neues bringen – jedermann argumentiert ja tagtäglich. Eine solche Untersuchung kann nur Strukturen und Eigentümlichkeiten von Argumentationen deutlicher zu Bewußtsein bringen, den kritischen Blick schärfen und – leider – auch einige Illusionen über die Macht von Argumentationen zerstören.

Jeder Mensch hat irgendwelche Grundprinzipien des Denkens und Handelns, die sich nicht mehr aus vorangehenden Prinzipien ableiten lassen, und die, logisch gesehen, "ideologisch" sind; das ist normal, und die Auseinandersetzung damit ist nicht unbedingt brisant. Die Sache ändert sich, wenn eine Ideologie fanatisch wird und beginnt, die Welt zu tyrannisieren. Es kommt dann zu den religiösen, rassischen, ideologischen oder ethnischen "Säuberungen". Dies ist der Punkt, an dem nach einer aufklärerischen Gegenbewegung gerufen wird; aber sie hätte schon viel früher einsetzen müssen. Zwischen einer scheinbar harmlosen Ideologie und ihren gar nicht harmlosen, radikalen Anwendungen lassen sich keine klaren Grenzen ziehen. Deshalb muß die Aufklärung an der Wurzel des Übels ansetzen. Es rächt sich, wenn man den Glauben an Hexen und Zauberer respektiert und zugleich hofft, daß niemand diesen Glauben "mißbrauchen" oder "radikal" interpretieren, d.h. auf die Jagd nach Hexen und Teufeln gehen wird.

Die Untersuchung der Argumentationsformen bei ideologischen Konflikten ist zugleich eine Untersuchung über die Methoden der Aufklärung. Obwohl das vorliegende Buch bezüglich dieser Methoden zu eher ernüchternden Ergebnissen gelangt, ist es keineswegs pessimistisch.

Das Buch hat zwei Teile; der erste behandelt Argumentationen, die von einer gesicherten oder jedenfalls im Augenblick nicht weiter strittigen Basis ausgehen können. Der zweite Teil untersucht Argumentationen, bei denen gerade die Basis selbst strittig ist. Letzteres ist die typische Form der Auseinandersetzung mit Ideologien. Wir werden diesen Fall anhand eines extremen Beispielmaterials diskutieren, nämlich des religiösen Fanatismus, seiner Befürworter und seiner Gegner. Dieses, dem Bewohner des seinerzeit christlichen Abendlandes noch ein wenig bekannte, hierselbst aber gegenwärtig nicht brennende Beispielmaterial ermöglicht es, die methodischen Probleme besonders deutlich herauszuarbeiten. Alles, was dabei an methodischen Einsichten gewonnen werden kann, läßt sich auf andere ideologische Auseinandersetzungen übertragen. Der religiöse Fanatismus ist für eine theoretische Analyse besonders gut geeignet, denn bei ihm ging bzw. geht es (zumindest angeblich) nur um die ewige Seligkeit. In anderen Fällen, z.B. beim nationalistischen Fanatismus, sind die Verhältnisse leider erheblich komplizierter: Hier stehen nicht bloß metaphysische, sondern auch sehr irdische Fragen zur Diskussion.

Dieses Buch ist also keine Anleitung zur oder Durchführung von Religionskritik. Die Religion dient unseren Überlegungen nur als Beispiel. Daß keine Ideologie, Religion oder Institution ein Monopol auf Unmenschlichkeit und Fanatismus hat, versteht sich im übrigen leider von selbst. Diese Pest befällt Fromme wie Gottlose.

Überirdische Konflikte sind durch eine aufklärerische Analyse leichter zu entschärfen als irdische, machtpolitische; wenn zwei Nationalitäten um dasselbe Stück Land streiten, wird auch die scharfsinnigste Analyse ihrer Argumente (so wertvoll diese Analyse auch sein mag) nicht viel zur Konfliktlösung beitragen. Es ist ein Nebenzweck dieses Buches, allfällige Illusionen darüber zu zerstören.

Wer sich eine Sammlung von Rezepten für ein garantiert wirkungsvolles Argumentieren erwartet, wird enttäuscht werden. Die Analyse von Argumentationen liefert immer wieder die Einsicht, daß so gut wie jede Argumentationsfigur mutatis mutandis [mit den nötigen Änderungen] von Befürwortern wie von Gegnern einer These benützt werden kann. Ein Argument, das eine Doktrin in den Augen des Kritikers der vernichtenden Lächerlichkeit preisgibt, wird von einem Anhänger derselben Doktrin ganz anders bewertet: als dummes Mißverstehen dieser Doktrin etwa, oder als Lästerung. Man braucht aus dieser normalen menschlichen Situation keine nihilistischen Folgerungen zu ziehen; man sollte aber daraus lernen, daß Argumente so differenziert wie nur möglich benützt werden sollten und daß man seines Erfolges nie zu sicher sein darf, auch dann nicht, wenn man überzeugt ist, Wahrheit, Menschlichkeit oder Toleranz auf seiner Seite zu haben.

Dieses Buch ist nicht für Spezialisten, sondern für einen breiteren Leserkreis geschrieben. Es enthält daher kaum Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen gelehrten Literatur und setzt deren Kenntnis nicht voraus. Dies bedeutet nicht, daß der Verfasser diese Literatur nicht dankbar zur Kenntnis genommen und ihr manche Anregung und das eine oder andere besonders instruktive Beispiel entnommen hat.

Der Verfasser dankt seinen Freunden und Kollegen sehr herzlich, die das Manuskript durchgesehen und ihm zahlreiche wertvolle Hinweise gegeben haben: Paul Hoyningen-Huene/Konstanz, Elisabeth Leinfellner/Wien, Martin Schneider/Münster, Peter Stemmer/Konstanz.

Einleitung

Überzeugen und Überreden

Argumentieren ist der Versuch, die Wahrheit eines Satzes (im Folgenden "These" genannt) nachzuweisen. Dabei lassen sich zwei Fälle unterscheiden, der normale oder Standardfall und der fundamentale oder Non-Standard-Fall.

Im Standardfall ergibt sich die These logisch zwingend ("schlüssig", "konklusiv") aus anderen Sätzen, den Argumenten. Hier geht man davon aus, daß gewisse Sätze, die Argumente, bereits akzeptiert bzw. akzeptabel sind. Diese Argumente bilden eine Basis, die bei der Argumentation nicht mehr in Frage gestellt wird. Man argumentiert für eine These, indem man zeigt, daß sie aus der (eventuell durch unproblematisches Hintergrundwissen erweiterten) Argumentationsbasis logisch folgt, oder indem man zeigt, unter welchen zusätzlichen Voraussetzungen die These aus der Argumentationsbasis folgen würde.

Wann ein Satz aus anderen Sätzen folgt, wird von der Logik untersucht, und jede korrekte Argumentation hat den Regeln der Logik zu genügen. Im Alltag sind sehr oft nur Wahrscheinlichkeitsschlüsse möglich, d.h. die These kann nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bewiesen werden. In diesem Fall muß die Argumentation eben den Regeln der Wahrscheinlichkeitslogik genügen. Besondere logische Probleme treten dabei nirgends auf – Argumentieren ist mehr vom inhaltlichen als vom formal-logischen Standpunkt aus interessant, worauf auch die Schwierigkeiten beruhen, es einigermaßen systematisch zu erfassen. Dies bedeutet nicht, daß die Logik falsch oder unbrauchbar ist oder durch eine neue Logik ersetzt werden müßte; es bedeutet schon gar nicht, daß das Argumentieren sich außerhalb der Regeln der Logik bewegt, bewegen kann oder bewegen sollte.

Argumentationen haben häufig nicht die Form eines schlüssigen Beweises; wenn man aber unterstellt, daß eine korrekte Argumentation vorliegt bzw. beabsichtigt ist, läßt sich eine Rekonstruktion der ursprünglichen Argumentation geben, die den Regeln der Logik genügt, d.h. bei der die These tatsächlich aus den Argumenten nach den Regeln der Logik folgt. Zu diesem Zweck müssen gewöhnlich Argumente hinzugefügt werden, die in der ursprünglichen Argumentation fehlten bzw. stillschweigend vorausgesetzt wurden. Es kann vorkommen, daß man auf ein besonders problematisches Argument erst durch die Rekonstruktion aufmerksam wird.

Der Non-Standard- oder Fundamentalfall einer Argumentation liegt vor, wenn keine ausreichende Argumentationsbasis vorhanden ist bzw. wenn es um Sätze der Argumentationsbasis selbst geht, etwa um fundamentale Werturteile, Glaubenssätze, Prinzipien. Wer für solche Sätze wirbt, kann sich letzten Endes nicht auf andere Sätze berufen. Natürlich wird man zuerst immer versuchen, doch noch Argumentationen für oder gegen die Prinzipien zu finden, aber da man dabei wieder auf andere Prinzipien zurückgreifen muß, wird man bald zu einem Ende der Diskussion kommen. Es steht dann Prinzip gegen Prinzip. Das ist die Situation in den Konflikten zwischen verschiedenen Ideologien, Religionen, Weltanschauungen. An solchen Auseinandersetzungen ist nun bemerkenswert, daß man sie – scheinbar aller Logik zum Trotz – zumindest manchmal ebenfalls argumentativ auszutragen versucht.

Man könnte sagen, daß man im Normalfall zu überzeugen versucht, im Fundamentalfall aber – nachdem das Überzeugen offenbar nicht funktioniert – zu überreden. Obwohl das vorliegende Buch grob der Zweiteilung von Überzeugen und Überreden folgt, sollte klar sein, daß diese Dichotomie in der Praxis nicht immer scharf ist. Als einfaches Modell zur Analyse des Argumentierens ist sie aber gut geeignet.

Wenn wir z.B. für die These argumentieren wollen, daß man keine Drogen zu sich nehmen soll, so werden wir vermutlich das Argument vorbringen, daß Drogen die Gesundheit ruinieren und das Leben drastisch verkürzen. Dies, zusammen mit der Annahme, daß niemand seine Gesundheit ruinieren und sein Leben verkürzen will, bildet die Basis der Argumentation. Aus dieser Basis folgt dann die These. Das ist der Normalfall des Argumentierens.

Einem Drogensüchtigen kann man jedoch mit dem Argument, die Droge zerstöre seine Gesundheit und verkürze sein Leben, nicht kommen. Diese Tatsachen sind ihm durchaus bekannt, aber vermutlich bewertet er den Zustand des Drogenrausches höher als Gesundheit oder langes Leben. Sein Wertesystem, seine Grundprinzipien sind dann andere. Wie kann man dann noch mit ihm argumentieren? Das ist die Frage nach Möglichkeiten, Methoden und Grenzen des fundamentalen Argumentierens.

Das allgemeine Schema der konklusiven Argumentation

Die Ausdrücke Argumentieren, Begründen, Beweisen, Rechtfertigen, werden gewöhnlich unterschiedslos benützt. Jede korrekte Argumentation ist ein Beweis für ihre These bzw. als solcher rekonstruierbar, doch ist die formallogische Struktur des Beweises nicht besonders interessant, denn im Alltag werden keine raffinierten logischen Figuren benützt. Die Grundsituation ist einfach: Es liegt eine Behauptung, Aufforderung, Meinung, Norm, Anschuldigung, kurz, eine These vor, und es wird gefragt: Warum?

Antworten darauf nennt man Argumentationen. Sie werden manchmal akzeptiert, manchmal zurückgewiesen. Jede Argumentation läuft auf etwas hinaus, hat ein Ziel; sonst ist es (wie Neujahrsansprachen von Staatspräsidenten) keine Argumentation. Eine Argumentation (im engeren Sinne, d.h. eine korrekte) ist eine Folge von Sätzen, durch welche eine These in logisch korrekter Weise nachgewiesen wird. Die Sätze, mit denen man beginnt, heißen Argumente der Argumentation. Ein isolierter Satz kann nicht sinnvoll als Argument bezeichnet werden. Die Argumente sind die Ausgangsbasis der Argumentation; wenn eine solche Basis nicht vorhanden ist, läßt sich nicht (regulär) argumentieren.

Das logische Grundschema des Argumentierens ist also: Aus Argumenten A1, A2, ..., An folgt die These T.

Argumentationen haben häufig (aber keineswegs immer) die Form von Dialogen oder können als solche rekonstruiert werden. Jemand behauptet eine These, und sein Gegenüber verlangt eine Argumentation dafür. Gelingt die Argumentation, so ist genug getan, um den Zweifler zu überzeugen. Ob dieser seinen Zweifel tatsächlich aufgibt, d.h. die Frage der psychologischen Wirksamkeit der Argumentation, geht uns hier nichts an. Es gibt sicher korrekte Argumentationen, die praktisch wirkungslos bleiben; und es sind unkorrekte Argumentationen denkbar, die die Zuhörer mitreißen.

Die Grundfrage der Argumentationslehre lautet: Was ist eine schlüssige und damit (zumindest potentiell) überzeugende Argumentation? Die Antwort darauf ist einfach, aber auch reichlich allgemein: Eine Argumentation ist schlüssig, wenn sie die Wahrheit der These garantiert. Das ist genau dann der Fall, wenn alle Argumente wahr sind und die These logisch aus den Argumenten folgt. Die Umkehrung dieses Satzes ergibt ein allgemeines Schema für das Zurückweisen von Argumentationen: Eine Argumentation ist nicht zwingend, wenn sie die Wahrheit der These nicht garantiert. Dies ist der Fall, wenn mindestens eines der Argumente falsch ist oder wenn die These nicht logisch aus den Argumenten folgt.

Der Fall, daß die These logisch gar nicht aus den Argumenten folgt, wird in den Lehrbüchern der Logik als eine Art Anhang behandelt; man spricht dann von Trugschlüssen. Praktische Bedeutung haben Trugschlüsse nicht, und wir werden sie nicht behandeln. Eine interessante Kritik an Argumentationen ist immer eine inhaltliche Kritik an den Argumenten. In der Praxis geht man davon aus, daß eine Argumentation logisch korrekt ist, daß die These also aus den Argumenten folgt, sofern die Argumente nur wahr sind. Der Kritiker hat aber zu untersuchen, welche Argumente tatsächlich benützt werden und ob sie wahr bzw. akzeptabel sind.

Logik, Rhetorik und Argumentation

Es gibt noch eine andere Lehre, die sich mit der Kunst des Überzeugens und Überredens befaßt, die Rhetorik. Sie hat seit jeher keinen ganz einwandfreien Ruf. Schon im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung soll der Sophist Protagoras gelehrt haben, daß man über jede Sache mit gleichem Recht nach beiden Seiten disputieren könne, und seinen Schülern gezeigt haben, wie man die schwächere Seite zur stärkeren macht. Ohne Zweifel, man kann für jede These eine Rede halten, und auch für ihr Gegenteil. Und man hat oft den Eindruck: Wer die bessere, geschicktere Rede hält, gewinnt sein Publikum, gleichviel, ob seine Thesen wahr sind oder nicht. Das scheint gegen die Redekunst zu sprechen; es darf aber nicht übersehen werden, daß auch jede korrekte Argumentation sich der Rede bedient, so daß zwischen Argumentationslehre und Rhetorik eine strikte Trennung nicht gezogen werden kann.

Logik und Rhetorik haben sich im Lauf der Geschichte weit auseinander entwickelt. Die Rhetorik hat sich mit der Zeit vorwiegend zu einer Kunstlehre des schönen Redens entwickelt, die uns hier nicht weiter interessiert. Die Logik andererseits ist eine systematisierte, sehr allgemeine Theorie über das Beweisen, in der von inhaltlichen Gesichtspunkten ganz abstrahiert wird. Nur die Form der Sätze ist für die logische Analyse wichtig, d.h. ihre Struktur, die sich aus der Anordnung von Wörtern wie alle, keiner, einige, nicht, oder, und, wenn ... dann ergibt. Die Analyse von Argumentationen, wie sie im Folgenden dargestellt wird, ist dagegen ganz von inhaltlichen Überlegungen geleitet. Zwei Argumentationen können exakt dieselbe logische Struktur besitzen, und doch von völlig unterschiedlicher Bedeutung oder Reichweite sein. Aber selbstverständlich muß jede Argumentation logisch einwandfrei sein.

Das Enthymem

Das Enthymem ist eine im Alltag überaus häufig benützte Form des Argumentierens. An ihm läßt sich sehr gut erkennen, wie sich die logische und die rhetorische Betrachtungsweise unterscheiden. Mit dem Begriff des Enthymems ist zweierlei gemeint:

1. In so gut wie allen alltäglichen Argumentationen erwähnt man nicht alle eigentlich nötigen Prämissen ausdrücklich, denn das wäre unnötig, langweilig, abstoßend, quälend. Wendet sich ein Redner an ein ihm wohlbekanntes Publikum, z.B. an Rechtsanwälte, Ärzte, Katholiken etc., so kann er bei seinen Zuhörern ohne weiteres bestimmte Kenntnisse und Urteile voraussetzen und muß sie nicht ausdrücklich erwähnen. Man argumentiert korrekt, aber enthymematisch, wenn man sagt: Sokrates ist sterblich, denn er ist ein Mensch. Durch explizites Hinzufügen des nur im Geiste (en thymo) formulierten, aber nicht ausgesprochenen Arguments Alle Menschen sind sterblich wird daraus die Standardform eines korrekten logischen Schlusses: Alle Menschen sind sterblich; Sokrates ist ein Mensch; also ist Sokrates sterblich. Bei Bedarf kann eine enthymematische Argumentation durch Hinzufügen der fehlenden Argumente also stets auf die Form eines vollständigen Schlusses gebracht werden. Der Unterschied zwischen einem logisch korrekten Beweis und einer rhetorischen Argumentation ist hier ein rein äußerlicher, technischer. Dies ist die erste Bedeutung von "Enthymem".

Nehmen wir folgendes Beispiel. Meier sagt: Ich finde, X sollte wieder Regierungschef werden; die Zeiten sind schwierig, und X hat schon zehn Jahre regiert. Müller aber entgegnet: Ich finde, X sollte nicht mehr Regierungschef werden; die Zeiten sind schwierig, und X hat schon zehn Jahre regiert. Diese beiden enthymematischen Argumentationen sind äußerlich ganz gleich, führen aber zu entgegengesetzten Thesen. Der Grund dafür ist klar: Die beiden Argumentationen benützen zwei verschiedene, nicht ausgesprochene Argumente. Für die Analyse ist es nötig, die nicht ausgesprochenen Argumente explizit zu machen; häufig sind gerade sie der eigentliche Streitpunkt. Meier geht von dem Satz aus: Wenn die Zeiten schwierig sind, sollte man einen alt gedienten Regierungschef nicht auswechseln. Müller dagegen vertritt genau die gegenteilige Position.

2. Im Bereich des menschlichen Handelns oder Wissens läßt sich selten etwas mit absoluter Sicherheit behaupten, immer könnte es sich auch anders verhalten. Man kann oft nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen, Thesen oder Argumente über das, was meistens oder vermutlich so und so ist. Dies ist die zweite Bedeutung von Enthymem. Man nehme etwa die folgende Argumentation: Man darf dem Politiker X nichts glauben, denn er steht gerade im Wahlkampf. Man wird eine solche Argumentation zwar nicht völlig ablehnen, aber doch einige Bedenken haben. Es soll dem Vernehmen nach Politiker geben, denen man Wahlversprechen glauben darf. Die Auflösung des Enthymems hätte also etwa zu lauten: Politiker lügen im Wahlkampf häufig; X ist ein Politiker; also lügt X mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Das ist ein Wahrscheinlichkeitsschluß. Der Schluß als solcher ist logisch korrekt und zwingend, aber er garantiert nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die These, weil auch die Argumente nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit besitzen.

Universale Argumentationsschemata

Das schon erwähnte universale Schema einer korrekten Argumentation: Aus Argumenten A1, ... An folgt die These T läßt sich noch weiter ausdifferenzieren, z.B. nach einem Vorschlag von Toulmin. Man kann die Argumente einteilen in solche, die sich konkret und speziell auf den vorliegenden Fall beziehen ("Daten"), und in allgemeinere Sätze, Gesetzmäßigkeiten oder Grundsätze ("Prinzipien"). Diese Dichotomie ist keineswegs immer eindeutig, aber in vielen Fällen ist sie ein gutes Hilfsmittel für die Analyse. Eine weitere Verfeinerung des Schemas betrifft die Sicherheit, mit der die These aus den Argumenten gefolgert werden kann. Manchmal folgt die These notwendig, manchmal nur wahrscheinlich. Schließlich gehen in Argumentationen immer explizite oder implizite Ausnahmebedingungen ein, d.h. die These soll aus den Argumenten folgen, außer wenn bestimmte Ausnahmebestimmungen erfüllt sind. Einschränkende Bedingungen könnten allerdings auch als Daten oder Prinzipien formuliert werden, doch ist es mitunter zweckmäßig, sie eigens anzuführen, um z.B. extreme Sonderfälle, an die man normalerweise nicht denkt, gesondert zu erfassen.

Die Tatsache, daß eine Frau schwanger ist, ist aufgrund der biologischen Gesetzmäßigkeiten ein zwingendes Argument dafür, daß einige Zeit davor ein Geschlechtsakt stattgefunden hat – außer es liegt entweder eine künstliche Befruchtung oder der seltene Fall einer Einwirkung des Heiligen Geistes vor.

Damit erhält man das folgende universale "Toulmin-Schema" des Argumentierens: Aus Daten D1 ... Dn und Prinzipien P1 ... Pm folgt, sofern nicht eine Ausnahme E vorliegt, mit der Sicherheit S die These T.

Der Wert eines Schemas wie das von Toulmin besteht hauptsächlich darin, daß es eine Anleitung zur genauen und vollständigen Rekonstruktion einer Argumentation gibt. Im Alltag werden Argumentationen kaum je vollständig formuliert, sondern nur skizziert. So werden z.B. Prinzipien, die allgemein bekannt oder nicht kontrovers sind, gar nicht angeführt. Aber eine kritische Auseinandersetzung mit einer Argumentation ist erst möglich, wenn letztere nicht in enthymematischer Gestalt vorliegt, sondern auf die Form eines logisch einwandfreien Beweises gebracht wurde.

Das Toulmin-Schema hat große Ähnlichkeit mit einem Schema, das schon viel früher von Hempel und Oppenheim für die Struktur wissenschaftlicher Erklärungen angegeben worden ist. Das Hempe/Oppenheim-Schema besagt im wesentlichen: Eine Erklärung für eine Tatsachenfeststellung T besteht darin, daß T aus allgemeinen Sätzen (Naturgesetzen) A1, ..., Am und aus speziellen Sätzen (Anfangs- und Randbedingungen) D1, ..., Dn logisch hergeleitet wird, also: Aus A1, Am und D1, ..., Dn folgt T.

So folgt z.B. aus den Gravitationsgesetzen, zusammen mit Daten über einen speziellen Apfel an einem speziellen Ast, daß dieser Apfel, wenn man seinen Stiel durchtrennt, in einer bestimmten Zeit auf die Erde fällt. Die Analogie zum Toulmin-Schema ist nicht überraschend; Erklären, Argumentieren, Beweisen sind logisch gesehen dasselbe.

Spezielle Argumentationslehren: Die Status-Lehre

Je universeller eine Argumentationslehre ist, desto nichtssagender wird sie, das ist nicht zu vermeiden. Das Toulmin-Schema und alle ähnlich umfassenden Schemata des Argumentierens sind ebenso allgemein wie trivial. Die Aussichten auf eine praktisch nutzbare Theorie werden deutlich besser, wenn man die Fragestellung inhaltlich einengt, etwa: Wie argumentiert ein Advokat, ein Prediger, ein Psychotiker, ein Werbetexter?

Eine solche Beschränkung der Fragestellung kann zu einer konkreteren, lebensnäheren und eventuell auch praktisch verwertbaren Argumentationslehre führen. In gewissen speziellen Bereichen sind die Argumentationsformen vielleicht so stark eingegrenzt, daß eine brauchbare und interessante Theorie aufgestelllt werden kann, die aber immer eine "lokale" sein wird, und keine "globale". Es kann dann sogar nach einer vollständigen Erfassung der für den speziellen Bereich überhaupt bestehenden Argumentationsformen gesucht werden.

Ein klassischer Fall ist die Gerichtsverhandlung. Hier ist die These klar: Gezeigt werden soll die Schuld/Unschuld eines Angeklagten; auch liegen die Prinzipien des Verfahrens fest, wodurch die zulässigen Argumente stark vorbestimmt sind. Diese Prinzipien sind juristischer Art: Niemand darf für eine Tat bestraft werden, die er nicht begangen hat oder die er nicht so begangen hat, wie sie ihm vorgeworfen wird, oder die er aus Unwissenheit oder aus edlen Beweggründen bzw. zum allgemeinen Besten begangen hat oder die zu beurteilen das jeweilige Gericht nicht befugt ist. Daraus resultieren die möglichen Verteidigungsargumente, und deshalb ist für diesen Bereich die Aufstellung einer interessanten Theorie des Argumentierens möglich. Sie ist seinerzeit im Rahmen der antiken Rhetorik (speziell von Hermagoras, 2. Jhdt. v. u. Z.) entwickelt worden. Es ist die Lehre von den 4 status (griech. stasis), d.h. Hauptstreitpunkten, das sind jene Punkte, auf die es bei der Verteidigung wesentlich ankommt. Es sind dies:

1. Der status coniecturalis: Das ist die Frage nach dem Täter. Hat der Angeklagte die Tat überhaupt ausgeführt? Das beste Argument des Angeklagten ist immer die Behauptung, daß er die inkriminierte Tat gar nicht begangen habe.

2. Der status definitivus: Der Angeklagte hat tatsächlich irgendetwas getan, aber seine Handlung fällt nicht unter den in der Anklage benützten Begriff. Er hat z.B. tatsächlich einer Frau im Tempel die Börse entwendet, doch war es kein Tempelraub, die sakralen Besitztümer wurden ja nicht angetastet. Oder jemand hat tatsächlich den Tod eines Menschen verursacht, aber nicht vorsätzlich, und deshalb ist eine Anklage wegen Mordes zurückzuweisen.

3. Der status qualitatis: Die Tat wird nicht bestritten, ihre "Qualität" aber näher untersucht. Dies ist manchmal eine sehr ehrenwerte Verteidigung. Hier gibt es zahlreiche Möglichkeiten, wie z.B.: Das Opfer/der Kläger hat die Tat herausgefordert; die Tat war nicht beabsichtigt; es lag Befehlsnotstand vor; es war Gefahr für den Staat in Verzug; die Tat war aus Gründen der Moral oder der Ehre geradezu geboten. (Klassisches Beispiel: Ja, ich habe meine Mutter getötet, denn sie hat meinen Vater ermordet.) Politisch oder religiös motivierte Mörder pflegen sich mit dem Hinweis auf die besondere Qualität ihrer Tat zu rechtfertigen.

4. Der status transiationis: Das ist die Frage, ob sich die Anklage nicht abweisen läßt, ohne sie inhaltlich zu erörtern. Das ist möglich, wenn das Gericht nicht zuständig ist. Ein Abweisen der Anklage kann vorteilhaft sein, wenn zu erwarten ist, daß das tatsächlich zuständige Gericht günstiger urteilen wird, als das, vor dem der Fall im Moment verhandelt werden sollte.

Die Idee der Status-Lehre war sicher, daß damit sämtliche Argumentationsmöglichkeiten erschöpft sind und daß es für den Verteidiger genügt, eine einzige davon zu gewinnen. Das Schema der 4 status kann auch als Anleitung für den Richter gedeutet werden: Worauf hat er zu achten, wenn er das Urteil fällt. Die zugrundeliegenden Überlegungen sind inhaltlicher Art; rein logische Analysen dagegen wären nicht hilfreich.

Es ist klar, daß die Status-Lehre kein universales Argumentationsschema ist und in zahllosen Bereichen unanwendbar sein wird. Andererseits ist sie nicht ganz so partikulär und beschränkt, wie es scheinen mag; sie läßt sich überall dort anwenden, wo es um die Verteidigung gegen Anklagen geht. Unter Rückgriff auf die Status-Lehre lassen sich z.B. die verschiedenen "Lösungen" des Problems der Theodizee* gut analysieren.

* Von Leibniz geprägter Begriff, Versuch einer "Rechtfertigung Gottes" angesichts des physischen Übels, des moralischen Bösen und des Leidens in der Welt, als Problem in fast allen Religionen anzutreffen, im Alten Testament besonders im Buch Hiob behandelt [griech. theos "Gott" und dikazein "Recht sprechen, richterlich entscheiden" zu dike "Recht"].

Das Problem besteht in der Frage nach dem Zusammenhang zwischen einem als allwissend, allmächtig und allgütig vorausgesetzten Gott und dem vielen Übel und Leid in der von diesem Gott geschaffenen und vorhergesehenen Welt. Dieser Gott wird also wegen der Übel in der Welt angeklagt. Das Problem ist für Hochreligionen wie das Christentum ein sehr dringliches, doch stammt seine Formulierung bereits aus vorchristlicher Zeit. Bei dem Philosophen Epikur (341-270 v.u.Z.) ist zu lesen:

Entweder will Gott die Übel beseitigen, kann es aber nicht.
(Dann ist er schwach, also kein Gott.)
Oder er kann es und will es nicht.
(Dann ist er mißgünstig, also kein Gott.)
Oder er kann es nicht und will es nicht.
Oder er kann es und will es (wie es sich allein für einen Gott gehört)
– woher kommen dann die Übel in der Welt?

Bei Epikur dient die Fragestellung dem Ziel, den Gottesbegriff fragwürdig zu machen. Innerhalb der christlichen Theologie aber mußte man versuchen, die Anklage gegen Gott irgendwie zu entkräften. Die dafür in Frage kommenden Argumentationsmöglichkeiten lassen sich anhand der Status-Lehre klassifizieren. Zugleich folgt aus dieser Lehre, daß die Möglichkeiten damit erschöpft und neuartige Argumente nicht mehr zu erwarten sind. Das ist eine wichtige Einsicht. Folgende Argumente zur Abwendung der Anklage können demnach versucht werden:

1. status coniecturalis: Stammen die Übel in der Welt tatsächlich von Gott, oder sind sie etwa einer anderen Macht zuzurechnen, den Kräften der Finsternis, wie die Manichäer lehrten? (Dies würde aber der Allmacht Gottes widersprechen.)

2. status definitivus: Unbestreitbar gibt es in der Welt vieles, das uns unangenehm erscheint; aber handelt es sich wirklich um Übel, die man Gott vorwerfen kann? Sie könnten z.B. Strafen für unsere Sünden sein. (Das steht aber im Widerspruch zu Gottes Allgüte und Allmacht. Die riesige Menge der Übel in der Welt ist als Strafe für unsere Sünden wohl reichlich überzogen; und warum müssen z.B. auch kleine Kinder soviel leiden, ehe sie sündigen können? Außerdem hätte ein gütiger und allmächtiger Gott die Menschen auch mit sanfteren Mitteln auf seine Wege leiten können. Deutet man die Übel als Strafe, so stolpert man außerdem in den Konflikt zwischen Gottes Allwissenheit und der Schuldfähigkeit des Menschen vor Gott: Wenn Gott vorhersieht, daß der von ihm geschaffene Mensch sündigen wird, dann ist es nicht gerecht, diesen Menschen hinterher dafür zu bestrafen.)

3. status qualitatis: Könnte es nicht sein, daß die sogenannten Übel z.B. aus Gründen der Harmonie des gesamten Alls unvermeidlich sind? Die Welt wäre vielleicht nicht so vollkommen, wenn sie gänzlich ohne Übel wäre. (Aber es hat noch niemand zeigen können, inwiefern Übel und Leid für die Schönheit der Welt notwendig sind. Was trägt es zur Vollkommenheit der Schöpfung bei, wenn jemandem ein Bein amputiert werden muß? Zu sagen, die ganze Fülle des Elends in der Welt sei unverzichtbar um der höheren Vollkommenheit der Welt willen, ist extrem zynisch und widerspricht Gottes Allmacht und Güte.)

4. status translationis: Steht es dem Menschen überhaupt zu, über Gott zu urteilen? Das bei Theologen seit Hiobs Zeiten so beliebte Unfaßbarkeitsargument besagt, daß Gottes Gedanken und Eigenschaften für uns nicht zu fassen seien. Unser beschränkter Verstand habe nicht über die Gottheit zu urteilen. (Der Verweis auf die Unzuständigkeit der menschlichen Vernunft bedeutet aber nicht bloß das Ende jeder vernünftigen Diskussion über das Theodizeeproblem, sondern auch das Ende jeder Theologie überhaupt.)

Elemente des Argumentierens

Argumentationen benützen in den allermeisten Fällen einen oder mehrere allgemeine Sätze, wir haben sie bereits die "Prinzipien" genannt. Z.B. bildet der Satz Die Wahrheit wiegt schwerer als die Humanität ein Prinzip jeder fanatisierten Argumentation. Was in einer Argumentation ein Prinzip ist, ob es eventuell mehrere davon (oder, im Trivialfall, gar keines) gibt, ist nicht so sehr eine Frage der Logik, sondern eine des Inhalts, genauer gesagt, unseres Interesses am Inhalt. Da sich Prinzipien häufig wiederholen, ist es möglich, eine Art Katalogisierung von Argumentationsfiguren zu erstellen. Ein solcher Katalog enthält Argumentationsprinzipien, die häufig vorkommen oder die für den Betrachter von besonderem Interesse sind. Es wird sich aber immer um einen unabgeschlossenen Katalog handeln, Was uns interessiert, ist in allen Fällen die Wahrheit bzw. Falschheit dieser Prinzipien.

Manche dieser Prinzipien werden vorwiegend zur Stützung einer These benützt, andere vorwiegend dazu, eine These zu bestreiten, doch läßt sich daraus keine eindeutige Einteilung gewinnen; viele Prinzipien können sowohl für als auch gegen eine These eingesetzt werden.

Im folgenden geben wir eine Auswahl von häufiger vorkommenden Prinzipien der Argumentation. Unsere Aufzählung ist nicht absolut distinkt, d.h. eine konkrete Argumentation erlaubt manchmal mehrere, verschiedene Rekonstruktionen, in denen nicht immer genau dasselbe Prinzip benützt wird. Unser kleiner Katalog ist vor allem eine Beispielsammlung, um den Blick für die wesentlichen und problematischen Stellen in Argumentationen zu schärfen.

Der Katalog wird nur korrekte Argumentationen berücksichtigen, d.h. solche, die die Wahrheit bzw. Wahrscheinlichkeit der These garantieren, vorausgesetzt, die Argumente sind alle wahr bzw. wahrscheinlich. Wir werden zwar auch einige Argumentationstypen anführen, die üblicherweise als unkorrekt gelten. Der Grund dafür, sie hier trotzdem anzuführen, ist, daß sie sich bei entsprechender Rekonstruktion als korrekte Argumentationen ansehen lassen, bei denen allenfalls über die Wahrheit des zugrundeliegenden Prinzips gestritten werden kann. Wir werden das weiter unten anhand der Quellenargumente erläutern.

Das Zurückweisen von Argumentationen spielt im praktischen Leben eine große Rolle. Eine Argumentation ist zurückzuweisen, wenn sie nicht geeignet ist, die Wahrheit der These nachzuweisen. Sofern nicht ein logischer Fehler vorliegt, muß ein Angriff gegen eine Argumentation die Wahrheit bzw. Wahrscheinlichkeit von mindestens einem der Argumente bestreiten. Der Kritiker kann zu diesem Zweck die Wahrheit des (bzw. eines) Argumentationsprinzips bestreiten oder dessen Anwendbarkeit auf den vorliegenden konkreten Einzelfall.

Das Verallgemeinerungsprinzip und das Ausnahmeargument

In moralischen Argumentationen wird sehr oft ein Prinzip der Verallgemeinerung benützt, und zwar meist destruktiv, um eine These zu verwerfen. Man nehme etwa die These Ich darf stehlen und betrügen, soviel ich will, wenn ich mich nur nicht erwischen lasse. Um zu zeigen, daß das keine akzeptable Einstellung ist, weist man darauf hin, wie ungemütlich eine Gesellschaft wäre, in der alle Menschen sich diese egoistische Position zu eigen machen. Wo kämen wir hin, wenn alle so handeln würden! Wer so argumentiert, benützt als allgemeines Prinzip irgendeine Version der berühmten "Goldenen Regel" Was du nicht willst, daß man dir tu ..., z.B. folgende:

Handlungen oder Verhaltensweisen, die unerträglich wären, wenn jedermann sie sich zu eigen macht, sind moralisch schlecht und gehören verboten.

Ohne Zweifel wird das Universalisierungsargument in vielen Fällen sinnvoll eingesetzt. Aber es ist bestimmt nicht absolut selbstverständlich und kann aus verschiedenen Gründen zurückgewiesen werden. Man kann z.B. die Anwendbarkeit des Prinzips einschränken: Wenn die meisten anderen Menschen mit Sicherheit ohnehin nicht so handeln werden wie ich, so besteht kein Anlaß für mich, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, was wäre, wenn etc. Ein Dieb wird zugeben, daß das Leben unerfreulich wäre, wenn alle Menschen ständig stehlen würden, wird aber hinzufügen, daß eben keineswegs alle Menschen dauernd stehlen. Wir müssen unser Leben an der Realität orientieren und nicht an hypothetischen Konstruktionen, wird er hinzusetzen.

Das Verallgemeinerungsprinzip wird oft durch eine Ausnahmeklausel außer Kraft gesetzt. Die Universalisierung wird dabei durch das Argument eingeschränkt, daß eine bestimmte Person oder Position einen derartigen Sonderstatus besitzt, daß das Verallgemeinerungsprinzip nicht angewendet werden darf. Was für das gewöhnliche Menschenvolk gilt, braucht nicht auch für Götter oder gottähnliche Menschen zu gelten: Quod licet jovi non licet bovi.*

* Deutsch: "Was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt" – eine durch Terenz überlieferte Sentenz. Die tatsächliche Herkunft ist nicht vollständig geklärt.

Wahrscheinlich wurde das nachgewiesene Zitat von Terenz – Aliis si licet, tibi non licet. ("Wenn es anderen erlaubt ist, so doch nicht dir." – Heauton timorumenos 797) – erst in mittelalterlicher Zeit in die reimende Form gebracht. Der Reim war in der Antike kein übliches Stilmittel. Das lateinische Zitat wird benutzt, um Ungleichheit in der gesellschaftlichen Stellung und damit verbundene Privilegien zu akzentuieren. Mögliche Übersetzungen:

Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen.
Was der Meister darf, darf der Lehrling noch lange nicht.
Lehrjahre sind keine Herrenjahre.
Was dem Reichen erlaubt ist, ist nicht auch dem Armen erlaubt.
Was dem Offizier erlaubt ist, kann dem Soldaten verboten sein.
Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe.

Nehmen wir zum Beispiel die seinerzeitige Diskussion darüber, ob in einem katholischen Land auch andere Religionen erlaubt sein sollten oder nicht. Verallgemeinert man die in früheren Zeiten so verbreitete religiöse Intoleranz, d.h. nimmt man an, die jeweils vorherrschende Religion (welche auch immer es sei) solle und dürfe gegen alle anderen intolerant sein, so erhält man eine sehr friedlose Welt. Das ist oft als Argumentation gegen religiöse Intoleranz (und damit für Toleranz) benützt worden, z.B. folgendermaßen:

Wenn die Katholiken sagen, es sei ein Verbrechen, nicht an die herrschende Religion zu glauben, so beschuldigen sie ihre eigenen Vorfahren, die ersten Christen, gerade dieses Verbrechens, während sie die Heiden rechtfertigen, die die Christen hinrichten ließen.

Hier wird verallgemeinert: Wenn es ein Verbrechen ist, nicht an die herrschende Religion zu glauben, so ist das immer und überall ein Verbrechen. Diese Verallgemeinerung führt aber zu unerfreulichen Konsequenzen, weshalb man sie durch eine Ausnahmebestimmung einzugrenzen versucht:

Alle Religionen sind Menschenwerk, und allein die römisch-katholisch-apostolische Kirche ist das Werk Gottes.

Die Einschränkung wird oft selbst als allgemeiner Satz formuliert: Was für die Wahrheit beansprucht werden muß, darf keineswegs auch von den vielen irrigen Meinungen oder Häresien beansprucht werden. Praktisch ist damit ein sehr massiver Anspruch verbunden: Ich, meine Kirche, meine Partei (und was dergleichen mehr) ist im Besitz der Wahrheit.

In der Ausnahmebestimmung wird ein allgemeines Prinzip (etwa, daß man gegenüber anderen Meinungen tolerant sein solle) grundsätzlich anerkannt und zugleich für einen bestimmten, singulären Fall außer Kraft gesetzt. Deshalb braucht der Kritiker auch nur die spezielle Ausnahmebestimmung anzugreifen, um die Anwendbarkeit des allgemeinen Prinzips zu garantieren. Typische Ausnahmeargumente sind:

a)       Die Wahrheit (meiner Religion etwa) darf mit den Irrtümern (aller anderen Religionen) nicht auf dieselbe Ebene gestellt werden.
b)      Was für mein Volk, mein Land, meine Partei, meine Kirche, meinen Gott geschieht, ist in jedem Fall gut.

Das Zusammenspiel von allgemeinen Prinzipien und speziellen Ausnahmebestimmungen ermöglicht andererseits erst eine lebensnahe Sittenlehre. Fromme Juden haben Hunderte von Geboten und Verboten zu befolgen; aber wenn es darum geht, ein Menschenleben zu retten, dürfen alle Gebote übertreten werden. Eine ähnliche Argumentation findet sich z.B. in einem Dialog zwischen dem chinesischen Philosophen Menzius und einem Fragesteller. Zum Verständnis des Dialogs muß man bedenken, daß die traditionellen Regeln der Sittlichkeit im alten China von ungeheurer Bedeutung waren und Verstöße dagegen sehr negativ bewertet wurden. Die Unterredung beginnt mit der Versicherung, daß die allgemeinen Prinzipien der Sittlichkeit anzuerkennen seien:

Jemand fragte: "Was ist wichtiger, Sittlichkeit oder Nahrung?"
(Die Antwort war:) "Sittlichkeit!"
"Und was ist wichtiger, Sittlichkeit oder Sexualität?"
"Sittlichkeit!"

Aber dann formuliert Menzius Ausnahmebestimmungen. Er benützt dazu konkrete Beispiele:

Wenn jemand verhungern müßte, der sich der Sittlichkeit gemäß ernährt, während er sich ernähren könnte, wenn er keine Rücksicht auf die Sittlichkeit nimmt, was dann? Wenn jemand, der seine Braut (der Sitte entsprechend) persönlich heimführen wollte, nicht zu einer Frau käme, während er zu einer Frau käme, wenn er sie nicht persönlich heimführt, soll er sie dann persönlich heimführen?

Wenn die Ernährung ein schweres Problem ist, und man vergleicht sie mit einer leichtgewichtigen Regel der Sittlichkeit, dann wiegt selbstverständlich die Ernährung schwerer. Oder wenn die Sexualität ein dringliches Problem ist, und man vergleicht sie mit unwichtigen Regeln der Sittlichkeit, dann wiegt selbstverständlich die Sexualität schwerer.

Man muß aber vorsichtig sein, damit die allgemeinen Prinzipien nicht durch die Ausnahmebestimmungen bedeutungslos werden. Menzius fügt deswegen noch hinzu:
Wenn jemand nur dadurch etwas zu essen bekäme, daß er es seinem Bruder entreißt und ihm dabei noch den Arm ausrenkt, soll er dann seinem Bruder tatsächlich den Arm ausrenken? Oder wenn der einzige Weg, zu einer Frau zu kommen, wäre, daß einer über seines Nachbarn Mauer steigt und dessen jungfräuliche Tochter wegschleppt, soll er das dann wirklich tun?

Es ist kein Zufall, daß hier die Begrenzung der Ausnahmebestimmungen nicht durch einen allgemeinen Satz erfolgt, sondern durch ein drastisches Beispiel. Wir kommen darauf später zurück.

Gerechtigkeits- oder Gleichheitsprinzipien

Hier argumentiert man mit dem allgemeinen Satz:

Wesen, Vorfälle oder Fakten derselben Kategorie sollen auf die gleiche Weise behandelt werden.

Dieses Prinzip wird als solches kaum diskutiert, denn es ist sehr abstrakt; strittig sind seine konkreten Anwendungen.
Die Versuchung liegt nahe, das Prinzip als Kern einer Argumentation für die Demokratie zu benützen. Alle Menschen sind von Natur aus gleich ist ein Argument, dem man nicht gerne widerspricht; zusammen mit dem Gerechtigkeitsprinzip liefert es unter Umständen die These, daß die Demokratie die einzige gerechte Staatsform ist.

Aber die Menschen sind nicht gleich, sonst könnte man sie nicht einmal mit Namen unterscheiden. Sie sind höchstens in gewisser Hinsicht gleich, oder genauer: Wenn man genug nachdenkt, findet man irgendwelche Gleichheiten. Angriffe gegen eine Gleichheitsargumentation brauchen sich deshalb kaum gegen das abstrakte Gleichheitsprinzip zu richten, auch nicht gegen die Behauptung, die Menschen seien in gewisser Hinsicht alle gleich, denn letzteres ist trivial.

Hobbes eröffnet seine politische Philosophie mit folgender Argumentation:

Die Natur hat die Menschen hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten so gleich geschaffen, daß trotz der Tatsache, daß bisweilen der eine einen offensichtlich stärkeren Körper oder gewandteren Geist besitzt als der andere, der Unterschied zwischen den Menschen alles in allem doch nicht so beträchtlich ist, als daß der eine aufgrund dessen einen Vorteil beanspruchen könnte, den ein anderer nicht ebensogut für sich verlangen dürfte. Denn was die Körperstärke betrifft, so ist der Schwächste stark genug, den Stärksten zu töten – entweder durch Hinterlist oder durch ein Bündnis mit anderen ...

Die gleiche körperliche Verletzlichkeit aller Menschen, mit der Hobbes operiert, läßt sich nicht in einer Argumentation für die Demokratie verwenden (was Hobbes auch nicht tut); eher könnte die Gleichheit der Verletzlichkeit aller Menschen ein Argument für die Gleichheit des Schutzbedürfnisses liefern und in weiterer Folge vielleicht ein Argument dafür, daß der Staat allen Bürgern den gleichen Schutz bieten müsse.

Generell läßt sich die Gleichheit in gewisser Hinsicht bestenfalls als Argument für eine Gleichbehandlung in gewisser Hinsicht benützen; in jedem Fall aber muß das Gleichheitsprinzip stark spezifiziert und eingeengt werden.

Dilemma bzw. Fallunterscheidung

Diese Figur besteht aus zwei Argumenten, nämlich,

(1)     daß es außer der These T nur noch endlich viele andere, einschlägige Möglichkeiten gibt (im Fall des Dilemmas: daß es insgesamt nur 2 Möglichkeiten gibt, neben der These T also nur noch eine weitere);

(2)     daß keine der anderen Möglichkeiten der Fall ist bzw. in Frage kommt. Daraus folgt dann logisch zwingend die Wahrheit der These T.

Als Prinzip wird hier ein logisch wahrer Satz benützt, an dem nichts zu kritisieren ist. Deswegen kann man die Argumentation nur angreifen, indem man zeigt, daß (1) die Aufzählung der Möglichkeiten nicht vollständig ist oder (2) daß keineswegs alle anderen Möglichkeiten, ausgenommen T, ausscheiden. Zum Beispiel:

In vielen Ländern der dritten Welt sind Diktaturen wünschenswert; diese Länder haben nämlich nur zwischen Freiheit und Hunger zu wählen, und satt zu sein, ist wichtiger.

Diese Argumentation für die Etablierung von Diktaturen geht davon aus, daß (1) Freiheit und ausreichende Ernährung der Bevölkerung unter den gegebenen Umständen einander ausschließende Ziele sind, und daß weitere relevante Wahlmöglichkeiten nicht bestehen; und (2) daß Freiheit, gekoppelt mit Hunger, nicht wünschbar ist. Werden diese beiden Argumente akzeptiert, so hat man eine korrekte Argumentation für die Etablierung von Diktaturen.

Beliebt bei Fanatikern aller Art ist ein Prinzip, das die Form eines Dilemmas hat:

Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.

Der Satz verschweigt geflissentlich, daß es zumindest noch eine dritte Möglichkeit gibt, nämlich Gleichgültigkeit und Desinteresse der betreffenden Lehre gegenüber.

Eine andere Anwendung des Dilemmas besteht (1) in der erschöpfenden Aufzählung aller einschlägigen Möglichkeiten für die Geltung einer These T, und (2) dem Nachweis, daß keine einzige dieser Möglichkeiten verwirklicht ist oder sein kann. Daraus folgt schlüssig, daß T falsch ist. Der israelische Historiker Moshe Zimmermann vertritt die These, daß in Europa der Antisemitismus keine ernsthafte Gefahr mehr bilde, weil seine Ursachen nicht mehr existieren. Es habe nämlich nur folgende Ursachen gegeben: religiöse Verhetzung durch die christlichen Kirchen, soziale Mißstände (für die man jüdische Fabrikanten und Bankiers verantwortlich machte) und nationale Probleme. Alle diese Ursachen seien inzwischen weggefallen, also bestehe die Gefahr des Antisemitismus (in Europa) nicht mehr.

Die Argumentation benützt (1) eine Fallunterscheidung für die Ursachen eines Phänomens, (2) die Behauptung, keine der aufgezählten Möglichkeiten sei verwirklicht. Es ist klar, daß (1) und (2) anfechtbar sind. In (1), so könnte man z.B. einwenden, seien nur rational einsehbare Ursachen aufgezählt, es könnte aber leider auch andere, irrationale Ursachen geben, etwa ein Bedürfnis nach einem Haßobjekt.

Auch Epikurs Darstellung des Theodizeeproblems, von der früher die Rede war, benützt die Fallunterscheidung. Man erinnere sich, es geht um die Frage, ob Gott die Übel dieser Welt hätte vermeiden können oder nicht und ob er die Übel vermeiden wollte oder nicht. Dies ergibt die 4 von Epikur aufgelisteten möglichen Kombinationen. Epikur zeigt, daß keine von ihnen mit den Grundprinzipien der Religion verträglich ist, genauer: daß es keine befriedigende Erklärung für die Übel dieser Welt gibt, die mit den traditionell angenommenen Eigenschaften der Gottheit verträglich ist.

Relativierung

Wir beginnen mit einem logischen Prinzip:

Wenn es über eine Frage mehrere, konkurrierende Thesen gibt, dann können diese nicht alle gleichzeitig wahr, wohl aber alle gleichzeitig falsch sein.

Die Relativierung ist eine vorwiegend destruktiv benützte Argumentationsfigur. Zu diesem Zweck wird der anzugreifenden These ein Platz in einer größeren Menge von Alternativen angewiesen und damit ihr Einmaligkeitsanspruch angezweifelt. Als Argument gegen die These wird vorgebracht, daß über den in ihr behandelten Sachverhalt auch ganz andere Standpunkte vertreten werden. Der daoistische Philosoph Zhuangzi (China, 4. Jhdt. v. u. Z.) benützt das relativierende Verfahren in vielen Variationen, etwa wie folgt:

Wenn der Mensch an einem feuchten Ort schläft, bekommt er Rheumatismus und ist wie gelähmt. Nicht so der Schlammbeißer. Aber wenn der auf einem Baum sitzt, dann zittert er vor Angst. Und wie steht es mit den Affen? Wer von ihnen kennt also den richtigen Platz zum Leben?

Der Mensch ißt Mastvieh, der Hirsch frißt Gras, der Tausendfüßler delektiert sich an Würmern, die Eule frißt Mäuse. Wer von ihnen besitzt also den richtigen Geschmack? Die Menschen haben ihre Schönheitsköniginnen; aber wenn ein Fisch so eine Schönheit sieht, taucht er in die Tiefe, und wenn ein Vogel sie sieht, fliegt er davon. Wer von ihnen weiß also, was auf Erden wirklich schön ist?

Was kann man mit diesem Argument eigentlich nachweisen, und was will man damit nachweisen, welches Prinzip wird hier (stillschweigend) verwendet? Es kommen zweierlei Prinzipien in Frage. Das eine sagt:

(P1) Wenn über die Zuschreibung eines Begriffes K verschiedene Beobachter zu verschiedenen Urteilen gelangen, dann muß K relativiert werden.

Das heißt: Wenn zwei Beobachter B1 und B2 einander widersprechende Urteile über denselben Sachverhalt abgeben, so ist das kein Widerspruch, denn was B1 für K (z.B. für schön) ansieht, kann für B2 eventuell auch non-K (z.B. häßlich) sein. Deshalb ist der ursprüngliche, "absolute" Begriff K als unbrauchbar zu verwerfen. Man kann nicht schlechthin von einem idealen Lebensraum oder von Schönheit sprechen. An die Stelle des Begriffs schön treten Begriffe wie schön für einen Affen, schön für einen Hund, schön für einen Menschen. Die Relativierung hat einen Hauch von Nihilismus an sich, weil man nicht mehr naiv fragen kann: Was ist schön? Was ist häßlich?

Die Relativierung wird deutlich ungemütlicher, wenn es um moralische Fragen geht. Ein und dieselbe Handlung wird vielleicht von verschiedenen Menschen oder Völkern als gut bzw. schlecht angesehen. Akzeptiert man hier das Prinzip (P1), so darf man nicht mehr fragen, ob eine Handlung gut sei oder schlecht, sondern nur noch, ob sie von bestimmten Menschen oder Kulturen für gut gehalten werde.

Noch kritischer wird es, wenn an die Stelle des Begriffes wahr relativierte Begriffe wahr für mich, wahr für dich treten sollen. Damit geht ein Begriff verloren, auf den wir kaum verzichten wollen, der Begriff der Wahrheit. Hier stoßen wir auf eine typische Schwierigkeit bei allen Argumentationen, deren Ziel die Toleranz ist, d.h. die Duldung von mehreren, einander widersprechenden Meinungen, Glaubensbekenntnissen, Ideologien. Im 16. Jahrhundert plädiert zum Beispiel der Basler Humanist Castellion mit folgenden Worten für Toleranz:

Nachdem ich viel darüber geforscht habe, was denn ein Häretiker sei, habe ich nichts anderes gefunden als dies. Als Häretiker bezeichnen wir alle, die nicht mit unserer Ansicht übereinstimmen. Das zeigt sich daran, daß es kaum eine Sekte gibt (und sie sind heute zahllos), welche nicht die anderen für häretisch hält. Das geht so weit, daß du, wenn du in einer Stadt für rechtgläubig giltst, in der nächsten ein Häretiker bist. So muß, wer heute in Frieden leben will, soviele Religionen haben, wie es Städte oder Sekten gibt.

Hier wird der Begriff Häretiker relativiert zu Häretiker in den Augen eines so-und-so Gläubigen. Es folgt damit die Möglichkeit, daß Religionen einander widerspruchsfrei wechselseitig für Häresien halten. Dies hat die Konsequenz, daß auch der Begriff der Rechtgläubigkeit und damit der (religiösen) Wahrheit relativiert wird. Jede Sekte, jede Konfession, jede Ideologie beansprucht aber, im Besitz der einen, absoluten, einzigen Wahrheit zu sein. Dem Verfechter von Toleranz kann nun vorgeworfen werden, er bestreite die Existenz einer solchen absoluten Wahrheit überhaupt, womit die ganze Religion der Beliebigkeit ausgeliefert werde. In vielen Fällen zwingt aber die historische Situation den Anwalt der Toleranz, einen derartigen Vorwurf entschieden zurückzuweisen. Er wird also einräumen, daß es natürlich nur eine einzige Wahrheit, eine einzige wahre Religion gebe. Oft ist dies auch seine ehrliche Überzeugung.

Ist dies aber einmal eingeräumt, so wird die Toleranzargumentation schwierig. Denn der Wahrheit kommt doch sicher ein Sonderstatus zu. Daß es zu einer wahren These T oder der einen wahren Religion unbegrenzt viele konkurrierende, aber falsche geben kann, ist trivial und ändert nichts an der Sonderstellung der Wahrheit. Es ist für die Wahrheit eines Satzes unerheblich, wieviele konkurrierende, falsche Meinungen dazu geäußert werden. Der Anwalt der Toleranz kann deshalb am ehesten für folgendes Prinzip eintreten:

(P2) Wenn es über eine Frage mehrere, voneinander abweichende Ansichten gibt, zwischen denen man nicht entscheiden kann, soll man gegen alle diese Ansichten tolerant sein.

Fatalerweise wird jeder überzeugte Anhänger einer Religion oder Ideologie aber bestreiten, daß zwischen wahrem und falschem Glauben, zwischen Orthodoxie und Häresie nicht objektiv und endgültig entschieden werden könne. Folglich sei das gerade formulierte Toleranzprinzip ohnehin nicht anwendbar. So kann es dahin kommen, daß die streitenden Parteien sich in einem Punkt einig sind, der Verdammung des Aufklärers, der für Toleranz eintritt.

Das slippery-slope-Prinzip

Man argumentiert für eine These über einen strittigen Fall, indem man auf einen anderen, nach allgemeiner Meinung unstrittigen, schrecklichen hinweist, und behauptet, daß der strittige Fall nur eine Vorstufe des schrecklichen sei. "Wehret den Anfängen!" ist eine prägnante Kurzfassung dieses Prinzips:

Abtreibung gehört verboten, denn wenn man einmal damit beginnt, Leben zu zerstören, wo wird es noch Grenzen geben! Abort in der 1. Woche soll erlaubt sein, in der 30. Woche nicht, das ist inkonsequent! Und warum nicht auch Alte und Kranke töten?

Analog kann gegen die Anwendung gentechnischer Verfahren argumentiert werden. Welche natürlichen oder unmittelbar einleuchtenden Grenzen gibt es für die Veränderung menschlichen Erbguts, wenn sie einmal möglich sein wird? Das Prinzip der slippery-slope-Argumentation könnte lauten:

Angenommen, zwischen X und Y gibt es keine scharfen Unterschiede oder Grenzen, sondern einen allmählichen, graduellen Übergang. Wenn X getan oder erlaubt wird, so wird deshalb über kurz oder lang auch Y getan oder erlaubt werden.

Je nachdem, ob man ein Prinzip dieser Art akzeptiert oder nicht, wird die slippery-slope-Argumentation akzeptabel sein oder nicht. Sichtlich kommt es darauf an, was für X und Y eingesetzt wird. Was wäre etwa von der folgenden Behauptung zu halten?

Zwischen dem Töten von Tieren und dem von Menschen besteht kein natürlicher Unterschied; Wenn also das Jagen oder Schlachten von Tieren erlaubt ist, dann auch ...

Um ein slippery-slope-Argument zu entkräften, wird man nachzuweisen versuchen, wie unwahrscheinlich das Abgleiten im vorliegenden Fall ist, oder welche subtilen Vorkehrungen getroffen wurden, um ein solches Abgleiten zu verhindern. Eine andere Möglichkeit ist, den graduellen Übergang von dem schrecklichen Fall zu dem in Frage stehenden überhaupt zu bestreiten. Wo liegen dann noch Grenzen?! argumentiert die eine Seite, und die andere entgegnet: Alles hat seine Grenzen!

Argument a majore (minore)

Dieser Terminus ist nicht sehr verbreitet; er bezeichnet eine mit dem slippery-slope-Argument verwandte Technik. Es wird ein Kontinuum hergestellt, in dem irgendwo ein positiv (negativ) bewerteter Fall liegt, und dieser Fall wird gesteigert bis zu dem in Frage stehenden:

Wenn man einen Erwachsenen, der sich immerhin wehren kann, nicht töten darf, wieviel weniger einen Embryo, der doch schutzlos ist. Oder: Wenn schon Notwehr gegen einen individuellen Mörder vom Gesetz erlaubt wird, wie sehr müßte Notwehr gegen ein Atomkraftwerk erlaubt sein, das unsere gesamte Bevölkerung für alle Zukunft bedroht!

Ein berühmtes Beispiel findet sich bei dem chinesischen Philosophen Mo Di (5./4. Jhdt. v. u. Z.), der folgendermaßen gegen das Kriegführen argumentiert:

Angenommen, es geht heutzutage jemand in einen fremden Obstgarten und stiehlt dort Pfirsiche und Pflaumen; jeder, der davon erfährt, wird es verurteilen, und wenn die Obrigkeit diesen Menschen zu fassen bekommt, wird er bestraft. Warum wohl? – Weil er andere schädigt, um selbst zu profitieren! Hunde, Schweine, Hühner oder Ferkel stehlen ist noch viel schlimmer, als Obst aus fremden Gärten zu holen. Warum? Weil damit anderen noch größerer Schaden zugefügt wird. Deshalb ist es auch viel inhumaner und verbrecherischer!

Wenn schließlich jemand einen unschuldigen Menschen tötet [...], so ist das noch viel verwerflicher [...]. Warum? Weil er anderen Menschen noch weit mehr schadet. Darum sind seine Inhumanität und sein Verbrechen auch viel größer, und die Strafe wird entsprechend schwerer ausfallen. Alle Fürsten auf Erden wissen das sehr wohl, verurteilen solche Taten und nennen sie ein unsittliches Verhalten. Erreicht dieses Vorgehen aber seinen Höhepunkt, indem ganze Staaten angegriffen werden, so finden sie daran nichts mehr zu verdammen [...].

Angenommen, ein Mann sieht einen kleinen schwarzen Fleck und nennt ihn schwarz; sieht er aber einen großen schwarzen Fleck, nennt er ihn weiß. Dieser Mann kennt offensichtlich nicht den Unterschied zwischen schwarz und weiß. Kostet jemand ein wenig Bitteres und nennt es bitter, viel Bitteres aber nennt er süß, so kennt er den Unterschied zwischen süß und bitter nicht. Wenn jemand ein geringes Unrecht als ein Unrecht erkennt, großes Unrecht aber, nämlich den Angriff auf ein Land, nicht als Unrecht erkennt, sondern womöglich noch von Rechtschaffenheit redet – kann man dann von ihm noch sagen, daß er den Unterschied zwischen Recht und Unrecht kenne? Daran sieht man, wie wenig die Fürsten Recht und Unrecht noch auseinanderhalten können.

Der Hintergrund des Einzelfalles: Die paranoide Deutung

Gegeben sei ein unangenehmes Faktum. Man ordnet dieses Faktum nun in einen größeren Zusammenhang ein, um es dadurch neu zu gewichten. Dabei wird (stillschweigend) folgendes Prinzip angewendet:

Eine an sich eventuell noch tolerierbare, unangenehme Sache wird unerträglich, wenn dahinter eine umfassendere, allgemeine Gesetzmäßigkeit oder ein Plan steckt.

Ein derartiges Prinzip hat viel für sich; je nachdem, ob eine Sache absichtlich, regelmäßig, geschehen ist oder aber zufällig, hat man Grund, mit ihrer Wiederholung zu rechnen oder nicht. Diskutiert und kritisiert wird an solchen Argumentationen deshalb weniger das allgemeine Prinzip, als die Einordnung des Einzelfalles in einen allgemeineren Kontext. Diese Einordnung geschieht z.B. mit der Wendung:

Derlei ist absolut kein Zufall, derlei folgt geradezu notwendig aus dieser Ideologie. Derlei ist nur die Spitze des Eisberges.

Das Argument, daß hinter gewissen Dingen mehr als bloß (unglücklicher) Zufall stecke, kann falsch sein. Der an Verfolgungswahn (Paranoia) Leidende deutet jedes nur erdenkliche Ereignis, das Kreischen eines Kindes, einen fehlgeleiteten Telefonanruf, einen schimmelig gewordenen Käse, als Teil einer großen Verschwörung gegen sich. (In – freilich extrem seltenen – Ausnahmefällen ist die Interpretation richtig und der leidende Mensch gar nicht paranoid.) Diktatoren, die ihre Ziele nicht sofort erreichen, vermuten überall Sabotage: Was geschehen ist, ist kein Zufall, dahinter steckt Absicht, Methode, System, ein Plan, eine Weltverschwörung – und das hat Konsequenzen; es gibt Schuldige. Manchmal stimmt das ja auch, aber eben nicht immer. Jedes einzelne Mißgeschick, jeder Mißerfolg erhält dadurch ein ganz anderes, größeres Gewicht. Die Figur kann auch absichtlich, wider besseres Wissen benützt werden, um von Schwierigkeiten abzulenken: Wo Sabotage vorliegt, muß es auch Saboteure geben, die man suchen und aburteilen kann. Dümmstenfalls erfindet man etwa eine "Jüdische Weltverschwörung".

Auch das "Dominoprinzip" beruht darauf, Einzeltatsachen in einen größeren Zusammenhang zu stellen. In der politischen Diskussion des kalten Krieges benützte man die Domino-These, um zu begründen, daß der Westen jedes nicht-kommunistische Land unterstützen müsse. Der Verlust eines Landes für den Westen wäre demnach kein isolierter Einzelfall gewesen, sondern er hätte eine Kette von unerwünschten Folgen ausgelöst:

Fällt ein Dominostein, so folgt der nächste usf. Niemand soll denken, ein Rückzug aus Vietnam bedeute das Ende des Konfliktes. Dieser Fall ist bloß der nächste in einer langen, nicht-enden-wollenden Entwicklung.

Das Mißbrauchsargument

Die Umkehrung des vorhin angeführten Prinzips lautet:

Eine mißliche Sache ist eher zu ertragen, wenn es sich um einen Zufall oder eine einmalige Entgleisung handelt, als wenn ihr Planung, Absicht, Gesetzmäßigkeit, System zugrunde liegen.

Dieses neue Prinzip dient der milderen Bewertung bzw. Entschuldigung von Mißständen oder schlimmen Entwicklungen. Zum Beispiel hat die Ausbildung des Stalinismus viele Anhänger des Marxismus schockiert, um so mehr als der Marxismus eigentlich als humanitäre Ideologie begonnen hatte. Man fragte sich: War dies nur ein unglücklicher Zufall, ein nicht vorhersehbarer Betriebsunfall, oder folgte der Terror aus der Idee des Sozialismus oder des Kommunismus? Handelt es sich um einen atypischen Ausnahmefall oder eine bedauerliche Entartung, so kann ein Anhänger des Marxismus auch weiterhin mit gutem Gewissen an seiner Ideologie festhalten. Denn dann ist der Terror der Stalin-Ära nicht der marxistischen Ideologie anzulasten, sondern einzelnen mißgeleiteten oder schwachen Anhängern derselben: Nicht der Marxismus ist schlecht, sondern der Mißbrauch, der damit getrieben wurde. Nicht die Idee ist falsch, einige Menschen sind schuldig geworden.

Diese Figur kann durchaus sinnvoll sein. Es gibt kaum etwas, mit dem nicht Mißbrauch getrieben werden kann, also ist es problematisch, etwas nur wegen des Mißbrauchs zu verdammen. Sollte jemals ein Papst oder Bischof machtgierig, genußsüchtig oder verbrecherisch gewesen sein, so ist dadurch nicht ohne weiteres ein Argument gegen seine Kirche gegeben. Er handelt dann eben "eines Kirchenmannes unwürdig". Viele demokratische Politiker sind korrupt; wir wissen es alle. Und doch schließen wir davon nicht ohne weiteres auf die Minderwertigkeit der Demokratie.

Man könnte das Prinzip aufstellen:

Einer Doktrin dürfen nur solche Dinge angelastet werden, die sich aus eben dieser Doktrin direkt herleiten.

Ein Kritiker müßte dann im einzelnen untersuchen, ob beispielsweise Intoleranz bei gewissen Religionen oder Diktatur bei bestimmten Ideologien nur mißbräuchliche Entgleisungen sind oder dogmatisch durchaus angelegt. Heikel wird es, wenn eine angeblich menschenfreundliche Doktrin im Laufe der Geschichte mit großer Regelmäßigkeit sogenannte Mißbräuche hervorbringt und kaum je die versprochenen großartigen humanitären Wirkungen.

Analogien und Gleichnisse

Ein Gleichnis geben heißt, einen einschlägigen konkreten Einzelfall K1 anführen, um, davon ausgehend, für eine These zu argumentieren, die von einem anderen (eventuell von einem ganz anderen) Einzelfall K2 handelt. Rein logisch gesehen kann man von einem Einzelfall niemals auf einen anderen Einzelfall oder gar auf eine allgemeine These schließen. Aber wenn K1 zur Verdeutlichung eines allgemeinen Satzes A (d.h. als Beispiel für A) dient, aus dem neben K1 noch viele andere konkrete Fälle (zu denen auch K2 gehört) abgeleitet werden können, ist das Anführen von K1 ein hilfreicher Argumentationsschritt.

In der Praxis argumentiert man für eine These K2 über einen Einzelfall oft so, daß man nur einen anderen Einzelfall K1 als Beispiel anführt, während der allgemeine Satz A (durch den das Beispiel K1 mit der zu erweisenden These K2 verbunden ist oder sein sollte) unausgesprochen bleibt. Man schließt per analogiam von K1 auf K2, was logisch nicht ohne weiteres erlaubt ist. Platon argumentiert für die politische Herrschaft der (platonischen) Philosophen über den Staat und zugleich gegen die Demokratie mit folgendem Beispiel:

Höre also das Gleichnis [...]. Denke dir, es ginge auf einem Schiff oder auf vielen Schiffen folgendermaßen zu. Der Schiffseigentümer ist größer und stärker als die ganze Besatzung; er ist aber schwerhörig und kurzsichtig, und sein Verstandnis für das Seewesen ist ebenfalls mangelhaft. Nun zanken sich die Schiffsleute untereinander, weil jeder meint, ihm käme die Führung des Schiffes zu. Dabei hat aber keiner je die Steuerkunst gelernt, kann auch seinen Lehrer und seine Lehrzeit nicht nachweisen. Ja, sie erklären, diese Kunst sei gar nicht lehrbar, und wollen jeden in Stücke hauen, der sie lehrbar nennt. Sie stürmen also beständig auf den Schiffseigentümer ein, er solle ihnen das Steuerruder in die Hand geben. Überredet ihn einmal ein anderer, so ermorden sie ihn oder werfen ihn über Bord [...].

Wer sich beim Überreden oder Überwältigen des Schiffseigentümers geschickt erweist und ihnen behilflich ist, die Macht in die Hände zu bekommen, der steht als seetüchtig, als kundiger Steuermann und Kenner des Seewesens bei ihnen in Ehren. Wer kein Geschick dazu hat, wird unbrauchbar gescholten [...].

Bei dieser Lage der Dinge auf einem Schiff wird doch der wahre Steuermann von den Schiffsleuten entschieden für einen Sterngucker und Schwätzer, einen für sie unbrauchbaren Mann erklärt [...].

Ich brauche das Gleichnis wohl nicht auszulegen. Du siehst, daß sich die Staaten dem wahren Philosophen gegenüber ebenso betragen, und verstehst, was ich meine.

Sicher will Platon logisch korrekt argumentieren. Von seinem Gleichnis kann man logisch aber nicht ohne weiteres auf die These schließen, ein Staat solle nicht demokratisch, sondern von einer Diktatur platonischer Philosophen regiert werden. Platons Argumentation muß daher als Enthymem aufgefaßt werden, das zwei unerwähnte Prämissen benützt, nämlich erstens ein allgemeines Prinzip, gegen das man (nicht zuletzt wegen seiner Allgemeinheit) wenig einwenden kann:

Eine schwierige Aufgabe soll nur von den dafür besonders Befähigten und Ausgebildeten gemeistert werden und nicht von beliebigen Nichtswissern.

Die zweite Prämisse ist sehr viel spezieller und viel weniger einleuchtend:

Nur die platonischen Philosophen sind zur Bewältigung politischer Aufgaben befähigt und ausgebildet, nicht aber der Rest der Bevölkerung.

Es ist klar, daß die Kritik an diesem speziellen, unausgesprochenen Satz ansetzen muß. Die Schiffsgeschichte ist nur eine Erläuterung des ersten, allgemeinen Satzes, und es wäre ungeschickt, sich mit dieser (bloß erläuternden) Geschichte auseinanderzusetzen.

Regierende bezeichnen sich selbst gerne als Landesväter, Kleriker als Hirten. Warum? Väter und Hirten müssen Autorität besitzen, sie müssen Entscheidungen über andere Wesen treffen und diese Entscheidungen notfalls mit Gewalt durchsetzen können. Jedermann sieht das ein. Ein Hirte diskutiert nicht mit seiner Herde, sondern hütet sie. Dieselben Ansprüche an Autorität und Macht stellen Regierungen und Kirchen. Das Gleichnis vom Vater bzw. Hirten dient dabei als Argument. Wie aber, wenn jemand andere Aspekte des Gleichnisses für einen Schluß per analogiam benützen wollte? Kinder entwachsen nämlich ihren Vätern und werden volljährig; und Hirten dienen dazu, schöne fette Tiere zu produzieren, die dann geschlachtet werden – deswegen die große Sorgfalt der Hirten.

Was folgt aus diesen Aspekten? Es folgt gar nichts, weil aus einem Gleichnis ohnehin nichts folgt. Logisch gesehen sind Gleichnisse nur Bilder, die stellvertretend für einen allgemeinen Satz (ein Prinzip) stehen. Im Beispiel lautet das Prinzip ungefähr so: Wer Menschen führen und befehligen soll, darf Macht und notfalls auch Gewalt beanspruchen. Über dieses Prinzip müßte diskutiert werden, wobei das Bild vom guten Hirten wenig hilft. Analogien, Bilder, Gleichnisse sind im praktischen Leben unentbehrlich, aber ihr argumentativer Wert ist gering. Sie können das Denken und die Phantasie anregen, aber sie können nichts beweisen, und sie können sehr irreführend sein.

Analogieschlüsse spielen in der Rechtsprechung eine wichtige Rolle. Wenn zur Beurteilung eines konkreten Einzelfalles kein Gesetz aufzufinden ist oder das einschlägige Gesetz nicht präzise genug formuliert ist, orientiert sich der Richter an "gleichgelagerten", schon entschiedenen Fällen, um dann per analogiam ein Urteil zu erarbeiten. Dieses Fortschreiten von Einzelfall zu Einzelfall ist logisch nicht zwingend, da nicht klar ist, welches allgemeine Prinzip die Fälle verbindet. Je nach den Umständen wird man sagen, daß der Richter bei solchem Vorgehen versucht, "der Absicht des Gesetzgebers" (d.h. einem allgemeinen Prinzip) gerecht zu werden, oder daß das neue Urteil neues Recht schafft.

Das Differenzierungsargument

Es dient zur Abwehr eines Beispiels oder Vergleiches. Man zeigt, daß zwei Fälle, die scheinbar gleich gelagert sind, sich tatsächlich stark unterscheiden, und man schließt daraus, daß sie auch nicht gleich zu bewerten sind. Damit läßt sich Platons Angriff auf die Demokratie zurückweisen, denn ein Staat ist kein Schiff, und politische Fähigkeiten sind etwas völlig anderes als Navigationskünste auf hoher See. Folglich kann es im einen Fall unklug sein, das Kommando durch Los festzulegen, und im anderen Fall durchaus sinnvoll.

Ein Beispiel für ein Differenzierungsargument gibt Rousseau, wenn er gegen die Möglichkeit argumentiert, daß jemand sich selbst freiwillig in die Sklaverei begibt (etwa um seine Schulden zu begleichen). Ist dies nicht ein freiwillig geschlossener Vertrag wie jeder andere, mithin genauso zu respektieren und einzuhalten? Rousseau argumentiert dagegen:

Ich glaube, das ist eine sehr schlechte Folgerung.

Wenn ich ein Gut veräußere, wird es für mich eine gänzlich fremde Sache; es kann mir gleich sein, ob man es mißbraucht. Ob aber meine Freiheit mißbraucht wird, ist mir niemals gleichgültig. Die Schuld alles Bösen, zu dem man mich zwingt, fällt auf mich zurück, weil ich eingewilligt habe, ein Werkzeug des Verbrechens zu werden.

Jedoch gesetzt, man könnte seine Freiheit veräußern wie seine Güter, so bliebe doch für die Kinder der Unterschied sehr groß: die väterlichen Güter fallen ihnen nur durch die Übertragung seines Rechts zu, aber die Freiheit haben sie als Menschen von der Natur erhalten, und ihre Eltern sind daher nicht berechtigt, ihnen dieses Geschenk der Natur zu rauben.

Das Prinzip, Ungleiche Fälle müssen ungleich bewertet werden, ist aber nicht zwingend. Jemand verteidigt etwa die Anwendung von Gewalt in einem konkreten Fall mit dem Argument, man müsse unterscheiden, aus welchem Grund Gewalt angewendet werde, aus Grausamkeit, Machtgier etc., oder aus Sorge um den Bestand der Heiligen Kirche. Gegen die Unterscheidung läßt sich an sich nichts einwenden, unterscheiden kann man immer. Zu attackieren wäre aber eventuell das Prinzip, daß zum Beispiel das Verbrennen von Menschen auf dem Scheiterhaufen je nach den Umständen unterschiedlich zu bewerten sei. Eine Differenzierung ist in diesem Zusammenhang alles andere als einleuchtend, denn ein wichtiger Teil der Idee der Menschenrechte besteht ja darin, daß sie ohne Unterschied der Umstände eingehalten werden sollen.

Freak Cases

Mit diesem Ausdruck bezeichnet man ausgefallene, scheinbar abwegige oder verrückte Beispiele. Sie dienen als Gegenbeispiele gegen eine allgemeine These. Im Hintergrund steht ein unangreifbares logisches Prinzip: Eine (allgemeine) These, zu der es auch nur ein Gegenbeispiel gibt, ist falsch. Eine These mag zunächst einleuchtend scheinen, aber der freak case gibt ein Gegenbeispiel. Auch ein exzentrisches Gegenbeispiel ist ein Gegenbeispiel. Diese Figur findet sich schon bei Platon. Er benützt ein exzentrisches Beispiel zur Widerlegung einer bestimmten These über den Begriff der Gerechtigkeit:

Sollten wir die Gerechtigkeit als schlechthin gleichbedeutend mit der Wahrhaftigkeit setzen und dem Zurückgeben dessen, was man von anderen empfangen hat ...?

Nimm z.B. folgenden Fall: Wenn jemand von einem geistig gesunden Freund Waffen in Verwahrung genommen hat und dieser, später in Wahnsinn verfallen, sie wieder zurückfordert, so wird doch jedermann sagen, man dürfe dergleichen Dinge nicht zurückgeben, und der, welcher dies tut, könne nicht als gerecht gelten; ebensowenig, wenn er gegenüber einem Manne, der in solchem Zustand ist, in allen Stücken die Wahrheit sagen wollte.

Man bestimmt also die Gerechtigkeit nicht richtig, wenn man sagt, sie bestehe darin, daß man die Wahrheit sagt und zurück gibt, was man empfangen hat.

Freak cases sind speziell bei moralischen Argumentationen von Bedeutung. Sie machen dort auf die Gefahr universeller, eleganter, aber lebensferner Doktrinen und Maximen aufmerksam. In der klassischen chinesischen Philosophie spielt der Fall des moralisch aufrechten Herrn Gong eine gewisse Rolle. Dabei geht es um das moralische Gebot, seinen Vater bedingungslos zu respektieren und zu unterstützen. Der Vater des Herrn Gong war allerdings ein Dieb. Dieser "ausgefallene" Fall stellt den Sinn des allgemeinen Prinzips der Elternliebe in Frage. Wir geben hier nur eine von mehreren Varianten für die Behandlung des Problems, die konfuzianische:

Der Herzog von She sagte zu Konfuzius: "Bei uns zulande gibt es einen aufrechten Mann namens Gong. Als sein Vater ein Schaf stahl, sagte der Sohn gegen ihn aus.

Konfuzius sagte: "Bei mir zulande gibt es eine andere Art, aufrecht zu sein. Hier deckt der Vater den Sohn und der Sohn deckt den Vater. Auch das ist ehrenwert."

Der freak case erzwingt ein sorgfältigeres Überdenken einer allgemeinen These, und er zeigt, daß jede noch so genaue Formulierung nie alle Probleme erfassen kann. Das wird man bei moralischen Fragen oft genug feststellen können. Das Beispiel des aufrechten Herrn Gong zeigt auch, daß die Klassifizierung eines Beispiels als freak, verrückt, relativ ist. Das moralische Problem des Herrn Gong beruht auf einem Konflikt zweier Normen (Kindespflichten und bürgerlicher Pflichten); und ist ein Normenkonflikt nicht ein moralisch ganz besonders interessanter Fall? Exzentrisch ist der Fall des Herrn Gong nur relativ zu der allgemeinen Norm, seinen Vater bedingungslos zu ehren.

Weniger erfreulich ist es, wenn man mit wirklich abwegigen Einwänden konfrontiert wird. Normalerweise schließt man z.B. bei moralischen Überlegungen den Eingriff von Marsmännlein, das Einschlagen eines Meteoriten oder die Situation des letzten Menschen nach einer globalen Atomkatastrophe aus.

Das Argument ad temperantiam (ein gewisses Maß einhalten)

Dies ist eine ebenso beliebte wie problematische Argumentationsfigur. Man stellt eine Position, die man verteidigen will, als gemäßigt dar, als Mitte zwischen Extremen. Die Argumentation benützt das Prinzip:

Maßhalten ist besser als extreme Positionen einzunehmen.

Ein solches Prinzip ist nur verständlich, wenn es näher spezifiziert wird. Ansonsten besteht, weil der Begriff des Extrems alles andere als klar ist, die Gefahr der totalen Beliebigkeit, denn zu jeder Position lassen sich vermutlich "extremere" ausdenken. Einen Ladendieb lebenslänglich hinter Gitter zu setzen ist gemäßigt gegenüber den Extremen, ihn laufenzulassen oder ihn zu vierteilen. Obwohl Mäßigung in irgendeinem Sinne sicher eine empfehlenswerte, angenehme Haltung ist, sind Argumente ad temperantiam nur selten sinnvoll; oft sind sie bloß verschämtere Versionen des Arguments:

Es könnte dir doch noch viel, viel schlechter gehen!

Dieses Argument ist auf dieser unserer Welt immer wahr, aber das in der Argumentation benötigte Prinzip ist nicht einleuchtend:

Beklage dich nicht, denn es könnte dir noch viel schlechter gehen.

Das historisch-genetische Argument

Ein Phänomen historisch erklären heißt: zeigen, wie es im Lauf der Geschichte entstanden ist. Gelingt eine solche historische Erklärung überzeugend (was wir der Deutlichkeit wegen voraussetzen wollen), so braucht man nicht über andere Erklärungen nachzudenken, die beispielsweise mit einem Eingriff extraterrestrischer Mächte operieren. Das Prinzip der Argumentation lautet:

Obwohl es für jede Tatsache zahlreiche Möglichkeiten der Erklärung gibt, braucht man sich um dieselben nicht zu kümmern, sobald man die wirkliche Erklärung hat.

Wenn man z.B. die Entstehung einer Religion historisch erklärt hat, braucht man keinen überirdischen Einfluß anzunehmen, durch den diese Religion entstanden ist.

Aufklärerische Philosophen (zum Beispiel L. Feuerbach, D. Hume) haben gerne skizziert, wie und warum Religionen historisch entstanden sind, etwa aus Furcht vor der Natur. Vermutlich wollten sie die Falschheit der Religion nachweisen; aber sie hielten sich mit einer solchen, starken These zurück, denn rein logisch hat die Wahrheit bzw. Falschheit einer These nichts mit der Ausbildung und Ausformulierung dieser These im Lauf der Geschichte zu tun. Man kann eine Geschichte der Religionen oder des Rassismus schreiben, aber man hat damit theoretisch nichts über die Wahrheit oder Falschheit der Religionen oder des Rassismus gesagt.

Nietzsche stellt unter der Überschrift Die historische Widerlegung als die endgültige folgende methodologische Behauptung auf:

Ehemals suchte man zu beweisen, daß es keinen Gott gebe, – heute zeigt man, wie der Glaube, daß es einen Gott gebe, entstehen konnte und wodurch dieser Glaube seine Schwere und Wichtigkeit erhalten hat: dadurch wird ein Gegenbeweis, daß es keinen Gott gebe, überflüssig. – Wenn man ehemals die vorgebrachten "Beweise vom Dasein Gottes" widerlegt hatte, blieb immer noch Zweifel, ob nicht noch bessere Beweise aufzufinden seien, als die eben widerlegten: Damals verstanden die Atheisten sich nicht darauf, reinen Tisch zu machen.

Wir wollen hier davon absehen, daß historische Erklärungen selten eindeutig und zwingend sind. Nehmen wir also an, die Entstehung des Gottesglaubens sei historisch erklärt, ohne daß man Offenbarungen oder sonstige außerirdische Phänomene bemühen muß. Um Nietzsche zu rechtfertigen, müßte man dann ungefähr das folgende Prinzip benützen:

Eine These, deren Entstehung historisch erklärbar ist, braucht man inhaltlich nicht ernst zu nehmen.

Als universales Prinzip läßt sich so etwas bestimmt nicht aufrechterhalten. Wenn ein Kind behauptet, es sei letzte Nacht auf dem Dachfirst spazierengegangen, so wird man das historisch-genetisch erklären: das Kind hat geträumt. Aber man kann nicht absolut ausschließen, daß das Kind wirklich auf dem Dach war. Die historisch-genetische Erklärung wird allerdings unser Bedürfnis nach weiteren Untersuchungen drastisch verringern. Es bedarf schon eines sehr starken Anlasses, um uns zu Nachforschungen darüber zu veranlassen, ob das Kind nicht doch auf dem Dach war. Das historisch-genetische Argument ist um so gewichtiger, je dubioser die These ist, deren Entstehungsgeschichte es darlegt.

Im Kommunistischen Manifest steht der berühmte Satz:

Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.

Das ist eine universelle These über die historische Genese von Ideologien (Überbauphänomenen) aus materiellen Interessen (Klasseninteressen). Letztlich besagt diese These, daß man sich mit solchen Ideologien inhaltlich nicht auseinanderzusetzen brauche, sie würden ohnehin mit den zugehörigen Klassen entstehen und vergehen.

Quellenargumente, Argumente ad hominem

Betrachten wir den Satz:

Das Dogma D ist wahr, weil der Papst es verkündet.

Das ist ein klassisches Quellenargument. Für die Wahrheit einer These wird als Argument angeführt, von wem, aus welcher Quelle, von welcher Autorität die These stammt. Damit daraus eine schlüssige Argumentation wird (und als solche ist der Satz ja gemeint), muß man ein allgemeines Prinzip hinzufügen:

Alle Sätze, die der Papst verkündet, sind wahr.

Damit liegt eine logisch korrekte Argumentation vor. (Man sieht, daß eine Figur je nach den Umständen als Fehlschluß oder als korrekte, aber enthymematische Argumentation gedeutet werden kann.) Angriffe gegen die Argumentation werden sich zweifellos gegen das ihr zugrundeliegende allgemeine Prinzip richten. Die Berufung auf eine ehrwürdige Quelle ist die typische Argumentationsform von Buchreligionen; diese haben immer einen Bestand an heiligen Schriften als Basis der Argumentation. Als das stärkste Argument gilt dabei, wenn eine heilige Schrift eine These auch noch als wörtlichen Ausspruch des Meisters überliefert: ipse dixit, der Meister selbst hat es gesagt. So gingen auch orthodoxe Marxisten mit den Worten von Marx und Lenin um.

Unter "Quellenargumenten" oder Argumenten ad hominem werden Figuren verstanden, in denen, ausgehend von Behauptungen über die Quelle (den Verfechter) einer These, für oder gegen die Wahrheit der letzteren argumentiert wird. "Brunnenvergiften" heißt, nicht eine These, sondern ihre Quelle zu verunglimpfen. Dieses Vorgehen hat keinen guten Ruf und ist grundsätzlich nicht beweiskräftig; es richtet sich nicht gegen eine These, sondern gegen den Menschen (ad hominem), der sie aufstellt; man versucht so, die inhaltliche Auseinandersetzung mit dessen These zu umgehen.

Voltaire charakterisierte seinerzeit das Vorgehen kirchlicher Kreise gegen die Aufklärer, indem er einem Vertreter der Kirche ein typisches Argument ad hominem in den Mund legte:

Wir untersuchen ihren Lebenswandel, der, wie wir feststellen, meistens lasterhaft und verbrecherisch ist; und wenn er uns unbescholten scheint, so behaupten wir, dies sei unmöglich, da sie doch an der Enzyklopädie mitgearbeitet haben.

Andererseits weist bereits Aristoteles darauf hin, daß der Lebenswandel eines Redners durchaus in Beziehung zu seiner Glaubwürdigkeit stehe. Je strittiger eine These ist, desto wichtiger wird die Frage nach der Glaubwürdigkeit desjenigen, der die These vertritt. Lehrer, Nachrichten, Zeugen und deren Berichte, Wunderberichte und ähnliche Zeugnisse stellen manchmal die einzigen Informationen über ein Ereignis dar und können nicht weiter nachgeprüft werden. Je unersetzlicher der Zeuge ist, desto mehr unterliegt er der Kritik. Dagegen ist bestimmt nichts einzuwenden.

Seit langem erfolgt z.B. die Kritik angeblicher Wunder (inklusive aller Offenbarung) als Kritik der Zeugen. D. Hume widmet dem in der Untersuchung über den menschlichen Verstand ein ausführliches Kapitel und stellt das Prinzip auf, je wunderbarer ein Bericht sei, desto mehr müsse man an der Glaubwürdigkeit des Zeugen zweifeln. Mit anderen Worten:

Kein Zeugnis reicht aus, ein Wunder festzustellen, es müßte denn das Zeugnis von solcher Art sein, daß seine Falschheit wunderbarer wäre als die Tatsache, die es festzustellen trachtet.

Die Bewertung der Quelle hat selbst den Charakter einer Argumentation für bzw. gegen deren Glaubwürdigkeit. Bei der Bewertung von Zeugenberichten über seltsame, wunderbare Ereignisse (von göttlichen Offenbarungen bis zu fliegenden Untertassen) sind zum Beispiel allgemeine Sätze wie die folgenden zu finden:

  • Wunderberichte aller Art kommen regelmäßig von Exzentrikern, Drogensüchtigen, Psychopathen: "Sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen" – gewiß! und dies sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig!

  • Die Zeugen haben ein tiefes (eventuell unbewußtes) Bedürfnis nach Mysterien und Irrationalität.

  • Die Berichte werden durch den Medienrummel stimuliert, Wunder geschehen nur dort, wo die Leute schon darauf warten. Nach dem Bericht des Neuen Testaments hat Jesus in seiner Heimatstadt Nazareth, wo man ihn kannte und mit Skepsis betrachtete, kaum Wunder gewirkt:

Jesus kam in seine Vaterstadt und lehrte in der Synagoge. Die Leute aber entsetzten sich und fragten, woher hat dieser solche Weisheit und solche Taten, ist er nicht der Sohn des Zimmermanns ...?

Jesus aber sprach zu ihnen: Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und in seinem Hause. Und er tat dort nicht viele Zeichen wegen ihres Unglaubens.

Der Satz, daß ein Prophet nichts in seiner Heimat gilt, ist ein durchaus doppelsinniges Prinzip. Er kann gelesen werden als Klage über die Hartherzigkeit und Ungläubigkeit der Menschen ihren vertrauten Mitmenschen gegenüber; er kann auch gelesen werden als nüchterne Feststellung, daß der Wunderglauben um so größer wird, je unbekannter, fremder und unkontrollierbarer der Wundertäter bzw. der Bericht über ihn ist.

Gegen jeden skeptischen Einwand betreffs eines Wunderberichtes läßt sich natürlich auch eine Gegenthese aufstellen, so etwa: In der Regel sind es ehrenwerte, normale, gesunde Menschen, die von dem wunderbaren Ereignis überwältigt und geradezu vergewaltigt wurden. Oft sind es geschulte, professionell skeptische Beobachter, z.B. Theologen (bei Wundern) oder Piloten (bei fliegenden Untertassen). Übrigens werden vermutlich die meisten Wundererlebnisse gar nicht weitererzählt, aus Furcht, sich lächerlich zu machen.

Man sieht, Quellenargumente können in beiden Richtungen vorgebracht werden, für oder gegen die Glaubwürdigkeit der Quelle. Logisch gesehen, ist die direkte Auseinandersetzung mit einer These der Quellenkritik sicher vorzuziehen, doch gibt es auch Fälle, in denen sich die direkte Auseinandersetzung mit einer These nicht lohnt – man denke an den Hexen- und Teufelsglauben.

Argumente mit der Zeit, Erfahrung oder Anzahl

Dies ist eine spezielle Variante des Quellenarguments. Es handelt sich um eine oft benützte Argumentationsfigur, der das Prinzip zugrunde liegt:

Was sich während langer Zeit und bei vielen durchgesetzt hat, ist wahr/gut/richtig.

Das Prinzip beruft sich implizit auf die kollektive Erfahrung der Menschheit oder einer einschlägigen Personengruppe. In einer extremen Variante scheint es die Basis der Demokratie zu sein: Die Mehrheit hat immer Recht.

Der Satz ist unhaltbar. Für die Wahrheit eines Satzes ist es unerheblich, wie viele oder wie wenige Menschen ihn für wahr halten. Andererseits wäre es arrogant, sich über die Erfahrungen der Menschheit hinwegzusetzen. Hobbes setzt sich in seiner politischen Philosophie mit der schwärmerischen Vorstellung auseinander, ein friedliches, sicheres Zusammenleben der Menschen sei auch ganz ohne staatliche Zwangsgewalt möglich. Man kann eine solche These nicht einfach bestreiten – möglich müßte so etwas eigentlich sein, wenn der Mensch ein rationales Wesen ist. Hobbes appeliert deshalb an das tatsächliche Verhalten der Menschen, das auf jahrtausendealten Erfahrungen beruht:

Manchem mag es seltsam vorkommen, daß die Natur die Menschen so sehr entzweien und zu gegenseitigem Angriff und gegenseitiger Vernichtung treiben sollte. Er möge deshalb bedenken, daß er sich bei Antritt einer Reise bewaffnet und darauf bedacht ist, in Begleitung zu reisen, daß er beim Schlafengehen seine Türen und sogar in seinem Hause seine Kasten verschließt ... Welche Meinung hat er also von seinen Mituntertanen ...?

Was die Menschheit in der Praxis so lange und an allen Orten ausprobiert hat, dürfte schwerlich falsch sein. Wenn es wirklich ohne Staat und ohne Polizei ginge, dann hätte man das bestimmt verwirklicht. Es erscheint gegenwärtig nicht notwendig, daß wir es ausprobieren. Aber wie steht es mit dem folgenden Argument?

Wenn es für die Gesellschaft wirklich förderlich wäre, daß Mann und Frau absolut gleichberechtigt sind, so wäre das schon vor Jahrtausenden eingeführt worden.

Das Argument ad misericordiam

Das Mitleidsargument ist eine andere spezielle Variante des Quellenarguments. Es beruht darauf, daß Mitleid (misericordia) oder Mitgefühl Vertrauen erweckt. Wer wird es wagen, die Ansichten von jemandem, der Schreckliches durchmachen mußte, kritisch zu analysieren? Aber es gibt keinen Grund für eine solch ehrfürchtige Zurückhaltung. Während gegen eine mitleidige Handlungsweise mitunter gar nichts einzuwenden ist, sollte man über die Wahrheit von Thesen gefühllos und nüchtern urteilen.

Wenn es um Lebensweisheit geht, scheint das Argument ad misericordiam allerdings ein Körnchen Weisheit zu enthalten. Wenn Hiob in seinem Elend ein metaphysisches oder politisches Gedankengebäude entwickelt hätte, hätte man das unbeeindruckt von seinem Elend kritisch analysieren müssen. Wenn er aber darüber berichtet hätte, wie Schicksalsschläge die Lebenshaltung beeinflussen können, sollten wir aufmerksam zuhören. Es geschähe aber nicht aus Mitgefühl, sondern weil man ihn aufgrund seiner großen (und traurigen) Erfahrung für besonders kompetent hält, Aussagen über das Leben zu machen.

Eine harmlose Variante ist das "Köhlerargument", d.h. die Berufung auf einen besonders schlichten und ungebildeten Menschen, der nicht durch Mode und Zivilisation verdorben ist. Das kann etwa folgende Form haben: Das Beste, was ich je dazu hörte, kam von einer einfachen, armen Bäuerin ... Unterstellt wird hier das Prinzip, daß einfache, arme Bäuerinnen besonders verläßliche Garanten der Wahrheit sind.

Das Tu-quoque-Argument

Dieses Argument dient der Abwehr moralischer Angriffe. Man wirft dem Gegner, der einem wegen einer Tat X Vorwürfe macht, vor, daß er genau dasselbe getan habe:

Wie können die Amerikaner den Nazis die Judenvernichtung vorwerfen, wo sie doch selber die Indianer ausgerottet haben?

Das allgemeine Prinzip ist komplex:

(a)     Wer selber X tut, hat kein Recht, uns X vorzuwerfen, folglich ist
(b)     sein Vorwurf damit erledigt, widerlegt, nicht ernst zunehmen.

Selbst wenn man (a) zugibt, ergibt sich (b) damit jedoch keineswegs. Aus dem Fehlen der moralischen Berechtigung zu einem Vorwurf folgt nicht dessen Falschheit. Ein rauchender Lehrer hat moralisch kein Recht, rauchende Schüler zu beschimpfen, aber was er über die Schädlichkeit des Rauchens sagt, kann dennoch stimmen. Freilich fallen seine Vorwürfe auch auf ihn selbst zurück. Was er sagt, ist Heuchelei und trotzdem richtig. Je stärker die moralische Emphase eines Angreifers ist, desto empfindlicher wird man ihn durch ein tu-quoque-Argument erschüttern können.

Das Argument ad nauseam

Mit nausea, Übelkeit, ist hier gemeint, daß eine Diskussion nach einer gewissen Zeit derart zuwider geworden ist, daß einem davon speiübel wird. Ist, so könnte man das Prinzip formulieren, ein solcher Zustand erreicht, dann sollte man die Diskussion beenden und von etwas anderem reden: "Wir haben uns schon viel zu lange mit dieser Geschichte aufgehalten! Einmal muß Schluß mit dieser Diskussion sein!"

Hier wird dafür plädiert, ein Thema unerledigt zu lassen, zu einer These überhaupt nicht Stellung zu beziehen und sich solcherart eventuell der Verantwortung zu entziehen. Das tut man vorzugsweise bei unangenehmen, peinlichen Themen. Andererseits berücksichtigt das Argument ad nauseam eine fundamentale Lebenstatsache: Unsere Lebenszeit ist begrenzt, nicht alles kann unbegrenzt lange diskutiert werden, man muß im Leben Prioritäten setzen. Ein solches Prinzip wird jedermann zugeben; fraglich ist aber seine konkrete Anwendung. Was dem einen für wesentlich erscheint, ist für den anderen vielleicht unwichtig.

Mit vollem Bewußtsein benützt Konfuzius diese Argumentationsfigur, wenn er die Frage nach den Geistern der Verstorbenen zurückweist. Eigentlich hätte das für ihn eine wichtige Frage sein müssen, weil er die traditionelle Verehrung der Ahnen sehr wichtig nahm. Doch ist folgende Episode überliefert:

Jemand fragte nach dem Dienst an den Geistern. Konfuzius sprach: "Wenn man noch nicht fähig ist, den Menschen zu dienen, wie könnte man den Geistern dienen?" Jener fragte nach dem Tod. Die Antwort war: "Man versteht das Leben nicht, wie könnte man den Tod verstehen?"

Hier wird die Ansicht, man solle sich nicht mit metaphysischen Fragen befassen, durch das Argument gestützt, man habe wichtigere irdische Aufgaben zu bewältigen, und zwar noch für lange Zeit.

Das Argument ad lapidem

Dies ist eine Argumentationsfigur, bei der meist strittig ist, ob sie fehlerhaft ist oder nicht. Ein Beispiel wird zugleich die seltsame Bezeichnung dieser Figur erläutern. Der berühmte Bischof Berkeley hat in subtilen philosophischen Gedankengängen die Irrealität der Welt nachzuweisen versucht. Nach seiner Meinung sind nur unsere Erlebnisse, unser Seelenleben, real, während die sogenannte Außenwelt von uns nur irrtümlicherweise konstruiert ist. Die Materie existiert gar nicht unabhängig von unserem Geist, existieren bedeutet bloß wahrgenommen werden.

Ein Gegner dieser "idealistischen" Philosophie begnügte sich damit, als Gegenargument einen Stein mit dem Fuß wegzustoßen. Das läßt sich höchst unterschiedlich bewerten. Wer mit dem Fuß gegen einen Stein (ad lapidem) tritt, so argumentiert die eine Seite, der wird die Realität des Steines überdeutlich erfahren; eine Theorie, die die Realität des Steines bestreitet, kann einfach nicht richtig sein, und es lohnt sich nicht, alle ihre Subtilitäten zu untersuchen: Tritt gegen den Stein, und du wirst sofort einsehen, wie lächerlich der Idealismus ist. Der Idealist aber deutet das Argument ad lapidem als totales Mißverstehen des Problems, als Unfähigkeit, sich in eine ernsthafte philosophische Diskussion über den Idealismus einzulassen. (Daß es weh tut, wenn man gegen ein Stein tritt, bestreitet auch der Idealist nicht – es geht ihm um eine philosophische Interpretation der Erlebnisse.)

Im Argument ad lapidem wird eine handfeste triviale Tatsache angeführt, durch welche eine subtile, theoretische Argumentation widerlegt werden soll, ohne im einzelnen auf deren eventuell raffinierte Gedankenführung einzugehen. Es macht den Reiz dieser Figur aus, daß nicht ohne weiteres zu entscheiden ist, ob sie überzeugend sein wird oder nicht.

Ein geistesgeschichtlich berühmtes Beispiel ist Voltaires philosophischer Roman Candide, der sich in satirischer Form gegen Leibnizens These richtet, diese unsere Welt mitsamt ihrem ganzen Elend sei die beste aller möglichen. Leibniz hatte das Problem der Theodizee – wir sind ihm ja schon begegnet – dadurch gelöst, daß er philosophisch nachwies, eine bessere Welt als diese, unsere, sei gar nicht möglich.

Anstatt aber auf Leibnizens tiefgründige Argumentation einzugehen, schildert Voltaire im Candide ein einzelnes menschliches Leben, das buchstäblich von einem Unglück ins nächste taumelt. In die Schilderung aller Leiden und Unglücksfälle dieses Lebens werden gelegentlich Kommentare im Stile der Leibnizschen Philosophie eingeblendet. Voltaire erspart sich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dieser Philosophie, er konfrontiert sie einfach mit der Realität, dies allerdings tut er drastisch.

Die Bewertung von Voltaires Argumentation hat immer geschwankt. Für deutsche Metaphysiker geht Voltaire an Leibnizens Argumenten vorbei, ohne deren Tiefgründigkeit zu begreifen. Voltaire, sagen seine Kritiker, sei seicht, Leibniz aber tief. Die Anhänger Voltaires andererseits meinen, der Roman Candide zeige ein für allemal die Lächerlichkeit der Leibnizschen "Theo-Philosophie", an der nichts tief sei, außer ihrem Unsinn.

Weitere Kapitel dieses durchaus hilfreichen und lesenswerten Buches:

3 Fallgruben
4 Ideologie, Fanatismus und Argumentation
5 Die Abwehr des Fanatismus
6 Interne Kritik
7 Subversives Argumentieren
8 Den Gegner ernst nehmen
9 Subversives Lachen
10 Epilog

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