Auszüge aus Fromm, Mitscherlich, Schulz & Spitz's
"Psychologie für Nichtpsychologen"

Diesem Buch liegt eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks zugrunde.
Dieses Buch ist auch als Hörbuch erschienen.
Blinde können es kostenlos entleihen  bei der
Deutschen Blindenstudienanstalt
Emil-Krückmann-Bücherei, Liebigstr. 9, 3550 Marburg, Tel.: 06421 – 67053
oder bei der
Deutschen Blinden-Hörbücherei, Am Schlag 2a, 3550 Marburg, Tel.: 06241 – 606261

Psychologen und Psychoanalytiker vermitteln in diesem Band, den Hans Jürgen Schultz auf Grund der gleichnamigen Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks herausgegeben hat, eine allgemeinverständliche und ausgewogene Einführung in das Gebiet der Psychologie und insbesondere der Tiefenpsychologie. Die fachliche Kompetenz der Mitarbeiter und ihr Bemühen, auch komplizierte Sachverhalte dem Nichtfachmann durchsichtig zu machen, prägen Inhalt und Stil dieses Handbuchs.

In nahezu 40 alphabetisch geordneten Beiträgen behandeln namhafte Autoren aus Deutschland, der Schweiz und den USA Grundbegriffe der Psychologie und Psychoanalyse, die für das Zusammenleben der Menschen und ihr praktisches Verhalten von besonderer Bedeutung sind. Beabsichtigt ist kein akademisches Lehrbuch, sondern ein informatives und konkrete Lebensprobleme klärendes Lesebuch über die wichtigsten Erkenntnisse der modernen psychologischen Wissenschaft.

zurück zur Seite über Psychologie

Vorwort von Hans Jürgen Schultz

Am 8. Mai 1936 wurde in Wien Sigmund Freuds achtzigster Geburtstag in einem Festakt gefeiert. Thomas Mann hielt die Rede. Der Jubilar selber erschien nicht. Seiner schweren Krankheit wegen ging er nicht mehr unter die Leute. Er sprach auch dem Abfeiern "von großen runden Lebenszahlen" seinen guten Sinn ab; es solle nur vergessen machen, daß man "aus so hinfälligem Stoff gemacht ist". Im übrigen war Freud in seinem Leben "durch öffentliche Ehrungen nicht verwöhnt worden" und mochte sich, wie er sagte, zu guter Letzt nicht mehr umstellen. Aber das Angebot Thomas Manns, ihm die Laudatio bei geeigneter Gelegenheit privatim vorzulesen, nahm er gern an. Man traf sich an einem Junitag in Freuds Sommerwohnung in Grinzing. Der Gelehrte hörte sich achtsam an, was der Schriftsteller über "Freud und die Zukunft" zu eröffnen wußte. Sonst meist in Abwehrhaltung gegenüber jeder lobenden Äußerung, zeigte er sich diesmal bewegt über die Feinfühligkeit und Hellhörigkeit, die er bei Künstlern häufig, bei Kollegen fast gar nicht antraf. Insbesondere hatte Freud gefallen, was Mann zum Schluß vorgetragen hatte:

"Die analytische Einsicht ist weltverändernd; ein heiterer Argwohn ist mit ihr in die Welt gesetzt, ein entlarvender Verdacht, die Verstecktheiten und die Machenschaften der Seele betreffend, welcher, einmal geweckt, nie wieder daraus verschwinden kann. Er infiltriert das Leben, untergräbt seine rohe Naivität, nimmt ihm das Pathos der Unwissenheit, betreibt seine Entpathetisierung, indem er zum Geschmack am ›understatement‹ erzieht, wie die Engländer sagen, zum lieber untertreibenden als übertreibenden Ausdruck, zur Kultur des mittleren, unaufgeblasenen Wortes, das seine Kraft im Mäßigen sucht ... Bescheidenheit – vergessen wir nicht, daß sie von Bescheid wissen kommt, daß ursprünglich das Wort diesen Sinn führte und erst über ihn den zweiten von modestia, moderatio angenommen hat. Bescheidenheit aus Bescheid wissen – nehmen wir an, daß das die Grundstimmung der heiter ernüchterten Friedenswelt sein wird, die mit herbeizuführen die Wissenschaft vom Unbewußten berufen sein mag."

Damit kennzeichnet Thomas Mann sehr schön die allgemeine, über ihren Fachhorizont weit hinausreichende Bedeutung der Psychoanalyse und stellt Freuds Werk in die Tradition der Aufklärung. Die Entdeckung und systematische Untersuchung des Unbewußten irritiert und überwindet (wo’s gut geht) die obstinate Tendenz des Menschen zur Verheimlichung und Verschleierung, zur Entschuldigung und Rationalisierung. Sie leitet ein, was bisher nur ungeschickt gelingt und was wir erst zu üben beginnen müssen: eine neue Fragehaltung, eine größere Ehrlichkeit, einen Mut zur Ent-Täuschung, ein Interesse an der kritischen Durchsuchung dessen, was wir hinter unseren Vor-Wänden zu verbergen trachten. Ein leichtes Spiel ist das freilich nicht. Daß der Mensch nicht allein für sein Bewußtes, sondern auch für sein Unbewußtes verantwortlich ist und zur Rede gestellt wird, verlangt – wie jeder Reifungsprozeß – eine außerordentliche Anstrengung und die Bewältigung starker Widerstände.

Aber diese Beschreibung der allgemeinen Bedeutung der Psychoanalyse birgt eine Gefahr in sich. Sie läßt gerne verkennen, daß die Wissenschaft von der Seele, von ihren Zusammenhängen und Mechanismen, nicht so einfach zu handhaben ist, wie es bei oberflächlichem Zusehen den Anschein haben könnte. Es herrscht heute eine allzu hurtige, Differenzierungen mißachtende Berufung auf die Psychologie und eine allzu glatte Anwendung ihrer Kategorien. Psychoanalyse ist nicht allein Aufklärungs-, sie ist Aufräumungsarbeit. Wer sich auf sie einläßt, kommt nicht ungeschoren davon. Autoren und Herausgeber dieses Buches möchten, statt modischem Trend zu folgen, den Zugang zur Tiefenpsychologie eher erschweren als erleichtern. Sie möchten ihn jedenfalls qualifizieren.

Dabei wäre zu wünschen, daß man sich das, was Tiefenpsychologie ist und will, weder zu schwierig noch zu leicht vorstellt. Beides könnte ein Mißverständnis sein. Sie ist wohl am Ende am besten verstanden, wenn sie einleuchtend wirkt, sich also auch in einer menschlichen Sprache auszudrücken vermag. Denn dem Menschen zuliebe ist sie da, sollte sie dasein. Er ist ihr Maßstab.

Es braucht kaum betont zu werden, daß unsere Einführung in wichtige Grundbegriffe der Tiefenpsychologie lückenhaft ist. Aber gerade das Fragmentarische an diesem Buch soll zur Beschäftigung, zum Weiterstudieren, zur Widerrede, zur Auseinandersetzung anhalten. Nur in der Diskussion eignet man sich Information an. Die Auswahl und die Reihenfolge der Themen unterliegt einer gewissen Willkür: die Stichworte sind ungleichwertig, sie überschneiden sich teilweise, sie bringen Überbetonungen (zum Beispiel der frühkindlichen Phasen) und ebenso einige Vernachlässigungen mit sich. Das ist der Nachteil einer so bunt angelegten (und zudem durch einige Krankheitsfälle gestörten) Zusammenstellung, deren Reiz andererseits darin liegt, daß hier nicht eine einlinige Schulmeinung vertreten wird, sondern daß eine ziemlich junge Wissenschaft sich in ihrer ganzen Vielstimmigkeit vorstellt. Die Autoren sind kundige Analytiker und Therapeuten, Universitätsprofessoren und praktizierende Ärzte aus vielen Ländern: ältere und jüngere, namhafte und noch wenig bekannte, Freudanhänger und Jungschüler. Es ist ihnen zu danken, daß sie sich nicht an einen vorgeschulten Leserkreis und vor allem nicht in erster Linie an" ihre Fachgenossen wenden. Ohne ihre Informationen mit Rabatt abzugeben, haben sie (mit unterschiedlichem Erfolg natürlich) ein Laienpublikum im Blick. Voraussetzung für die Lektüre sind daher nicht Spezialkenntnisse, sondern ist – Interesse.

Diesem Buch liegt eine Vorlesungsreihe des Süddeutschen Rundfunks zugrunde. Die Wirkung unseres Radiokollegs war ungewöhnlich. Selten ist der Redaktion so reichliche und besonders so intensive Aufmerksamkeit begegnet. Natürlich fiel auch die Unzulänglichkeit einer derartigen Veranstaltung auf: es wurden unter den Hörern Fragen und Wünsche laut, die nicht erfüllt werden konnten; es wurden uns Probleme und Konflikte anvertraut, auf die zu antworten das Medium nicht geeignet ist. Es kann eben bedenklich werden, unter den Zuhörern Erwartungen zu wecken, ohne imstande zu sein, ihnen dann auch zu entsprechen. Die an uns herangetragenen menschlichen Nöte mußten wir als um so bedrängender empfinden, als wir wußten, daß der Hinweis auf die Möglichkeiten einer analytischen Behandlung auf eine harte Grenze stößt, auf die Grenze der viel zu geringen Zahl von kompetenten Psychagogen und Psychologen. Die Sendereihe konnte, das Buch kann Analyse und Therapie nicht ersetzen. Es können bestenfalls einige ihrer Einsichten und Methoden bekanntgemacht werden. Immerhin dürfte es möglich sein, daß man sich aus diesen Texten einige Aufhellungen und Orientierungen besorgt, einige Erklärungen und Klärungen, die einem helfen, Leben und Zusammenleben ein klein wenig besser zu verstehen und zu bestehen. Die in diesem Psychologiekompendium für Nichtpsychologen zusammengetragenen Auskünfte enthalten, bei allem Anspruch auf wissenschaftliche Hieb- und Stichfestigkeit, einen kräftigen Lebensbezug: sie wollen einen etwas vernünftigeren, einen etwas verständigeren, einen etwas wahrhaftigeren Umgang mit sich und anderen in die Wege leiten.

Einführung von Erich Fromm

Vormoderne und moderne Psychologie

Der Titel dieses Buches heißt: "Psychologie für Nichtpsychologen". Wer sind denn Nichtpsychologen? Und was ist Psychologie?

Wer Nichtpsychologen sind, das läßt sich vielleicht oder scheinbar einfach beantworten: nämlich alle Leute, die nicht Psychologie studiert haben, die keinen Doktorhut dieses Fachbereiches besitzen. Dann sind natürlich fast alle Menschen keine Psychologen. Aber das stimmt so nicht. Denn ich möchte gern behaupten, daß es in Wirklichkeit Nichtpsychologen überhaupt nicht gibt, da jeder Mensch in seinem Leben auf seine Weise Psychologie betreibt und betreiben muß. Er muß wissen, was im andern vorgeht, er muß versuchen, andere zu verstehen. Er muß versuchen, sogar vorauszusehen, wie andere sich verhalten werden. Dazu geht er nicht ins Laboratorium in der Universität, sondern dazu geht er nur – und er braucht gar nicht erst zu gehen – in sein eigenes Laboratorium des täglichen Lebens, in dem alle Experimente und alle Fälle von ihm durchdacht oder überlegt werden können. Das heißt also, die Frage lautet gar nicht: Ist einer Psychologe oder ist einer Nichtpsychologe, sondern sie heißt nur: Ist einer ein guter oder ein schlechter Psychologe? Und da, glaube ich, könnte das Studium der Psychologie ihm helfen, ein besserer Psychologe zu werden.

Aber damit kommen wir zu der zweiten Frage: Was ist denn Psychologie? Und diese Frage ist viel schwerer zu beantworten als die erste. Wir müssen uns ein bißchen Zeit für sie nehmen. Wörtlich ist "Psychologie" die Wissenschaft von der Seele. Nun, so wörtlich zu übersetzen ist ja ganz schön, aber es sagt uns noch sehr wenig darüber, was diese Wissenschaft von der Seele eigentlich ist: was sie zum Gegenstand hat, welche Methoden sie anwendet, was ihr Ziel ist.

Die meisten Menschen denken, daß die Psychologie eine relativ moderne Wissenschaft ist. Und sie meinen das deshalb, weil das Wort "Psychologie" sich im großen und ganzen erst in den letzten hundert oder hundertfünfzig Jahren bekannt gemacht hat. Sie vergessen jedoch, daß es eine Psychologie gibt, die vormodern ist, die sich erstreckt – sagen wir mal – vom Jahre 500 vor Christus bis zum 17. Jahrhundert, daß diese Psychologie sich aber nicht "Psychologie" genannt hat, sondern "Ethik" oder auch sehr häufig "Philosophie"; sie war aber nichts anderes als Psychologie. Was waren denn das Wesen und die Absicht dieser vormodernen Psychologie? Darauf kann man ziemlich knapp erwidern: Es war die Kenntnis der Seele des Menschen mit dem Ziel, ein besserer Mensch zu werden. Die Psychologie hatte also – wenn Sie so wollen – ein moralisches, ein – Sie können auch sagen – religiöses, ein spirituelles Motiv.

Ich gebe nur ganz kurz einige Beispiele dieser vormodernen Psychologie: Der Buddhismus hat eine ausgedehnte und höchstkomplizierte und differenzierte Psychologie. Aristoteles hat ein Lehrbuch der Psychologie geschrieben, nur hat er es genannt: "Die Ethik". Die Stoiker haben eine hochinteressante Psychologie entwickelt; manche von Ihnen werden vielleicht Marc Aurels Meditationen kennen. Sie finden bei Thomas von Aquin ein System der Psychologie, aus dem Sie wahrscheinlich mehr lernen können als von den meisten Textbüchern der Psychologie heute. Es gibt dort die interessantesten und tiefsten Diskussionen und Prüfungen solcher Begriffe wie: Narzißmus, Stolz, Demut, Bescheidenheit, Minderwertigkeitsgefühle und vieles, vieles andere. Und so ist es auch mit Spinoza, der eine Psychologie geschrieben und sie – wie Aristoteles – "Ethik" genannt hat. Spinoza ist wohl der erste große Psychologe, der ganz klar das Unbewußte erkannt hat, indem er gesagt hat: "Wir sind uns alle unserer Wünsche bewußt, wir sind uns aber nicht der Motive unserer Wünsche bewußt." Und das ist in der Tat, wie wir nachher noch sehen werden, die Grundlage der viel später kommenden Freudschen Tiefenpsychologie.

In der Moderne kommt dann eine ganz andere Psychologie, die im großen und ganzen nicht so sehr viel älter als hundert Jahre ist. Deren Ziel ist ein ganz anderes: Man will die Seele kennen, nicht um ein besserer, sondern – sagen wir es einmal ganz roh und grob – um ein erfolgreicherer Mensch zu werden. Man will sich kennen, man will andere kennen, um größere Vorteile im Leben zu haben, um andere zu manipulieren, um sich selbst so zu gestalten, wie es am günstigsten ist, wenn man vorankommen will.
Diesen Unterschied zwischen den Aufgaben der vormodernen und der modernen Psychologie versteht man nur ganz, wenn man sieht, wie sehr sich die Kultur und die Ziele der Gesellschaft geändert haben. Gewiß waren im klassischen Griechenland oder im Mittelalter die Menschen im allgemeinen auch nicht so sehr viel besser, als wir es heute sind, vielleicht waren sie sogar schlechter in ihrem täglichen Verhalten; aber ihr Leben war doch beherrscht von einer Idee. Und dies war die Idee: Das Leben ist nicht lebenswert, nur um sich sein Brot zu verdienen, das Leben muß auch einen Sinn haben, das Leben muß der Entfaltung des Menschen dienen. Und in diesem Zusammenhang steht die Psychologie.

Der moderne Mensch sieht es anders. Er ist nicht so sehr daran interessiert, mehr zu sein, als daran, mehr zu haben: eine größere Position, mehr Geld, mehr Macht, mehr Ansehen. Und wir wissen heute schon – und das spricht sich immer mehr herum, man sieht es vielleicht am deutlichsten in dem ökonomisch fortgeschrittensten und reichsten Land der Welt, in den Vereinigten Staaten –, daß allmählich immer mehr Menschen anfangen zu zweifeln, ob diese Ziele sie wirklich glücklich machen. Aber das gehört nicht hierher. Die Tatsache bleibt, daß diese zwei Ziele auch der Psychologie zwei verschiedene Richtungen geben. Und über diese moderne Psychologie will ich jetzt einiges ausführen, um Ihnen zu zeigen, was man sich darunter vorzustellen hat.

Ich sollte damit beginnen, festzustellen, daß die moderne Psychologie ganz bescheiden angefangen hat. Sie hat sich dafür interessiert, das Gedächtnis zu studieren, akustische und visuelle Erscheinungen, Gedankenassoziationen, sie hat sich für die Psychologie der Tiere interessiert, und um Ihnen nur einen Namen zu nennen, so kann man wohl sagen, daß der Name von Wundt der vielleicht bezeichnendste und wichtigste bei diesem Start der modernen Psychologie ist. Diese Psychologen schrieben nicht für das breite Publikum, sie waren nicht besonders bekannt, sie schrieben für Fachgenossen, und nur wenige "Laien" interessierten sich für ihre Arbeiten und Veröffentlichungen.

Das wurde aber völlig anders, als die Psychologie anfing, populär zu werden, indem sie sich einer Grundfrage zuwendete: der Frage nach den Motiven des menschlichen Verhaltens. Das blieb das Thema der Psychologie in den letzten fünfzig Jahren. Und das geht natürlich jeden an; denn jeder möchte ja wissen: Was motiviert mich eigentlich, warum bin ich so und nicht anders motiviert? Und wenn die Psychologie ihm verspricht, darüber etwas auszusagen, dann allerdings ist das für ihn von großem Wert. So wurde diese Motivationspsychologie vielleicht die populärste Wissenschaft unter allen, und besonders in den letzten zwei Jahrzehnten hat sie an Popularität nichts verloren, sondern eher gewonnen.

Diese populäre Psychologie enthält zwei Hauptschulen: die Instinkttheorie und die Verhaltenspsychologie oder Verhaltenstheorie, auf englisch: Behaviorism. Lassen Sie mich zunächst ein paar Worte über die Instinkttheorie sagen. Sie verdankt ihren Ursprung einem der größten Denker des 19. Jahrhunderts, Charles Darwin. Schon er hat sich mit den Instinkten als menschlichen Motivationen beschäftigt und, gestützt auf ihn, hat man dann nach und nach eine Theorie aufgebaut, die, kurz gesagt, betont, daß jede Handlung ein Motiv hat und daß jedes Motiv ein selbständiger Instinkt ist, der den Menschen eingeboren ist – eingeboren genauso, wie ein Instinkt dem Tier eingeboren ist. Also wenn Sie aggressiv sind, dann ist die Ursache Ihr Aggressionsinstinkt; wenn Sie unterwürfig sind, Ihr Unterwürfigkeitsinstinkt; wenn Sie Besitzlust haben und habgierig sind, der Besitzinstinkt; wenn Sie eifersüchtig sind, dann der Eifersuchtsinstinkt; wenn Sie gerne kooperieren, dann der Kooperationsinstinkt; wenn Sie leicht davonlaufen, dann der Fluchtinstinkt usw. Und tatsächlich haben die Instinkttheoretiker, wenn man sie alle zusammen nimmt, ungefähr zweihundert verschiedene Instinkte genannt, die also (wie auf einem Klavier jede Taste, wenn man sie anschlägt) ein ganz bestimmtes menschliches Verhalten motivieren.

Die Hauptvertreter dieser Instinkttheorie waren zwei Amerikaner, William James und William MacDougat. Nun könnte es Ihnen aus der Beschreibung, die ich Ihnen gebe, vielleicht so vorkommen, daß das eine sehr vereinfachte und eigentlich naive Theorie ist. Das ist keineswegs so. Auf der Grundlage, die Darwin einmal gegeben hatte, haben diese beiden Männer und noch andere, die sehr große und scharfsinnige Denker waren, ein außerordentlich interessantes Gebäude aufgebaut – nur, daß dieses Gebäude, meiner Meinung nach, nicht richtig konstruiert ist. Das heißt, daß es eigentlich kein Gebäude ist, sondern nur eine Vorstellung, die in der Wirklichkeit gar nicht zum Ausdruck kommt. Die letzte große Instinkttheorie, die sehr populär geworden ist, ist die von Konrad Lorenz, der die menschliche Aggression zurückgeführt hat auf einen mehr oder weniger eingeborenen Instinkt zur Aggression.

Die Unzulänglichkeit dieser Theorien liegt in ihrer Neigung zur Vereinfachung. Es ist eben sehr einfach, wenn man für jede einzelne Handlung einen Instinkt, der dahinter steht, theoretisch postuliert. Damit erklärt man ja eigentlich gar nichts; man sagt nur: Die Handlung hat ein Motiv, und jede einzelne Handlung hat ein verschiedenes Motiv, und diese Motive sind angeboren. Für die meisten dieser sogenannten Instinkte konnte man das nicht beweisen. Es gibt einige wenige – wie zum Beispiel die defensive Aggression oder die Flucht, bis zu einem gewissen Grade auch die Sexualität, obwohl man da schon viel weniger sicher sein kann –, in denen es quasi-instinktive Anteile gibt. Aber auch hier besteht die Tatsache, daß das Lernen, der kulturelle und gesellschaftliche Einfluß selbst diese eingeborenen Triebe außerordentlich modifizieren können – so sehr, daß sie bei Menschen und Tieren, die diesen Modifizierungen unterworfen sind, fast verschwinden oder, auf der andern Seite, ungeheuer verstärkt werden.

Die andere Schwierigkeit dieser Theorie war eben, daß man gewisse Instinkte bei manchen Menschen und manchen Kulturen sehr stark und wieder in anderen ganz wenig entwickelt findet. Zum Beispiel gibt es primitive Stämme, die außerordentlich aggressiv sind; es gibt jedoch andere, die fast überhaupt keine Aggressivität haben. Man beobachtet das ja auch an einzelnen Menschen: Wenn heute jemand zum Psychiater kommt und sagt: "Doktor, ich bin so wütend, ich möchte alle umbringen, meine Frau, meine Kinder, mich selber ...", dann sagt der Doktor nicht: "Ja, da ist also der Aggressivitätsinstinkt bei diesem Mann so stark." Vielmehr macht er eine Diagnose und stellt fest: "Dieser Mann muß krank sein; denn diese Aggressivität, die er ausdrückt, dieser Haß, der in ihm aufgestaut ist, ist eine Krankheitserscheinung. Wäre das ein Instinkt, dann wäre es ja eine natürliche Erscheinung und nicht das Anzeichen einer Krankheit."

Wir finden fernerhin – und das ist sehr wichtig –, daß gerade die primitivsten Menschen, die Jäger und Sammler, die also am Beginn aller Zivilisation stehen, die am wenigsten aggressiven Menschen sind. Wenn die Aggressivität eingeboren wäre, dann müßten die Jäger und Sammler sie am deutlichsten zeigen. Während man umgekehrt nachweisen kann, daß mit dem Wachstum der Zivilisation – etwa vom Jahre 4000 vor Christus an –, mit dem Aufbau von großen Städten, Königreichen, Hierarchien, Armeen, mit der Erfindung des Krieges, mit der Erfindung der Sklaverei – und ich sage absichtlich "Erfindung", denn das alles sind nicht naturgegebene Phänomene –, daß damit auch der Sadismus, die Aggressivität, die Lust zum Unterwerfen und zum Zerstören in einem ungeheuren Maß größer geworden sind, als es unter den primitiven, vorgeschichtlichen Menschen der Fall war.

Diese Schwierigkeiten hat nun die entgegengesetzte Schule, die Verhaltenstheorie, bestimmt, das genaue Gegenteil zu behaupten, nämlich daß überhaupt nichts angeboren ist, daß alles nur die Folge ist von sozialen Umständen und von sehr geschickter Manipulierung von Menschen entweder durch die Gesellschaft oder auch in der Familie. Der wichtigste und berühmteste Vertreter dieser Schule heute ist Professor Skinner in Amerika, der in seinem letzten großen Buch so weit gegangen ist, daß er gesagt hat: "Solche Begriffe wie Freiheit oder Würde sind reine Fiktionen; sie existieren überhaupt nicht, sondern sind nur produziert durch die Beeinflussung der Menschen, so daß sie durch diesen Einfluß die Idee haben, sie möchten frei sein. Aber in der Natur des Menschen liegt weder ein Wunsch nach Freiheit noch das Gefühl der menschlichen Würde." Ein einfaches Beispiel für diese Theorie: Der kleine Hans will keinen Spinat essen. Nun, wenn die Mutter ihn dafür bestraft – das wissen wohl viele Eltern –, dann hat das keinen großen Erfolg. Skinner sagt: Das ist auch die falsche Methode. Man redet gar nicht viel vom Spinat, sondern der Spinat wird einmal zum Mittagessen gebracht. Und wenn der kleine Hans ein bißchen ißt, dann guckt ihn die Mutter freundlich an und verspricht ihm ein Stück Torte extra. Das nächste Mal kommt der Spinat wieder auf den Tisch, und der kleine Hans ist schon geneigter, ihn zu essen. Da lächelt die Mutter ihn ebenso freundlich an und gibt ihm diesmal ein Stück Schokolade. Bis der kleine Hans konditioniert ist, das heißt, bis er gelernt hat: Wenn er den Spinat ißt, dann kriegt er eine Belohnung. Wer will denn keine Belohnung haben? Und nach einiger Zeit ißt er den Spinat mit Vergnügen, lieber als alles andere Gemüse. Nun, so kann’s vorkommen. Skinner hat viel Arbeit darauf verwendet, zu zeigen, wie man das am geschicktesten anstellt. Man wiederholt nicht diese Belohnung immer wieder, sondern man läßt sie einmal aus, dann führt man sie wieder ein. Und viele geistreiche Untersuchungen und Experimente sind gemacht worden, um zu testen, wie man die Menschen am besten verführt, wie man sie durch Belohnungen dazu bringt, das zu tun, was der andere will, der ihn belohnt. Warum der andere das will, das interessiert Skinner gar nicht; denn er sagt: Werte, die irgendeine objektive Bedeutung haben, gibt es nicht.

Das ist ganz verständlich, wenn man an die Situation des Psychologen im Laboratorium denkt. Ob die Mäuse oder die Kaninchen essen oder nicht essen, das ist durchaus uninteressant – interessant ist nur, daß man sie mit diesen Mitteln dazu bringen kann, zu essen oder nicht zu essen. Und da diese Verhaltenspsychologen den Menschen auch – und sich selber sogar – als Versuchskaninchen erleben, so ist ihnen eben nicht die Frage wichtig, wozu und warum man dazu konditionieren soll, sondern nur die Tatsache, daß man’s kann, und die Überlegung, wie man’s am besten kann. Der Behaviorismus trennt das Verhalten des Menschen vom Menschen. Er untersucht nicht den sich-verhaltenden Menschen, sondern er untersucht nur das Produkt; das Produkt ist Verhalten. Was hinter dem Verhalten steht, nämlich der Mensch, davon sagt man ausdrücklich: Das ist ganz unerheblich, das ist Philosophie, das ist Spekulation. Alles, was uns interessiert, ist, was der Mensch macht. Er untersucht auch nicht die Frage, warum denn eigentlich so erstaunlich viele Menschen nicht so reagieren, wie sie reagieren sollten, wenn die Theorie richtig wäre. Er fühlt sich gar nicht gestört durch den Sachverhalt, daß viele Menschen rebellieren, sich nicht anpassen, nicht auf die Bestechungen feinerer Art reagieren, die im Grunde genommen diese ganze Theorie ja darstellt, sondern genau das Gegenteil praktizieren. Diese Theorie geht davon aus, daß die meisten Menschen sich lieber bestechen lassen, als sie selbst zu sein und das zu verwirklichen, was aus ihrem eigenen Wesen und aus ihrer eigenen Anlage erfolgen würde.

Die Instinkttheorie und die behavioristische Theorie haben etwas gemeinsam, trotz der großen Gegensätze: für beide ist der Mensch nicht und in keiner Weise der Gestalter seines Lebens! Der Mensch der Instinkttheorie wird getrieben von der Vergangenheit der menschlichen und tierischen Rasse; der Mensch des Behaviorismus wird getrieben von gesellschaftlichen Arrangements, von gesellschaftlichen Bedingungen, die gerade wirksam sind; er wird von den opportunistischen Verführungskünsten seiner Gesellschaft bedingt, genauso wie der andere Mensch von der Vergangenheit seiner Rasse bedingt ist. Aber keiner von beiden oder kein Modell vom Menschen in diesen beiden Theorien wird bestimmt von dem, was er will, was er ist, was seinem Wesen entspricht.

Diese zwei großen Richtungen repräsentieren die Mehrzahl dessen, was man heute "moderne Psychologie" nennen kann. Und es ist zu sagen, daß die behavioristische Psychologie heute den Sieg davongetragen hat. Die meisten Psychologie-Professoren an den amerikanischen Universitäten sind Behavioristen, und die Sowjet-Psychologie ist ihnen nahe verwandt – aus einsichtigen gesellschaftlichen Gründen, denen ich hier nicht weiter nachgehen kann.

Die drei Grundbegriffe Sigmund Freuds

Neben diesen beiden Richtungen steht eine dritte: die Psychoanalyse oder – wie man auch sagen kann – die Tiefenpsychologie, die von Sigmund Freud vor ungefähr achtzig Jahren begründet worden ist. Das Ziel von Freud ist, die menschlichen – und speziell die irrationalen – Leidenschaften rational zu verstehen. Also zu verstehen, was denn die Ursachen, die Bedingungen sind für Haß, für Liebe, für Unterwerfung, für Destruktivität, für Neid, für Eifersucht – für all die Leidenschaften, die die großen Schriftsteller (man denke nur an Shakespeare oder an Balzac oder an Dostojewskij) in ihren Dramen und Romanen so entlarvend behandelt haben. Dieses alles wollte Freud zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung machen. Er schuf die Wissenschaft des Irrationalen. Er wollte das Irrationale nicht in künstlerischer, sondern in rationaler Weise erfassen. Deshalb ist es auch verständlich, daß die Freudsche Theorie die Künstler, vornehmlich die surrealistische Schule, viel stärker beeindruckt als die Psychologen und Psychiater, die im Grunde alle diese Ideen für Unsinn hielten. Freuds Forschung entsprach genau der Fragestellung der Künstler: Was sind die menschlichen Leidenschaften und wie kann man sie verstehen? Die Psychiater wollten ja zumeist nur wissen: Wie kann man den Menschen heilen von solchen Symptomen, die ihm entweder Schmerzen zufügen oder die ihn nicht angepaßt machen an die Erfordernisse der Gesellschaft und seines eigenen Fortkommens? Freud aber wollte – und das ist sehr wichtig zu begreifen – nicht bloß wissenschaftlich die Motive des Handelns, namentlich der Leidenschaften, untersuchen; er hatte, genau wie die vormoderne Psychologie und im Gegensatz zu den Hauptzweigen der modernen Psychologie, auch ein moralisches Ziel. Sein Ziel war, daß der Mensch sich verstehen, sein Unbewußtes aufdecken soll, um Unabhängigkeit zu erreichen: die Herrschaft der Vernunft, die Zerstörung der Illusionen, damit er ein freier, mündiger Mensch werde. Seine moralischen Ziele waren die – so könnte man sagen – der Aufklärung, des Rationalismus. Aber sie stellten ein Ziel dar, das über das hinausging, was die übrige Psychologie unter Psychologie verstand oder sich setzte. Sie setzte sich ja gar kein Ziel außer dem, den Menschen besser funktionieren zu lassen. Das Freudsche Ziel war ein Modell des Menschen, das in vielerlei Weise mit dem der großen Aufklärungsphilosophen übereinstimmt.

Seine Theorie und die Manier, sie zu formulieren, war allerdings sehr vom Zeitgeist bestimmt – vom Darwinismus, vom Materialismus, vom Instinktivismus. Und so brachte er seine Theorie gelegentlich so zum Ausdruck, als ob er selbst ein Instinktivist wäre. Das hat zu großen Mißverständnissen über Freud geführt. Und ich will nun im folgenden zunächst einmal zu zeigen versuchen, was ich (und damit vertrete ich natürlich eine persönliche Auffassung, die nicht von der Mehrheit der Psychoanalytiker geteilt wird) als den Kern der Freudschen Entdeckungen ansehe.

Der erste zentrale Begriff ist der des Unbewußten, das heißt der Verdrängung. Dies Grundkonzept wird heute zumeist vergessen von den Menschen, die, wenn sie an Psychoanalyse denken, an Ich, Über-Ich und Es, an den Ödipuskomplex und an die Libidotheorie denken. Das sind gerade die Themen, die Freud aus seiner Grunddefinition der Psychoanalyse herausgelassen hat.

Zunächst einmal: das Verdrängte. Häufig sind wir von Motiven bestimmt, derer wir uns gänzlich unbewußt sind. Lassen Sie mich mit einem kleinen, banalen Beispiel beginnen. Vor einiger Zeit besuchte mich ein Kollege, und ich wußte, daß er mich nicht besonders mochte, und war sogar ein wenig erstaunt, daß er zu mir kommen wollte. Er klingelt, ich öffne die Tür, er reicht mir die Hand und sagt fröhlich: "Auf Wiedersehen!" Das heißt doch: unbewußt wollte er schon wieder gegangen sein. Er hatte diesem Besuch nicht mit Freude entgegengesehen, und das kam zur Sprache, indem er sagte: "Auf Wiedersehen" – statt: "Guten Tag". Was konnte man da sagen? Gar nichts. Da er selbst Psychoanalytiker war, wußte er genau, daß und wie er sich enthüllt hatte. Und er konnte sich nicht entschuldigen: "Das habe ich nicht gemeint!" Das wäre nur naiv gewesen, da wir beide wußten, daß es nicht darauf ankam, die Fehlleistung nachträglich umzuinterpretieren, sondern sie zu durchschauen. So war die Situation nur peinlich, und wir schwiegen. Aber das ist ein Beispiel, wie es hundertmal passiert, und Freud hat auf vielen solcher Beispiele seine Lehren aufgebaut.

Oder nehmen Sie ein anderes Beispiel, einen sadistischen Vater, der seinen Sohn prügelt. Das gibt’s heutzutage seltener, denke ich, als vor fünfzig Jahren. Ein sadistischer Vater, ein Mann also, der ein Vergnügen daran hat, anderen Schmerzen zuzufügen oder seine strenge Kontrolle über sie auszuüben. Wenn Sie dabei fragen, warum er sich so verhält (und gewöhnlich brauchen Sie ihn das gar nicht zu fragen, er sagt das immer gern von selbst), so antwortet er: "Ich muß das tun, damit mein Sohn ein anständiger Mensch wird oder bleibt; ich tue das aus Liebe zu ihm." Glauben Sie ihm das? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber sehen Sie sich einmal sein Gesicht an! Sehen Sie sich einmal an, wie er aussieht, wenn er prügelt – die Augen, die einen leidenschaftlichen Zug annehmen. Sie erkennen in Wirklichkeit in diesem Gesicht einen Mann, der voller Haß ist und zugleich voller Freude, prügeln zu können. Sie können dasselbe finden bei Polizisten (nicht bei allen natürlich) oder bei Krankenschwestern oder bei Gefängniswärtern oder in vielen anderen Privatsituationen. Es wird mehr oder weniger verhüllt, je nachdem der Mensch es aus Selbstinteresse geheimhalten muß. Aber bleiben wir beim Beispiel dieses Vaters. Wenn man ihn sieht, weiß man: Sein Motiv ist nicht das, das er vorgibt. Er hat eben nicht das Heil seines Kindes im Sinn – das ist eine "Rationalisierung"; sein Motiv ist sein sadistischer Trieb; aber davon weiß er gar nichts.

Oder nehmen Sie ein Beispiel von größerer geschichtlicher Bedeutung: Adolf Hitler. Hitler hat bewußt immer nur angenommen, daß er das Beste für Deutschland will: Deutschlands Größe, Deutschlands Gesundheit, Deutschlands Weltbedeutung, und was nicht alles. Obwohl er die grausamsten Befehle gegeben hat, hat er nie deutlich – soweit wir das erkennen können – gefühlt, daß er aus Grausamkeit handelt. Er hat immer gefühlt: er handelt aus dem Wunsch, Deutschland zu helfen; er handelt, um die geschichtlichen Gesetze zu verwirklichen, im Namen des Schicksals, im Namen der Rasse, im Namen der Vorsehung. Aber er war sich nicht bewußt, daß er ein Mensch ist, der eine Lust hat an der Zerstörung. Er konnte keine gefallenen Soldaten, keine zerstörten Häuser sehen; deshalb ging er im Zweiten Weltkrieg nie an die Front. Nicht aus persönlicher Feigheit, sondern er konnte es nicht ertragen, die konkreten Folgen seiner eigenen Zerstörungslust wahrzunehmen. Das ist ganz ähnlich wie bei Menschen, die beispielsweise einen Waschzwang haben. Bewußt wollen sie immer rein sein. Wenn man aber solche Menschen analysiert, dann findet man, daß sie unbewußt wissen: sie haben Blut oder Dreck an den Händen, nicht nur am Stecken, und wollen sich von dem befreien, was unbewußt in ihnen gegenwärtig ist: ein Verbrechen, ein latentes vielleicht, eine verbrecherische Absicht, die man ständig wegwaschen muß. Hitler selbst hatte etwas davon. Er hatte zwar keinen Waschzwang; aber viele Beobachter haben festgestellt, daß er überreinlich war, über das normale Maß des sauberen Menschen hinaus. Aber ich habe nur die Parallele gezogen: er wollte die Realität seiner eigenen Zerstörungslust nicht sehen, sondern er hat sie verdrängt und hat nur seine guten Absichten erlebt. Das allerdings war nur bis zu einem gewissen Punkt möglich. Als es schließlich soweit war, daß er wußte, Deutschland oder – besser gesagt – er selber hatte den Krieg verloren, hörte die Verdrängung seiner Zerstörungslust schon fast auf. Plötzlich wollte er ganz Deutschland, das deutsche Volk vernichten. Er sagte: "Dieses Volk ist nicht wert, weiterzuleben, weil es den Krieg nicht gewinnen konnte." Und so kam am Ende die reine Zerstörungslust dieses Mannes zum vollen Ausdruck. Doch die war immer vorhanden, war immer in seinem Charakter, war nur verdrängt und rationalisiert, bis die Verheimlichung eines Tages nicht mehr gelingen konnte. Und selbst jetzt hat er sich noch um eine Rationalisierung bemüht: "Die Deutschen müssen sterben, weil sie nicht verdienen, weiterzuleben."

Solche Beispiele – dramatische und undramatische – findet man überall, jeden Tag: Menschen werden sich ihrer wirklichen Motive nicht bewußt, weil sie die Einsicht, die Erkenntnis aus vielen Gründen nicht ertragen können, von sich etwas zu wissen, was entweder ihrem Gewissen oder der öffentlichen Meinung so widerspricht, daß sie in eine für sie selbst sehr unangenehme Lage gerieten, wenn sie dessen, was sie eigentlich treibt, inne würden. So ziehen sie es vor, sich dessen nicht bewußt zu sein und also nicht in Konflikt zu kommen mit einem Teil von sich selbst, mit ihrem "besseren Selbst" oder auch mit dem, was die meisten "anständigen Menschen" denken.

Nun zeigt sich aber eine sehr interessante Folge der Verdrängung. Wenn man Menschen andeutet, was die wirklichen Motive des Handelns sind, dann reagieren sie mit dem (und damit komme ich zu dem zweiten Punkt), was Freud "Widerstand" genannt hat: sie wehren sich gegen die Information. Sogar die aus gutem Willen und in ihrem Interesse ihnen angebotene Information weisen sie aufs heftigste von sich. Sie wollen nicht wissen, was die Realität ist, die in ihnen vorgeht. Sie verhalten sich nicht so gegenüber dieser Information wie etwa ein Autofahrer, dem ein anderer sagt, daß seine Tür nicht geschlossen ist oder daß seine Lichter nicht funktionieren: er nimmt ja diesen Hinweis dankbar zur Kenntnis. Ganz anders die Menschen, die man auf Verdrängtes aufmerksam macht. Sie reagieren mit Widerstand. In all den Fällen von Verdrängung, die ich vorher erwähnt habe, kann man erwarten, daß die Menschen Widerstand produzieren, wenn man sie darüber aufklärt, was eigentlich in ihnen passiert, das heißt, was die Realität, ihre innere Realität ist, statt der Fiktion, die sie sich aufbauen.

Wie benehmen sich nun die Menschen im Widerstand? Eine hauptsächliche Reaktion ist Ärger, Wut, Aggression. Wenn die Menschen hören, was sie nicht hören wollen, werden sie wütend; sie wollen sozusagen den Zeugen der Tat entfernen. Sie können ihn nicht gut umbringen – das wäre zu riskant –, so entfernen sie ihn gewissermaßen in symbolischer Weise. Sie werden zornig und sagen: "Du handelst nur aus Neid, aus schlechten Motiven. Du haßt mich. Du hast Freude daran, mir etwas Übles nachzusagen" usw. Und sie werden manchmal so wütend, daß sie sogar gefährlich sein können. Wie weit sie ihre Wut gehen lassen, hängt wiederum von den Umständen ab. Wenn es heikel ist, seine Wut so zu zeigen (beispielsweise ein Untergebener seinem Vorgesetzten gegenüber), dann sagt man lieber gar nichts; man geht nur nach Hause und läßt den Unmut an seiner Frau aus. Wenn es aber nicht heikel ist, wenn man nämlich selber der Vorgesetzte ist, dann kann man auf die Kritik eines Untergebenen (und es handelt sich hier bei dieser Kritik ja nur um einen Hinweis auf etwas, was wahr ist), dann kann man darauf höchst souverän reagieren, beispielsweise so, daß man den Untergebenen seine Unterlegenheit spüren läßt oder – ihn einfach entläßt. Und natürlich entläßt man ihn nicht mit dem Bewußtsein, daß dieser Mann einen verletzt hat – wie könnte denn dieser kleine Mann einen verletzen –, sondern mit der Begründung, daß dieser kleine Mann eben ein Verleumder, ein gemeiner Kerl ist.

Eine andere, einfachere Weise des Widerstandes ist: Man überhört es. Besonders wenn der Hinweis nicht sehr massiv ist, wenn er ohne große Betonung vorgebracht ist, wird man häufig finden, daß der andere das mißversteht oder gar nicht hört. Das ist natürlich nicht immer möglich; aber es ist die simpelste und eine weit verbreitete Form des Widerstandes.

Eine andere: Man wird müde oder deprimiert. Viele Eheleute kennen das voneinander. Wenn sie irgend etwas sagen, was ein wahres Motiv an dem Handeln des andern zum Vorschein bringt, dann wird der Betroffene betrübt und resigniert, häufig so, daß er dann seinerseits anklagt und den Vorwurf erhebt – schweigend oder ausdrücklich: "Du siehst ja, was du angerichtet hast. Jetzt bin ich wieder im Stande der Depression, weil du diese Bemerkung gemacht hast." Ob die Bemerkung wahr oder unwahr ist, spielt gar keine Rolle. Die Frau oder der Mann, die die Bemerkung gemacht haben, werden sich nach einiger Zeit hüten, noch einmal auf ein unbewußtes Motiv hinzudeuten; denn sie wissen: sie haben dafür zu teuer zu bezahlen.

Oder man läuft davon. Das geschieht manchmal in der Ehe, weil man erlebt, daß der andere oder die andere entdeckt hat, was man verhüllen will. Womöglich war man sich des Versteckspiels gar nicht bewußt, aber fing doch an zu spüren, daß der oder die andere mehr sah als man selbst. Und das kann man nicht ertragen; man will es nicht zur Kenntnis nehmen, weil man sich ja nicht ändern will. Man will so sein, wie man ist, also muß man weggehen. Und dasselbe beobachtet man häufig auch in der Psychoanalyse. Patienten brechen nicht selten, wenn der Analytiker etwas sagt, was sie nicht hören wollen, die Behandlung ab, und natürlich heißt es dann: "Ich habe nun Schluß gemacht, weil der Analytiker selbst verrückt ist. Der hat Sachen über mich gesagt, die beweisen, daß er wahnsinnig ist; wie könnte er sonst so etwas behaupten ...!" Jeder andere würde wissen, daß der Analytiker ganz recht hatte; der Mensch jedoch, der davon berührt ist und der furchtbare Angst davor hat, sich zu ändern, kann nur mit Gewalt (und das sind ja alles Formen der Gewalt, von denen hier die Rede ist) reagieren: "Ich will dich nicht sehen, und ich will das nicht wieder hören."

Das alles ist anders, wenn ein Mensch bereit ist, sich zu ändern. Wenn ein Mensch sich wirklich verstehen, wenn er wirklich die Wahrheit über sich wissen will, um sich ändern zu können, dann reagiert er im großen und ganzen nicht mit Ärger, nicht mit Fortlaufen usw., sondern er ist im Grunde dankbar, daß man ihm etwas sagt, was für seine Entwicklung notwendig ist – so dankbar, wie er dem Arzt wäre, wenn er eine Krankheit diagnostiziert, die es zu heilen gilt. Aber die meisten Menschen sind nicht darauf bedacht, sich zu ändern, sondern nur zu beweisen, daß sie sich nicht zu ändern brauchen. Ändern sollen sich die anderen.

Im Grunde genommen kann man wohl ohne Übertreibung feststellen, daß ein großer Teil unserer Energie darauf verwendet wird, zu verdrängen und dann Widerstand zu leisten, wenn das Verdrängte berührt wird. Das ist natürlich eine ungeheure Verschwendung an Kraft, die viele Menschen daran hindert, ihre Vorräte und Fähigkeiten für fruchtbarere Zwecke zu verwenden.

Jetzt komme ich zu einem anderen Freudschen Begriff: Übertragung. Im engeren Sinn hat Freud damit gemeint, daß der Patient den Analytiker erlebt als eine Person der frühen Kindheit, also als den Vater oder die Mutter, und daß seine Reaktion gegenüber dem Analytiker im Grunde genommen gar nicht dem Menschen entspricht, der ihm real gegenüber oder der hinter ihm sitzt, sondern daß er in ihm einen anderen (eben den Vater oder die Mutter oder einen Großvater) erlebt, wie er für ihn als Kind eine Bedeutung gehabt hat. Ich will nur ein kleines Beispiel erzählen, das das recht drastisch zeigt. Ein Analytiker erzählte mir einmal von einer Patientin, die ihn schon drei Wochen lang gesehen hatte. Nach dieser Zeit guckte sie ihn, gerade als sie aus dem Zimmer gehen wollte, genau an und sagte: "Was? Sie haben ja gar keinen Bart?" Der Analytiker hat nie einen Bart getragen. Sie hat für drei Wochen geglaubt, daß er einen Bart hat, weil ihr Vater einen Bart hafte. Dieser Mann, dieser Analytiker war ein X, war nicht dieser reale Mensch, sogar visuell gesehen, sondern er war der Vater, so daß das zu der Illusion geführt hat, er trage einen Bart.

Aber der Begriff der Übertragung hat eine Bedeutung, die weit über das hinausgeht, was man in der psychoanalytischen Therapie beobachten kann. Ganz allgemein gesehen ist vielleicht die Übertragung eine der wichtigsten Ursachen für menschliche Irrtümer und Konflikte in der Einschätzung der Wirklichkeit. In der Übertragung sehen wir die Welt durch die Brille unserer Wünsche und Ängste und verwechseln Illusion mit Realität. Wir sehen andere Menschen nicht so, wie sie wirklich sind, sondern wie wir uns wünschen oder wie wir fürchten, daß sie seien. Diese Illusion vom andern Menschen nimmt den Platz seiner Realität ein. Wir erkennen ihn nicht, wie er ist, sondern nur, wie er uns erscheint, und wir verhalten uns zu ihm nicht als zu einem realen, eigenständigen Menschen, sondern als zu einem Produkt unserer Phantasie.

Ich will nur ein paar Beispiele zur Erläuterung anbieten. Man stelle sich vor: zwei Menschen verlieben sich. Das kommt ja jetzt weniger vor als früher, weil es für alles einfachere Methoden gibt – aber darüber will ich nicht reden. Nehmen wir also an, es ereignet sich, daß Menschen sich wirklich verlieben. Sie sind dann ganz erfüllt von der Schönheit, den Tugenden, den guten Eigenschaften des andern und fühlen sich mächtig angezogen. Manchmal führt das zur Heirat, und dann nach einem halben Jahr entdeckt man: das ist ja gar nicht der Mensch, in den man sich verliebt hatte; das ist ein ganz anderer Mensch. Man hatte sich verliebt in ein Phantom, in einen Gegenstand der Übertragung, weil man in diesem anderen Menschen nur das gesehen hatte, was man sehen wollte, vielleicht mütterliche, vielleicht väterliche Züge, vielleicht Güte, Gescheitheit, Ehrlichkeit. Und man hat nicht bemerkt, daß das eine Illusion ist. Man haßt dann häufig den anderen Menschen, weil man glaubt, daß er einen enttäuscht habe; in Wirklichkeit hat man sich selber getäuscht, weil man nicht die Realität, sondern die Illusion im Blick hatte. Aber das muß nicht so sein, das sollte nicht so sein. Und es würde nicht so sein, wenn die Menschen lernen würden, die Übertragung zu verstehen.

Das gleiche gilt auch von einem andern Gebiet, nämlich dem der Politik. Man halte sich einmal die Begeisterung, den Enthusiasmus vor Augen, den Millionen von Menschen für Führer haben (das hat es nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern gegeben). Manchmal waren die Führer schlecht, manchmal waren sie auch gut. (Doch das ist nicht die entscheidende Frage, obwohl diese Frage sehr wichtig ist.) Viel erheblicher ist die Tatsache, daß man sehen kann, daß die meisten Menschen – und wir können sogar sagen: Gott sei Dank, obwohl dieser Zug, von dem ich spreche, höchst gefährlich ist – eine tiefe Sehnsucht haben nach einem, der da kommt und heilt, nach einem, der die Wahrheit spricht, nach einem, der Sicherheit bietet, nach einem, der führt, nach einem, der es gut meint. Und wenn einer kommt, der es versteht, sich als dieser, der es gut meint, aufzuspielen, dann übertragen sie ihre Erwartung auf ihn und glauben, daß er der Retter, der Heiland, der Erlöser ist – selbst wenn er in Wirklichkeit ein Zerstörer ist, der sie und ihr Land ins Unglück bringt. Diese großen Erwartungen werden oft auch von kleinen Führern genutzt. Viele Politiker, die einen Eindruck machen, weil sie im Fernsehen schön wirken, weil sie den Leuten nach dem Munde reden, weil sie kleine Kinder küssen und weil sie die Illusion scheinbar bestätigen, einen Menschen zu finden, der es gut meint, der wenigstens die Kinder gern hat, also nicht alle hassen kann, bedienen sich ganz planmäßig der Übertragungsneigung der Menschen und bauen ihre Erfolge darauf auf.

Alles das würde nicht vorkommen , wenn die Menschen mehr verstünden von der Übertragung, wenn sie sich mehr Mühe gäben, zu unterscheiden, wo sie Dinge mit der Prägung durch ihre eigene Erwartung und wo sie sie unvoreingenommen sehen, und wenn sie endlich versuchten, kritisch zu sein. Manchmal sind unwichtige kleine Handlungen weit aufschlußreicher als das, was die Menschen so betonen, und als die großen Reden, die sie halten. Würde man das künftig besser durchschauen, so könnten sowohl die Liebe, die Ehe wie auch das politische Leben ganz wesentlich von einer Plage, von einem Fluch befreit werden – von dem Fluch der Verwechslung zwischen fiktivem Bild und Wirklichkeit.

Das ist allerdings nicht einfach zu lernen. Es erfordert ein Studium, Praxis jeden Tag. Jedermann hat das Laboratorium – wie ich schon sagte – zu Hause, bei sich, in seinem täglichen Umgang. Beobachten Sie sich, beobachten Sie Ihre Mitmenschen. Und im übrigen hat das Fernsehen hier einen großen Vorteil – neben den vielen Nachteilen, die es hat –: es verrät recht genau Eigenschaften vom andern Menschen , weil wir das Gesicht, die Gesten und den Ausdruck so unerbittlich beobachten können; wir können eine Menge erfahren über den politischen "Führer", wenn er im Fernsehen spricht und wir ihn dort sehen. Aber wir werden eben nur eine Menge erfahren, wenn wir wissen, wie man richtig beobachtet. Mit alledem möchte ich andeuten, daß die Erkenntnis der Übertragung in persönlichen ebenso wie in politischen Beziehungen von entscheidender Wichtigkeit für eine Verbesserung des politischen und persönlichen Lebens der Menschen sein könnte.

Die Entwicklung der Psychoanalyse

Schließlich möchte ich einige wenige Worte sagen über die Entwicklung der Psychoanalyse, weil mit diesem Namen allzu verschiedene, allzu verwirrende Vorstellungen und auch Ansprüche verbunden sind. Mir scheint, man kann die diversen Schulen der Psychoanalyse und ihre Entwicklung, auch ihre Zukunft ziemlich knapp darstellen.
Der erste, der die Analyse weiterentwickelt hat, ist Freud selbst. Er hat von den zwanziger Jahren an seine alte Theorie, die auf dem Konflikt zwischen dem Sexualinstinkt und dem Selbsterhaltungsinstinkt basierte, geändert und eine neue Theorie geschaffen, die aufgebaut ist auf dem Konflikt zwischen zwei biologischen Kräften, dem zur Zerstörung und dem zur Vereinigung, zur Liebe, dem Lebenstrieb und dem Todestrieb. Ich kann jetzt nicht darauf eingehen, welche Bedeutung diese Entwicklung hat; sie bedeutet aber – obwohl Freud es nicht so sah – eine grundsätzliche Weiterführung, man möchte fast sagen: eine neue Schule der Psychoanalyse, von Freud selbst begründet.
Die zweite bedeutende Entwicklung der Psychoanalyse ist durch den Einfluß von Carl Gustav Jung erfolgt. Jung hat (wie dann auch die meisten andern, die sich von Freud getrennt und abweichende Ideen vorgetragen haben) der These von der zentralen Rolle der Sexualität widersprochen. Er hat die psychische Energie als eine Einheit aufgefaßt, den Namen "Libido" nicht mehr den sexuellen Energien, sondern psychischen Energien im allgemeinen gegeben, und er hat in geistreicher und tiefschürfender Weise versucht, das, was man im Unbewußten des einzelnen Patienten findet, aufzudecken in den Mythen, Symbolen der Völker, bis hin zu den primitivsten und von uns völlig verschiedenen Kulturen.

Alfred Adler dagegen war nicht interessiert am Mythos, nicht an den Tiefen; er war interessiert – man möchte sagen – an der Strategie des Lebenskampfes. Und so hat er als zentralen Begriff der menschlichen Motivation den Willen zur Macht angesehen. Aber wenn ich das so sage, klingt das viel schlichter, als Adler es gemeint hat. Was er geschrieben hat, ist außerordentlich klug, komplex und hat viel zu unserer Menschenkenntnis beigetragen. Besonders ist zu erwähnen, daß er der erste war – lange vor Freud –, der der menschlichen Aggression einen entscheidenden Platz in seinem psychologischen System eingeräumt hat.

Dann nenne ich zwei weitere Schulen, die miteinander in vielerlei Weise verbunden sind: zunächst einmal die psychiatrische Schule, die von dem Schweizer, in Amerika lebenden Adolf Meyer begründet worden ist, gefolgt von einem der hervorragendsten amerikanischen Psychoanalytiker, Harry Stack Sullivan, dessen Erkenntnisse jetzt ihren radikalsten und, ich glaube, fruchtbarsten Ausdruck gefunden haben in den Arbeiten des englischen Psychologen Laing. Was diese Forscher trotz aller Differenzen gemeinsam vertreten, ist erstens die Ablehnung der Einschätzung der Sexualität als der Triebfeder menschlichen Verhaltens und zweitens die Hinwendung zu den zwischenmenschlichen Beziehungen, zu dem, was zwischen Menschen vor sich geht, wie sie aufeinander wirken und reagieren, wie das Feld beschaffen ist, das entsteht, wenn Menschen zusammenleben. Diese Psychoanalytiker haben sich interessanterweise speziell konzentriert auf die eine der Formen der Psychopathologie, auf die sogenannten Schizophrenien, die sie im Grunde genommen nicht als Krankheit im konventionellen Sinn betrachten, sondern als eine Auswirkung des persönlichen Erlebens, der zwischenmenschlichen Beziehungen, die zwar ihre drastischen Folgen hat, die aber doch in erster Linie ein psychologisches Problem darstellt – wie alle andern psychologischen Probleme auch. Laing hat das am weitesten vorangetrieben, weil er imstande war, das Verhältnis der Schizophrenie als einer individuellen "Erkrankung" zur sozialen Situation nicht nur innerhalb der Familie, sondern innerhalb der Gesellschaft am klarsten zu sehen.

Ähnlich ist die Theorie, die von einer Reihe von andern Psychoanalytikern entwickelt worden ist: die Fairbanks, Guntrips, Balints und mein eigenes Werk – die auf derselben Grundlage stehen, aber sich nicht in erster Linie auf die Schizophrenien bezogen haben und oft auf die sozialen und ethischen Kräfte hinweisen, die wirksam sind in der Bildung der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Nachdem wir uns mit den wichtigsten Errungenschaften und der Entwicklung der Psychoanalyse beschäftigt haben, taucht nun eine letzte und wichtige Frage auf: Wie ist es mit ihrer Zukunft bestellt? Dazu möchte ich einiges sagen, was mir nicht leichtfällt, weil hier die Meinungen außerordentlich verschieden sind. Man könnte sie zu zwei extremen Meinungen verkürzend zusammenfassen. Die eine Meinung heißt: Die Analyse ist nutzlos, sie hat keine Erfolge, es macht keinen Unterschied aus, ob man jemanden analytisch zu heilen versucht oder nicht. Und das andere Extrem: Die Analyse ist eine Kur und Lösung für alle seelischen Probleme, und wenn immer jemand eine Schwierigkeit hat, dann muß er sich auf die Couch legen und drei, vier Jahre analysieren lassen, und sonst gibt’s keine andere gute Idee. Das war bis vor einiger Zeit in Amerika eine ziemlich verbreitete Einstellung, die indessen gerade in den letzten Jahren durch das Aufkommen anderer Therapien etwas geschwächt worden ist.

Ich glaube, daß die Kritik, die der Analyse gar keine Heilwirkung zutraut, unhaltbar ist. Das ist nicht nur meine Erfahrung als Analytiker, der ich seit über vierzig Jahren praktiziere, sondern auch die vieler anderer und relativ objektiver Kollegen. Im übrigen darf man nicht vergessen, daß natürlich in vielen Fällen Analytiker nicht genügend kompetent sind (das kommt in jedem Beruf vor). Hinzu kommt, daß häufig die Auswahl der Patienten nicht glücklich ist; man versucht, Patienten zu analysieren, für die diese Methode nicht geeignet ist. Aber in Wirklichkeit sind durch die Analyse viele Menschen von Symptomen geheilt worden; mehr noch: viele Menschen haben zum erstenmal gelernt, über sich selbst klarer zu werden, mit sich selbst ehrlicher und etwas freier zu sein, näher an der Realität zu stehen. Und schon das ist ein außerordentlich wichtiges Resultat, das von sehr vielen Menschen unterschätzt wird.

Natürlich hat die anti-analytische Einstellung gewisse Voraussetzungen, die in der Zeit liegen. Das ist etwa die Meinung: Das einzige, was Menschen hilft, ist Medizin. Wenn man nichts schlucken kann, dann gibt’s auch keine Hilfe. In den Pillen liegt das Heil. Oder: Alles muß schnell gehen. Wir haben in Amerika ein Buch, das natürlich auch ins Deutsche übersetzt worden ist: "Ich bin okay, du bist okay" – ein ganz oberflächliches Buch, ein dünner Aufguß der Freudschen Theorie, der indessen nur dann hilft, wenn die Menschen daran glauben, das heißt: nicht diese Theorie, nur Suggestion hilft. Aber was hier geboten wird, geht schnell, ist einfach, verlangt kein Nachdenken und vor allen Dingen nicht, daß man sich mit dem eigenen Widerstand auseinandersetzt. Genau das ist es, was diese Art von Therapie vermeidet: alles ist einfach, alles ist leicht, und das ist ja der allgemeine Zug der Zeit. Man glaubt, alles muß glatt geschluckt werden können wie eine Pille. Und was nicht ohne Mühe zu lernen ist, das lernt man besser gar nicht.

Als Beispiel eine Geschichte von einem jungen Mann, der in ein elegantes Restaurant geht, sich die Speisekarte geben läßt, lange darüber studiert und dann dem Oberkellner sagt: "Tut mir leid, Sie haben nichts, was mir gefällt", und weggeht. Nach zwei Wochen kommt er wieder, und der Oberkellner fragt ihn – da es ein sehr vornehmes Restaurant ist, fragt er ihn sehr höflich: warum denn der Herr nichts gefunden habe das letztemal? Und da antwortet ihm der Gast: "Ach nein, ich hätte schon etwas gefunden; aber mein Analytiker hat mir gesagt, ich soll Selbstbehauptung praktizieren." Das ist eine Methode, zu lernen, wie man sich seiner selbst versichert, wie man auftreten kann, keine Angst mehr hat vor Oberkellnern usw. Mit dieser Methode kann man vielleicht auch weiterkommen. Nur bleibt dabei völlig unentdeckt, warum man denn so unsicher ist. Es bleibt unentdeckt, daß man eben eine Neigung hat – und hier komme ich wieder zur Übertragung –, alle anderen als Autoritäten, als Vaterfiguren anzusehen. Und weil man jetzt mit dieser Methode zwar im Restaurant auf Anhieb ein wenig Erfolg hat und selbstsicherer wird, hat man die wirklichen Ursachen überhaupt nicht berührt und bleibt hinter der Fassade der selbst-unsichere Mensch. Man ist sogar in einer schlechteren Situation; denn man ist sich gar nicht mehr bewußt, daß man selbst-unsicher ist. Und warum ist man unsicher? Nicht deshalb, weil man nur Angst vor der Autorität hat, sondern man ist unsicher, weil man selbst sich nicht voll entwickelt hat, weil man seinen eigenen Überzeugungen nicht traut, weil man ein kleines Kind geblieben ist, das darauf hofft, daß andere ihm helfen, weil man nicht voll erwachsen ist, weil man an sich selbst zweifelt usw. Das kann man mit Methoden der Psychotherapie, die man Verhaltenstherapie nennt, nicht ändern; so wird nur der Schmutz unter den Teppich gekehrt.

Aber nicht alle Kritik ist unberechtigt. Ich möchte einige der Bedenken, die ich für berechtigt halte, hier anführen. Sehr häufig ist die Psychoanalyse ausgeartet in Gerede. Freud hat begonnen mit der Idee der freien Assoziation: man sagt alles, was einem einfällt. Er nahm an, daß dann die Dinge gesagt werden, die aus der Tiefe kommen, die ganz echt und von Bedeutung sind. Aber wenn man sich viele Analysen heute ansieht, dann schwätzen die Leute nur so daher und entladen sich zum hundertsten Mal über ihren Mann oder über die Eltern und was die alles getan haben! Es kommt daher überhaupt nichts heraus, ist immer wieder dasselbe, aber – jemand hört zu. Der Patient hat das Gefühl, damit sei etwas gewonnen und damit würde sich die Lage schließlich ändern. Mit solchem Reden allein ändert sich niemand und nichts. Das ist nicht die Methode, die Freud gemeint hat, die Methode der Aufdeckung und des Kämpfens mit dem Widerstand. Niemals hat Freud angenommen, daß man ohne Anstrengung etwas erreichen oder gar schwere seelische Probleme lösen könne. Ohne Anstrengung kann man im Leben nichts erreichen, auch wenn die Annoncen es uns versprechen. Wer Anstrengung fürchtet, ja sogar wer Frustration oder Leiden scheut, der wird nie etwas erreichen. Schon gar nicht in der Analyse. Sie ist Schwerarbeit. Analytiker, die darüber hinwegtäuschen, schaden ihrer Sache.

Ein anderer Fehler ist, daß man intellektualisiert, statt zu erleben. Man theoretisiert in endlosen Reden darüber, was es bedeutet hat, daß die Großmutter einen einmal geschlagen hat und so fort. Und wenn man sehr akademisch ist, dann entwickelt man entsprechend komplizierte Theorien, konstruiert Theorie über Theorie – aber man erlebt nichts. Man erlebt nicht, was in einem ist. Man erlebt nicht seine Angst. Man erlebt nicht seine Lieblosigkeit, seine Abgeschlossenheit von anderen Menschen. Das alles ist vom Widerstand geschützt. Und damit folgt man einer auffälligen Zeittendenz, die dahin geht, den zerebralen Menschen vorzuziehen. Mit Denken macht man alles, Fühlen ist nur ein unnötiger Ballast, den man möglichst ignoriert.

Und endlich möchte ich sagen: Es gibt zu viele Menschen, die meinen, daß sie, wenn sie irgendwelche Schwierigkeiten haben, auf der Stelle zu einem Psychoanalytiker laufen sollten. Sie lassen es erst gar nicht auf den Versuch ankommen, selbst mit ihren Schwierigkeiten fertig zu werden. Aber jemand anders sollte man erst fragen, wenn man nach ernsthaften Bemühungen seine Situation nicht allein erkennen und verbessern kann.

Die Analyse bleibt, scheint mir, immer noch die beste Therapie für eine Reihe von Störungen, nämlich die Ich-Bezogenheit oder – mit einem anderen Wort – der Narzißmus, was zugleich heißt: die Unbezogenheit zu anderen Menschen, Flucht in Illusionen, gestörtes seelisches Wachstum, aber auch Symptome wie Waschzwang und eine ganze Reihe von Symptomen obsessiver und kompulsiver Art, die man eben mit keiner anderen Methode wirklich und fruchtbar heilen kann als mit der Psychoanalyse.

Aber eine mindestens ebenso große Bedeutung wie für die Kur oder Heilung von Krankheiten hat die Psychoanalyse in einer ganz anderen Richtung, nämlich als ein Weg zur Förderung seelischen Wachstums und menschlicher Selbstentfaltung. Ich muß gestehen, daß diesen Wunsch nach seelischer Entfaltung heute nur eine kleine Minderheit hat. Die meisten Menschen – und ich habe das schon vorher einmal betont – haben ein ganz anderes Ziel: mehr zu haben, mehr zu konsumieren. Wenn sie zwanzig Jahre alt sind, denken sie, sie seien fertig, und von da an richtet sich ihr ganzes Streben darauf, dieses fertige Instrument gut zu benutzen. Und wenn sie sich menschlich noch verändern würden, so erschiene ihnen das nur als ein Nachteil; denn wenn man sich verändert, dann paßt man ja nicht in die Schablone, mit der man rechnet, dann weiß man nicht, ob man in zehn Jahren noch dieselbe Meinung hat, wie man sie jetzt hat, und wie es dann mit dem Fortkommen steht. Die meisten Menschen wollen also gar nicht wachsen und wechseln, wollen sich nicht entfalten, sie wollen die erworbenen Möglichkeiten erhalten, auskosten, "kapitalisieren". Allerdings kennen wir auch die Ausnahmen, die Gegenbewegung – vor allem in den Vereinigten Staaten. Viele Menschen heute erkennen, daß wir, wenn wir alles haben und alles genießen – und noch mehr, noch mehr –, trotzdem ganz unerfüllt und unglücklich sind, daß das Leben trotzdem keinen Sinn hat, daß wir deprimiert, daß wir ängstlich sind, daß wir uns fragen: "Wozu leben wir denn, wenn alles, was wir tun, nur dazu dient, um noch einen besseren Wagen zu kaufen?", wenn sie sehen, wie unglücklich ihre Eltern oder ihre Großeltern sind, die alles hatten, was sie wollten, und ihr ganzes Leben dafür opfern mußten. Diese Minderheit hat eine alte Weisheit mehr oder weniger klar wieder entdeckt: daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, daß Besitz und Macht noch kein Glück garantieren, sondern eher ängstlich machen und Spannungen schaffen. Und diese Menschen wollen sich einem anderen Ziel widmen, nämlich: mehr zu sein, statt mehr zu haben, vernünftiger zu werden, Illusionen zu verlieren und Zustände abzuschaffen, die der Aufrechterhaltung der Illusionen bedürfen. Diese Sehnsucht zeigt sich häufig in recht naiven Formen, in einer Begeisterung für orientalische Religionen, für Yoga, für Zen-Buddhismus usw. Ich sage "naiv" nicht, weil diese Religionen naiv sind – ganz und gar nicht –, sondern weil die Menschen in naiver Weise an sie herangehen. Sie lassen sich täuschen durch Reklamemethoden einiger indischer Fakire, die sich als heilige Männer darbieten, und von allen möglichen Gruppen, die dieses oder jenes Heilmittel anpreisen, indem sie angeblich menschliche Sensitivität kultivieren und häufig doch alles nur Schwindel ist. Hier, glaube ich, hat die Analyse einen ganz wesentlichen Platz, nämlich als Praxis, sich selbst zu erkennen, seine eigene Realität wahrzunehmen und damit von Illusionen frei zu werden, frei auch von dem Getriebensein von Angst, von Habgier und sich instand zu setzen, die Welt anders zu erleben, nämlich als Gegenstand meines Interesses, meiner Bezogenheit, meiner schöpferischen Kraft, indem ich mich als Gegenstand vergesse und mich als den handelnden, fühlenden, nichtentfremdeten Menschen erlebe.

Das kann geübt werden. Zu dieser Übung kann die Analyse beitragen, indem sie eine Methode darstellt, sich wirklich zu erleben – zu erleben, wer man ist, wo man steht, wohin man geht. Dazu ist es günstig, wenn man eine Analyse durchmacht bei einem Analytiker, der diese Zusammenhänge versteht und der nicht glaubt, daß es Zweck der Analyse ist, den Menschen angepaßter zu machen. Aber diese Analyse sollte nicht zu lange dauern; das schafft häufig Abhängigkeiten. Wenn man genügend gelernt hat, um das Werkzeug zu gebrauchen, dann sollte man beginnen, sich selbst zu analysieren. Und das ist eine Aufgabe, die das ganze Leben hindurch dauert, bis zum letzten Tag des Lebens – am besten praktiziert man’s jeden Morgen, verbunden mit Atem- und Konzentrationsübungen, wie man sie zum Beispiel in der buddhistischen Meditation findet. Wesentlich daran ist, sich aus dem Getriebe herauszuhalten, zu sich selbst zu kommen, aufzuhören, ständig Anreizen zu folgen, sich "leer" zu machen, und selbst innerlich aktiv zu werden.

Ich glaube, wer das tut, erfährt eine Vertiefung seiner Erlebnisfähigkeit und "Heilung", Gesundung – nicht im medizinischen, sondern in einem tiefen menschlichen Sinn. Dazu aber braucht man Geduld, und Geduld ist gewiß unter uns nicht übermäßig verbreitet.

Wer es versuchen will, dem wünsche ich viel Glück dabei.

...

zurück zur Seite über Psychologie