Auszüge aus Joseph Rattner's
"Der schwierige Mitmensch"

Psychotherapeutische Erfahrungen zur Selbsterkenntnis, Menschenkenntnis und Charakterkunde

Über dieses Buch
Zwischenmenschliche Beziehungen und soziales Leben sind ohne ein Verstehen der Menschen, aber auch ohne konstruktive Selbsterkenntnis nicht möglich. Josef Rattner vereinigt in diesem Buch die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie zu einer allgemeinverständlichen Charakterkunde. Selbsterkenntnis und Menschenkenntnis werden damit aus dem Bereich rein subjektiver Einschätzung und Mutmaßung befreit und auf den Boden wissenschaftlicher Forschung gestellt. Aufgrund seiner langjährigen praktischen Erfahrung kann der Autor darüber hinaus auf die Möglichkeiten der psychotherapeutischen Charakterveränderung hinweisen.

Der Autor
Josef Rattner, 1928 in Wien geboren, studierte Philosophie, Psychologie, Deutsche Literatur und später Medizin. Er promovierte zum Dr. phil. und Dr. med. Gegenwärtig lebt er als frei praktizierender Psychotherapeut und Lehranalytiker für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie in Berlin.

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Menschenkenntnis

Das Verstehen des Mitmenschen ist von großer Bedeutung für ein glückliches und erfolgreiches Leben. Denn aus dem richtigen Verständnis erwächst immer auch ein guter und gediegener Umgang: wer sich in den anderen einfühlen kann, wird ihn auch sinngemäß behandeln können. In allen menschlichen Beziehungen ist daher Menschenkenntnis erforderlich; im Maße, wie sie vorhanden ist, entwickeln sich diese Beziehungen zu Gedeih und Verderb. So kann sich kein Mensch von der Bemühung dispensieren, ein Stück Kennerschaft auf diesem Gebiet zu erwerben; schon im "rein egoistischen Interesse", seinem Dasein einen möglichst hohen Grad von Glück und Erfüllung zu geben, wird es notwendig, unsere Selbsterkenntnis und die Kenntnis des Mitmenschen zu entfalten.

Wahrscheinlich würden viele Menschen zustimmen, wenn man die Wichtigkeit der Menschenkenntnis hervorheben würde. Fast jedermann wird der Meinung sein, es sei wertvoll, über sich selbst und die anderen Bescheid zu wissen. Aber wenn man näher zusieht, wird man gewahr, daß die Menschen im allgemeinen sehr schlechte Menschenkenner sind. Die Täuschungen über die eigene Persönlichkeit und die Persönlichkeit des Mitmenschen sind oft überraschend groß. Daraus folgen zumeist auch Handlungen, die eine ganz andere Resonanz finden, als man erwartet hat. Der psychologische Fachmann ist sehr häufig beeindruckt durch die Art, wie die Menschen aneinander vorbeireden, vorbeidenken, vorbeihandeln. Auf der Ebene der Gefühle und des menschlichen Zusammenlebens scheint eine "babylonische Sprachenverwirrung" zu obwalten. Das Sich-Verstehen zweier oder mehrerer Menschen ist die Ausnahme, die Regel ist wechselseitiges Mißverständnis.

Man denke nur an die zahllosen Ehen, die wegen gegenseitiger Verständnislosigkeit scheitern. Ein Großteil der Ehen, die geschieden werden oder in dauernder Kampfstimmung verharren, krankt nicht an "Unvereinbarkeit der Charaktere" (wie die Beteiligten gemeinhin glauben), sondern am mangelhaften Verstehen beider Seiten. Jeder bekämpft im anderen einen Popanz, der der Wirklichkeit nicht entspricht. Wird dem Psychologen eine solche zerrüttete Ehe zur Beurteilung vorgelegt, so kann er oft schon nach wenigen Aussprachen den beiden "Kampfhähne" zeigen, daß sie im Partner ein Vorstellungsbild attackieren, das realitätsfremd und irreführend ist. Oft müssen sich Paare, die schon viele Jahre zusammenleben, vom Fachmann nach einigen Beratungssitzungen Hinweise erteilen lassen, die ihre Meinung vom Lebenspartner grundlegend ändern. Der objektive Beurteiler sieht Charakterzüge und Wesenseigenschaften, die vom Gatten oder der Gattin völlig falsch interpretiert oder gar nicht erkannt worden sind.

Auch Kinder verstehen ihre Eltern nicht, und Eltern mißverstehen ihre Kinder. Auch hierfür liefert die psychologische Beratungspraxis anschauliche Beispiele. Dasselbe gilt für die Verhältnisse zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, zwischen Freunden, Bekannten usw.

Mit einem Wort: Menschenkenntnis fehlt an allen Ecken und Enden. Und doch wäre dies die notwendigste und nützlichste Wissenschaft, die es überhaupt gibt. Irrtümer im Umgang mit Sachen, Naturgegenständen mögen bedauerlich sein: Irrtümer in der Menschenkenntnis können unser ganzes Leben verpfuschen oder doch schwer beeinträchtigen. Da der Mensch sein Leben immer in Gemeinschaft mit anderen Menschen führt, besteht ein innerer Zwang, diese anderen zu begreifen: Ein Manko in diesem Bereich ist immer ein großes Übel.

Jeder hält sich für einen Menschenkenner!

Wiewohl die Kunst und Wissenschaft des Menschen-Verstehens überall im argen liegt, gibt es kaum einen Menschen, der sich nicht für einen guten Menschenkenner hält. Dies ist ein merkwürdiger Tatbestand. Auch offensichtlich schlecht orientierte Menschen, die immer wieder in der Einschätzung anderer versagen, glauben sich "eine gute Nase" in der Menschenbeurteilung zuschreiben zu dürfen. Jeder Mensch meint im Grunde seines Gefühls, er kenne sich und die anderen, und man müsse ihm hierüber keine Belehrung zukommen lassen.

Woher stammt diese Selbsttäuschung, die nicht selten unheilvoll werden kann? In den übrigen Fachgebieten sind die Menschen viel bescheidener und selbstkritischer. Wenn jemand Astronomie, Mathematik oder Physik nicht kennt resp. versteht, so wird er dies mühelos und ohne weiteres zugeben. Aber nur wenige werden sich eingestehen, daß sie schlechte Menschenkenner sind. Es braucht schon beinahe die Weisheit des Sokrates, der vor 2400 Jahren den schönen Ausspruch getan hat: "Ich weiß, daß ich nichts weiß!" Wer diesen Standpunkt auf dem Gebiet der Menschenkenntnis erreicht hat, ist schon nahe daran, in diese Disziplin eindringen zu können. Er hat sicherlich günstigere Voraussetzungen als jener, der sich im Besitz einer Menschen-Kennerschaft wähnt, die gar nicht existiert.

Für den Psychologen ist es kein Rätsel, warum die Menschen sich für Menschenkenner halten können, ohne es wirklich zu sein. Jede Meinung über sich selbst und die Mitmenschen bestimmt nämlich die Erfahrungen, die man mit sich selbst und diesen Mitmenschen zu machen pflegt. Darum scheinen sich solche Auffassungen, Gedanken und Gefühle, wie irrig sie auch sein mögen, ständig zu bestätigen. Auch das schiefste Urteil scheint sozusagen immer recht zu behalten!

Die "Gefühlsspiralen"

Unfreundliche Menschen gehen im allgemeinen von der Voraussetzung aus, daß alle Menschen Egoisten seien, daß man von den anderen nicht viel Gutes erwarten könne, daß alle nur auf den eigenen Vorteil schauen usw. Durch die Tatsache ihrer Unfreundlichkeit legen sie nun faktisch dem Mitmenschen nahe, sich ihnen gegenüber reserviert, kühl, "egoistisch" zu verhalten. Dadurch werden sie dauernd in ihrem Distanzgefühl bekräftigt, sie sehen in ihrer Umwelt nur, was zu ihrem vorausgesetzten Konzept paßt, so daß sie ihre Unfreundlichkeit durch ihr ganzes Leben hindurch bewahren können, ohne daß diese je korrigiert würde.

Herrschsüchtige, aggressive Menschen haben – aus Gründen, auf die wir später zurückkommen werden – das unbewußte Gefühl, daß man sie zu wenig achtet, daß man sie unterschätzt usw. Aus dieser Gefühlslage heraus sind sie mißtrauisch, empfindlich und reagieren leicht mit Verstimmung oder Aggression. Sie glauben sich oft von Kritikern und Gegnern umgeben, gegen die sie sich zur Wehr setzen müssen. Fast immer schießt dabei die Reaktion weit über das sinnvolle Maß hinaus. So können Gatte oder Gattin, Untergebene, Kinder usw. zur Zielscheibe aggressiver Auslassungen werden, die naturgemäß einen gefühlsmäßigen Gegensatz zum autoritären Menschen hervorbringen. Dieser spürt das und sieht sein Bild einer feindlichen Umgebung bewahrheitet, was seine bereits eingenommene Charakterposition nur noch fördert.

Solche "Gefühlsspiralen" (in denen ein bestehender Charakterfehler zu entsprechenden. Erfahrungen führt, welche ihn noch mehr ausprägen und fixieren) könnten im Zusammenhang mit Eifersucht, Geiz, Schüchternheit, Pessimismus, Angst, Neid, Intoleranz usw. aufgezeigt werden. Jeder Charakterzug, den wir haben, schließt auch ein Welt- und Menschenbild ein, das allen Eindrücken, die man von Welt und Mitmensch bekommen kann, zugrunde liegt. Ein verengtes Gefühlskonzept kann so unseren Erfahrungsbereich wesentlich einschränken.

Dies ist uns immer unbewußt, indem unsere Gefühlshaltung gleichsam die "Brille ist, mit der wir auf uns selbst und den Mitmenschen schauen". Da man diese "Brille" von früher Kindheit an trägt, weiß man um sie nur wenig oder gar nichts: die Optik unserer Selbst- und Fremdbeurteilung wird in den ersten Lebensjahren, durch die emotionellen Erfahrungen im Raume der Familie, ausgebildet, in einer Zeit also, wo Selbstkritik nicht möglich ist. Hernach ist sie derart mit unseren Erlebnissen und Schätzungsweisen verwoben, daß man dazu keinen inneren Abstand hat. Darum können massive Fehler in unserer Menschenkenntnis bestehen, ohne daß wir darum wissen. Mitunter sind solche Fehlhaltungen geradezu grotesk, dies selbst bei sehr gebildeten und klugen Leuten. Aus den falschen Meinungen und Auffassungen ergeben sich dann auch falsche Lebensführungen, die nicht selten in Unglück, Tragik oder psychische Erkrankung einmünden. Man darf von der psychologischen Erfahrung her feststellen, daß allen seelischen Erkrankungen – von der Nervosität bis zur Neurose, von der einfachen Sexualstörung bis zur sexuellen Perversion, von der psychosomatischen Krankheit bis zu den Gemüts- und (teilweise) Geisteskrankheiten usw. – ein tiefgreifender Mangel an Menschenkenntnis zugrunde liegt. Dieser Mangel ist ein fundamentaler Faktor für die gefühlsmäßige Isolierung, Lebensangst, Unsicherheit, Einsamkeit und Verzweiflung, die zur psychischen Erkrankung überleiten. Aber auch bei den sogenannt "Gesunden" wäre das Leben schöner, produktiver, freier und glücklicher, wenn man sich selbst und den Mitmenschen gut einschätzen könnte, wenn man ein wahrer Menschenkenner wäre!

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Seele des Kindes – Seele des Erwachsenen

Im Gegensatz zu den traditionellen Methoden der Menschenkenntnis geht die Tiefenpsychologie nicht von Typen und Globalbefunden aus, sondern will das Individuum in seinem seelischen Werdegang von der Kindheit bis zur Gegenwart verstehen. Unter dem Titel der "Tiefenpsychologie" werden jene psychologischen Richtungen zusammengefaßt, die sich von Sigmund Freud herleiten und eine ganz bestimmte Auffassung von Wesen und Natur des Seelischen, der seelischen Erkrankungen und der in ihnen transparent werdenden Dynamik vertreten. Als Pioniere der Tiefenpsychologie rangieren neben Freud auch Alfred Adler, C. G. Jung, H. Schultz-Hencke, Karen Horney, Erich Fromm, H. S. Sullivan usw. Alle diese Autoren haben folgende Gemeinsamkeiten:

1.       Seelische Krankheiten (Neurosen, Perversionen, Delinquenz, Psychosen) entstehen durch seelische Verletzungen in der Kindheit, im Zusammenhang mit Erziehungsmethoden, die die Bedürfnisse des Kindes nicht erfüllen.

2.       In der Kindheit durchläuft der Mensch eine komplizierte seelische Entwicklung, die die Grundlagen zu seiner Charakter- und Persönlichkeitsbildung zutage fördert. Durch das ganze Leben hindurch bleiben in den ersten Jahren erworbene seelische Strukturen erhalten: "Das Kind ist der Vater des Mannes."

3.       Sehr wichtige seelische Motivationen und Triebkräfte sind unbewußt. Sie haben dennoch gewaltige Macht über den Menschen. Werden diese Motive erkannt, so kann man sie kontrollieren und beeinflussen. Sowohl im Normalleben wie in psychischen Erkrankungen ist das Unbewußte von kaum zu überschätzender Tragweite.

4.       Seelische Therapie besteht in der Bewußtmachung pathologischer Einstellungen und Haltungen sowie in einer gefühlsmäßigen Neu- und Umerziehung. Die Erfahrungen, die man bei psychotherapeutischen Behandlungen dieser Art macht, sind umwälzend für die Erkenntnis der menschlichen Natur. Erst in der monate- oder jahrelangen Auseinandersetzung mit psychisch Kranken lernt man verstehen, was die innersten Triebkräfte des Menschen sind.

5.       Es ist erstaunlich, wieviel Infantiles im erwachsenen Menschen vorgefunden werden kann. Dieses äußert sich nicht nur in Träumen, Fehlleistungen, neurotischen Symptomen, sondern auch im alltäglichen Affekt- und Gemütsleben, wo auch Erwachsene noch ganz im Sinne ihrer Kindheitserlebnisse und -situationen reagieren.

6.       Nur aus dem Verständnis der psychischen Dynamik der Kinderjahre kann das Verhalten der Menschen als einzelne und als Massen begriffen werden. Die Tiefenpsychologie wird somit zu einer Grundwissenschaft, die zu allen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Menschen befassen (Medizin, Geschichte, Pädagogik, Literatur, Kriminalistik, Philosophie usw.), Wesentliches beizutragen hat.

Es gäbe noch viele Gesichtspunkte zu erwähnen, in denen die Repräsentanten der Tiefenpsychologie übereinkommen. Für unseren Gedankengang ist am wichtigsten, daß sie alle der Meinung sind, mit den tiefenpsychologischen Forschungsresultaten sei erstmals in der Geschichte der Menschheit eine wissenschaftliche Menschenkenntnis möglich geworden.

Kinderpsychologie und Menschenkenntnis

Die tiefenpsychologische Menschenkenntnis hat ihre Grundlagen in den Einsichten, die in den psychotherapeutischen Behandlungen seelisch irritierter und kranker Menschen gewonnen wurden. Wenn eine Psychotherapie durchgeführt wird, arbeiten der Therapeut und der Patient über eine relativ lange Zeit zusammen, um die Probleme des letzteren genau zu verstehen. In diesem Zusammenhang werden alle Gedanken, Gefühle, Handlungen und Reaktionen des Analysanden sorgfältig überprüft und auf ihre Motivationen hin untersucht. Mit Hilfe dieses Bewußtwerdungsprozesses werden innere Umstellungen vollzogen, die in der Therapeut-Patient-Beziehung sozusagen emotional eingeübt werden. Anläßlich dieses sehr mannigfaltigen Umerziehungs- und Neuorientierungsvorganges hat man Gelegenheit, einen tiefgründigen Einblick in das Seelenleben des Analysanden zu bekommen. Dieser wird noch dadurch vertieft, daß auch die Lebensgeschichte in die Betrachtung einbezogen wird. Alle Schicksale und Erfahrungen von frühester Kindheit an werden sinngemäß eingeordnet, so daß das Leben des Patienten vor dem Helfer und dem Hilfsbedürftigen in möglichst großer Klarheit ausgebreitet wird. Für das Studium der Selbst- und Menschenkenntnis ist das derartige Erarbeiten von "Lebensläufen" von großartiger Erhellungskraft.

Die Tiefenpsychologen haben in ihrer Praxis auch wunderbare Gelegenheiten, über die Psyche des Kindes Aufschluß zu erhalten. Es hat sich erfahrungsgemäß die Lehre ergeben, daß jede seelische Verirrung und Deformation aus bestimmten krankheitsverursachenden Kindheitssituationen erwächst. So kann man an seelisch gestörten Menschen immer ein "Kindheitsdrama" ermitteln, das weiterhin erlaubt, Schlüsse auf die seelischen Dispositionen und Voraussetzungen der Kindheit zu ziehen. Die Kinderpsychologie und die Pädagogik sind durch die Tiefenpsychologie gewaltig gefördert worden.

Überraschend ist hierbei, wie sehr das Kind in jedem Erwachsenen weiterlebt. Jeder ist da und dort immer noch das Kind, das er – eventuell vor Jahrzehnten! – war. Darum ist es für den Menschenkenner von großem Nutzen, wenn er bei der Beurteilung eines Menschen auch einiges über dessen Kinderjahre erfahren kann. Hier treten Charakterzüge und Eigentümlichkeiten viel drastischer hervor, als dies später der Fall ist. Man hat sich inzwischen mehr oder minder ans Leben angepaßt, so daß viele Unzulänglichkeiten, Gestörtheiten und Probleme verdrängt wurden. Aber im tiefsten Inneren hat jeder noch die Nöte seiner Kindheit in sich. Man könnte einen bekannten Satz abwandeln: Sage mir, wie du als Kind warst, und ich sage dir, welche Probleme du im Leben hast!

Wie die Kindheit weiterwirkt

Die Tiefenpsychologie steht auf dem Standpunkt, daß die ersten Kinderjahre die Zeit der grundlegenden Persönlichkeitsformung sind. Charakter und Persönlichkeit sind nicht konstitutionell (biologisch) gegebene Größen, sondern erworbene Strukturen, die aus der Kontaktnahme des Kindes mit seiner mitmenschlichen Umgebung hervorgehen. Was ein Kind im andauernden Umgang mit Mutter, Vater, Geschwistern usw. erlebt, prägt sich tief in sein Gemüt ein. Diese Erfahrungen bilden den Bodensatz aller späteren Gefühle, Haltungen, Tendenzen, Einstellungen. Die gesamte Persönlichkeit ist zu verstehen als ein Niederschlag der sozialen (mitmenschlichen) Erfahrungswelt, in die das Kind in seiner ersten Lebensetappe hineingeriet.

Was einer in den ersten fünf bis sechs Jahren in seiner Umgebung lernt, bestimmt großenteils seinen weiteren Lebenslauf. Er sollte als Kind vor allem soziale Verbundenheit, Lebensmut, Selbst- und Fremdachtung erlernen. Oft ist dies angesichts der seelischen Störungen und der Unbeholfenheit der Erzieher nicht oder nur bedingt möglich. Anstelle der genannten Eigenschaften machen sich im Seelenleben die Störungsquellen des Minderwertigkeitsgefühls, des Geltungsstrebens, der Lebensangst, der Egozentrizität bemerkbar, über die noch weiter unten manches zu sagen sein wird. Jedenfalls gerät die kindliche Entwicklung in einen Engpaß, der das Heranreifen zu Weltoffenheit, Produktivität, Glück und Lebensfreude verhindert. Als Folge davon treten Charakterzüge wie Eifersucht, Neid, Geiz, Traurigsein, Furchtsamkeit, Menschenscheu, asoziales Gebaren usw. in den Vordergrund. Dies ist in der Kindheit ganz unverstellt zu sehen, wobei die Tiefenpsychologie erklärt, daß alle diese Fehlentwicklungen auf erzieherischen Fehlgriffen und Fehlhaltungen beruhen. Ist einmal eine bestimmte Charakterstruktur in einem Heranwachsenden verankert, so besteht große Aussicht, daß sie sich durch das ganze Leben hindurch so erhält, wie sie in der Kindheit war. Denn ihre entscheidenden Positionen liegen im Unbewußten und sind der bewußten Formung und Einflußnahme entzogen. Auch reagiert die Umwelt meistens so, daß ein bestehender Charakterfehler "bestätigt" wird. Der Ängstliche zum Beispiel spürt, daß man ihn links liegen läßt, eventuell unterschätzt oder mißachtet, also Grund genug, um noch ängstlicher zu werden. Ebenso wird auch der Mißtrauische immer wieder Nahrung für sein Mißtrauen finden. Er interpretiert alles so, wie es seinem Charakter entspricht. Niemand hilft ihm über seine Irrtümer hinweg. So kann man mit Staunen feststellen, daß Menschen jahrzehntelang immer an denselben Fehlhaltungen festhalten: es gibt keinen Ausweg aus dem "Teufelskreis".

Tiefenpsychologische Menschenkenntnis heißt demnach, den Werdegang eines Menschen so zu verstehen, daß Kindheit und Erwachsensein eine große Einheit bilden. Das Kind, das einer war, bestimmt die Probleme, Aufgaben und Nöte, mit denen er als Erwachsener zu ringen hat.

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