Auszüge aus Benjamin Libet's
"Mind Time"

Wie das Gehirn Bewußtsein produziert

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Vorwort von Stephen M. Kosslyn

Gerade habe ich den Begriff "Bewußtsein" in die Suchmaschine bei Amazon.com eingegeben und 2670 Titel angezeigt bekommen. Wenn ich noch ein paar Wochen warte, werden es wahrscheinlich mehr sein. Braucht die Welt wirklich noch ein Buch über Bewußtsein? Ja – wenn wir über das Buch sprechen, das Sie gerade in Ihren Händen halten. Dieses Buch unterscheidet sich auffallend von den meisten anderen, und zwar in einer entscheidenden Hinsicht: Es konzentriert sich auf empirische Entdeckungen und nicht auf Spekulationen oder Argumente. Benjamin Libet hat eine beneidenswerte Liste von Erfolgen bei der Produktion solider empirischer Befunde über die Beziehung zwischen Ereignissen im Nervensystem und dem Bewußtsein vorzuweisen. Diese Befunde sind nicht einfach nur zuverlässig – sie sind auch überraschend. Seine Entdeckungen waren zunächst kontrovers, haben aber der Prüfung der Zeit standgehalten. Überraschende Befunde spielen eine besondere Rolle in der Wissenschaft, wenn man bedenkt, daß sie (ihrer Definition entsprechend) das herkömmliche Wissen über den Haufen werfen. Seine Ergebnisse müssen nun von jeder Theorie über das Bewußtsein und dessen neuronale Grundlagen erklärt werden. In diesem Buch versammelt Libet seine Beiträge an einem Ort und stellt sie in einen bestimmten Kontext.
Libets Arbeit konzentrierte sich auf die zeitlichen Beziehungen zwischen neuronalen Ereignissen und bewußter Erfahrung. Er wurde teilweise für die Entdeckung berühmt, daß wir uns unbewußt zum Handeln entscheiden, bevor wir denken, daß wir eine Handlungsentscheidung getroffen haben. Dieser Befund hat wichtige Implikationen für eines der tiefsten Probleme der Philosophie und Psychologie: das Problem der "Willensfreiheit".

Zunächst möchte ich einen kurzen Überblick über die maßgebende Entdeckung geben: Libet bat seine Versuchspersonen, ihr Handgelenk zu einer Zeit zu bewegen, die sie selbst bestimmen konnten. Die Versuchsteilnehmer sollten auf einen sich bewegenden Punkt schauen, der die Zeit anzeigte, und sich den genauen Zeitpunkt merken, zu dem sie sich entschlossen, ihr Handgelenk zu beugen. Die Teilnehmer berichteten, daß sie diese Absicht etwa 200 Millisekunden vor dem eigentlichen Beginn der Bewegung hatten. Libet maß ebenfalls das "Bereitschaftspotential" im Gehirn, welches durch eine Aktivität, die von der supplementären motorischen Region des Gehirns (supplementary motor area) ausgeht, nachweisbar ist (und an der Steuerung von Bewegungen beteiligt ist). Dieses Bereitschaftspotential trat ungefähr 550 Millisekunden vor dem Bewegungsbeginn auf. Die Hirnereignisse, die die Bewegung hervorbrachten, traten also etwa 350 Millisekunden vor dem Zeitpunkt auf, zu dem der Teilnehmer ein Bewußtsein seiner Entscheidung hatte. Libet zeigt, daß dieser zeitliche Unterschied nicht einfach darauf zurückgeht, daß man zusätzliche Zeit dafür braucht, sich den genauen Zeitpunkt zu merken und ihn zu berichten.

Warum ist dieser Befund wichtig? Wir wollen zwei Gründe betrachten: Erstens scheint dieses Ergebnis nahezulegen, daß das Bewußtsein von einer getroffenen Entscheidung am besten als Resultat von Gehirnprozessen aufgefaßt wird, die in Wirklichkeit die ganze Arbeit leisten, anstatt als Teil der kausalen Kette von Ereignissen, die zu einer Entscheidung führen. Zweitens weist Libet darauf hin, daß, selbst wenn eine Bewegung durch unbewußte Kräfte eingeleitet werden würde, es trotzdem genügend Zeit gibt, um ein Veto gegen eine Handlung einzulegen, sobald man sich seiner Absichten bewußt ist. Libet glaubt, daß diese Beobachtung die Tür für traditionelle Vorstellungen von "Willensfreiheit" offen hält.

Aber tut sie das wirklich? Betrachten wir ein Argument gegen Willensfreiheit, das seinerseits auf einem anderen beruht, das im Detail von Strawson entwickelt wurde:

1.       Bei der Geburt sind die Gedanken, Gefühle und das Verhalten von Menschen durch Gene, vorgeburtliches Lernen und Umgebungsreize determiniert.

2.       Spätere Gedanken, Gefühle und Verhalten bauen auf der Grundlage auf, die bei der Geburt vorhanden ist – sie werden determiniert durch die Gene, die Lerngeschichte und die gegenwärtigen Reize. Alle Entscheidungen und Wahlen gehen auf Gründe zurück, und diese Gründe sind ein direktes Ergebnis der Anhäufung von Erfahrung, moduliert durch genetische Faktoren.

3.       Wenn man versucht, sich selbst zu ändern, sind sowohl die Ziele als auch die Strategien einer solchen Veränderung selbst durch Gene, vorheriges Lernen und gegenwärtige Umgebungsreize determiniert. Was man kann, wird durch das bestimmt, was man schon ist.

4.       Die Hinzufügung von zufälligen Faktoren würde keine Willensfreiheit verleihen. Klein weist darauf hin, daß die bloße Hinzufügung von Unbestimmtheit zu einem System seine Handlungen nicht zu freien macht, wenn sie nicht schon frei sind. Tatsächlich mindert die Hinzufügung von Zufälligkeit die Freiheit, anstatt sie zu vergrößern. "Zufälliges Verhalten" ist keine "Willensfreiheit".

5.       Deshalb, so lautet das Argument, kann keine Willensfreiheit während des Intervalls zwischen dem Zeitpunkt, zu dem man sich einer bevorstehenden Handlung bewußt wird, und der Handlung ausgeübt werden. Ob man die Handlung unterdrücken wird oder nicht, ist genauso determiniert wie die Faktoren, die die Handlung überhaupt erst einleiten. Selbst wenn man die Zeit dazu hat, sich über das eigene unbewußte Drängen hinwegzusetzen, gibt es keine Willensfreiheit, wenn die bewußten Entscheidungen selbst determiniert sind. Libets "Vetozeit" stellt genauso wenig eine Gelegenheit zur Ausübung von Willensfreiheit dar wie die Zeit, die verstreicht, wenn man Eier auf den Herd stellt und dann darauf wartet, daß sie kochen, den Eiern die Gelegenheit gibt, nicht zu kochen.

Trotzdem scheint etwas, zumindest meiner Meinung nach, an Libets Vorschlag dran zu sein. Insbesondere ist das Gegenteil von "determiniert" sein nicht unbedingt "zufällig" sein. Klein weist darauf hin, daß klassische deterministische Positionen in einer Weltanschauung verwurzelt sind, die de facto nicht richtig ist. Viele Ereignisse in der wirklichen Welt sind nicht wie Billardkugeln, die einander anstoßen und von den Banden des Tisches auf vorhersagbare Weise abprallen. Wir wissen, daß viele physikalische Systeme chaotische Elemente enthalten: Die Art und Weise, wie sie auf eine Störung reagieren, hängt von kleinen Unterschieden in ihrem Anfangszustand ab, die im Prinzip nie genau meßbar sind. Freeman und andere haben gezeigt, daß zumindest manche Aspekte der Funktion des Gehirns als solche Systeme aufgefaßt werden können. Ist es möglich, daß die Natur des Gehirns selbst Willensfreiheit ermöglicht? Kane hat genau diesen Vorschlag gemacht, und ich werde eine Version der Art von Position zusammenfassen, die er vertritt (obwohl er sich auf Prozesse konzentriert, die auftreten mögen, wenn man mit schwierigen Entscheidungen konfrontiert ist, kann die Grundidee eine breitere Anwendung finden).

Betrachten wir eine Möglichkeit, wie dieses Merkmal des Gehirns eine Ansatzmöglichkeit für Libets Idee bietet.

1.       Libet hat Recht, wenn er beim Nachdenken über Willensfreiheit auf das Bewußtsein abhebt: Um Willensfreiheit zu realisieren, muß man Informationen im Arbeitsgedächtnis bewerten. Diese Informationen beinhalten die alternativen Wahlmöglichkeiten, die Gründe für jede dieser Möglichkeiten und ihre vorweggenommenen Konsequenzen (obwohl nicht alle diese Informationen gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis sein müssen). Wenn wir von einer äußeren Kraft gezwungen werden oder wenn wir nach "automatischer Steuerung" funktionieren, üben wir unseren freien Willen nicht aus.

2.       Die Gründe und die vorweggenommenen Konsequenzen – und selbst die je nach Situation verschiedenen alternativen Handlungsverläufe – werden nicht einfach im Gedächtnis "konsultiert", nachdem sie wie Aufzeichnungen nach vorherigen Begegnungen in einer Datei abgelegt wurden. Stattdessen konstruiert man Gründe und vorweggenommene Konsequenzen, die für die spezifische vorliegende Situation geeignet sind. Dieser Konstruktionsprozeß könnte teilweise auf chaotischen Prozessen beruhen. Solche Prozesse sind nicht vollständig von der eigenen Lerngeschichte determiniert (auch wenn sie durch die eigenen Gene gefiltert wurden). In Analogie dazu könnte man den Weg eines Regentropfens betrachten, der eine Glasscheibe hinunterrinnt. Er macht zickzackartige Bewegungen und beschreibt einen Pfad, den man am besten mithilfe chaotischer Prinzipien beschreiben kann. Derselbe Regentropfen, der genau auf demselben Ort der Glasscheibe an einem wärmeren Tag auftrifft (was das Glas in einen etwas anderen Zustand versetzen würde), würde einen anderen Weg nehmen. Bei chaotischen Systemen können sehr kleine Unterschiede im Anfangszustand große Unterschiede in nachfolgenden Zuständen erzeugen. Die Glasscheibe ist wie ein Gehirnzustand zu einem beliebigen Zeitpunkt. In Abhängigkeit davon, was man gerade gedacht hat, ist das Gehirn in einem unterschiedlichen "Anfangszustand" (d.h. verschiedene Informationen sind teilweise aktiviert, verschiedene Assoziationen werden bevorzugt), wenn man Gründe und vorweggenommene Konsequenzen konstruiert – was die Entscheidung beeinflussen wird. (Man beachte, daß diese Idee das Problem nicht einfach nur einen Schritt nach hinten verlagert: Was man gerade gedacht hat, war zum Teil selbst ein Ergebnis von nicht-deterministischen Prozessen.) Unsere Gedanken, Gefühle und unser Verhalten sind nicht determiniert; wir können neue Einsichten sowie "reflektierende Gedanken" haben.

3.       Auf der Grundlage der Wahlmöglichkeiten, der Gründe und der vorweggenommenen Konsequenzen entscheidet man sich für eine bestimmte Handlung auf der Grundlage dessen, "was man selbst ist" (und zwar mental gesprochen, um Strawsons Ausdruck zu verwenden, was das eigene Wissen, die Ziele, Werte und Überzeugungen einschließt). "Was man selbst ist" besteht teilweise aus Informationen im Gedächtnis, die eine Schlüsselrolle für diejenigen Prozesse spielen, die die Alternativen, Gründe und vorweggenommenen Konsequenzen konstruieren. Außerdem steuert das, "was man ist", die tatsächliche Art und Weise der Entscheidungen. Das Treffen der Entscheidung und die Erfahrung der tatsächlichen Konsequenzen modifiziert wiederum, "was man ist", was dann sowohl die Art und Weise beeinflußt, wie man Alternativen, Gründe und vorweggenommene Konsequenzen konstruiert, als auch, wie man zukünftige Entscheidungen trifft. Auf diese Weise konstruieren die eigenen Entscheidungen mit der Zeit die eigene Identität.

Wir sind nicht bloß Akkumulatoren von Umgebungsereignissen, die durch unsere genetische Struktur gefiltert werden. Wir bringen etwas Neues und Einzigartiges in jede Situation ein, nämlich uns selbst. Nietzsche kommentierte diese Situation so: "Die causa sui* ist der beste Selbstwiderspruch, der bisher vorgebracht wurde." Vielleicht ist dem nicht so.

* Causa sui (lat. causa "Ursache", "Grund", sui: durch sich selbst), eigentlich: "die Ursache ihrer (seiner) selbst" bezeichnet eine von Baruch Spinoza entwickelte These, wonach die Substanz (bei Spinoza die Natur) die Ursache ihrer selbst sei und nicht eines Anstoßes von außen, einer äußeren Ursache, bedürfe. Diese These war gegen die theologische Lehre von Gott als Schöpfer, Beweger und Erhalter der Welt gerichtet. Spinoza blieb der theoretischen Vorstellung noch insofern verhaftet, als er die Natur auch als Gott bezeichnete ("Deus sive natura" – Gott oder die Natur). Insbesondere unter den damaligen Bedingungen hatte diese Formel jedoch eine antitheologische Bedeutung, was sich in den heftigen Verfolgungen der Lehre Spinozas durch die philosophische und theologische Orthodoxie sowie die idealistische Philosophie des 18. Jahrhunderts zeigte. Der Begriff causa sui wies in die Richtung einer dialektischen Erklärung der Wirklichkeit. Indem Spinoza forderte, die Bewegungsursache der Natur in dieser selbst aufzusuchen, wirkte er dem metaphysischen Denken entgegen, welches die Ursachen der Bewegung des Systems außerhalb desselben erblickte.

4.       Das bringt uns zurück zu den Implikationen von Libets Entdeckung und weist auf eine Möglichkeit hin, wie wir Willensfreiheit während des entscheidenden Intervalls ausüben können, das zwischen unserem Bewußtwerden der Handlung und dem Beginn der Handlung besteht: Die Gesamtheit dessen, "was man ist", führt einen dazu, eine spezifische Entscheidung zu treffen. Diese Entscheidung kann unbewußt erfolgen und eine Handlung einleiten. Wenn man jedoch gewahr wird, daß man im Begriff ist, eine spezifische Handlung auszuführen, kann man ihre wahrscheinlichen Konsequenzen und die Gründe dafür und dagegen betrachten; diese Information wird zu dem jeweiligen Zeitpunkt konstruiert und ist während der unbewußten Verarbeitung nicht gegenwärtig. Auf der Grundlage dessen, "was man ist", kann man dann entscheiden, die Handlung zu unterlassen – oder, wenn sie schon begonnen hat, sie zu unterdrücken (und somit ist man nicht auf die 200 Millisekunden beschränkt, die Libet gemessen hat). Wie Libet bemerkt, können wir tatsächlich eine Handlung unterbinden, und diese Entscheidung ist nicht im Voraus festgelegt. Wir treffen Entscheidungen aus Gründen, und diese Gründe sind unsere Gründe.

Libet hat eine grundlegende Entdeckung gemacht. Wenn das Timing der mentalen Ereignisse so ist, wie er es beschreibt, dann haben wir nicht nur im Prinzip "Willensfreiheit", sondern auch die Gelegenheit, diese Willensfreiheit auszuüben.

Die Ideen, die ich kurz skizziert habe, sind Varianten von vielen anderen und sprechen Themen an, die (manchmal hitzig) tausende von Jahren diskutiert wurden. Ich habe den Punkt der "letztendlichen Verantwortlichkeit" nicht erwähnt – ob man völlig verantwortlich für das ist, "was man ist". Da man die genetischen Karten nicht beeinflussen kann, die man von seinen Eltern ausgeteilt bekommen hat, scheint der Sinn von "Willensfreiheit", der hier entwickelt wurde, nur bis zu diesem Punkt zu gehen. Libets Idee eines Vetos bringt uns dazu, einen Schritt zurückzutreten und die Frage neu zu formulieren: Anstatt zu fragen, ob man "letztendlich verantwortlich" für jeden Aspekt des eigenen Wesens ist, sollte man vielleicht besser fragen, ob man "nächstliegend verantwortlich" für die Wirkungen jedes Aspekts des eigenen Wesens auf die eigenen Handlungen ist. Können wir auf der Grundlage dessen, was wir uns zu werden entschieden haben, bestimmte Impulse unterdrücken und andere ausdrücken?

Ich hoffe, daß diese kurzen Überlegungen zwei wichtige Punkte vermittelt haben. Der erste besteht darin, daß es sich hier um außerordentlich verwickelte Dinge handelt, und die Frage nach der Rolle des Bewußtseins für die Willensfreiheit wird wahrscheinlich nicht so bald gelöst werden. Der zweite ist, daß wir in eine neue Ära bei der Diskussion solcher Fragen eintreten. Wir sind nämlich nicht länger auf den Lehnstuhl und die Redegewandtheit angewiesen. Wir haben jetzt objektive Daten. Dieses Buch leistet einen entscheidenden Beitrag, indem es Wasser auf die Mühlen von jedermann gießt, der an Bewußtsein, Willensfreiheit, Verantwortlichkeit oder der Beziehung zwischen Geist und Körper interessiert ist.

Ich hoffe, Sie haben beim Lesen dieses Buches genauso viel Vergnügen wie ich.

Vorwort des Autors

Wie kam ich dazu, dieses Buch zu schreiben?

Wir hatten einige überraschende Entdeckungen darüber gemacht, wie das Gehirn an der Erzeugung bewußter, subjektiver Erfahrung und unbewußten geistigen Funktionen beteiligt ist. Wo und wie bewußte Erfahrung entsteht und wie diese sich von unbewußten geistigen Aktivitäten unterscheidet, das sind Fragen, die nicht nur für mich von tiefem Interesse sind, sondern auch für viele andere. Wir machten unsere Entdeckungen durch Experimente. Sie beruhten nicht auf spekulativem Theoretisieren, sondern auf tatsächlichen Befunden. Diese Tatsache steht im Gegensatz zu den meisten Schriften und Vorschlägen von Philosophen, aber auch von manchen Neurowissenschaftlern, Physikern und anderen, die über diese Dinge schreiben.

Daher dachte ich, daß unsere Entdeckungen und die vielen wichtigen Implikationen, die sie mit sich bringen, einer breiten allgemeinen Leserschaft sowie Philosophen, Wissenschaftlern und Klinikern, die mit Problemen des Geistes umgehen, zugänglich gemacht werden sollten. Ein besonders wichtiges Merkmal dieser Darstellung ist der Nachweis, daß Probleme des Verhältnisses zwischen Geist und Körper und die Grundlagen bewußter Erfahrung im Gehirn experimentell untersucht werden können.
Wie kam es zu all dem? Man muß wissen, daß bewußtes Erleben nur an wachen Versuchspersonen untersucht werden kann, die über ihre Erfahrung berichten können. Nichtmenschliche Tiere können sehr wohl bewußte Erlebnisse haben, aber es gibt keine geeignete Möglichkeit, diese Erlebnisse auf schlüssige Weise zu untersuchen. Ich hatte die einzigartige Gelegenheit, menschliche Versuchspersonen zu untersuchen, die sich einer neurochirurgischen Behandlung durch Dr. Bertram Feinstein unterzogen. Bert und ich waren früher Kollegen am Labor für Biomechanik an der Universität von Kalifornien, San Francisco (UCSF), wo er als Neurologe arbeitete. Nach drei Jahren Ausbildung in Neurochirurgie in Schweden eröffnete Bert eine Praxis am Mount-Zion-Krankenhaus in San Francisco. Außerdem wollte er die Möglichkeiten des Zugangs zum menschlichen Gehirn dazu nutzen, bedeutende risikolose Untersuchungen durchzuführen, und er gab mir diese Möglichkeit. Die Behandlung erforderte, daß man Elektroden in bestimmte Strukturen im Gehirn platzierte. Eilig ergriff ich die Chance, die elektrische Aktivität von Nervenzellen des Gehirns und die elektrische Reizung geeigneter Nervenzellen in Beziehung zu Berichten über die bewußten Erfahrungen von Patienten zu untersuchen. Ich möchte betonen, daß unsere experimentellen Verfahren kein zusätzliches Risiko für die Patienten darstellten. Sie wurden mit der auf Aufklärung beruhenden Zustimmung der Patienten durchgeführt, und kein einziger unserer Eingriffe führte zu irgendwelchen Schwierigkeiten oder Schädigungen. Die Patienten waren in der Tat bemerkenswert kooperativ bei unseren Studien.

Dr. Feinstein war selbst sehr gelassen und kooperativ im Operationssaal. Er ließ mich die Experimente planen und zeigte keine autokratische Primadonna-Einstellung während der Operation. Nach fast zwanzig Jahren dieser Zusammenarbeit starb Feinstein überraschend im Jahre 1978. Nach seinem allzu frühen Tod widmete sich mein Labor der Untersuchung von Willenshandlungen, zu denen wir normale Versuchspersonen heranziehen konnten. Wir führten auch eine Untersuchung von grundlegender Bedeutung zum einzigartigen Unterschied zwischen der Detektion eines sensorischen Signals und der Entwicklung des Bewußtseins dieses Signals durch. Für diese Untersuchung standen uns Patienten zur Verfügung, denen dauerhaft Reizelektroden in einem sensorischen Pfad des Gehirns implantiert waren, die nicht-behandelbare Schmerzen lindern sollten. Diese Patienten wurden uns durch die Kooperation mit Dr. Y. Hosobuchi und Dr. N. M. Barbaro, beide Neurochirurgen an der UCSF, zugeführt. Diese Forschung wurde ebenso durch Michael Merzenich, Professor für Physiologie, ermöglicht, der großzügig einen geeigneten Raum und eine Computerausstattung zu unserem Gebrauch an der UCSF bereitstellte.

Alle diese Untersuchungen begannen im Jahre 1959 unter der Mitarbeit von W. Watson Alberts als Biophysiker und Elwood ("Bob") W. Wright, einem Ingenieur für Biomedizin. Watson verließ 1971 die Gruppe, um ein erfolgreicher Verwaltungsangestellter am National Institute of Nervous and Mental Diseases zu werden. Er wurde durch Curtis Gleason ersetzt, einen Ingenieur für Bioelektrik. Ein großer Teil unserer Effektivität ist den Beiträgen dieses Teams von Mitarbeitern geschuldet. Ich muß außerdem den vielen Patienten unseren Dank aussprechen, die an den Untersuchungen teilnahmen. Zusätzlich nahm eine Gruppe von zehn Psychologiestudenten des Hauptstudiums als begeisterte Versuchspersonen an unseren experimentellen Untersuchungen von Willenshandlungen und bewußten Handlungsabsichten teil.

Die drei Neurowissenschaftler, denen ich dieses Buch widme, waren die wichtigsten Mentoren während meiner wissenschaftlichen Laufbahn. Beginnend mit meiner Arbeit als Doktorand an der Universität Chicago führte mich Ralph Waldo Gerard in phantasievolle neurowissenschaftliche Forschung ein und behielt seinen Glauben an meine Fähigkeiten auch zu einer Zeit, in der ich niedergeschlagen war. Sir John Eccles machte mich mit der modernen experimentellen Neurowissenschaft vertraut (während eines einjährigen Forschungsaufenthalts an der Australian National University) und unterstützte meine Arbeit über die Beziehungen zwischen Geist und Körper, auch wenn diese Arbeit unter Neurowissenschaftlern nicht populär war. K. Allan C. Elliot war ein Vorbild an Strenge bei der Planung und dem Bericht über experimentelle Arbeit während einer dreijährigen Zusammenarbeit über die Neurochemie des Gehirns am Institut des Pennsylvania Krankenhauses in Philadelphia.

Ich danke meinem Enkel Victor Libet und meinen Töchtern Gayla und Moreen Libet für ihre hilfreichen Kommentare als fachfremde Leser von frühen Versionen des Manuskripts. Ich danke ebenfalls meinen Freunden Robert Doty und Anders Lundberg für ihre wertvollen Ratschläge und ihre ständige Ermutigung und Unterstützung. Kommentare von Michael Fisher, Wissenschaftsherausgeber für Harvard University Press, führten zu einer wesentlichen Reorganisierung der Themen, über die in diesem Buch berichtet wird. Elizabeth Collins leistete erfahrene Redaktionsarbeit. Ich danke Stephen Kosslyn für sein ausgezeichnetes und sinnvolles Vorwort.

Schließlich profitierte ich von meiner Frau Fay, meinen Kindern (Julian, Moreen, Ralph und Gayla) und meinen Enkelkindern (Victor, Anna, Leah, Lev und Stavit).

Einführung in das Problem

Etwas geschieht, wenn einem bestimmten Gehirnzustand ein bestimmtes "Bewußtsein" korrespondiert. Eine wirkliche Einsicht in dessen Wesen wäre die wissenschaftliche Leistung, vor der alle vergangenen wissenschaftlichen Leistungen verblassen würden. William James (1899)

Sie halten inne, um das intensive Blau einer Blume zu bewundern; Sie freuen sich über die Streiche eines kleinen Kindes; Sie fühlen einen Schmerz in einer von Arthritis befallenen Schulter; Sie hören die majestätische Musik von Händels Messias und sind bewegt von ihrer Größe; Sie sind traurig über die Krankheit eines Freundes; Sie haben den Eindruck, daß Sie eine freie Willensentscheidung darüber treffen können, was bei einer bestimmten Arbeit zu tun sei und wann es getan werden soll; Sie sind sich Ihrer Gedanken, Überzeugungen und Eingebungen bewußt; Sie sind sich ihres eigenen Selbst als eines wirklichen und empfindsamen Wesens bewußt.

Alle diese Gefühle und Bewußtheiten bilden einen Teil Ihres subjektiven Innenlebens. Sie sind subjektiv in dem Sinne, daß sie nur dem individuellen Subjekt zugänglich sind, das sie erlebt. Sie sind im physischen Gehirn nicht sichtbar und können auch durch Beobachtungen dieses Gehirns nicht beschrieben werden.

Unser subjektives Innenleben ist dasjenige, was für uns als Menschen wirklich wichtig ist. Doch wir wissen und verstehen nur wenig davon, wie es entsteht und welche Funktion es bei unserem bewußten Willen hat. Wir wissen, daß das physische Gehirn für die Manifestation unseres bewußten, subjektiven Erlebens wesentlich und auf innigste Weise daran beteiligt ist.

Diese Tatsache wirft einige Fragen von grundlegender Bedeutung auf.

Das Problem: Die Verknüpfung von Gehirnaktivitäten mit geistigen Funktionen

Geeignete Aktivitäten von Nervenzellen können gewiß den Inhalt oder sogar die Existenz des subjektiven Erlebens beeinflussen. Gilt auch das Umgekehrte? Können unsere bewußten Absichten wirklich die Aktivitäten der Nervenzellen beim Vollzug eines freien Willensaktes beeinflussen oder steuern?

Unsere subjektiven Erfahrungen beruhen auf weitverzweigten Netzwerken von tausenden von Nervenzellen, die an verschiedenen Orten des Gehirns lokalisiert sind. Wie ist es möglich, daß unsere Erfahrung, etwa ein visuelles Bild, subjektiv einheitlich erscheint?

Es gibt noch einen anderen wichtigen Punkt, wenn wir das bewußte Erleben betrachten. Viele unserer geistigen Funktionen werden unbewußt ausgeführt, ohne ein begleitendes Bewußtsein. Über die umfangreichen experimentellen und klinischen Belege für diese Behauptung wird in späteren Kapiteln berichtet. Die Rolle unbewußter geistiger Prozesse für unsere Existenz als emotionale Wesen wurde natürlich bekanntermaßen von Sigmund Freud und anderen ausgearbeitet. Die Frage im Zusammenhang mit unserem gegenwärtigen Interesse lautet nun: "Wie unterscheidet das Gehirn zwischen bewußten und unbewußten geistigen Ereignissen?"

Schließlich ist da noch die geheimnisvollste dieser Fragen: Wie können die physischen Aktivitäten von Nervenzellen im Gehirn die nicht-physischen Phänomene des bewußten Erlebens erzeugen, die das sinnliche Bewußtsein der Außenwelt, Gedanken, Eindrücke von Schönheit, Inspiration, Spiritualität, seelischer Tiefe usw. einschließen? Wie kann die Lücke zwischen dem "Physischen" (dem Gehirn) und dem "Geistigen" (unseren bewußten, subjektiven Erlebnissen) überbrückt werden?

Auf diese tiefen Fragen wurden viele Antworten vorgeschlagen (siehe beispielsweise Hook, 1960). Diese Antworten kamen hauptsächlich aus philosophischen und religiösen Quellen, obwohl in den letzten Jahren Beiträge dazu von Neurowissenschaftlern zu erscheinen begannen. Religiös inspirierte Vorschläge sind gewiß metaphysische Überzeugungen, die wissenschaftlich nicht prüfbar sind. Die Vorschläge der Philosophen waren zum größten Teil theoretische Spekulationen, die meist ebenfalls nicht prüfbar sind.

Wie der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper gesagt hat: Wenn ein Vorschlag oder eine Hypothese nicht so geprüft werden kann, daß der Vorschlag dadurch möglicherweise falsifiziert wird, dann kann der Vertreter dieses Vorschlags jede beliebige Ansicht anbieten, ohne daß die Möglichkeit eines Widerspruchs besteht. In diesem Fall kann ein Vorschlag jede beliebige Ansicht vorbringen, ohne sich als falsch erweisen zu lassen. Vorschläge, die in diesem Sinne unprüfbar sind, wurden nicht nur von Philosophen und Theologen, sondern sogar von manchen Naturwissenschaftlern gemacht. Viele Wissenschaftler mögen den Gedanken, daß ihre eigene experimentelle Forschung – zum Beispiel in der Immunologie oder zur motorischen Steuerung, in der theoretischen Physik oder der Kosmologie – eine Grundlage für gebildete Spekulationen über das Wesen bewußter Erfahrung und das Gehirn bereitstellt. Obwohl sie oft interessant sind, sind diese Spekulationen doch unprüfbar. Einige dieser Vorschläge zeigen jedoch anregende wissenschaftliche Perspektiven zu den Problemen auf, und manche philosophischen Analysen tragen dazu bei, die Eigenart der Probleme und bestimmte Beschränkungen der Arten von Antworten zu definieren, die man zu erreichen hoffen kann.

Die Absicht dieses Buches ist es nicht, einen vollständigen Überblick über die Literatur auf diesen Gebieten zu geben. Das Ziel des Buches ist es vielmehr, zu zeigen, daß es möglich ist, die Probleme der Beziehung zwischen Gehirn und bewußter Erfahrung experimentell zu behandeln. Aus unseren eigenen Untersuchungen gingen unmittelbare Entdeckungen mit grundlegenden Implikationen hervor, und diese machen den Hauptteil des Buches aus. Unsere physiologischen Beobachtungen innerhalb des Schädels wurden direkt mit Berichten über bewußte Erfahrungen von wachen Versuchspersonen verknüpft. Diese Vorgehensweise ist verhältnismäßig einzigartig in diesem Untersuchungsgebiet. Verwandte experimentelle Studien und philosophische Ansichten werden besprochen, wenn sie relevant sind und das Verständnis unserer Studien für den Leser erleichtern.

Allgemeine Ansichten über Geist und Materie

An einem Extrem befindet sich die deterministische materialistische Position. Nach dieser Philosophie ist die beobachtbare Materie die einzige Wirklichkeit, und alles, einschließlich des Denkens, des Wollens und des Fühlens, kann nur in Begriffen von Materie und den Naturgesetzen, die die Materie beherrschen, erklärt werden. Der hervorragende Wissenschaftler Francis Crick (Mitentdecker des genetischen Codes) formuliert diese Position auf elegante Weise:

Sie, Ihre Freuden und Sorgen, Ihre Erinnerungen und Bestrebungen, Ihr Gefühl von persönlicher Identität und Willensfreiheit, sind tatsächlich nichts weiter als das Verhalten eines riesigen Verbandes von Nervenzellen und der mit ihnen verbundenen Moleküle. Wie Lewis Carrolls Alice es ausgedrückt haben könnte: "Sie sind nichts weiter als ein Bündel von Neuronen (Nervenzellen)."

Diesem deterministischen Standpunkt zufolge ist das Bewußtsein Ihrer selbst und der Welt, die Sie umgibt, einfach das Nebenprodukt oder Epiphänomen neuronaler Aktivitäten, ohne daß es eine unabhängige Fähigkeit der Beeinflussung oder Steuerung neuronaler Aktivitäten gäbe.

Hat diese Position den Charakter einer "gesicherten" wissenschaftlichen Theorie? Ich werde schlichtweg behaupten, daß diese deterministische materialistische Sichtweise ein Überzeugungssystem ist; es ist keine wissenschaftliche Theorie, die durch direkte Tests bestätigt wurde. Es stimmt zwar, daß wissenschaftliche Entdeckungen zunehmend starke Belege für die Art und Weise erbracht haben, in der mentale Fähigkeiten und sogar das Wesen der eigenen Persönlichkeit von spezifischen Strukturen des Gehirns abhängen und von ihnen gesteuert werden können. Die nichtphysische Natur des subjektiven Bewußtseins, einschließlich der Gefühle von Spiritualität, Kreativität, des bewußten Willens und der Vorstellungskraft ist jedoch nicht direkt und ausschließlich anhand von physischen Belegen beschreibbar oder erklärbar.

Als Neurowissenschaftler, der diese Dinge mehr als dreißig Jahre erforscht hat, kann ich sagen, daß diese subjektiven Phänomene nicht aufgrund einer Kenntnis der neuronalen Funktion vorhersagbar sind. Das steht im Gegensatz zu meinen früheren Ansichten, als ich ein junger Wissenschaftler war und an die Gültigkeit des deterministischen Materialismus glaubte. Das war zu einer Zeit, bevor ich im Alter von 40 Jahren mit meinen Forschungen über die Rolle der Gehirnprozesse beim bewußten Erleben anfing. Es gibt keine Garantie dafür, daß das Phänomen des Bewußtseins und seine Begleiterscheinungen in Begriffen der heutigen Physik erklärbar sein werden.
Tatsächlich sind bewußte geistige Phänomene nicht auf die Kenntnis der Aktivitäten von Nervenzellen reduzierbar oder durch sie zu erklären. Man könnte in das Gehirn schauen und Verbindungen zwischen Nervenzellen sehen und neuronale Botschaften in großem Überfluß hin und her sausen sehen. Man würde aber kein bewußtes, geistiges, subjektives Phänomen beobachten. Nur der Bericht der Person, die solche Phänomene erlebt, könnte einen darüber aufklären.

Francis Crick stellt seine wissenschaftliche Glaubwürdigkeit dadurch unter Beweis, daß er seine physikalistisch-deterministische Position eine "verblüffende Hypothese" nannte und damit weitere Entwicklungen erwartet, die womöglich zu angemesseneren Antworten führen. Viele Wissenschaftler und Philosophen scheinen jedoch nicht zu verstehen, daß ihre starre Meinung, der Determinismus sei wahr, auf einem Glauben beruht. In Wirklichkeit sind sie nämlich nicht im Besitz der Antwort.

Tatsächlich gibt es sogar in der nichtgeistigen physischen Welt Unbestimmtheiten (Quantentheorie) sowie chaotisches Verhalten, die eine deterministische Vorhersagbarkeit von Ereignissen unmöglich machen. Auf einer kleinen Tagung über diese Dinge wurde der bedeutende theoretische Physiker Eugene Wigner gefragt, ob die Physik jemals das Bewußtsein erklären können werde. Wigner antwortete: "Die Physik kann nicht einmal die Physik erklären." Geschweige denn Bewußtsein! Die sinnvollere Frage wäre deshalb: Gehorcht das Phänomen bewußten Erlebens und seine Beziehung zum physischen Gehirn völlig den bekannten Regeln und Gesetzen der physischen Welt? (Darüber später mehr.)

Am anderen Extrem, das dem deterministischen Materialismus entgegengesetzt ist, steht die Überzeugung, daß der Geist vom Gehirn getrennt werden kann (Dualismus). Eine religiöse Version des Dualismus mag den Glauben an die Existenz einer Seele aufrechterhalten, die irgendwie Teil des Körpers während des Lebens ist, die sich jedoch von ihm trennen und zu unterschiedlich definierten Bestimmungsorten der Unsterblichkeit nach dem Tod gelangen kann.

Ich werde sofort behaupten, daß letzteres als Glaube absolut haltbar ist. Dasselbe gilt für die meisten der anderen philosophischen und religiösen Vorschläge. Keiner der wissenschaftlichen Befunde widerspricht unmittelbar solchen Überzeugungen. In der Tat fallen sie nicht in den Geltungsbereich wissenschaftlicher Erkenntnis (siehe Karl Poppers Position weiter oben).

Ein schönes Beispiel wissenschaftlichen Fortschritts war Einsteins Vorschlag, daß das Licht denselben Einflüssen der Gravitation unterliegt wie die Materie. Um jedoch die Wirkung der Gravitation auf das Licht zu beweisen, muß das Licht an einem Gegenstand von sehr großer Masse vorbeigehen, einer Masse, die viel größer ist als alles, was es auf der Erde gibt. Die Schwierigkeit eines geeigneten Tests verhinderte die endgültige Annahme von Einsteins Vorschlag. Glücklicherweise gab es um 1920 eine vollständige Sonnenfinsternis. Das Licht von einem Stern, der sich auf der anderen Seite der Sonne befindet, ging auf seinem Weg zur Erde nahe an der Sonne vorbei und war während der Sonnenfinsternis sichtbar. Tatsächlich hatte sich die scheinbare Position des Sterns geändert, da das Licht von seinem Weg durch den "Zug" der Sonne gebeugt wurde. Wäre das Licht nicht gebeugt worden, wäre Einstein falsifiziert (widerlegt) worden.

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Die zeitliche Verzögerung unseres sensorischen Bewußtseins

Wenn Sie mit Ihrem Finger auf den Tisch klopfen, erleben Sie das Ereignis in "Echtzeit". Das bedeutet, daß Sie den subjektiven Eindruck haben, daß die Berührung zur selben Zeit stattfindet, wie Ihr Finger den Tisch berührt. Unsere experimentellen Daten legen jedoch stark einen überraschenden Befund nahe, der im direkten Gegensatz zu unserer eigenen Intuition und unseren Eindrücken steht: Das Gehirn benötigt eine relativ lange Dauer geeigneter Aktivierungen, bis zu einer halben Sekunde, um ein Bewußtsein des Ereignisses auszulösen! Ihr bewußtes Erleben, daß Ihr Finger den Tisch berührt, erscheint also erst, nachdem die Gehirnaktivitäten eine bestimmte Qualität, d.h. eine Adäquatheit erreicht haben, um Bewußtsein zu erzeugen.

Wir sprechen hier über das wirkliche Bewußtsein eines Signals, das deutlich von der Detektion eines Signais unterschieden werden muß. Beispielsweise können Menschen und nichtmenschliche Lebewesen zwischen zwei verschiedenen Frequenzen taktiler Vibration unterscheiden, obwohl die Intervalle zwischen zwei Impulsen jeder Vibrationsfrequenz nur ein paar Millisekunden (ms) dauern. Ein führender Neurowissenschaftler übte aus genau diesen Gründen an unserer Entdeckung eines Intervalls von bis zu 500 ms, bevor ein bewußtes Erlebnis auftritt, Kritik. Wenn wir zwischen Vibrationsfrequenzen unterscheiden können, bei denen aufeinander folgende Impulse nur durch wenige Millisekunden getrennt sind, wie können wir da ein Intervall von bis zu 500 ms vor dem Bewußtwerden solch kurzer Intervalle zwischen den Impulsen vorschlagen? Meine Antwort war, daß die Fähigkeit, Unterschiede in Intervallen von nur einigen Millisekunden festzustellen, unbestreitbar ist. Wann ist man sich aber dieser Feststellung bewußt? Was relativ viel Zeit braucht, ist das Bewußtwerden dieses Unterschieds. Mit anderen Worten, eine Detektion, die zu einer bestimmten Reaktion führt, kann unbewußt stattfinden, ohne jegliches Bewußtsein des Signals.

Wenn solche physiologischen Verzögerungen in die Erzeugung sensorischen Bewußtseins durch das Gehirn eingebaut sind, stellt sich eine Reihe tiefgehender Fragen und Implikationen: Warum haben wir den Eindruck, wir hätten ein unmittelbares Bewußtsein eines Ereignisses, so als ob es keine Verzögerung in unserem tatsächlichen Bewußtsein gäbe? Was sollen wir über unsere Fähigkeiten sagen, auf einen sensorischen Reiz innerhalb von 100 ms zu reagieren, eine Verzögerung, die viel kürzer ist als die, die man für das Bewußtsein braucht? Ist sich beispielsweise eine Wettläuferin des Tons der Startpistole bewußt, wenn sie bei einem Rennen innerhalb von viel weniger als 0,5 Sekunden startet? Beanspruchen unbewußte geistige Funktionen weniger Zeit als bewußte geistige Funktionen?

Um sich von dieser unerwarteten und kontraintuitiven Verzögerung des Bewußtseins zu überzeugen, müssen Sie sich die Daten ansehen. Die folgenden Abschnitte skizzieren die Arten von Beobachtungen, die wir gemacht haben, und wie diese zu der überraschenden Entdeckung einer Verzögerung des Bewußtseins führten.

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