Auszüge aus Florence Rush's
"Das bestgehütete Geheimnis: sexueller Kindesmißbrauch"

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Alice Miller im Gespräch mit der Autorin

Dieses Gespräch führte die Psychoanalytikerin Alice Miller mit Florence Rush im April 1982 In New York

Alice Miller: Mir ist ihr Buch The Best Kept Secret zugeschickt worden, nachdem ich mich selber in Du sollst nicht merken mit dem Problem des sexuellen Mißbrauchs des Kindes und deren Folgen für seine Entwicklung ausführlich befaßt habe. Nach meinen Erfahrungen wird diese Tragik der Kinder zumindest unter meinen Fachkollegen meistens geleugnet oder zumindest heruntergespielt und bagatellisiert. Die Fragen, die ich aufgeworfen habe, mobilisieren sehr viel Angst und Widerstand, und ich war daher sehr erstaunt und erfreut, in Ihrem Buch einer Frau zu begegnen, die der ganzen Problematik nicht nur nicht ausweicht, sondern klar, direkt und mit emotionaler Beteiligung über die Opferung des Kindes schreibt, ohne etwas zu beschönigen oder zuzudecken; die das, was sie gefunden hat, ertragen kann, ohne es wieder zurückzunehmen, wie das so oft geschieht. Sie haben mit Ihrem Buch sehr deutlich gemacht und auch wissenschaftlich belegt, daß in unserer Kultur nicht der sexuelle Mißbrauch der Kinder wirklich verboten ist, sondern das Sprechen darüber. Nun wollte ich Sie fragen, was Ihnen die Kraft und den Mut gegeben hat, dieses großartige Buch zu schreiben.

Florence Rush: Ich denke, daß sehr viel Kraft und Mut aus meiner Überzeugung kam, daß hier ein schreckliches Unrecht geschieht, aber ich muß sagen, daß ich zuerst gar nicht sehr hoffnungsvoll war, weil ich mich an die Kinder aus meiner Arbeit erinnerte, die weder mit den Eltern noch mit den Sozialarbeitern oder Psychiatern bereit waren, über ihre Traumen zu sprechen. Das habe ich erst voll verstanden, als ich in den Bibliotheken entdeckte, daß überall den Tätern verziehen wurde, während die Opfer für den sexuellen Mißbrauch verantwortlich gemacht wurden. Ich begann mich an eigene Erfahrungen aus der Kindheit zu erinnern, und ich realisierte zum ersten Mal, wie schwer das für mich damals gewesen war. Ich war sexuell ausgebeutet worden, man hatte mir meine Geschichte nicht geglaubt, ich hatte mich plötzlich isoliert in meiner bisher vertrauten Umgebung gefühlt und mich nicht mehr auf mein Gefühl der Realität verlassen können.

Ich fing an, meine Kindheitserinnerungen anderen Menschen zu erzählen, besonders Frauen, die auch von ihren Erfahrungen erzählten, und das ermutigte mehr und mehr Frauen, darüber zu sprechen, was ihnen geschehen war. In dieser Zeit bekam ich eine Menge Briefe, fast täglich, von verschiedenen Menschen, die schrieben, daß es für sie richtig sei, über diese Dinge zu sprechen. Ich hatte zwar vermutet, daß mehrere Frauen diese Erfahrungen gemacht hatten, aber es war erstaunlich zu entdecken, wie viele. Es schien mir fast ein universales Problem. Ich hielt einmal einen Vortrag in einer Frauenversammlung, in der etwa 150 Frauen saßen, und habe da die Frage gestellt, welche von ihnen sich erinnert, daß sie als Kind sexuell mißbraucht worden war, und 95% dieser Frauen haben ihre Hand erhoben. Ich muß andererseits sagen, daß ich auch schon Frauen getroffen habe, die sagten: Nein, so etwas ist nie geschehen, ich kann mich an gar nichts erinnern.

Und dann erzählte ich ihnen meine Erfahrungen vom Zahnarzt, vom Onkel Willy, dem Mann an der Ecke, der mich in das Hinterzimmer einlud, um mir sein Kätzchen zu zeigen, und plötzlich seine Hände unter meinem Röckchen hatte, der Exhibitionist auf der Straße, der sich entblößte, um einen Schock in mir zu provozieren usw. Es war erstaunlich, wieviele Frauen in dem Moment, als ich darüber anfing zu sprechen, sagten: Ah ja, ich kann mich erinnern, ich ging ins Kino, und da waren plötzlich fremde Hände unter meinem Kleid, ich hatte einen Cousin, der nahm uns zu einer Familienzusammenkunft mit, nahm mich dann in ein anderes Zimmer, küßte mich auf eine Art und Weise, die mir Angst machte, ja natürlich, das war auch ein sexueller Mißbrauch.

Alice Miller: Daher ist es so wichtig, daß Sie diesen ersten Schritt machten. Wie fühlten Sie sich, als Sie zuerst über ihre eigenen Erfahrungen sprachen?

Florence Rush: Ich fühlte mich wundervoll, es war eine totale Erleichterung, daß ich endlich, endlich etwas erzählen konnte, das ein ganzes Leben mit Gefühlen von Schuld und Scham verbunden war, und daß ich hier mit Menschen zusammen war, die mir die Freiheit gaben, auszudrücken, was ich zu sagen hatte, ohne Scham, ohne Befangenheit und ohne Schuld. Ohne diese Frauen, die mir zuhörten, mir glaubten und mich ernstnahmen, hätte ich es nie geschafft.

Alice Miller: Aber es ist sehr wichtig, daß Sie den ersten Schritt machten, daß Sie es wagten, das Tabu zu berühren. Wie waren die Reaktionen der Leserinnen?

Florence Rush: Ich erhielt viele viele Briefe, ich habe sie nicht gezählt. Auch von sehr jungen Frauen und sogar von 11- und 12-jährigen Mädchen, die irgendwie zu meinem Buch gekommen sind, es lasen und mir dann schrieben, wie dankbar sie sind zu wissen, daß dieses Problem, das sie so viele Jahre allein mit sich herumtrugen, auch für andere Frauen bestünde, daß auch andere daran leiden. Sie waren froh, bestätigt zu bekommen, daß sie ausgebeutet wurden und daß man gar nicht anders kann und soll, als darüber zornig zu sein. Sie waren sehr erleichtert, daß sie das Recht hatten, zu fühlen, daß etwas Falsches mit ihnen getan wurde und daß sie das Recht hatten, ihre Ängste, ihre Konfusionen, ihre Wut auszudrücken. Aber ich habe auch Feindseligkeit erfahren, obzwar in viel kleinerem Maße.

Alice Miller: Das ist klar. Wenn Sie ein großes Unrecht aufdecken, von dem bestimmte Menschen profitieren, werden Sie sie immer gegen sich haben. Aber das hat den Vorteil, daß diese Männer sich damit deutlicher profilieren, daß sie ihre wahre Gesinnung zum Ausdruck bringen, indem sie das Unrecht bagatellisieren. Sie erzählen in Ihrem Buch, wie die Feministin Josephine Butler im 19. Jahrhundert "Männer der Rechten wie der Linken" gegen sich hatte, als sie den Kinderhandel und die sexuelle Sklaverei öffentlich ausleuchtete. Ich habe eine ähnliche Erfahrung gemacht, als ich in meinem Buch über die Erziehung zu zeigen versuchte, daß der Mensch nicht an angeborenen Trieben, wie Freud behauptete, sondern an erlittenen Grausamkeiten der Kindheit, die er verdrängen muß, seelisch krank wird. Es war bezeichnend, daß ich sowohl von rechtskonservativen orthodoxen als auch von sogenannten progressiven linken Psychoanalytikern fast mit den gleichen Worten angegriffen wurde. Sie warfen mir Sentimentalität und unzulässige Vereinfachung der Vorgänge vor, weil doch für den Wissenschaftler alles viel viel komplizierter sei usw. Sobald sie also versteckte Grausamkeiten beim Namen nennen, werden Sie zum Sünder gemacht, und zwar von denen, die bewußt oder unbewußt daran interessiert sind, daß die Sache geheim bleibt. Denn wer darüber aufgebracht ist, daß schreckliches Unrecht ans Tageslicht kommt, muß irgendwie von dessen Geheimhaltung profitieren. Diese Erfahrung machen jetzt täglich die Frauen, die aufgehört haben, "den Mund zu halten" und über Vergewaltigung und andere Formen von Mißhandlungen sprechen.

Insofern ist das Schreiben auch ein brauchbarer Test um herauszufinden, welche Menschen und Gruppierungen wirklich daran interessiert sind, einem Übel entgegenzuwirken, und welche zwar den Fortschritt gepachtet zu haben vorgeben, aber im Grunde alles tun, um klare Tatsachen zu vernebeln. Ein Mann von heute, der von der Unwissenheit der Frauen, der Kinder und der Patienten/innen weiter profitieren will, wird dies natürlich nicht offen zugeben. Aber wenn er viel auf seine "Wissenschaftlichkeit" hält, wird er jede Aufklärungsarbeit als banales Gerede bezeichnen und die Frauen, die wie Josephine Butler und Sie hartnäckig die Zusammenhänge aufzeigen, diffamieren, lächerlich machen oder belehren. Er wird auch Frauen finden, die brave Töchter geblieben sind und von ihm jeden Unsinn kritiklos abschreiben, wie es die Schülerinnen des Patriarchen Freud getan haben. Sie übernahmen den Unsinn über den Penisneid, die Kastrationsangst und den Ödipuskomplex und ließen außer acht, was in ihren Zeiten tatsächlich mit kleinen Mädchen und kleinen Jungen gemacht wurde und was sie selber empfanden, wenn sie von solchen Theorien hörten. Solche "Wissenschaftlerinnen" werden auch heute Ihr Buch bekämpfen. Aus den vielen positiven Reaktionen sehen Sie aber, daß Sie den Finger auf etwas gelegt haben, das bereit war, entdeckt zu werden. Diese Erfahrung mache auch ich täglich mit den Leserbriefen. Haben Sie das gespürt, als Sie anfingen, das Buch zu schreiben?

Florence Rush: Es ist seltsam, ich muß gestehen, daß der erste Schritt eher intellektuell war. Eine Gruppe von Frauen in New York organisierte einen Kongreß über Vergewaltigung und fragte mich, ob ich einen Vortrag über den sexuellen Mißbrauch der Kinder halten wollte. Sie ahnten nichts von meinen persönlichen Erfahrungen, sondern fragten mich, weil sie wußten, daß ich als Sozialarbeiterin diese Probleme kannte. Zuerst habe ich abgelehnt, sie haben dann sehr gedrängt. So ging ich mal in die Bibliothek, um mir die Literatur anzuschauen. Da entdeckte ich, daß die meisten Fachleute immer noch das mißbrauchte Kind beschuldigen und dem Täter verzeihen. Das hat mich so wütend gemacht, daß ich anschließend sagte, doch, ich würde diesen Vortrag schreiben. Plötzlich kamen dann auch meine eigenen längst vergessenen Erinnerungen, die ich nicht mehr aufhalten konnte, und ich erzählte darüber, noch bevor ich den Vortrag hielt. Und die anderen Frauen erzählten von ihren Erfahrungen, und so bekam ich ein Feedback und eine Unterstützung, und es ergab sich eine Interaktion, die dem Vortrag vorausging.

Alice Miller: Es wurde mir eine Statistik zugeschickt, die angibt, daß 1981 eine Million Kinder in Amerika sexuell mißbraucht wurden. Das sind ja nur die gemeldeten Fälle, so muß die Zahl noch viel größer sein.

Florence Rush: Was die Statistiken betrifft, so glauben wir nicht an die eine Million, weil wir von Berechnungen ausgehen, die fast 25 Millionen Kinder im Jahr in unserem Land erfassen. Sie beruhen auf repräsentativen Studien von Kinsey und David Finkelhor, von denen ich in meinem Buch genauer berichtet habe. So ist die eine Million in meinen Augen nur der Gipfel eines Eisbergs. Da es sich um das bestgehütete Geheimnis handelt, über das gar nicht gesprochen wird, kann man annehmen, daß 80% von Fällen verschwiegen werden.

Alice Miller: Es ist faszinierend, bei Ihnen nachzulesen, mit welch raffinierten Mitteln die Gesellschaft mühevoll errungene Fortschritte wieder beseitigen kann, für den Zeitgenossen meistens undurchschaubar und immer im Interesse der Machthaber. Nachdem einzelne mutige Menschen dank schwerer Kämpfe endlich erreicht haben, daß eine neue Gesetzgebung den Kinderhandel für Prostituiertenzwecke erschwerte, also Ende des 19. Jahrhunderts, begann sich gerade Freuds psychoanalytische Theorie auszubreiten, die das kleine Kind als Subjekt intensiver, auf den gegengeschlechtlichen Elternteil gerichteter, sexueller Bedürfnisse sieht. Nun schloß sich wieder die entstandene Lücke, und man konnte Kinder nach Lust und Laune gebrauchen in der Überzeugung und mit dem guten Gewissen, daß man deren Wünsche erfüllte. Diese Leute haben Sie entlarvt. Ich will damit nicht sagen, daß Freud bewußt pädophile Tendenzen in der Gesellschaft unterstützte, er tat es aber unbewußt, indem er seine Schüler/innen mit falschen Informationen verwirrte und diese wiederum dazu brachte, daß sie unbewußt auch ihre eigenen Schüler/innen und Patient/innen, d.h. auch zukünftige Eltern, verwirrten. Es scheint mir daher sehr wichtig, daß die Öffentlichkeit, d.h. die Medien und dadurch auch die Eltern, mehr Informationen über die Konsequenzen des sexuellen Mißbrauchs bekommen, damit das Kind nicht von der Mutter beschuldigt wird, wenn es ihre Unterstützung braucht.

Florence Rush: Das ist leider wahr. Ich kenne viele Situationen, in denen Kinder versuchten, der Mutter zu erzählen, was passiert war. Die Mutter verteidigte den Vater, den Großvater oder den Onkel und sagte dem Kind, es hätte sich eine Lüge ausgedacht oder den Mann verführt oder das Mädchen sei einfach eine Hure. Wenn später wieder etwas passiert, wird das Kind nie mehr der Mutter davon erzählen, das Geheimnis bleibt tiefer und tiefer verborgen, es bleibt die Scham, das Schuldgefühl, das im späteren Leben explodieren wird. Die Lebensfähigkeiten dieses Mädchens sind furchtbar beeinträchtigt. Diese Frauen brauchen Unterstützung, eine von der anderen, in dem sie darüber sprechen, es in die Öffentlichkeit bringen und die Überzeugung gewinnen, daß das Unheil nicht nur ihnen allein geschehen ist, sondern überall geschieht. Sie können eine der anderen helfen, indem sie von der furchtbaren Beeinträchtigung sprechen, die ihnen oder ihren Töchtern zugefügt wurde, und indem sie versuchen, verschiedene Wege herauszufinden, um dieses entsetzliche Schweigen zu besiegen. Denn gerade dieses Schweigen verhindert es, daß ein schreckliches soziales Problem aufgedeckt und gelöst wird.

Alice Miller: Wenn ich mit Kollegen über dieses Problem spreche, höre ich immer wieder, daß ich die Bedeutung der kindlichen Phantasie nicht ernst genug nähme und den Kindern alles glauben würde, was sie erzählen. Selbstverständlich ist mir klar, welche große Rolle die Phantasie im Leben eines Kindes spielt, aber ich meine, daß die Phantasie, gerade weil sie dem Kind zum Überleben hilft, eher die Eltern idealisiert als ihnen böse Taten unterstellt. So kann das Kind z.B. versuchen, den Vater zu schützen, indem es eine Angst vor Pferden entwickelt und von erfundenen Gefahren erzählt, aber die in diesen phantasierten Geschichten verborgene Angst ist echt und führt immer auf reale Bedrohungen zurück. Haben Sie in ihrer Erfahrung als Sozialarbeiterin je ein Kind gesehen, daß seine Eltern schlechter darstellt, als sie wirklich waren?

Florence Rush: Nein, das habe ich nicht, im Gegenteil, die Kinder entschuldigen immer das Verhalten der Eltern. Sie haben recht. Sie bagatellisieren auch die größten Grausamkeiten. Man darf nicht vergessen, daß oft der Täter, der Verfolger jemand ist, den das Kind liebt, von dem es abhängig ist, jemand, den es braucht. Und wenn diese Person, die es beschützen sollte, zugleich der Mißbraucher ist, kann ein Kind mit dieser Situation nicht umgehen. An wen sollte es sich wenden, um Hilfe, Liebe, Schutz zu bekommen? So versucht das Kind zu glauben, daß das alles nicht so schlimm ist und wird später sagen – wie ich es oft gehört habe: Mein Vater befühlte mich und fummelte an mir herum, aber er war ein so lieber Mensch, so gefühlvoll, er meinte es nicht böse. Andere wieder sagen: Mein Vater war so kalt und distanziert, und das war die einzige Form von Liebe, die er mir gab, und ich nahm es sogar dankbar an, sonst hätte ich nichts. Das scheint mir so traurig und so schrecklich tragisch, daß ein Kind den sexuellen Mißbrauch akzeptieren muß, weil es keine andere Form von Liebe und Zuwendung erhält.

Alice Miller: Was Sie jetzt sagten, zeigt die tragische Isolierung dieser Frauen, die in ihrer Kindheit den eigenen Verfolger schützen mußten. Und dann wiederholt sich das, wenn sie erwachsen sind, in eine psychoanalytische Behandlung kommen und erfahren, daß es sie waren, die mit ihrem Vater schlafen wollten und daß ihre Erinnerungen an die realen Erlebnisse nur Phantasien oder Ausdruck ihrer eigenen sexuellen Wünsche seien. So wird doch die Patientin noch mehr verwirrt und isoliert, als sie es schon in der Kindheit war, und beschuldigt sich wieder für alles, was ihr angetan wurde. Ich habe in meinem letzten Buch sehr viel Aufmerksamkeit dieser Frage gewidmet, und es interessiert mich, welche Erfahrungen Sie als Sozialarbeiterin damit gemacht haben.

Florence Rush: Was in einer solchen Therapie geschieht, ist, daß sich die Patientin dauernd fragt: Was ist falsch an mir, daß ich verärgert und traurig bin, daß ich finde, etwas war falsch? Ich habe keinen Grund, so böse und verwirrt zu sein, ich muß mich ändern, ich tue jemandem unrecht mit meinen Phantasien.

Die Patientin bekommt Schuldgefühle, und wenn die Behandlung das reale Trauma nicht ernstnimmt, wächst die Isolierung der Patientin; sie hat keinen Kontakt mehr zu ihren Gefühlen, sie meint, die seien nicht wichtig und irreführend, sie sollten anders sein, als sie sind. Für mich ist eine solche Behandlung, auch wenn sie sich Therapie nennt, völlig irreführend, es ist eine totale Ablehnung der Person. Schon in der Kindheit hören die Kinder, daß die Gefühle, die sie haben, nicht richtig sind, und ich nenne dieses Phänomen "gaslighting" oder die Leugnung der Realität des andern. Wenn wir einmal die Realität einer Person, d.h. ihre eigenen Wahrnehmungen und Gefühle leugnen, sagen wir, daß das, was sie fühlt, was sie erlebt, falsch ist. So wird das Kind sehr schnell diese Konzepte der Gesellschaft, der Eltern gegen sich selbst wenden und versuchen, anders zu fühlen als es fühlt und sich seine Wahrnehmungen auszureden. Dieses Kind ist dann in einem ständigen Kampf mit sich selbst, es kann sich nicht voll ausdrücken, es verliert den Sinn für Freiheit und Spontaneität, es beobachtet sich ständig, fürchtet das Versagen und kann auch leicht zum Versager werden. Denn dieser Mensch wird sich schwer auf seine Wahrnehmungen verlassen können, nachdem man sie ihm ausgeredet hat.

Alice Miller: Es hat mich sehr fasziniert, was Sie in Ihrem Buch über Hexen des Mittelalters schrieben. Diese Hexen litten offenbar unter den gleichen Symptomen wie die Patientinnen Freuds um die Jahrhundertwende, und es wird aus Ihrem Buch deutlich, daß diese Symptome nicht so sehr aus dem sexuellen Mißbrauch wie vor allem aus dem Zwang zur Geheimhaltung dieses Mißbrauchs verständlich werden. Das geht aus Ihren Darstellungen sehr klar hervor.

Florence Rush: Ich zeigte in meinem Buch, daß die Frauen, die später als "Hexen" verbrannt wurden, tatsächlich mißbraucht worden waren, von Priestern und Vätern der Kirche. Manche Frauenklöster waren richtige Bordelle, die den Mönchen ermöglichten, sich zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse Novizinnen und jüngere Klosterfrauen zu holen.

Alice Miller: Als ich das las, wußte ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, denn wenn diese Frauen später erzählten, sie hätten mit dem Teufel geschlafen, dann haben sie doch nicht gelogen.

Florence Rush: Wenn sie einen Priester genannt hätten, hätte ihnen niemand geglaubt. So mußten sie den Teufel oder die Dämonen nennen. Genauso wie ein Kind Angst vor Pferden entwickelt, um nicht seine eigenen Eltern zu nennen, wie der "kleine Hans" bei Freud. Die Angst bezieht sich auf ein reales Ereignis, das man verschweigen muß, und die Verschiebung auf andere Personen oder Objekte macht die Gefahr der Bestrafung kleiner.

Alice Miller: Wie sind Sie auf diese Geschichten über die mittelalterlichen Hexen gekommen? Ich glaube, es ist nicht schwer, haarsträubende Geschichten in Bibliotheken zu finden, aber niemand kümmert sich drum. Die Wissenschaftler sind dafür geschult, bestimmte Dinge sorgfältig zu übersehen, um ja niemandem weh zu tun. Doch Ihr Buch zeigt, wie wichtig es für unser Zusammenleben wäre, mehr über die Dinge Bescheid zu wissen, denen die Wissenschaftler gewöhnlich keine Aufmerksamkeit schenken.

Florence Rush: Ja, genau. Das war meine wunderbare Erfahrung beim Schreiben dieses Buches: Zunächst wollte ich ja nur beschreiben, was ich selber erfahren und was ich in den Familien gesehen habe, etwas, was heute geschieht. Aber plötzlich sah ich mich immer weiter zurückgehen, immer weiter in der Geschichte zurück, und überall fand ich die gleichen Sachen: die Kinderehen, die Kinderprostitution, die Vergewaltigung, die immer wieder in neuen Formen geschah. Es liegt alles ganz offen da, ganz nahe, es war nicht schwer, es zu entdecken. Und trotzdem, die Menschen gehen daran vorbei, weil sie so daran gewöhnt sind. Und jetzt sagen viele: "Ach, das alles geschah vor hundert Jahren, heute nicht mehr", aber im Grunde setzen wir diese Tradition fort, wir machen das Gleiche unter anderen Vorzeichen.

Alice Miller: Das Neue bei Ihnen ist, daß Sie Ihren Augen geglaubt haben. Sie sahen, was mit den Kindern in den Familien geschah, und dann fanden Sie das Gleiche in der Geschichte und in unserer Kultur. Aber wenn jemand nicht glauben darf, was er sieht, sondern an Theorien glauben muß, kann er auch die Relität der Vergangenheit nicht sehen. Ich meine, es war bei Ihnen ein Schneeballeffekt. Zuerst entdeckten Sie etwas in Ihrer eigenen Vergangenheit, dann in Ihrer Umgebung, und Sie haben sich geweigert, nicht daran zu glauben, was Sie gesehen haben.

Florence Rush: Ich glaube, wir unterschätzen die Bedeutung der Heuchelei in unserem Leben: wir geben vor, daß wir sehr viel für die Kinder tun, daß wir in einer kindheitszentrierten Gesellschaft, in einer kinderfreundlichen Welt leben, das sind lauter Lippenbekenntnisse. Denn in Wirklichkeit geben wir den Kindern nicht den Vorrang, nicht die Aufmerksamkeit und nicht den Schutz, die sie brauchen und auf die sie ein Recht haben. Warum das so ist? Vielleicht weil die Kinder nichts zu unserem materiellen Wohlstand beitragen, sie verkörpern keine Macht und sie repräsentieren die Hilflosigkeit.

Alice Miller: Aber auch das Leben!

Florence Rush: Ja, sie sind unsere Zukunft, und wir dürfen nicht vergessen, daß das, was Ihnen heute zustößt, die Welt von morgen formen wird.

Alice Miller: Ja, nur glaube ich, daß wir nicht den Kindern Respekt geben können, wenn wir ihn selber nicht erfahren haben, wenn wir nie erfahren haben, was es heißt, einen Schwächeren zu achten. In unserer Erziehung lernen wir nur den Respekt für den Stärkeren. Die Achtung für den Schwächeren, für die Kinder und die Patient/innen müssen wir erst lernen, und darin ist unsere Generation eigentlich ohne Vorbilder.

Florence Rush: Ja, wir sind in einem Teufelskreis. Was wir erlitten haben, geben wir unseren Kindern weiter, und es wird immer schlimmer und schlimmer. Ich glaube, daß wir diesen Teufelskreis nur durchbrechen können, indem wir uns über die Gefahren bewußt werden. Wir müßten anfangen, unseren Kindern zuzuhören, ihnen zu glauben, sie zu beschützen, ihnen Respekt zu geben und anzuerkennen, daß ihre Körper ihnen gehören, daß sie das Recht haben zu wissen, von wem sie berührt werden möchten und von wem nicht. Daß sie die Macht haben sollten, ihr eigenes Leben zu kontrollieren, anstatt von uns versklavt zu werden und mit diesen Gefühlen von Verwirrung und Hoffnungslosigkeit leben zu müssen.

...

Eine Familienangelegenheit

Inzest und andere Formen sexuellen Kindesmißbrauchs sind in Märchen, Widersprüche und Verworrenheit gehüllt. Ärzte, Therapeuten, Sexologen und Forscher sind sich uneinig darüber, ob ebenso viele Jungen wie Mädchen geschändet werden, ob beide die gleichen Traumata davontragen, ob Kindesschänder normal, neurotisch, psychopathisch oder psychotisch sind, ob sich das kindliche Opfer in irgendeiner Weise zu einer sexuellen Begegnung anbietet oder ob das Verhalten des Sexualtäters auf eine gestörte Mutter oder eine zerrüttete Familie zurückzuführen ist. Spekulationen über die Zahl der Vorkommnisse schwanken von fünf- über fünfhunderttausend bis zu einer Million Fälle pro Jahr und von fünf bis fünfunddreißig Millionen Personen, die während ihrer Kindheit eine sexuelle Begegnung mit einem Erwachsenen erleben.
Es scheint jedoch Einigkeit darüber zu herrschen, daß der Täter überwiegend männlichen Geschlechts ist (etwa 80-90%), daß er in 80% aller Fälle ein Verwandter oder Freund des Opfers und seiner Familie ist, daß die tatsächliche Anzahl der Vorfälle weit über der Zahl der angezeigten Fälle liegt und daß Unzucht mit Kindern vor keiner Gesellschaftsschicht haltmacht. Außer in diesen Punkten weichen die Meinungen sowohl voneinander, als auch von meiner ab. Meiner Überzeugung nach entstammt der Kindesschänder nicht einer gestörten oder schlecht funktionierenden Familie und mag genauso normal oder anomal sein wie die übrige, sogenannt normale männliche Bevölkerung. Er sucht sich ein Kind als Sexualpartner aus, weil ein Kind – mehr noch als eine Frau – ihm an Erfahrung und Körperkraft unterlegen, vertrauensseliger gegenüber und abhängiger von Erwachsenen ist und daher leichter genötigt, verführt, verlockt oder gewaltsam gezwungen werden kann. Und weil der Täter auch noch ein Familienfreund oder Verwandter ist, können nicht einmal ernsthaft besorgte Erwachsene mit ihm fertigwerden.

Wie viele fürsorgliche Eltern haben schon geschworen: Wenn irgend jemand meiner Kleinen auch nur mit einem Finger zu nahe kommt, bring’ ich ihn um.

Doch wenn eine Mutter oder ein Vater beispielsweise entdecken, daß ihr guter Freund Jack (der ihnen gerade Geld geliehen hat und Mary ins Krankenhaus gefahren hat, als das Baby vorzeitig auf die Welt kam) derjenige war, der – wie ihr Kind berichtet – "mich überall angefaßt hat", und nicht irgendein "abartiger" Fremder, werden sie ihre Vorschußwut nur schwer in Taten umsetzen können. Sie werden sich beruhigen. Sie werden vernünftig sein. Eine Bloßstellung könnte Jack seinen Arbeitsplatz kosten. Sally könnte ihn verlassen. Wie wird sie alleine zurechtkommen? Wie werden sich die Familien verhalten, wenn sie sich in der Kirche oder im Supermarkt begegnen? Könnten die Kinder dann noch zusammen spielen? Ein Problem wird auf das andere gehäuft, und man wird sich bald darauf einigen, die Sache am besten auf sich beruhen zu lassen. Manche mögen sogar Verständnis für Jack aufbringen. "Wir wußten gar nicht, daß er diesen Hang zu Kindern hat. Der arme Kerl braucht Hilfe." Im günstigsten Fall werden sie ihre Tochter in Zukunft nicht mehr alleine mit Jack lassen.

Eine Mutter stürzte – wie es der Zeitschrift Women’s Day erzählt wurde – zum Haus des Kindesschänders in der Nachbarschaft, nachdem der ihre Tochter belästigt hatte. Dort wurde ihr von der Ehefrau des Mannes geöffnet, die ihr beteuerte, ihr Mann sei, abgesehen von dieser Absonderlichkeit, ein vorbildlicher Ehemann und Vater. Gegen das Versprechen, daß sich der Sittenstrolch psychotherapeutischer Behandlung unterziehen werde, willigte die Mutter ein, keine Anzeige zu erstatten.7 Es ist bekannt, daß Kinderschänder auf Behandlung nicht ansprechen, doch für alle, die unschuldigen Verwandten das Leben nicht unnötig erschweren wollen, ist Therapie eine willkommene, wenn auch unwirksame Lösung. Es gibt in der Tat so wenig Lösungen, daß das betroffene Kind oft auch noch den Mann, der es gefährdet hat, decken muß. Eine junge Frau, die ihre Nichte retten wollte, erzählte folgende typische Geschichte:

Jill, die Tochter meiner Schwester, ist vierzehn. Seit sechs Monaten wird sie von ihrem Stiefvater befingert, und nachts kommt er in ihr Schlafzimmer. Ich weiß, daß sie die Wahrheit sagt, denn er hat dasselbe bei mir gemacht, als ich bei ihnen wohnte. Jill fand es widerwärtig und erzählte ihrer Lehrerin davon. Die Lehrerin meldete es dem Schulpsychologen, und der sagte, entweder lüge das Kind und sei sehr krank oder der Familie drohe Schlimmes. Der Vater könnte im Gefängnis landen.

Als der Stiefvater darauf angesprochen wurde, behauptete er, Jill lüge. Jills Mutter glaubte ihrem Mann. Händeringend bekniete sie ihre Tochter zu "gestehen". Wer würde sonst für sie beide und ihre jüngeren Brüder aufkommen? Jill versuchte, bei ihrer Version zu bleiben, doch fortgesetzter Druck und steigende Schuldgefühle darüber, die Familie ihres Unterhalts zu berauben, brachten sie schließlich dazu zu "gestehen", daß sie gelogen hatte. Das Gesuch, bei mir wohnen zu dürfen, wurde ihr abgeschlagen, und sie wurde in psychiatrische Behandlung gegeben.

Russell George, ein überführter Kindesschänder, veranschaulichte in einer Zeugenaussage gegenüber dem englischen Kriminologen Tony Parker, wie die Unfähigkeit Erwachsener, mit seinem Verhalten umzugehen, ihm freie Hand garantierte. Bei einem weihnachtlichen Familientreffen führte er seine sechsjährige Nichte in ein Schlafzimmer, zog ihr die Unterhosen runter und fingerte an ihr herum. Der Vater des Kindes "ertappte mich auf frischer Tat", sagte er. Ohne ein Wort zu sagen, verließ der Vater mit Frau und Kind das Haus. Alle schienen "verlegen", aber keiner sagte etwas. George versicherte seiner Frau, daß der Vater "einfach einen falschen Eindruck bekommen habe". Da er nie zur Rede gestellt wurde, belästigte er weiterhin kleine Mädchen, wenn immer die Familie zusammenkam. George hatte sehr wohl begriffen, daß es "für Leute nicht leicht ist, Anschuldigungen loszulassen"; denn egal wie sehr Leuten an der Beschützung eines Kindes gelegen sein mag – nur wenige werden die Verantwortung dafür übernehmen wollen, eine Frau und ihr Kind in finanzielle und gesellschaftliche Bedrängnis zu bringen. Der sexuelle Mißbrauch von Kindern ist infolgedessen das am beharrlichsten totgeschwiegene Verbrechen.

Ausmaße

Vincent de Francis von der American Humane Society, dessen Untersuchung von 263 kindlichen Opfern sexuellen Mißbrauchs eine Standardquelle geworden ist, behauptete, daß – obwohl das wirkliche Ausmaß der Vorfälle unbekannt ist – "die Ergebnisse darauf hindeuteten, daß das landesweite Vorkommen die angezeigten Fälle von körperlichem Kindesmißbrauch mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein Vielfaches übertrifft." Carolyn Swift, Leiterin der Abteilung für vorbeugende Maßnahmen am Wyandot Mental Health Center in Kansas City, schätzte in einem Vortrag vor einem Parlamentsausschuß, daß "50-80% aller Vorfälle nicht angezeigt werden." Eine Stichprobenuntersuchung von 4000 Amerikanerinnen durch das Kinsey-Team ergab, daß 25% vor ihrem 13. Lebensjahr eine sexuelle Begegnung mit einem Erwachsenen hatten. David Finkelhor, Forschungswissenschaftler an der Universität von New Hampshire, stellte in seiner Untersuchung von 796 Studentinnen und Studenten fest, daß von 530 weiblichen Befragten 19,2 % in ihrer Kindheit Opfer sexuellen Mißbrauchs geworden waren, ebenso 8,6% der 266 männlichen Befragten. Der von Kinsey ermittelte Prozentsatz wird oft als repräsentativ für 25% der weiblichen Bevölkerung hervorgehoben, folglich werden ca. 25 Millionen Frauen in den USA vor ihrem 13. Lebensjahr ein sexuelles Erlebnis mit einem männlichen Erwachsenen haben. Wenn wir die Finkelhor-Studie mit demselben Anspruch heranziehen, dann werden 28 Millionen der Gesamtbevölkerung in ihrer Kindheit ein sexuelles Erlebnis mit einem Erwachsenen haben.

Landesstatistiken sind zwar hilfreich, aber nicht unbedingt erforderlich, um das ungeheure Ausmaß des Problems zu erfassen. Es gibt kaum eine Studie, einen Bericht oder eine Untersuchung über Aspekte menschlicher Sexualität, worin nicht zum Ausdruck kommt, daß Sex zwischen Kindern und Erwachsenen ein aktiver, weit verbreiteter Zeitvertreib ist. Von 5058 angezeigten Sexualverbrechen in der Stadt New York im Jahr 1975 waren 27,2% der Opfer unter vierzehn (20% weiblich, 6,4% männlich).13 In einer Untersuchung von über 1500 inhaftierten Sexualdelinquenten, die über 1700 Delikte begangen hatten, wurden 998 an Kindern unter fünfzehn verübt.14 Mehr als die Hälfte aller Opfer angezeigter Vergewaltigung sind unter achtzehn, und 25% von dieser Zahl sind unter zwölf. 70% aller jungen Prostituierten und 80% aller weiblichen Drogenkonsumenten waren, wie sich herausstellte, in ihrer Kindheit von einem Familienangehörigen sexuell mißbraucht worden.15 Die Leiterin von Shalom, einer vorübergehenden Zufluchtstätte für Mädchen in Kalifornien, gab an, daß zwischen 25 und 50% aller Kinder in der Stätte sexuell mißbraucht worden waren. (Die Mehrzahl wurde aus anderen Gründen aus der Obhut der Eltern genommen, doch der sexuelle Mißbrauch an ihnen wird gewöhnlich im Lauf der Beratungsgespräche zu Tage gefördert.)16 Nach Schätzungen von Dr. Pascoe, Professor für Kinderkrankheiten an der University of California, "waren über 80% der Kinder in der Jugendstrafanstalt sexuell mißbraucht worden – egal, aus welchen Gründen sie dort einsassen." Der Brooklyn Society zur Verhinderung von Kindesmißhandlung zufolge sind 75-85% aller angezeigten Verbrechen an Kindern sexueller Natur, und von den 850 Fällen, die die Organisation vor Gericht gebracht hatte, waren 405 Sexualverbrechen an Kindern. Die Anzahl von Kindern, die ins Notzentrum für sexuelle Überfälle in Seattle, Washington, eingeliefert werden, ist seit 1973 kontinuierlich gestiegen. Im Jahr 1978 waren 25% der eingelieferten Fälle unter vierzehn Jahren, und 13% davon unter neun Jahren.19 Dr. Frederick Green von der George-Washington-Universität in Washington D.C. stellte fest, daß die Fälle sexuell mißbrauchter Kinder "unter den Patienten des Kinderkrankenhauses häufiger sind als Knochenbrüche und Mandeloperationen";20 Psychiater, Ärzte, Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Lehrer und Kinderpflegepersonal entdecken so viele Fälle, daß man von epidemischen Ausmaßen sprechen kann.

Medizinische Folgen des sexuellen Mißbrauchs von Kindern

Sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern stellen ein zunehmendes, ernstes medizinisches Problem dar. Untersuchungen über Vergewaltigung ergaben die Penetration von Säuglingen im Alter von sechs Monaten und darunter.

Fälle von Rissen und Verletzungen des Rektums, mangelnder Kontrolle über den Schließmuskel, zerschundenen Scheiden, Fremdkörpern in After und Vagina, durchstoßenen After- und Scheidenwänden,21 Tod durch Ersticken, chronischen Atembeschwerden durch Tripperinfektionen im Rachen sind fast immer auf sexuelle Kontakte Erwachsener mit Kindern zurückzuführen.22 Von 20 Fällen genitaler Tripperinfektion bei Kindern im Alter von ein bis vier Jahren gingen in 19 Fällen sexuelle Kontakte mit Erwachsenen voraus. Alle 25 Fälle infizierter Kinder zwischen fünf und neun Jahren ergaben, daß vorher sexuelle Kontakte mit einem Erwachsenen stattgefunden hatten, und dasselbe gilt für sämtliche Fälle von Kindern zwischen vierzehn und fünfzehn. Eine Untersuchung ergab, daß 160 von 161 Fällen dieser Erkrankung bei Kindern Folge sexueller Kontakte mit Erwachsenen waren.23 Und angesichts des hohen Schwangerschaftsrisikos im Teenalter sind junge Mädchen immer die Opfer zu früher sexueller Beziehungen, ganz gleich, wie alt ihre Partner sind. Das Alan-Guttmacher-Institut, Forschungs- und Entwicklungsabteilung für Familienplanung, veröffentlichte folgende beunruhigende Information:

Die Sterblichkeitsrate infolge von Komplikationen bei Schwangerschaft, Geburt und Entbindung liegt bei Frauen, die vor ihrem 15. Lebensjahr schwanger werden, um 60% höher, bei Fünfzehn- bis Neunzehnjährigen immer noch um 13% höher als bei Müttern in ihren frühen Zwanzigern ... Mütter zwischen fünfzehn und neunzehn sterben mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit an Blutungen und Fehlgeburten und mit eineinhalbmal so hoher Wahrscheinlichkeit an Blutvergiftung, während bei Müttern unter fünfzehn das Risiko, an Blutvergiftung zu sterben, dreieinhalbmal so hoch ist. Blutvergiftung gilt bei sehr jungen Frauen als "besonderes Schwangerschaftsrisiko" wegen der unzureichenden Entwicklung des endokrinen Systems, der emotionalen Belastung durch so frühe Schwangerschaft, schlechte Ernährung und unzulängliche Pflege vor der Entbindung.24

Die Anzahl von Kindern, die Kinder bekommen, ist keineswegs unbeträchtlich. Statistiken des amerikanischen Jugend- und Gesundheitsministeriums zufolge sind 4 Millionen weibliche Teenager zwischen 15 und 19 Jahren heterosexuell aktiv. Von dieser Zahl werden jährlich 4 von 10 bzw. eine Million schwanger. Diese Zahl schließt nicht die Unter-Fünfzehnjährigen ein: Zwar weniger fruchtbar und empfängnisfähig, aber keineswegs weniger aktiv, werden von ihnen jedes Jahr 30.000 schwanger. Zwischen 1971 und 1976, als die Geburtenrate allgemein sank, stieg die Zahl der Teenagerschwangerschaften um 33% an und betrug 600.000 Lebendgeburten. Anteilmäßig war der größte Anstieg in der Gruppe der Unter-Fünfzehnjährigen zu verzeichnen, besonders unter den Elf- bis Dreizehnjährigen.25 Wir dürfen nicht vergessen, daß viele der betroffenen Kinder oft zu jung sind, um den Geburtsvorgang zu verstehen oder richtigen Gebrauch von Verhütungsmethoden zu machen, sofern sie darüber aufgeklärt wurden. Und in einem gesellschaftlichen Klima, das sich schwindender Jungfräulichkeit und "blühenden Teenagersexes" rühmt – wo die Massenmedien täglich propagieren, Sex ist Liebe, Sex macht Spaß, und Sex erhält dich sogar schlank, wenn du, statt zu naschen, dir jemanden haschst – das aber die Gefahren von Geschlechtskrankheiten, Schwangerschaft und Tod auf dem Entbindungstisch ignoriert, werden die meisten Jugendlichen, ob sie dafür reif sind oder nicht, schon sehr früh zu Sex gedrängt. In unserer sexbesessenen Gesellschaft sind selbst die gebildetesten Heranwachsenden davon zu überzeugen, daß Sex in frühen Jahren revolutionärer (gewiß einfacher) ist als der Kampf gegen Kapitalisten und Vermieter.

Emotionale Folgen sexueller Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern

Dr. Joseph Peters, Leiter des Zentrums für Opfer von Sexualdelikten und Vergewaltigung am Philadelphia General Hospital, hat auf mögliche Warnsignale hingewiesen, wie Appetitlosigkeit, Alpträume, Bettnässen, Sich-an-die-Mutter-Klammern, Weigerung, in die Schule zu gehen oder mit Freunden zu spielen, die eventuell Symptome für sexuelle Begegnungen mit Erwachsenen sein können. Bei einem Kind, das wiederholte und fortgesetzte sexuelle Erlebnisse vor der Geschlechtsreife hatte, kann dies zu schweren Depressionen, Funktionsunfähigkeit, Psychosen und Selbstmord führen.

Peters ist insbesondere darüber besorgt, daß Therapeuten "zwischen Phantasie und dem Tatbestand der Kindesschändung unterscheiden. Diese Vorkommnisse der psychologischen Phantasie zuzuschreiben," fährt er fort, "mag für die Therapeuten einfacher und interessanter sein, kann aber auch die wirksamste Symptomanalyse untergraben."26 Überdies kommen Vorfälle, die übersehen werden, gewöhnlich erst später zum Tragen, wenn jemand von den sexuellen Ansprüchen im Erwachsenenalter überfordert ist. Peters warnt:

In ihrer Aversion gegen oft abstoßende Einzelheiten gestatteten und gestatten Therapeuten weiterhin ihren Patientinnen und Patienten, emotional bedeutsame, pathogene Tatbestände zu verdrängen.

In Therapeuten, die Kindheitssexualkontakte mit Erwachsenen ins Reich der Phantasie abschieben, spiegelt sich eine allgemeine Abneigung, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen. Fachleute wie Laien verhindern, daß das Problem auf den Tisch kommt, indem sie behaupten, es sei nur eingebildet, das Kind lüge oder ein solches Erlebnis sei harmlos. Dr. James Ramey von der Psychiatrischen Abteilung der Bowman School of Medicine in North Carolina bagatellisierte in seinem Artikel Das letzte Tabu die Gefahr des Vater-Tochter-Inzests, indem er ihn unter Verbrechen ohne Opfer, wie Homosexualität und Masturbation, einordnete. Die Wissenschaftler David Finkelhor und Judith Herman stellen Rameys Folgerungen in Frage. Sie erklären:

Viele Frauen, die Inzesterlebnisse hinter sich haben, sagen, Rameys Argumente seien nichts Neues; sie hätten sie ihr Leben lang von Vätern, Stiefvätern, Onkeln oder älteren Brüdern gehört. Blutschänder rationalisieren ihr Verhalten oft, indem sie sagen, daß sie nichts Schlimmes am Inzest finden könnten, daß seine Gefahren aufgebauscht worden seien und daß er völlig harmlos wäre, wenn sich Außenstehende nicht immer einmischen würden, er sei kein universelles Tabu. Diese keineswegs unpopuläre Ansicht ist in den vergangenen Jahren durch eine unglaubliche Schwemme pornographischer Literatur und beliebter Männerzeitschriften, die die Vorteile von Inzest anpreisen, gefördert worden.

Andere, die sich mit den Opfern und ihren Familien beschäftigt haben, haben ebenfalls veranschaulicht, wie die allgemeine Tendenz zur Vertuschung oder Verharmlosung von Inzest funktioniert. In einem Artikel mit der Überschrift Geteilte Loyalität in Inzestfällen mahnte Courtney, die als Zehnjährige von ihrem Vater verführt wurde, ihn in einem Brief, den sie als Erwachsene schrieb:

Kannst du die Ironie meiner Lage begreifen: Ich hielt meinem Mund über deinen sexuellen Mißbrauch mit mir, um dich vor der Zerstörung einer Familie zu schützen?

Sie schilderte ihre Zwangslage und die daraus resultierenden Ängste noch ausführlicher:

Seit meinem 10. Lebensjahr mußte ich andere täuschen und vor aller Welt und meiner Mutter verbergen, daß mein Vater sexuelles Interesse an mir zeigte und sexuelle Handlungen mit mir einleitete. Weißt du noch, wie du mich die Kunst der Täuschung lehrtest? Erst hast du mich in eine Lage versetzt, die verheimlicht werden mußte (zu deinem Schutz), und dann mußte ich dir Verschwiegenheit geloben ... Was konnte ich als zehnjähriges Kind tun? Du bist ein intelligenter Mensch – rechne du die Möglichkeiten aus, die eine Zehnjährige in dieser Lage hat.

Natürlich hat eine Zehnjährige, die von ihrem Vater ausgebeutet wird, keine Wahl. Wenn der Mann, der ihr Hauptbeschützer sein soll, auch ihr Verführer und Ausbeuter ist, wohin soll sie sich wenden? Courtney war sich bitterlich im Klaren darüber, daß "du, da ich deine Tochter war, für meinen Schutz und die Überwachung meiner Entwicklung zur Erwachsenen verantwortlich warst." Aber stattdessen fand sie, daß sie im Alter von 31 "immer noch die verheerenden Auswirkungen in den Griff zu bekommen versuchte, die der Inzest auf mein Leben hatte."

In ihrem Buch Father’s Days: A True Story of Incest, warf Katherine Brady Licht auf die schmerzlich heuchlerische Haltung, die sie einnahm, um die schwerwiegende Gefühlsstörung zu verdecken, die die Inzesterfahrung in ihr hervorgerufen hatte:

Mit jedem Anwachsen meines Schuldgefühls, meiner Schmach und meines Ekels wuchs auch mein Bedürfnis, eine glatte, glänzende Fassade aufzubauen. Je dunkler das Innenleben, desto strahlender muß die Außenseite sein, um es zu kaschieren ... Als ich in die Oberstufe kam, hatte ich inzwischen zwei völlig von einander getrennte Persönlichkeiten entwickelt. Die öffentliche, die gegenüber Freunden wie Familie herausgekehrt wurde, war freundlich, stabil, ehrlich, zuvorkommend, höflich, vertrauenswürdig, zuverlässig und kooperativ. Die private war furchtsam, unruhig, einsam und niedergeschlagen.

Die Tendenz, die Schäden herunterzuspielen, die das Kind als Folge sexueller Kontakte mit einem Erwachsenen davonträgt – Schäden, die ins Erwachsenenleben mitgeschleppt werden –, wird durch unsere fragwürdige Doppelmoral zusätzlich gefördert.

So weicht z.B. sowohl die klinische als auch die volkstümliche Vorstellung von einem gesunden Mann erheblich vom Bild einer gesunden Frau ab. Eine gesunde Frau wird sich den allgemein anerkannten Verhaltensnormen für ihr Geschlecht anpassen, obwohl diese Merkmale weniger erstrebenswert sind als die, die einem Mann zugeschrieben werden. Ein Mann gilt als gesund, wenn er entschlossen und von sich selbst überzeugt ist, und er wird dazu angehalten, nach Selbstverwirklichung und Vorherrschaft zu streben. Die Frau hingegen wird im wahrsten Sinne des Wortes "nach ihrem Gesicht" beurteilt, d.h. nach ihren körperlichen Vorzügen. Sie gilt als normal, wenn sie passiv und unterwürfig ist, ihren Zweite-Klasse-Status hinnimmt, bezaubernd unsicher, ambivalent und leicht zerstreut ist.

Die Erfahrung Virginias, einer 23-jährigen Frau, die mich um Hilfe ersuchte, verdeutlicht die Doppelmoral bei der Beurteilung geistiger Gesundheit. Ihr Stiefvater fing eine sexuelle Beziehung mit ihr an, als sie 12 Jahre alt war, und ließ auf ihr Drängen hin ab, als sie siebzehn war. Auch Virginia war es gelungen, sich eine "glatte, glänzende Fassade" zuzulegen, aber sobald sie achtzehn war, suchte sie einen Psychiater auf. Der Psychiater war beeindruckt von ihrem guten Aussehen, ihrer Anmut und ihren charmanten Umgangsformen und weigerte sich, die Konflikte, die ihrer Überzeugung nach aus der Beziehung mit ihrem Stiefvater stammten, anzuerkennen oder sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Er war nicht davon abzubringen, daß Virginia verstört war durch "das, was in meinem Kopf vorging, und nicht durch das, was tatsächlich zwischen mir und meinem Stiefvater vorgefallen war." Wenn sie ihre Familie in deren geräumigem Vorstadthaus besuchte, stieß sie auf das gleiche Unverständnis für ihre seelischen Leiden. "Alle tun so, als wäre nichts geschehen." erzählte sie, "aber ich spüre immer, wie sich der Ärger in mir drohend anstaut. Meine Freunde und meine Familie, einschließlich mein Stiefvater, bewundern mein Selbstvertrauen. In Wahrheit bin ich weder noch fühle ich mich selbstsicher. Dadurch, daß ich über die widerwärtigste und traumatischste Erfahrung in meinem Leben nicht sprechen kann, fühle ich mich in zwei Teile gespalten und paranoid. Er ist mein Vater. Er hat mir das angetan, und doch tut er so, als wäre alles in bester Ordnung."

Weil unsere Kultur sich nicht offen mit der Gefahr des Inzests befaßt, bietet sie einem Kind, das Anspruch auf einen beschützenden Vater und nicht einen destruktiven erwachsenen Liebhaber hat, keinerlei Hilfe; besonders wenn dieser Erwachsene sein Vater oder ein Familienangehöriger oder -freund ist. Leugnen oder Herunterspielen des Problems läßt das Opfer alleine mit der – vielleicht lebenslangen – Last dieses beschämenden Geheimnisses und seiner Folgen.

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