Auszüge aus Jürgen Leinemann's
"Höhenrausch
"

Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker

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Einleitung

Todeskuß

Der Mann im Publikum fühlte sich sichtlich fehl am Platz. Gierig blickte er auf die Bühne, während er wortlos zwischen den Sportlern und Chorsängerinnen des sächsischen Städtchens Grimma wartete, vielleicht ein bißchen formeller gewandet in seinem dunklen Nadelstreifenanzug, aber nicht weniger aufgeregt. Denn da oben auf dem provisorischen Podest am Ufer der Mulde standen die Großen des Landes – der Bundeskanzler und der Ministerpräsident. Auf die zielten die Kameras, vor denen waren die Mikrofone aufgebaut, zu ihnen blickten die Leute auf. Nichts wünschte der Mann in der Menge in diesem Augenblick mehr, als mit den Wichtigen zusammen gesehen zu werden, seinen Namen erinnerte sowieso noch jeder: Kurt Biedenkopf.

In Wahrheit zählte er sich natürlich noch immer dazu. Sechzehn Monate war es jetzt her, daß der kleine Professor sein Amt in der Dresdener Staatskanzlei an Georg Milbradt abgegeben hatte. Offiziell hoch gepriesen, war er im April 2002 als Ministerpräsident zurückgetreten, tatsächlich aber hatten ihn seine Parteifreunde nach kleinkrämerischen Affären und großmannssüchtigem Gehabe in Schande davongejagt. Denn der CDU-Chef Biedenkopf und seine Frau Ingrid hatten etwas zu feudal und selbstherrlich regiert. Ein Minister spottete:

Biedenkopfs öffentliche Auftritte besitzen eine fast religiöse Dimension.

Jetzt liefen die Kabelträger und Fotographen achtlos an ihm vorbei. Es war der 13. August 2003, vor fast genau einem Jahr hatte das Hochwasser hier eine Hängebrücke schwer beschädigt und die Stadt überflutet. Damals versprach ein entschlossener Gerhard Schröder, dem im Wahlkampf selbst das Wasser bis zum Hals stand, unbürokratische rasche Hilfe. Jetzt kassierte er den Dank ein. Und während der Bundeskanzler zufrieden die Menge der vielen tausend Grimmaer Bürger überblickte, entdeckte er schließlich den vor verkannter Bedeutung vibrierenden Mann neben der Bühne. "Ach", rief er leutselig, "da ist ja der Altministerpräsident." Und ohne auf Milbradt zu achten, zog er dessen Vorgänger hoch aufs Podium und juchzte ins Mikrofon: "Herr Professor Biedenkopf. Oder soll ich sagen: König Kurt?" Die Menge klatschte, Kurt Biedenkopf strahlte und überbrachte Grüße von Richard von Weizsäcker.

War das nun rührend? Zynisch? Peinlich? Gar entwürdigend? Mit gemischten Gefühlen verfolgte ich, wie der 73-Jährige dem genüßlich die Zuneigung der Menge einsammelnden Schröder nachlief. Gelegentliches Winken und Zurufe, die ihm galten, beflügelten den Promi im Ruhestand wie Aufputschpillen: Ja, auch Kurt Biedenkopf war immer noch populär. "Wie leben Sie denn so ohne Politik?", fragte ich ihn, als der Kanzler ihm an der Theke eines Lokals ein Bier bestellt hatte. Das war aber die falsche Frage. "Ich lebe doch nicht ohne Politik", fuhr er mich an. Was glaubte ich denn, was er mache im Flutkuratorium und in der Deutschen Nationalstiftung, an Hochschulen, Akademien und beim Bücherschreiben? Nein, dieser Mann, der sich zeitlebens so viel darauf zugute gehalten hatte, daß er in der Wirtschaft erfolgreich gewesen war, an der Universität Karriere gemacht und als "Staranwalt" – so seine Frau – reüssiert hatte, konnte von der Politik nicht lassen.

Wieder einer. Seit vierzig Jahren beobachte ich nun Politiker aus nächster Nähe, sehe, wie die Macht sie verändert, wie sie sich einmauern in Posen von Kompetenz und Zuversicht, während die öffentliche Verachtung wächst. Alle haben sie irgendwann einmal die Welt verändern wollen, ein bißchen wenigstens, aber die meisten geraten doch alsbald in die Versuchung, ihre Wahlämter als Plattform zur Selbstbestätigung zu benutzen, sich und anderen mit ihren Privilegien Bedeutung vorzuspielen. Viele merken gar nicht, wie sie von einem Sog erfaßt werden, der ihnen immer mehr äußeren Betrieb zumutet und immer mehr innere Freiheit nimmt. Meist wollen sie es nicht wahrhaben.
Eine Weile glaubte ich mich in meiner Beobachterposition auf der sicheren Seite – bis ich merkte, daß ich als Journalist keineswegs nur Zuschauer war, der auf der Tribüne des Geschehens saß und cool protokollierte, sondern auch Zeitgenosse und Mitspieler in der politischen Klasse. Ich mußte erst selbst eine lebensbedrohliche Krise überstehen, um zu begreifen, in welches Elend manche geraten, wenn sie Politik zum Beruf machen. Hans Magnus Enzensberger hat es drastisch zugespitzt:

Der Eintritt in die Politik ist der Abschied vom Leben, der Kuß des Todes.

Mit den meisten politischen Karrieristen teilte ich einen unersättlichen Hunger nach Anerkennung und Bestätigung. Denn wie sie sah auch ich mich bald nicht nur auf der Erfolgsleiter, sondern zugleich auf der Flucht vor der immer unangenehmer werdenden Realität aus Selbstzweifeln, Furcht vor dem Scheitern und quälenden Fragen nach dem persönlichen Preis für die Karriere. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend war ich schnell weit gekommen. Mit einunddreißig Jahren arbeitete ich als dpa-Korrespondent in Washington, D.C., 1971 wurde ich Büroleiter des Spiegel in der amerikanischen Hauptstadt.

Da war damals zwar noch nicht viel zu leiten, aber zu viel für mich: Ich begann zu ahnen, daß ich meinem Aufstieg nur unzureichend gewachsen war. Zwar hatte ich gelernt, die Erwartungen meiner Umwelt zu erkennen, und ich war auch talentiert und fleißig genug, sie zu erfüllen. Doch meinem äußeren Aufstieg fehlte das innere Gegengewicht. Ich brauchte Erfolg, um meine Selbstzweifel zu kompensieren. Ich war hungrig nach Lob und Zustimmung, um meine Ängste zu ersticken. Und ich arbeitete bis zur Bewußtlosigkeit, um meinen Aufstieg zu rechtfertigen und meinem Leben einen Sinn zu geben. Das gelang mir aber erst später.

Nun erlebte ich in Grimma ohne Überraschung die klägliche öffentliche Macht-Ranschmeiße des Kurt Biedenkopf, der sich zwar immer als hochintelligenter Mann, aber selten als talentierter Politiker erwiesen hatte. Nie war ich dem selbstgefälligen CDU-Herren, den ich seit Anfang der Achtzigerjahre kannte, besonders nahe gekommen. Sein ruhmloser Abgang aus Dresden, wo er um Ikea-Rabatte gefeilscht und sich monatelang mit "Putzfrauen"-, "Miet"- und "Yachturlaubs"-Affären herumgeschlagen hatte, erschien mir umso trostloser, als er sich kurz zuvor noch öffentlich über den verhaßten Helmut Kohl belustigt hatte, weil der – als Kanzler abgewählt und als CDU-Ehrenvorsitzender abgesetzt – sich wie ein "Altbauer" aufführe, der nicht aufs Altenteil wolle. Mit deutlicher Herablassung hatte Kurt Biedenkopf begründet, woher "die irrationale Unfähigkeit zum Loslassen" komme, mit der der Altkanzler seine furiose Selbstdemontage durch illegale Parteispenden in Szene gesetzt habe: Kohl habe nun einmal seit seinem 15. Geburtstag ein Leben geführt, das auf nichts anderes als auf die Eroberung von formalen Machtpositionen ausgerichtet gewesen sei. Und nun könne er eben nicht mehr existieren ohne Macht. Das sei wie eine Sucht.

Daß Politik im "Machtrausch" enden kann, daß der Verlust einer politischen Position zu "Entzugserscheinungen" führt – das sind geläufige Redensarten in Politikerkreisen. Schon Max Weber hatte 1919 in seiner berühmten Rede über "Politik als Beruf" davor gewarnt, daß das Machtstreben des Politikers "Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung" werden könnte. Heute hantieren die Akteure selbst locker mit Sucht-Begriffen, um die Gefahren der beruflichen Verformung zu beschreiben. Und Gerd Langguth, einst CDU-Vorstandsmitglied, Bundestagsabgeordneter und RCDS-Vorsitzender, jetzt Professor für Politische Wissenschaft in Bonn, spricht gar von "Politoholics", um die Persönlichkeitsveränderungen zu charakterisieren, die die "Droge Macht" auslöst.

Sucht. Droge. Entzug. Die meisten Politiker benutzen die Begriffe aus der Junkie-Szene mit bemerkenswerter Beiläufigkeit, um ihre eigene Befindlichkeit zu beschreiben. Sie tun so, als seien die Sucht-Vergleiche bloße Metaphern, harmlose Umschreibungen für eine etwas peinliche Besessenheit. Sucht light, sozusagen.

Doch wer von Drogen redet und von Sucht, der redet zugleich von Realitätsverlust. Wenn also gerade jene Menschen Gefahr laufen, von Berufs wegen ein gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit zu entwickeln, denen wir durch Wahl den Auftrag erteilt haben, unser eigenes Leben, unsere persönliche Alltagsrealität zu ordnen, zu schützen oder sogar zu verändern, dann brauchen wir uns über den beklagenswerten Zustand der Welt nicht zu wundern.

Die "Droge Politik", hat Bundespräsident Johannes Rau gewarnt, verursache eine "Sehstörung", die er als Hauptgefahr im Leben von Berufspolitikern betrachte. Politiker neigten dazu, sagte Rau, sich so sehr an ihrer eigenen Bedeutung zu berauschen, in dem Gefühl zu schwelgen, die Welt verändern zu können, daß sie bald nicht mehr wahrnähmen, daß für andere Menschen Politik keineswegs das ganze Leben ist. Normale Bürger lesen Bücher, treiben Sport, kümmern sich um ihre Familie, haben Hobbys. Der Politiker hat von morgens bis abends nur die Politik, um die sich alles dreht – sein Denken, sein Tagesablauf, seine Phantasien, alles. Rau:

Wenn der Politiker das zu übersehen beginnt, dann politisiert er die Welt. Und weil die Realität anders ist, verschätzt er sich in der Welt.

Auch der SPD-Politiker Rau war gegen solche Irrtümer keineswegs gefeit. Ziemlich erschrocken und empört saß er im Frühjahr 2000 – während ihm im atmosphärischen Gefolge der Kohlschen Parteispenden-Affäre nachträglich angebliche Privatflüge und gesponserte Geburtstagsfeiern aus seiner Düsseldorfer Regierungszeit vorgeworfen wurden – als neu gewählter Bundespräsident im Berliner Schloß Bellevue, auf dessen Dach die goldene Präsidentenfahne mit dem schwarzen Adler flatterte. "Die Leute sagen, wenn der Lappen draußen hängt, sind die Lumpen drinnen", flüsterte er fassungslos Freunden zu, die ihn besuchten.

Daß die Anklagen unhaltbar waren, erwies sich schnell. Raus Wahrnehmungsstörung betraf auch eher sein neues Amt – er hatte offenbar geglaubt, als Staatsoberhaupt aus der Klasse der normalen Berufspolitiker ausgeschieden zu sein. Sonst hätte der alte politische Fahrensmann eigentlich nicht überrascht sein können, daß in der Vorstellung der meisten Deutschen die parteipolitischen Profis generell als korrupt, oder wenigstens als latent korruptionsanfällig gelten. Und schien nicht eine unendliche Folge von Skandalen und Affären in den vergangenen Jahrzehnten – eine Strauß-Lambsdorff-Barschel-Engholm-Späth-Krause-Streibl-Leisler-Kiep-Kohl-Koch-Klimmt-Biedenkopf-Möllemann-Döring-Kette von mehr oder minder hochgespielten Anrüchigkeiten und unzweifelhaft kriminellen Akten – diesen Eindruck zu bestätigen?

Politik als Beruf, hat Erhard Eppler geschrieben, gehöre nicht nur zum Gefährlichsten und Abgründigsten, worauf Menschen sich einlassen können, sondern auch zum Faszinierendsten, Spannendsten, ja Schönsten. Fast zögernd fügte der gestrenge Protestant in einer Art verkappter Bilanz seines öffentlichen Wirkens als Abgeordneter, Minister und freier Volkstribun der Friedensbewegung hinzu:

Vielleicht ist Politik an der Grenze dessen angesiedelt, was Menschen leisten können, ohne, um es biblisch zu sagen, Schaden zu nehmen an ihrer Seele.

Das wissen die meisten ziemlich genau, auch wenn sie über den selbstzerstörerischen Trend in ihrem Beruf nicht reden. Sie ahnen zumindest, daß es ernst ist.
Ich weiß es seit dem 9. August 1974, 12 Uhr mittags. Damals gab der 37. amerikanische Präsident, Richard Milhouse Nixon, in Washington, D.C. sein Amt an den Vizepräsidenten Gerald Ford ab. Die Watergate-Affäre, eine aus dem Weißen Haus gesteuerte Verschwörung zur Vertuschung krimineller Wahlkampfaktivitäten, hatte den Republikaner eingeholt. Nixon war der erste Präsident, den Verstöße gegen seinen Amtseid zum Rücktritt zwangen. Zum letzten Mal spielte die Marine Band "Hail to the Chief". In der Tür des Helikopters, der ihn aus dem Weißen Haus abholte, drehte sich Nixon noch einmal um und spreizte die Finger zum nun grotesk wirkenden Siegeszeichen "Victory". Er hatte keine Schuld auf sich genommen und niemanden um Verzeihung gebeten. Er tat sich leid.

Ein paar hundert Meter entfernt hockte ich derweil am Schreibtisch des Spiegel-Büros im National Press Building und versuchte vergeblich, Nixons trostlosen Augenblick als meinen Triumph zu genießen. Aus irgendeinem Grund war auch ich ganz allein. Sozusagen zur Belohnung für meine ausführliche und vorherschauende Berichterstattung in den Monaten zuvor sollte ich den Abgang des US-Präsidenten in einem Namensbericht beschreiben – in jenen Jahren im Hamburger Nachrichtenmagazin noch eine ziemlich ungewöhnliche Auszeichnung. Doch ich starrte auf den Fernseher, sah den krampfhaft um Haltung bemühten gedemütigten Mann und fühlte nichts. Keine Erregung, keine Erleichterung, kein Mitgefühl, keinen Haß, nichts. Es war eine historische Stunde, aber die Kommentare der Fernsehkorrespondenten erreichten mich so wenig wie die Bedeutung der Bilder. Ich hörte wie durch Watte, sah wie durch Milchglas. Mein Bewußtsein schien ausgeschaltet. Heute weiß ich, daß dieser taube Augenblick ein existenzieller Tiefpunkt war, daß er eine Wende in meinem Leben einleitete, nicht nur in meinem beruflichen, aber da vor allem.

Im Mai 1968 hatte ich in Washington angefangen. Da schwelten in Reichweite des Weißen Hauses noch die Trümmer der schwarzen Ghettos, die nach dem Mord an dem farbigen Bürgerrechtler Martin Luther King explodiert waren. Monatelang passierte ich die Sicherheitskontrollen zum Amtssitz des Präsidenten, 1600, Pennsylvania Avenue, NW, mit einer Art frommem Schauder. Ich war der junge Mann aus Germany, ein kaum wahrgenommener Außenseiter im legendären White House Press Corps. Den Ausweis – man trug ihn an einer Kette um den Hals – empfand ich als eine Art Orden. Auch wenn mich das Attentat auf John F. Kennedy und der schmutzige und erfolglose Krieg in Vietnam erschreckt und irritiert hatten – im Grunde waren meine positiven Vorurteile über die Vortrefflichkeit der amerikanischen Demokratie noch unerschüttert.

Dann eskalierte der Vietnamkrieg, Präsident Lyndon B. Johnson, der deftige Texaner, der John F. Kennedy nachgefolgt war und den Krieg intensiviert hatte, gab auf, die Demokraten verloren die Wahl 1968. Jetzt richtete sich der Zorn der Demonstranten gegen den Republikaner Nixon, der sich fast über Nacht aus einem geschäftsmäßig kühlen Taktiker der Weltpolitik in einen rücksichtslosen Spieler mit Menschenleben verwandelt zu haben schien. Statt, wie versprochen, den Krieg in Südostasien zu beenden, weitete er ihn aus. Dennoch wurde Nixon 1972 wiedergewählt – und das, obwohl zuvor fünf Männer, von der Presse "die Klempner" genannt, bei einem Einbruch ins Wahlkampfhauptquartier der Demokraten im Watergate-Bürokomplex erwischt worden waren, denen eindeutig Kontakte ins Weiße Haus nachgewiesen werden konnten.
Mich versetzte diese Nachricht schlagartig in ein unerklärliches und unangemessenes Jagdfieber. Ich war inzwischen zum Spiegel gewechselt, wo ich größeren Spielraum für Meinungsäußerungen hatte, aber mehr als eine kurze Nachrichtengeschichte über die obskure Räuberpistole hatte ich zunächst nicht zu bieten. Trotzdem sagte mir mein Instinkt, daß Nixons Leute, wenn nicht gar er selbst, hinter dem klandestinen Unternehmen stecken mußten.

Ich traute dem ungeliebten Nixon, für den ich auf eine mich selbst irritierende Weise zugleich Abscheu und Mitgefühl empfand, inzwischen allerhand Verrücktheiten zu. Irgendwie meinte ich etwas zu ahnen von den Ängsten und der unterdrückten Wut, die ihn antrieben, immer aufs Neue beweisen zu müssen, daß er, der einfache Kleinbürger aus Yorba Linda in Kalifornien – dem der Ruf eines schlüpfrigen, überehrgeizigen Opportunisten anhing – der rechtmäßig gewählte und auch befähigte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war. Ich war sicher, daß er scheitern würde – an sich selbst. Das blieben natürlich Vermutungen. Mit seinem Einzug ins Weiße Haus war Richard Nixon sozusagen der menschlichen Nachprüfbarkeit entrückt und zu einer abstrakten Herrschaftsfigur geworden – blutleer, aufgedonnert, schemenhaft, mehr das Image eines Präsidenten als eine kenntliche Person. Solche Enthumanisierungsprozesse, im heutigen Medienzeitalter überall üblich, gehörten schon Anfang der Siebzigerjahre zum Alltag in der politischen Weltmetropole am Potomac, dem Neuen Rom.

Das Thema "Watergate" entwickelte einen Sog, dem sich kaum einer zu entziehen vermochte. Ich am allerwenigsten. Meine Jagd nach Details, die Akribie meiner Kenntnisse über Personen, Zeitpunkte und Formulierungen sowie die aggressive Intensität meiner Argumentation kriegten wahnhafte Züge. Was nach außen wie professionelle Leidenschaft wirkte – und sich für die Berichterstattung ohne Zweifel auch höchst positiv auszahlte –, empfand ich selbst immer mehr als Besessenheit. Ich begann Richard Nixon zu hassen. Er hatte mir nicht nur endgültig meinen amerikanischen Traum von einer funktionierenden und integren Demokratie zerstört. Er trug auch persönlich alle Merkmale des kleinbürgerlichen Aufsteigers, der sich in Positionen hochgedient hatte, denen er nicht gewachsen war – so wie ich selbst. Immer zwanghafter projizierte ich meine eigenen ungeliebten Eigenschaften auf Tricky Dick, um sie an ihm zu bekämpfen.

Wohl war mir dabei nicht. Ich ahnte meine Unfreiheit, litt unter meiner Unfähigkeit zur Distanz. Die Ruhelosigkeit quälte mich. Ich lebte mit dem Gefühl, mich und meine Position verteidigen zu müssen, obwohl mich niemand in Frage stellte. Ich schlief schlecht. Ich arbeitete rastlos. Ich trank zu viel und aß zu wenig. Aus Erschöpfung wurde Depression. Medikamente kamen dazu. Doch ich blieb Richard Nixon auf den Fersen, begleitete ihn zur Nato nach Brüssel, zu Breschnew auf die Krim und in den Kreml und zu Pompidou, den sterbenskranken, durch Kortison aufgeblähten französischen Staatspräsidenten, nach Island. Merkte Nixon nicht, daß ich dabei war, ihn zur Strecke zu bringen? Wann würde er zurückschlagen? Bei jedem Telefonschrillen zuckte ich zusammen. FBI? CIA? Secret Service? Steuerbehörde? Einwanderungsbüro? Er oder ich, ich oder er – in meinem Kopf lief ein panischer High-Noon-Film in Endlosschleife.

Am Ende war Richard Nixon erledigt, aber ich hatte nicht gewonnen. Im Gegenteil – auch ich konnte und wollte in Washington nicht länger bleiben. Denn so krank, müde und depressiv, wie der Präsident wirkte, fühlte ich mich auch. Ein Hochstapler im Weißen Haus war enttarnt, nun war ich dran. Das weinerlich-selbstmitleidige und unterschwellig suizidale Lamento über seine armen Eltern, die sich krumm gelegt hatten für ihren Sohn, der es einmal zu etwas bringen sollte, weswegen er, Richard Nixon, ihnen niemals Schande machen wollte – diese Schnulze, die echten Schmerz in falsche Gefühle umsetzte, entsprach voll und ganz meiner eigenen Empfindung. Der Alkohol, mit dem ich mir aufhelfen wollte, machte alles noch schlimmer. Nein, ich konnte keine Sieger-Story abliefern, denn mir ging es miserabel. Wie Nixon suchte auch ich nach diesem Tag professionelle Hilfe wegen meines seelischen Zustands. Doch was dann monatelang von verschiedenen Ärzten zunächst als endogene Depression behandelt wurde, erhielt am Ende einen anderen Namen: Sucht.

Das Wort "Sucht" – es kommt von "siech", englisch "sick", was krank heißt – kennzeichnet einen Mangel, ein Defizit. Die Wirklichkeit wird als unerfüllt oder bedrohlich erlebt. Mit Hilfe von Drogen, ganz gleich ob chemische Mittel oder stimulierende Aktivitäten, versucht der Betroffene, dieses Defizit zu füllen. Wenn das Bedürfnis nach solchen Mitteln sich auswächst zu einem "unabweisbaren Verlangen" nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebnis- oder Bewußtseinszustand, sprechen die Fachleute von Sucht. An Mitteln zur Herstellung dieser betäubenden Gemütsverfassung war kein Mangel in meinem Job – dazu dienten Arbeit, öffentliche Wirkung, Lob und Rituale der Bedeutung, Rauchen und vor allem Alkohol. Aus Gewöhnung an diese Mittel wurde durch ständige Wiederholung und immer höhere Dosierung zunächst Abhängigkeit, dann Sucht.

Es dauerte eine Weile, bis ich diesen Prozeß erkannt, bearbeitet und akzeptiert hatte. Einzugestehen, daß ich zwar alkoholabhängig war, daß mein süchtiges Verhalten aber nicht durch Whisky, Bier oder Wein erzeugt wurde, sondern daß umgekehrt der Suff die Folge eines persönlichen Defizits war, fiel mir nicht leicht. Es half aber, daß ich schnell merkte, wie sehr auch andere sich mit dieser Problematik herumschlugen – nicht zuletzt in der Politik.

Die da oben

Etwas Zweideutiges und Heimtückisches, ja Todbringendes hat der tschechische Präsident Václav Havel in der Versuchung der Macht entdeckt, nachdem er selbst in politische Führungspositionen aufgerückt war:

Unter einem Schleier existenzieller Selbstbestätigung wird die Existenz ihrer selbst enteignet, von sich selbst entfremdet, gelähmt.

Es war aber gerade dieses Abgründige, das mich an der Politik früh gereizt hat. Neugierig auf Menschen war ich sowieso immer – auf ihre Irrtümer, ihre Vernunft und ihr Bewähren, auf ihr Scheitern und ihre Schuld, das ganze unübersichtliche Drama des Lebens.

Die Umstände meiner Kindheit und Jugend in den Bombenkellern des Zweiten Weltkrieges und im Wiederaufbaufieber der frühen Adenauer-Jahre haben es mit sich gebracht, daß dieses Interesse schon früh eine politische und historische Einfärbung erhielt. Denn die älteren Menschen um mich herum – die Verwandten, Nachbarn, Lehrer und Professoren, die mich auf den Ernstfall des Erwachsenendaseins vorzubereiten vorgaben – schienen fast alle über zwei verschiedene Biographien zu verfügen. Es irritierte mich, daß – wenn sie von sich redeten – eine unüberbrückbare Kluft ihre persönliche Alltagswelt von jener großen Geschichte zu trennen schien, die offenbar ganz ohne eigenes Zutun hineingehagelt hatte in ihr privates Geschick.

Von ihren Großtaten als treu sorgende Familienmenschen, fleißige Kleingärtner, listige Überlebenskünstler und pflichtbewußte Berufstätige wußten sie lebensprall und saftig zu erzählen – von Geburten, Hochzeiten, Krankheiten und Beförderungen. Da waren sie Helden, Schlitzohren, Tölpel und Pechvögel, und, ob glücklich oder unglücklich, immer mittendrin im richtigen Leben. Das zweite Schicksal blieb dagegen seltsam vage, farblos und abgetrennt von eigenem Selbstverständnis. Es war den verhärmten Neudemokraten irgendwie zugestoßen, als exklusive Veranstaltung von "denen da oben" über sie hereingebrochen. Die hatten sie nach Verdun in den Ersten Weltkrieg geschickt oder nach Stalingrad in den Zweiten. Die hatten Inflation, Arbeitslosigkeit, Krieg, Hungerjahre und Wirtschaftswunder gemacht. "Die da oben" – das waren der Kaiser und die Parteien, die Siegermächte, Hitler und die Nazis, die Amis, der Tommy und der Russe, schließlich Adenauer und "die in Bonn".

Vor allem deshalb, denke ich heute, habe ich Geschichte studiert und bin Journalist geworden, um herauszufinden, wie diese beiden Leben zusammenpassen. Die Abspaltungen waren mir unheimlich, das Private und das Politische zu integrieren, erschien mir unumgänglich. In meinem eigenen Leben wollte ich diese Kluft nicht zulassen, und ich wollte andere Menschen beobachten, wie sie sich gegen das Auseinanderfallen wehrten – oder wie sie es benutzten. Und wo wäre das besser zu studieren gewesen als in der Politik?

Deshalb habe ich mich nach meinem Zusammenbruch, den ich nur verkraften konnte, indem ich eine Menge über mich selbst lernte, vor allem darauf konzentriert, die handelnden Figuren in der Politik zu beschreiben. Nicht weil ich – wie etwa die Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts – noch immer glaubte, Politiker und Staatsmänner seien die großen Macher, die alle Fäden in der Hand hielten und die Geschichte lenkten. In ihnen bricht und spiegelt sich Geschichte eher. Weil sie öffentliche Ämter haben und öffentliche Funktionen ausüben, weil sie mitentscheiden, wie wir leben, verdienen sie besondere Aufmerksamkeit, nicht weil sie so bedeutsame Menschen wären. In seltenen Fällen sind sie es trotzdem.

Als ich anfing, klangen solche Einschätzungen ziemlich altmodisch. Ende der Siebzigerjahre kamen Menschen als Machtfaktoren in theoretischen Abhandlungen über Politik kaum noch vor. Biographische Darstellungsformen galten als überholt. Strukturen und Systeme, Bürokratien, Märkte und Kulturen schienen Geschichte zu machen, wenn die sich nicht ohnehin dem Ende zuneigte, künftig abgelöst von einer die Zeit einebnenden virtuellen Globalität. Doch dann geriet mit dem Fernsehen der Mensch wieder in den Blick – die Glotze brauchte action. Und prompt reduzierten sich hochkomplizierte politische Zusammenhänge auf archaische Kämpfe zwischen Helden und Schurken, Rettern und Opfern, Machern und Moralisten. Je differenzierter und unüberschaubarer Politik wurde, desto mehr wuchs das Bedürfnis von Parteien und Wählern, mit Hilfe des Fernsehens einzelne Personen als Symbole für Kompetenz, Integrität und Durchsetzungskraft eines politischen Konzeptes herauszustellen und zu akzeptieren. Nach amerikanischem Vorbild, das ich ja sieben Jahre lang vor Ort hatte studieren dürfen, wurden auch in der Bundesrepublik aus Wahlkämpfen zunehmend Duelle zwischen den Spitzenkandidaten der Parteien.

Uns schreibenden Journalisten blieb die Aufgabe, zu den Bildern spannende Geschichten zu erzählen. Hinter den Gesichtern in der "Tagesschau" sollten Lebensmodelle erkennbar werden, die zur Identifikation einluden. Denn es sind ja nicht in erster Linie die Aussagen eines Politikers, die ihn für die Fernsehzuschauer attraktiv oder abstoßend machen. Nur zu sieben Prozent, haben Kommunikationswissenschaftler ermittelt, reagieren Menschen auf Worte und Aussagen. Tonfall und Stimme beeinflussen das Urteil zu 38 Prozent, den Rest – 55 Prozent – prägen Körperhaltung, Gesten, Gang und Mimik. Und so hängt die Glaubwürdigkeit von Politik weitgehend davon ab, ob die Politiker ihre Inhalte durch Auftreten zu legitimieren vermögen. Sie bieten der Öffentlichkeit ein Bild von sich an – ist es durch ihr Leben gedeckt?

Das interessierte mich, nachdem ich an Richard Nixon wie auch am eigenen Leib erlebt hatte, daß es offenbar nicht ausreichte, die nötigen Begabungen für bestimmte Positionen zu besitzen – man mußte ihnen auch charakterlich und menschlich gewachsen sein. Gab es so etwas Altväterliches wie sittliche Integrität überhaupt noch? Was waren das für Menschen, die Politik zum Beruf machten? Was trieb sie an? Von welchen hohen Träumen und tiefen Ängsten, Ehrgeiz und Trieben, Hemmnissen und Prägungen wurden sie bestimmt? Willy Brandt, der während seiner jungen Jahre in Oslo lange Gespräche mit dem politisch engagierten Psychoanalytiker Wilhelm Reich geführt hatte, wunderte sich später häufig, daß die seelischen Probleme und die neurotischen Störungen von Politikern in der öffentlichen Diskussion in Deutschland so wenig erörtert wurden. Man frage viel zu wenig, "wie es zu bestimmten Fehlentscheidungen oder zu bestimmtem Fehlverhalten kommt. Man nimmt sie einfach so hin, als Faktum", sagte Brandt 1989 in einem Interview. Das sei ein Fehler. Es werde so getan, als ergebe sich alles aus politischen Erwägungen, aus parteipolitischen Interessen oder aus sachlichen Notwendigkeiten. Brandt:

Daß die Beweggründe eines Politikers sich häufig aus dessen Struktur mehr ergeben als aus den eingespielten politischen Regeln, das, finde ich, wird viel zu wenig beachtet.

Muß man, um das erkennen zu können und beurteilen zu dürfen, ausgebildeter Psychoanalytiker sein? Im Studium der Psychologie bin ich über die Köhlerschen Affenversuche nicht hinausgekommen, der Statistikkurs hatte mich vergrault. Auf der Psycho-Couch eines Analytikers habe ich nie gelegen. Mit Hilfe verschiedener Methoden der humanistischen Psychologie und durch langjährige Sitzungen in Selbsterfahrungsgruppen glaube ich mir aber so viel Menschenkenntnis angelernt und anerlitten zu haben wie meine Großmütter in der Alltagspraxis ihrer Großfamilien. So gerüstet habe ich mich teilnehmend dem politischen Personal in Bonn und Berlin genähert. Wie sehr dabei mein Blick auf die Befragten durch die eigene Befindlichkeit bestimmt war, ist mir im Nachhinein erst so recht deutlich geworden.

Natürlich nahm ich die Personen, über die ich schrieb, als Individuen ernst. Auch habe ich ihre sozialen Rollen, ihre Herkunft und ihre Lebensgeschichte sorgsam zu recherchieren versucht. Doch die jeweilige Sehweise auf den anderen – ob meine Aufmerksamkeit sich auf Fassaden, Identitäten oder Inszenierungen konzentrierte – hatte mit meiner persönlichen Biographie zu tun, mit dem jeweiligen Stand meiner Selbsterkundung.

Wichtig blieb mir jedoch immer, daß Berufspolitiker Handeln und Verantwortung nicht nur darstellen, sondern daß sie als gewählte Vertreter des Volkes auch wirklich entscheiden und für ihr Handeln verantwortlich sind. "Entscheidend kommt es am Ende immer wieder auf die Person in der Politik an", hat der politische Praktiker Richard von Weizsäcker bekräftigt. "Sie kann Fehlentwicklungen korrigieren. Zweifellos kann sie aber auch Gefahren heraufbeschwören."

Weizsäcker – inzwischen Bundespräsident a. D. – versuchte im Februar 2003 im Französischen Dom am Berliner Gendarmenmarkt aktuelle Antworten auf Fragen zu finden, die 1919 Max Weber zum ersten Mal öffentlich formuliert hatte: Was ist ein Politiker? Was treibt ihn? Was betreibt er? Einen Beruf? Max Weber selbst – Jurist, Historiker, Soziologe – war im Revolutionswinter 1919 gerade mit seinem Versuch gescheitert, ein Mandat der Deutschen Demokratischen Partei für die Nationalversammlung der Weimarer Republik zu erhalten. Aber aus Sorge um das Gelingen der jungen Demokratie in Deutschland ließ er nicht nach in seinem Bemühen, die bürgerliche deutsche Abneigung allem Politischen gegenüber zu bekämpfen. Bis heute kommt niemand, der sich ernsthaft mit dem Politikbetrieb und den politischen Profis befaßt, an seinen Maßstäben vorbei.

Offenbar hatte Weber vor allem den Idealtypus des homo politicus im Sinn, weniger den gemeinen Berufspolitiker. Und doch trifft die Grundbeschreibung auch diesen: "Kampf um die eigene Macht und die aus dieser Macht folgende Eigenverantwortung für seine Sache ist das Lebenselement des Politikers." Webers Forderungen an einen Menschen, der dafür gerüstet sein möchte, "seine Hand in die Speichen der Geschichte legen zu dürfen", heißen Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Auch die berühmte Geduld für "starkes langsames Bohren von harten Brettern" verlangt er vom Politiker sowie die Einsicht: "Politik wird mit dem Kopf gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele."

Diese Qualifikationen gehören seither zum Pflichtrepertoire der Selbstbeschreibung politischer Profis.

Traumtänzer

Besonders angesehene Leute waren Politiker nie. Schon der französische Historiker und Politiker Alexis de Tocqueville, der während der Revolution von 1848 in der Französischen Nationalversammlung saß und unter der Diktatur des Louis Napoleon seine Erinnerungen schrieb, machte aus seiner Abscheu vor dem Opportunismus, der platten Verlogenheit und der Mittelmäßigkeit seiner Politikerkollegen kein Geheimnis. Sie besäßen "die wertvolle und in der Politik manchmal unerläßliche Gabe", höhnte er, "ihre Überzeugungen ihren augenblicklichen Begierden und Interessen anzupassen, und gelangen so dazu, auf verhältnismäßig anständige Weise ziemlich unehrenhaft zu handeln". Der deutsche Volkswirtschaftler Werner Sombart sprach vor dem Ersten Weltkrieg geradezu mit Ekel von der "unseligen Spezies der Berufspolitiker" als von einer Art unehrlichen Gewerbetreibenden – "geistig öde, ethisch verlogen, ästhetisch roh". Und Thomas Mann hieß 1918 in den Betrachtungen eines Unpolitischen den Politiker "ein niedriges und korruptes Wesen", das in geistiger Sphäre eine Rolle zu spielen keineswegs geschaffen sei.

An diesem Negativ-Image hat sich bis heute nicht viel geändert. In der Skala der Traumberufe, die im Jahr 2000 bei den Männern von Spitzensportlern und bei den Frauen von Stewardessen angeführt wurde, kamen Politiker nicht vor; bei einer Rangfolge von "ehrlichen Berufen" – mit Pastoren, Apothekern und Polizisten an der Spitze – landeten Bundestagsabgeordnete ein Jahr später knapp vor Autoverkäufern und Immobilienmaklern am Schluß. Niemand schien besonders überrascht über die Parteispenden-Skandale; die Erwartung an die Sachorientierung der Politiker, an ihre politische Leidenschaft für die Lösung der Probleme des allgemeinen Wohls scheinen auf ein Minimum gesunken. Filz und Vetternwirtschaft, Absahnermentalität und egoistisches Versorgungsdenken werden den Parteien und ihren professionellen Vertretern nahezu selbstverständlich zugerechnet. Und nach einer Umfrage von 2003 fanden 80 Prozent der Bundesbürger, das Ansehen von Politikern sei seit der Bundestagswahl im Jahr davor "eher gesunken".

Die Zahl der Berufspolitiker in der Bundesrepublik Deutschland ist geringer, als ihre öffentliche Wirkung und die allgemeine Empörung über sie vermuten läßt. Hans Herbert von Arnim, einer der unermüdlichsten Kritiker des politischen Personals, kommt auf 16.826 Frauen und Männer, die als Politiker ihren Lebensunterhalt verdienen – unter Berücksichtigung von gut 2000 Abgeordneten aus 16 Landtagen, 603 Bundestagsabgeordneten, 99 deutschen Vertretern im Europäischen Parlament, einer Bundesregierung und 16 Länderregierungen samt Ministern und Staatssekretären, der direkt oder indirekt gewählten hauptamtlichen Bürgermeister, Dezernenten und Landräte, sowie der fest angestellten Mitarbeiter der Parlamentarier. Nicht in dieser Zahl enthalten sind die fest angestellten Funktionäre der Parteien.

Ich habe mir angewöhnt, von der "politischen Klasse" zu sprechen, wenn ich die Polit-Profis meine, wobei ich den Begriff beschreibend benutze, nicht, wie vielfach üblich, denunziatorisch als Ausdruck verbalen Widerstandes gegen eine neue Privilegienstruktur. Denn die polemisch geführte Debatte über Pensionsansprüche, Nebeneinkünfte, Luxusreisen, Dienstwagen und Bonusmeilen scheint mir oft in klischeehafter Banalität die eigentlichen Probleme zu verdunkeln. Ich halte eher die gesellschaftliche Isolierung und den häufig ärgerlichen Mangel an Sach- und Weltkenntnis dieser Generalisten mit Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft – wie Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Mehrheit der Abgeordneten einmal charakterisierte – für eine gefährliche Entwicklung.

Politik als Beruf, das hieß und heißt in Deutschland praktisch, daß die meisten Akteure in keinen anderen Beruf wechseln können, weil sie nichts anderes gelernt haben als jenen Teil von Politik, den die Amerikaner politics nennen, was – im Gegensatz zu policy – nur die Tricks und Fertigkeiten des parteipolitischen Ränkespiels meint, nicht Inhalte, Programme oder gar Visionen. "Das sind doch fast alles Traumtänzer", spottet der greise Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis über die gestern und heute Regierenden:

Der Wirklichkeitsverlust unserer führenden Politiker, und das begann bei Kohl, ist tief beängstigend.

Ihren Politikstil empfindet er als unernst, bei niemanden kann Hennis "große sachliche Kenntnisse" ausmachen. Gerade die fatale Neigung der politischen Führungseliten, ihre Ohnmacht angesichts der hoch differenzierten und komplexen gesellschaftlichen Probleme hinter selbstgewissen Posen und beruhigenden Formeln verstecken zu wollen, entlarvt den Anspruch nur allzu oft als öffentliche Lüge.

Glücklich sind die Betroffenen damit selbst nicht. Ein Minister, der sicher ist, daß die Leute ihm ein Eingeständnis seiner Machtlosigkeit nicht honorieren würden, hat mir sein Dilemma so beschrieben:

Da sitzt du schon am frühen Morgen im Auto, hörst Radio, liest Zeitung, telefonierst und wartest, daß irgendwo irgendwas schief läuft. Nie weißt du: Wann passiert die Riesensauerei? Wann machst du den zentralen Fehler, wo du abrutschst. Dann mußt du handeln, oder besser: Du mußt so tun, als ob du das Problem lösen könntest. Meist kannst du ja gar nix machen. Entscheidend ist also, welche Erscheinung du von dir in die Welt setzt, daß du also Handlungen vortäuschst. Denn das fragen doch immer gleich alle: Hat er gehandelt? Und je weniger konzeptionell du bist, desto mehr Fiktion mußt du liefern. Das wird dann zur Masche.

War das immer so? An großen Ereignissen und Veränderungen hat es in den letzten zwanzig Jahren gewiß nicht gefehlt. Aber machten die Politiker mehr oder gar anderes, als sowieso geschah? Gut – Helmut Kohl bei der Euro-Einführung, Gerhard Schröder beim Nein zum Irak-Krieg. Aber sonst? Management des Betriebs, Verwaltung des Zustands. Wochenlang bin ich in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder bei Wahlkämpfen mit den Kandidaten durch das Land gehetzt – mit Helmut Kohl und Johannes Rau, mit Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping, mit Gerhard Schröder und Edmund Stoiber, Joschka Fischer, Angela Merkel und Guido Westerwelle. Manchmal war das nicht unspannend, unterhaltsam fand ich es immer, abwechslungsreicher jedenfalls als den Alltag in Bonn. Aber aufregend, leidenschaftlich, elektrisierend? Da waren routinierte Manager der Macht unterwegs, die es verstanden, noch das kleinste Karo in große Worte umzumünzen und dazu ein betroffenes Gesicht zu machen. Aber Ziele, die mich bewegt hätten, Hoffnungen, die mein Engagement gefordert hätten, Projekte, die mein Herz angesprochen hätten? Fehlanzeige.

Das Auftreten der ersten beiden Bundeskanzler, die ich Ende der Sechzigerjahre in Washington erlebte, Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt, war deutlich bestimmt durch ihr persönliches Schicksal inmitten der deutschen Geschichte. Während wir jüngeren Korrespondenten aus der Bundesrepublik froh waren über jede Minute, die Kiesinger über seine in Washington lebende Enkelin "Fröschle" schwätzte, weil er in dieser Zeit nicht nach seiner Nazi-Vergangenheit gefragt werden konnte, mokierte sich der Emigrant und Antifaschist Willy Brandt über die vielen Nazi-Filme im US-Fernsehen, wenn Fragen zur neuen Rechten in Westdeutschland kamen. Und abends erzählte er im kleinen Kreis, wie Fritz Erler und er bei ihrem ersten Amerika-Besuch während der kommunistenfresserischen McCarthy-Zeit einmal um vier Uhr morgens angeheitert am Weißen Haus vorbeigefahren seien und – im offenen Wagen stehend – die Internationale gesungen hätten.

Es gibt eine unheilvolle deutsche Tradition fehlender Einfühlung in die eigene Befindlichkeit, die vom Wilhelminismus bis zu den Nazis den seelischen Untergrund von Generationen prägte. "Affektive Entwirklichung" nennt der Psychoanalytiker Tilman Moser diese Verschüttung biographischer Wahrheiten, die sich in allen Bereichen des Lebens auswirkte – auch, wenn nicht gar vor allem, in der Politik. Doch die historischen Ereignisse der Hitler-Barbarei und der "Scheiße des Krieges", wie Helmut Schmidt bis heute gern sagt, waren so intensiv und verheerend, daß sie – trotz der kollektiven Tabuisierung des Persönlichen – die innersten Lebensbezirke der Zeitgenossen berührten. Die persönliche Existenz der Weimarer Generation, der Soldaten und Flakhelfer, ihr Blick auf Welt und Menschen, wurde davon für immer geprägt.

Danach rückten in die politischen Ämter der Bundesrepublik junge Deutsche ein, die weniger von ihren persönlichen Erfahrungen als von ihren Ambitionen und Karriereträumen beflügelt wurden. Für sie wurde Politik mehr und mehr zur bloßen Laufbahn, zu einem Aufstiegskanal für Emporkömmlinge. Die von Max Weber erwartete "geschulte Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens, und die Fähigkeit, sie zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu sein", von der die Alten gezeichnet blieben, verdünnte sich bei ihren Nachfolgern zum scheelen Seitenblick auf den Konkurrenten beim Gerangel um öffentliche Erfolge.

Mit vielen bin ich mitgewachsen. Ich sah, wie die Erfahrungen des Aufstiegs ihr Mißtrauen schärfte. Sie kannten sich aus mit der Angst vor eigenen Fehltritten und der Heimtücke anderer. Das machte sie "beinhart", wie Gerhard Schröder bekannte, und zynisch. Jeder kämpft gegen jeden. Die Zweckbündnisse der Politik zerbrachen bei veränderter Lage. Im glücklichsten Fall blieben den politischen Stars ein paar private Freundschaften. "Jeder, der Erfolg hat – und das heißt auch, sich durchsetzen –, wird Gegner hinterlassen, Enttäuschungen produzieren, auch Wut. Dann heißt es, er geht über Leichen", rechtfertigte sich Joschka Fischer. Der grüne Vizekanzler und Außenminister schwelgt in Bergsteiger-Bildern, um die extremen Belastungen zu beschreiben, die Politiker auf der letzten Etappe ihres Weges zum Gipfel aushalten müssen. Mit fast kindlicher Bewunderung, die vor sich selbst keineswegs Halt macht, beschreibt er strahlend die Strapazen auf dem Marsch zum Gipfel. Kanzlerschaft, Regierung – das sind für Fischer die Achttausender der Politik. Bis auf 7000 Meter brächten es viele Talente, höhnt Fischer mit genüßlichem Schaudern. Auf den letzten Metern aber sieht er viele festgefrorene Politikerleichen in der Wand hängen. Er selbst aber hat es geschafft, er sieht sich auf dem Mount Everest: "Da ist die Luft dünn und der Wind eisig."

Um sich gegen Verletzungen zu wappnen, lernen Spitzenpolitiker, sich emotional zu reduzieren. Vielleicht ist das die Voraussetzung dafür, ins politische Hochgebirge aufzusteigen. Sie spalten ganze Bereiche ihrer Persönlichkeit ab, verweigern das Nachdenken über Fehler und Niederlagen, wehren Selbstzweifel ab, suchen Schuldige anderswo und klammern sich so an eine durchsetzungsfähige Siegerversion von sich selbst.

Aber sind die wirklich mächtig, die es bis ganz oben geschafft haben? Gewiß, die üppige Ausstattung ihres Arbeitsplatzes suggeriert Macht. Denn die Luftwaffenjets, die gepanzerten Limousinen, die Leibwache und die Suiten in Luxushotels, die den Spitzenleuten in ihren demokratischen Ämtern ein kinohaftes Königsleben ermöglichen, sind ja keine Attrappen. Mag auch der Luxus der Sicherheit geschuldet sein und der Funktionalität des Amtes – verführerisch ist er trotzdem. Alles signalisiert: Wichtig! Very important person! Überrascht erkannte der PDS-Fraktionschef Gregor Gysi nach zehn Jahren Parlamentszugehörigkeit in der kapitalistischen Bundesrepublik die Kehrseite: "Politiker sind oft hilflos, ohnmächtig, überfordert." Allerdings geständen sich die meisten die Begrenztheit ihrer Wirkungsmöglichkeiten nicht ein, ergänzte er. Im Gegenteil: "Politiker sind an dem trügerischen Bild, das über sie existiert, sogar interessiert."

Kann es verwundern, wenn der eine oder andere sich womöglich unersetzlich findet mit der Zeit? Stets sitzen sie in der ersten Reihe, immer wollen sie das Beste, Applaus ist ihnen sicher. Schnell haben sie herausgefunden, welche Gesten und welche Floskeln beim Publikum ankommen. Und sie werden ihrer eigenen Erfolgstiraden nie überdrüssig. Sie gefallen sich immer aufs Neue, wenn sie sich im Radio noch einmal hören oder in der "Tagesschau" sehen: Guck, da bin ich schon wieder. Sollten sie es nicht selbst registrieren, hilft die Umgebung. "Hans-Dietrich, du bist im Fernsehen", gellte mütterliches Triumphgeschrei durch die Genscher-Villa im Bonner Vorort Pech, sobald der Außenminister während seiner Amtszeiten über den Bildschirm flimmerte.

Der Blick für die kleinen Schwierigkeiten des Alltags verliert sich. Alles scheint möglich. In der Umgebung von Macht halten alle Zerrspiegel der Täuschung bereit. Die zeigen einen öffentlichen Helden. Für die Betroffenen ergibt das eine seltsame Diskrepanz. Auf der einen Seite wird der Spitzenpolitiker zum Prominenten schlechthin. Völlig entindividualisiert, geistert er als glorreiche Schablonen-Figur durch die öffentliche Landschaft, die mit einem normalen Lebewesen nicht mehr vergleichbar scheint. "In der Politik gibst du die Souveränität über dich auf", hatte Gregor Gysi schon geahnt, bevor er in Berlin Senator wurde, "du verfügst nicht mehr über dich: nicht über dein öffentliches Bild, nicht über dein Image, nicht über deine Zeit."

Das blieb so. Aber zusätzlich lernte Gysi jetzt die andere Seite kennen: Als Medienversion des Helden wurde er ganz persönlich für alles haftbar gemacht, was in der Welt passierte. Auf dem Bildschirm ist er der, um den sich alles dreht, im Positiven wie im Negativen. Als die Firma Herlitz in Berlin Pleite machte, standen die Arbeitslosen bei Gysi vor der Tür, nicht bei den Banken. Und die Kameraleute waren dabei.

So ist es überall. In allen politischen Institutionen, Gremien oder Parteien sind sämtliche Handlungen und Charaktere auf den politischen Hauptdarsteller ausgerichtet: Er muß – möglichst mit Taten, auf jeden Fall aber mit Worten – den Dingen einen Sinn geben, Orientierung schaffen. Das ist eine Überforderung, die schmeichelt und nervt. Sie putscht die Akteure auf und deformiert sie zugleich. "Die gesamte Gesellschaft nimmt teil an den Verletzungen", sagt Angela Merkel, "man ist sozusagen auf dem öffentlichen Markt."

Sucht ist Ersatz

Umgekehrt werden die Politiker mit der Lebenswirklichkeit ihrer Bürger ebenfalls vor allem durch Fernsehbilder konfrontiert. Was widerfährt ihnen denn noch persönlich? Längst ist der politische Betrieb für die meisten Akteure zum Ersatz für das richtige Leben geworden – und damit zur Einbruchstelle von süchtiger Deformation. Denn Ersatz ist das Wesen der Sucht. Drogen ersetzen das Eigentliche: Anerkennung, Sinn, Glück, Glauben, Liebe, Sicherheit.

Meine an Richard Nixon – und natürlich auch an mir selbst – gewonnenen Erfahrungen halfen mir beim Verständnis der Barschel-Affäre und des Möllemann-Endes, des Lafontaine-Rücktritts und der Geltungsgier Helmut Kohls. Aber nicht nur die Extremfälle, sondern der Alltag des politischen Betriebes mit seiner zunehmend um sich selbst drehenden Hektik, der "Machtvergessenheit und Machtversessenheit" (Richard von Weizsäcker) der Parteien und der Realitäts- und Lebensfremdheit vieler Akteure erschienen mir süchtig. Je intensiver ich mich mit dem Suchtphänomen befaßte, während ich gleichzeitig weiter hauptberuflich das Geschehen aus der Nähe beobachtete – ab 1975 in Bonn, seit 1989 in Berlin –, desto auffälliger wirkten die Überschneidungen. Wenn der Nutzen des Drogenkonsums in der Entlastung von Ohnmachtsgefühlen, Kränkungen und Selbstwertzweifeln besteht – wo wäre der Unterschied? Wahrgenommen, bemerkt und anerkannt zu werden, ist das Hauptziel jedes Süchtigen. Es ist auch das Bestreben jedes Politikers in der Medienwelt.

Alle wollen sie bemerkt und gemocht und am Ende natürlich gewählt werden. Das Fernsehen habe die Politik nicht nur deshalb so tiefgreifend verändert, glaubt Altkanzler Helmut Schmidt, weil es die Politiker zur Oberflächlichkeit verführt:

Es macht sie auch sympathiesüchtig.

Die Versuchung zum Opportunismus, ohnehin immer eine Gefahr für die demokratisch gewählten Vertreter des Volkes, werde übermächtig. Schmidt:

In der Demokratie werden Sie nämlich nur gewählt, wenn Sie sich ausreichend angenehm machen.

Das heißt: Der Politiker sagt Dinge, von denen er glaubt, daß seine Zuhörer sie denken. Vor allem sagt er nicht, was sie nicht hören wollen. In diesem Zusammenspiel zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern wird die Suchtgefahr am deutlichsten – die Wähler werden zu Co-Abhängigen, wie es in der Therapiesprache heißt, zu Komplizen der von sich selbst und ihren Privilegien Berauschten, die ihnen zum Dank dafür die Welt schönreden.

In Wahrheit sind die Politiker den Bürgern ziemlich ähnlich. Daß die Bereitschaft, rücksichtslos – und möglichst am Finanzamt vorbei – in die eigene Tasche zu wirtschaften und egoistisch auf den eigenen Vorteil zu pochen nur eine Eigenart der politischen Klasse wäre, läßt sich gewiß nicht behaupten. "Politikverdrossenheit und ihre permanente Beschwörung halte ich in den meisten Fällen für eine unernste Luxushaltung des verbrämten 'Ohne mich', einen billigen Freibrief zum Meckern", schrieb der Philosoph und Theologe Richard Schröder, der 1990 SPD-Fraktionsvorsitzender in der frei gewählten Volkskammer war.

Es geht um Wirklichkeit. Die krasse Realität ist für niemanden uneingeschränkt erfreulich. Für den Politiker aber, der gewählt wird, um den Bürgern ein möglichst erfreuliches Leben zu gestalten oder wenigstens vorzugaukeln, ist eine verunsichernde Realität besonders bedrohlich. Also versucht er, sie zu schönen: Ängste zu leugnen, Störungen abzuwehren und sich selbst zu bestätigen. Das macht ihn zum Dienstleistungspolitiker. Tatsachen verwandelt er in Ansichtssachen, durch symbolische Politik ersetzt er, was an Handlungen unterbleibt. Verändert werden solle weniger die äußere Welt, sagt der Soziologe Claus Offe, "als das Bild, das wir uns von ihr machen, und die Erwartungen, die wir an sie richten". Macht hat, wessen Wirklichkeitsversion von der Mehrheit der Wähler geteilt wird. Im Idealfall könnten Politiker ihren Wählern natürlich zumuten, das Störende zu akzeptieren. Das wäre staatsmännisch. Im schlimmsten Fall lenken sie die Wut ihrer Klientel auf Sündenböcke. Das wäre Demagogie. Im Normalfall aber rühren Politiker nicht an Themen, die den Leuten Einsichten oder Einbußen abverlangen. Immer häufiger entwickelt sich so eine wechselseitige Manipulation, mit der sich Politiker und Wähler in ihrer Gemütsruhe bestätigen. Das macht die Bürger immer verdrossener, die Politiker immer unfreier.

Daß ich über meine Beobachtungen und Erfahrungen zu diesem Thema ein Buch schreiben würde, stand für mich seit zwanzig Jahren fest. Ich habe so lange gewartet, weil ich wußte, daß ich mich selbst als Süchtiger zu erkennen geben müßte, sollte die Charakterisierung der Politiker als potentielle Erfolgs-Junkies nicht denunzierend wirken. Und sozusagen offiziell als trockener Alki outen wollte ich mich erst, wenn ich für den Spiegel, der mich in meiner Notzeit vorbildlich geschützt und gestützt hatte, nicht mehr im politischen Tagesgeschäft tätig sein würde. Denn natürlich hat der Sucht-Begriff ja auch heute noch einen diffamierenden Beigeschmack: Er enthält einen moralischen Vorwurf gegenüber angeblich Willensschwachen, Undisziplinierten, wenn nicht gar Verwahrlosten. "Ob etwas als Sucht bezeichnet wird, und wie sehr die Sucht verurteilt wird, hängt davon ab, wer sie hat", schreibt die Psychoanalytikerin Thea Bauriedl.

Die Sucht der Herrschenden und der "Normalen" wird nicht oder nur vorsichtig als solche benannt und zumeist mit irgendeinem "Sachzwang" entschuldigt.

Natürlich weiß ich, daß es vieler Reformen und Veränderungen im institutionellen Umfeld der Parteien, Parlamente und des Staates und der Medien bedürfte, um Politikern ihre innere Freiheit zu sichern. Letztlich ist aber auch in diesem Gewerbe jeder selbst – wie jeder Workaholic, jeder Computer-Freak oder jeder fröhliche Zecher – dafür verantwortlich zu erkennen, wann süchtige Entgleisungen sein Leben zu beherrschen beginnen. Die zunehmende Fülle der öffentlichen Äußerungen zu diesem Thema deutet darauf hin, daß sich viele Polit-Profis der psychischen Unfallgefahr an ihrem Arbeitsplatz bewußt zu werden beginnen.

Nach meinem Eindruck ist die Flucht in die Sucht ganz und gar keine Spezialität der politischen Klasse. Eher halte ich die Politiker in dieser Hinsicht wirklich für "Volksvertreter", Mandatsträger einer Suchtgesellschaft. Ihre Besonderheit ist freilich erstens, daß ihre berufsbedingte "Sehstörung" nicht Privatangelegenheit bleibt, sondern unser aller Leben beeinflußt. Und daß zweitens die Verführungen zur Deformation für sie in jüngster Zeit weitaus zahlreicher und wirksamer geworden sind als die Bildungschancen. Eppler:

Die wachsende Übermacht der Medien über die Politik, des Verkaufens über das Erarbeiten, des Scheinens über das Sein, der Inszenierung über die Aktion machen Deformation immer wahrscheinlicher, Reifung immer erstaunlicher.

Doch unmöglich ist das Erstaunliche nicht.

...

Dieser unser Staat

Langsam sammelte sich Schweiß im Nacken des mächtigen Mannes. Der Haaransatz wurde dunkel, der Kragen feucht. Ob er denn "bewußt" einschlägige Gesetze ignoriert habe, wurde er gefragt. Ob er sich über die dort festgeschriebene Transparenz in der Spendenpraxis "bewußt" hinweggesetzt habe? Da warf sich der Kanzler empört in die Brust und höhnte: "Auf dieses 'bewußt' wollen Sie doch hinaus." Genau. Otto Schily nickte, Helmut Kohl winkte ab. "Ja, ja, ja", sagte er dann wegwerfend, "wahr ist, daß alle Parteien gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen haben." In Tonfall und Haltung schwang nach: Na und?

Keinen Fußbreit Boden gab der Zeuge Kohl an diesem Novembertag des Jahres 1984 preis, als er im kargen Sitzungssaal 1903 des Bonner Parlamentshochhauses "Langer Eugen" vor dem Untersuchungsausschuß zur Flick-Affäre befragt wurde. Nicht einmal durch eine unfreiwillige Geste der Unsicherheit oder Nervosität ließ er Selbstzweifel oder gar Schuldgefühle erkennen. Im Gegenteil, er fühlte sich als Sieger in seinem Kampf gegen Naivlinge, deren Lebenserfahrung nicht ausreichte, sich das ständige Existenzringen von Parteivorsitzenden am Rande des Bankrotts und der Legalität auszumalen.

Seit Steuerfahnder 1975 eher zufällig auf ein illegales Spendenkonto der CDU in Liechtenstein gestoßen waren und später auf Listen des Flick-Konzerns über Zahlungen an alle etablierten Parteien, ermittelte die Staatsanwaltschaft. "Was da zutage kommt", schrieb im Januar 1983 die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung, "wirkt mit seinen widerwärtigen Details über schwarze Kassen in Millionenhöhe, Zuwendungen in Kuverts, Durchstechereien und unverhohlenen politischen Ansinnen wie eine Horrorgeschichte über die Abgründe des Kapitalismus." Erst auf Druck der Öffentlichkeit und der neu in den Bundestag gewählten Grünen entschloß sich das Parlament, einen Untersuchungsausschuß einzurichten.

Dort redete Helmut Kohl über die Widerwärtigkeiten der Geldbeschaffung für seine Partei mit dem Stolz eines zupackenden Praktikers im Sanitärgewerbe. "Ich steh hier nicht als einer, der die Drecksarbeit den anderen überläßt", brüstete er sich hinterher vor der Fernsehkamera: "Diese Partei ist nicht zur stärksten Kraft geworden, weil sich der Vorsitzende nicht kümmerte bis ins Detail hinein." Er hatte die Umschläge eingesteckt, ohne nach dem Absender zu fragen, nachzuzählen oder Quittungen auszustellen. "Cash? Auf die Pfote?", erkundigte sich ungläubig der SPD-Abgeordnete Gerhard Schröder aus Hannover beim Zeugen Eberhard von Brauchitsch. "Nein", korrigierte der Flick-Manager süffisant, "sehr vornehm, natürlich mit einem Kuvert."

Helmut Kohl fand solche Feinheiten albern. Er dampfte fast vor vibrierender, selbstgerechter Kampfeslust. War er nicht der rechtmäßig gewählte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland? Seit über zehn Jahren der Bundesvorsitzende der CDU und damit ein Nachfolger Konrad Adenauers? Und war nicht der Grüne, der ihm unverschämte Fragen zu stellen wagte, die, laut Kohl, "nicht zur Erhaltung der Republik beitragen", der hinlänglich bekannte Terroristen-Anwalt Otto Schily? Zählte der also nicht zu jenen, "die eine ganz andere Republik wollen"? Der Parteivorsitzende hatte seine Pflicht getan und sonst gar nichts. Heilfroh war Helmut Kohl um jeden, der ihm dabei half. Schlimm genug für den Gesetzgeber, daß der nach dem Parteiengesetz die rechtlichen Konsequenzen für die Finanzierung nicht gezogen hatte. Sollte wohl heißen: An Gesetze, die einem nicht in den Kram passen, muß man sich auch nicht so pingelig halten.

Das hatte der junge Kanzler von seinem Vorbild Adenauer gelernt: Zimperlichkeit im Umgang mit Gesetzen und Verfassung kann hinderlich sein, wenn es gilt, politische Gegner zu erledigen. Auf Helmut Kohl konnte die "Der Staat sind wir"-Fraktion der tonangebenden Kreise immer bauen. Sein eigenes Wohl und Wehe, der Erfolg der christlichen Staatspartei CDU und die Herrschaft in der Bonner Republik – das war für den Pfälzer identisch und irgendwie gottgewollt. Nein, Helmut Kohl kämpfte in der Flick-Affäre nicht um einen blütenreinen demokratischen Leumund der Unbestechlichkeit, er kämpfte politisch um die Macht in "seiner" Republik. Diese Formulierung meinte der Bundeskanzler schon zu Beginn seiner langen Regierungszeit so besitzergreifend, wie er sie aussprach.

Helmut Kohl war ein Macht-Haber. Je länger er amtierte, desto unverhohlener führte er sich auf, als sei er der Eigentümer des Staates und seiner Privilegien. Er kaufte Einfluß, vergab demokratische Ämter wie Pfründen, strafte und belohnte nach Gutsherrenart. Geld war für ihn mehr ein Herrschafts- als ein Zahlungsmittel. Illegale Spendenkonten und "schwarze Kassen" hielt er für notwendige Waffenlager im Kampf gegen politische Gegner, die er als Feinde verteufelte. Wie die Welt zu sehen sei, bestimmte er. Er inszenierte sie als Kampfstätte: "wir" gegen "die". So entstand das inzwischen legendäre System Kohl – ein System von Abhängigkeiten, in dem Machtbesitzstände in jeder Form zu Drogen wurden.

Kohls rüder Materialismus war nicht untypisch für die Männer seines Jahrgangs. Diesen in den Dreißigerjahren geborenen Kriegskindern, die der Soziologe Helmut Schelsky als "skeptische Generation" charakterisierte, war jedweder Idealismus ausgetrieben worden. Sie hatten das Grauen des Krieges und des Nazi-Terrors noch miterlebt, waren zu jung, um selbst in Schuld zu geraten, aber alt genug, um zu begreifen. Ihr Denken und Verhalten war so strikt auf das Praktische, Handfeste, Naheliegende ausgerichtet, daß Schelsky diese "Kraftmeier des sogenannten praktischen Lebens" auch als angepaßt empfand. Ihre Väter hatten die Welt in Ruinen verwandelt. Ihre Mütter hatten die Trümmer weggeräumt. Sie wollten aufbauen. Einsteigen. Anschaffen. Später würden sie "Macher" heißen oder "Aktivisten", sie waren ein gesamtdeutsches Phänomen. "Auferstanden aus Ruinen", sangen sie im Osten, "Haste was, biste was", hieß das Motto im Westen.

Ein geistiges Geländer, an das sie sich halten konnten und das ihnen Richtung hätte geben können, hatten die Politiker dieser Generation nicht – weder ein inneres wie die Weimarer, noch ein äußeres wie ihre älteren Brüder, die Pflicht-Soldaten. Nur über einen wilden Aufbauwillen verfügten sie, über ungeahnte Aufstiegschancen und über ein Feindbild, im Osten wie im Westen.

Im Oktober 1982 war der CDU-Vorsitzende im Bonner Bundestag zum Kanzler gewählt worden, nachdem Außenminister Hans-Dietrich Genscher an der Spitze seiner Liberalen das lange historisch genannte Bündnis mit Helmut Schmidt und der SPD verlassen hatte. Ein knappes halbes Jahr später holte sich der neue Regierungschef in einer Bundestagswahl die nachträgliche Legitimation der Wähler. Allerdings zogen da zusammen mit seiner bürgerlichen Mehrheit zum ersten Mal die Grünen in den Deutschen Bundestag ein – was einem Kulturschock gleichkam.

Unter Linken gehörte es damals zum guten Ton, sich über Helmut Kohl Schenkel schlagend zu belustigen. Das war mir nie geheuer. Gewiß, komisch fand ich den Pfälzer auch, wenn er sich in seinen Sätzen verhedderte und die fehlende Logik durch liderflatternde Inbrunst ersetzte. Aber zu oft hatte ich erlebt, lange bevor er Kanzler wurde, wie er in Bierzelten, Stadthallen und Festsälen eine fast religiöse Weihestimmung zu verbreiten wußte, wenn er die Welt erklärte, so wie sie sein müßte. Dagegen malte er dann die sozialdemokratische Regierung zum Gruselkabinett aus. Ja, wo leben wir denn?, fragte er entrüstet. Und sein Kopfschütteln pflanzte sich durch die Zuhörerreihen fort, bewegte Urahne, Großmutter, Mutter und Kind.

Nein, komisch war das nicht, eher unheimlich. Helmut Kohl, der ja noch gar nicht so alt, war damals und nur halb so dick, beschwor eine Welt, die es nie gegeben hatte. Und er traf einen Ton, der bei allen Resonanz auslöste – einen Ton der Sehnsucht, der Empörung und vor allem der Angst. Die schürte er, die teilte er wohl auch.
Tatsächlich redete Helmut Kohl davon schon, als ich ihn zum ersten Mal persönlich erlebte. Das muß 1976 gewesen sein, nach seiner knappen Niederlage gegen Helmut Schmidt, als er von Mainz als Fraktionsvorsitzender in die Bundeshauptstadt kam. Damals sprach er noch mit dem Spiegel, und bei einem Redaktionsgespräch schilderte er die politische Machtzentrale Bonn als Dschungellandschaft, "wo hinter jedem Busch einer mit dem Messer sitzt, bereit, dich hinterrücks niederzumachen". Eine sonderbar unstimmige Figur gab er ab, war moderner Aufsteiger- und Karrieretyp einerseits, kühl kalkulierender Berufspolitiker und zugleich kitschiger Nostalgiker, der in jeder Veränderung Verfall witterte. Kein Konservativer, wie er behauptete, sondern ein zutiefst Konventioneller. Ein Weltmeister der echt gefühlten falschen Töne.

So trat er an gegen den Rest der Welt, wir würden seinen Erfolg schon noch erleben. Seine Lieblingsbewegung war bereits damals das geringschätzige Abwinken. Und wenn die Welt nicht sowieso voller Teufel wäre, dann hätte Helmut Kohl sie sich erfunden. Denn er brauchte sie, um seinem politischen Leben einen Inhalt zu geben.

Nun stand er, am 29. März 1983, mit erhobener Schwurhand neben der schwarzrotgoldenen Fahne im Bonner Bundestag, um zum zweiten Mal seinen Amtseid abzulegen. Der neue Bundeskanzler hatte sich extra eine Position quer zum Plenum ausgedacht, um sich den Blick auf eine aufreizend leere Doppelbankschneise in der Mitte das Saales zu ersparen. Denn durch die von den Bonner Parteien so symbolträchtig beanspruchte Mitte ging, rechts von den Sozialdemokraten und links von der Union, ein unübersehbarer Riß. Dort hatten, bei den Plätzen 7 und 8 unmittelbar vor dem Rednerpodium beginnend und sich vierzehn Reihen tief bis zu den Plätzen 408 und 409 hineinfressend, während der Eröffnung des 10. Deutschen Bundestages am Vormittag "diese Typen" gesessen, achtundzwanzig grüne Neulinge: der Feind – ein buntes Westen- und Sandalenvolk, das seine Pulte mit Blumen und Zweigen schmückte und die graublaue Arbeitsuniformität der Volksvertretung schrill durchbrach.

Jetzt, am Abend, wirkte ihr Fehlen doppelt trist. Die Fraktion der Grünen war ausgezogen, hatte dem Kanzler den Respekt ihrer Anwesenheit verweigert, weil sie seinen Eid als "ein Lippenbekenntnis" betrachtete. Und mehr noch als durch ihr sanft herausforderndes Auftreten am Morgen provozierten die selbstbewußten Neulinge mit Rauschebärten, Turnschuhen und Schlabberpullovern durch ihre Abwesenheit die Traditionalisten unter den Abgeordneten aller Parteien. Die aufgestauten Aggressionen dieses Tages brachen sich Bahn.

Kaum war die Zeremonie beendet, stürzte der CDU-Landwirt Karl Eigen in die Lobby, wo im Kreise der Grünen Ex-General Gert Bastian eine Erklärung verlas, nach der seine Freunde und er in der Aufstellung von "Pershing 2"-Raketen und dem Bau von Atomkraftwerken keinen gemehrten Nutzen für die Republik erkennen könnten. Wütend fuhr Eigen filmende Fernsehleute an:

Schämen Sie sich nicht, die grünen Verweigerer zu filmen, während drinnen der Kanzler vereidigt wird?

Wutverzerrte, hochrote Gesichter bei den parlamentarischen Besitzstandswahrern. "Trojanische Sowjet-Kavallerie", schrie eine bayerische Stimme. Nackte Angst in den Zügen grüner Frauen. Es ging nicht um Argumentation, es ging um Abrechnung. Am liebsten würden sie die "ganze Mischpoke" rausschmeißen, bekannte ein Volksvertreter der Union offen und aus vollem Herzen.

Dieser Wunsch steckte natürlich auch hinter den Kohlschen Umschreibungen der Grünen als "vorübergehendem parlamentarischen Zustand". So wie sie redeten, aussahen und sich verhielten, gehörten sie aus der Sicht des Kanzlers weder in den Bundestag noch überhaupt in "diesen unseren Staat". Darüber habe es die schärfsten Zusammenstöße mit den traditionellen Parteien gegeben, erinnerte sich später Otto Schily, der damals einer der grünen Fraktionssprecher war.

Die Altparteien dekorierten sich gern mit dem Titel "staatstragende Parteien", sie verabsolutierten ihre Rolle und setzten sich gleich mit dem Staat.

Die Altparteien. Tatsächlich stand Helmut Kohl keineswegs allein da mit seiner Feindseligkeit gegenüber den Neulingen. Abgeordnete aller Parteien, die Demokratie so gern mit der Verteidigung des Status quo verwechselten – die überwältigende Mehrheit also – waren in angstvoller Defensive. Der Unrat, den feine Herrschaften aus CDU und CSU, FDP und SPD in privater Runde über die "Zottelhaarigen", und speziell jene weiblichen Geschlechts, ausleerten, verlieh der Dokumentation demokratischer Unreife einen Zug ins Widerliche. Gemeint war immer dasselbe: Die gehören nicht dazu. Mit Verblüffung erkannte mancher Grüne, daß die 68er-Bewegung vor den Türen der gesellschaftlichen Isolierstation Bonn, zumal vor dem Parlament, stecken geblieben war. "Der Muff von tausend Jahren", den die revoltierenden Studenten fünfzehn Jahre zuvor unter den Talaren von Professoren, Predigern und Richtern ausgemacht hatten und zu entlüften begannen, hing noch dick in den Nadelstreifenanzügen und Sakkos der Bonner Parlamentarier.

Nun fühlten sie ihr eingespieltes Machtkartell bedroht. Erregt fielen sie über die Grünen her, nötigten die zu stotternder Rechtfertigung, hielten Bruchstücke ihrer unbeholfenen Gegenargumentation wie Trophäen fest. "Sie haben gesagt, Sie sind im Besitz der absoluten Wahrheit" – so wischte der frühere rheinland-pfälzische Innenminister Heinz Schwarz der 60-jährigen Grünen Christa Reetz jede Chance zur Erwiderung weg. Plötzlich lag eine Prügelei in der Luft. Nicht vorher und nicht nachher habe ich die Atmosphäre im Vorraum des Bundestagsplenums, wo sonst die gedämpfte Feierlichkeit eines Konzerthauses waberte, so aufgeheizt erlebt.

Als Feinde, nicht als Kollegen standen sich die neuen und die alten Abgeordneten gegenüber. "Nein danke"-Abzeichen trugen die einen am Revers, Bundesverdienstkreuze hatten die anderen im Knopfloch. Die Mehrheit der "steifen Krähenversammlung" – als die der Grüne Joschka Fischer die etablierten Abgeordneten verhöhnte – wirkte, als sei sie allein durch das Dasein der grünen Volksvertreter persönlich zutiefst beleidigt. "Diese Arschlöcher bringen hier alles durcheinander", schimpfte ein CDU-Mensch.
Das war nicht nur inhaltlich gemeint. Denn die Neuen, das war schon vom ersten Tag ihres Auftritts an deutlich zu spüren, standen nicht nur für viele Versäumnisse der Bonner Politiker in der Sache, sondern auch für Lebensdefizite. Konfrontiert mit den unbekümmerten Grünen wurden sich viele der Eingesessenen plötzlich ihrer persönlichen Entsagungen und Verbildungen bewußt. Das galt vor allem für die 40- bis 50-Jährigen, die als Kinder noch den Krieg miterlebt und danach in zum Teil blinder Aufbauwut Karrieren angestrebt hatten. Die frechen Regelverstöße der Grünen machten sie zornig, und ihre Wut entlud sich in Aggression und Selbstmitleid. Der SPD-Neuling Ingomar Hauchler spürte: "Viele haben ein schlechtes Gewissen. Sie fühlen sich etabliert, wollen es auch bleiben, haben aber kein gutes Gefühl dabei."

Sehr viel anders ging es uns Pressemenschen auch nicht. Ich war hin und her gerissen. Einerseits verdankte ich den Grünen ein neues Distanzgefühl. Zwar hatte ich gewiß keine Mühe, einen politischen und menschlichen Sicherheitsabstand zu Kohls Bundesregierung einzuhalten, und doch machte mir die wilde Truppe der Alternativen deutlich, wie etabliert ich selbst lebte und dachte, während ich mir vergleichsweise unkonventionell vorkam. In Bonn gehörte dazu ja nicht viel. Aber wenn der Abgeordnete Joseph Fischer im Plenum krähte: "Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch", dann war das schon ein anderer Verstoß gegen die Gebräuche des Hohen Hauses, als wenn ich mich ohne Krawatte auf die Pressetribüne setzte. Andererseits mußte ich mir nur mal ein bis zwei Stunden lang eine der öffentlichen Fraktionssitzungen der Grünen zumuten, um wieder den Segen eines Mindestmaßes an zivilisierten Umgangsformen würdigen zu können. Die Brutalität, mit der die Freundinnen und Freunde sanfter Friedfertigkeit unter dem Deckmantel von Wahrheit und Klarheit aufeinander eindroschen, erfüllte bisweilen den Tatbestand des versuchten Totschlags. Das half gegen jede Versuchung, sich den Neuen ungebührlich zu nähern.

Klar, daß sich dieser Kanzler als selbst ernannter Verteidiger von Recht und Ordnung durch den Aufstieg solch wilder Figuren wie Joschka Fischer oder Daniel Cohn-Bendit in die demokratischen Institutionen moralisch-politisch zum Widerstand herausgefordert fühlte. Schon als er 1973 in der Bonner Beethovenhalle zum CDU-Vorsitzenden gewählt worden war, hatte er, wie später noch oft, drohend "eine andere Republik" heraufziehen sehen. Mitte 1983 hieß es in der vom Kohl-Gefährten Bruno Heck herausgegebenen Streitschrift Die politische Meinung unter der Überschrift "Hitler, Bonn und die Wende":

Die Rebellion von 1968 hat mehr Werte zerstört als das Dritte Reich. Sie zu bewältigen ist daher wichtiger, als ein weiteres Mal Hitler zu überwinden.

Diese Wende hatte Helmut Kohl im Sinn, als er zu Beginn seiner Kanzlerschaft ein anderes "geistig-moralisches Klima" ankündigte. Ein Modell stand ihm klar vor Augen: Es war die Bonner Republik seines Vorbildes Konrad Adenauer.

In die waren Helmut Kohl, der als Kanzler und CDU-Parteichef den kommenden Jahren seinen ganz persönlichen Stempel aufdrücken sollte, und seine Jahrgangsgruppe hineingewachsen. Sie fielen als Jugendliche nicht auf. Sie spurten. Zu ihrer Schul- und Studentenzeit gaben die Flakhelfer und jungen Soldaten den Ton an, später die spektakuläre 68er-Generation. Natürlich waren sie Kinder des Kalten Krieges. Doch als eine eigenständige Generation mit gemeinsamen, sie von ihren Vorgängern und Nachfolgern unterscheidenden Erfahrungen und Prägungen, begannen sie sich erst wahrzunehmen, als die meisten von ihnen 1998 und 2002 aus der aktiven Politik ausschieden. Aber selbst da noch gaben sie ein seltsam uneindeutiges Bild ab, galten den einen als letzte Kriegsgeneration und den anderen als erster Nachkriegsjahrgang.

Als eine "vergessene Generation" hat die Journalistin Sabine Bode sie beschrieben – vergessen von ihrer Umwelt, weil sie selbst vergessen wollten und deshalb schwiegen über die prägendste Zeit ihres Lebens, über ihre frühen Jahre, die gekennzeichnet waren von Bombenhagel, Hunger und Flucht. Sie jammerten nicht. Sie nannten die Schrecken ihrer Kindheit im Nachhinein "normal" – so war es eben. Die Scham über die Elterngeneration, die Hitler an die Macht gebracht hatte, und die eigenen Traumata durch Kriegsgewalt und Vertreibung ließen die Heranwachsenden zwar handeln und auch politisch aktiv werden – aber der Mund blieb den meisten lange verschlossen.

Der ehemalige Verteidigungsminister Rupert Scholz, Jahrgang 37, erstarrt geradezu körperlich, wenn er über seinen Vater befragt wird, der in Stalingrad als Offizier fiel, als der Junge knapp sieben Jahre alt war. Und Bremens früherer Bürgermeister Hans Koschnick, Jahrgang 29, beschreibt seine Kriegskindheit als "ein schlichtes Durchstehen, nicht selten auf sich allein gestellt". Koschnicks Eltern hatten schon vor 1933 massiv gegen Hitler Front gemacht, die Nazis rächten sich mit Gefängnisstrafen, Zuchthaus und Konzentrationslager. "Ich wurde von den Großeltern erzogen, ohne wirklich zu begreifen, warum ich bis zu meinem zehnten Lebensjahr ohne die Fürsorge der Eltern auskommen mußte", beschrieb Koschnick diese Zeit. Den Krieg erlebte er zunächst als "Kinderlandverschickung", dann folgten Fliegeralarme, Bunkeraufsuchen, Trümmerräumen, am Ende "Schanzen" und sogar Kampfeinsatz mit dem Reichsarbeitsdienst. "Das alles prägte mich in besonderer Weise" – und gab ihm viele Fragen mit auf den Lebensweg, vor allem die, warum die Erwachsenen von sich aus gar nicht oder nur selten über die Kriegszeit sprachen. Koschnick:

War es bei den damals für die Familien Verantwortlichen nur der Wunsch, ihre eingekapselten Traumata der Zeiten von Not, Vertreibung und Schrecken nicht aufbrechen zu lassen, oder wollte man den Kindern Belastungen, Kenntnisse oder Erfahrungen ersparen, die das eigene Leben so bitter beeinflußt hatten?

Entsprechend zurückgenommen, emotional gebremst und sachorientiert ist diese Generation der Kriegskinder, zu der ich auch gehöre, mit dem Leben und auch mit der Politik umgegangen. Von ihrem sozialdemokratischen Vater Paul Nevermann hat die frühere Ministerin Anke Fuchs, Jahrgang 37, gelernt, "daß man die Politik nie an sein Herz herankommen lassen darf". So habe ich Journalismus gelernt, wir nannten das Objektivität. Und wenn uns schon was zu Herzen ging, dann durften wir uns das auf gar keinen Fall anmerken lassen.

Mit Jürgen Schmude, Jahrgang 36, ein Jahr älter als ich, habe ich darüber oft geredet. Als er noch Bildungs- und später Justizminister bei Helmut Schmidt war, heftete ich mich auf seine Spuren, weil ich einfach nicht glauben wollte, daß er "auch wieder nur so’ n Technokratenarsch" sei, wie ein Juso-Genosse behauptete. Das bestätigte sich, und ich hielt ihn eine Weile sogar für eine Art politisches Wunder, weil alle gut über ihn redeten. Keine Skandale, keine Entgleisungen, keine Enttäuschungen. Allerdings auch nichts Aufregendes und nichts Anregendes. Als Person schien der fast durchsichtig bleiche Mann nur die Projektion von anderen zu sein: "Notar des Kanzlers", "Schützling Wehners" und "Heinemanns Erbe".

So wollte er es haben: Die Sache ist alles, die Person nichts. Nur nicht den Kopf herausstrecken, nur kein Risiko, nur keine Kenntlichkeit. Er berechnete jede Äußerung, jede Situation, jede Stimmung, jeden Gesprächspartner. Erfolg durch kalkulierte Zurücknahme der eigenen Person, "tranig wirkende Gelassenheit", so Schmude über Schmude, anstelle von Emotionen – "Karriere durch Anpassung", schrieb ich.

Mir kam das nur allzu bekannt vor. Hatte ich mich nicht als Journalist zunächst so versteckt wie Schmude als Politiker? Gerade war ich alt genug gewesen, mir in der Welt außerhalb der Familie einen Platz zu suchen, da brach 1945 alles zusammen, alle Werte und alle Ordnungen, an die zu glauben ich gelernt hatte. Und alle väterlichen Leitfiguren hatten Unrecht. Jürgen Schmude war es ähnlich ergangen, nur viel drastischer. Als Sohn eines Millionärs und einer leistungsheischenden Mutter war er im ostpreußischen Insterburg aufgewachsen, "der feine Knabe mit dem Pelzkragen", wie er selbst spottete. Aber Ende 1944 ging diese Welt zu Bruch, mußte die Familie ihre zehn Geschäfte und alle bürgerliche Herrlichkeit zurücklassen. "Mein Selbstverständnis, das der Familie und meiner gesamten gesellschaftlichen Umwelt zerbrachen damals", erinnerte er sich als Minister.

Keine Frage, wir waren eine tüchtige Generation, unauffällig, nicht larmoyant und ausdauernd. Doch aus eigener Erfahrung und Gesprächen mit vielen Gleichaltrigen habe ich den Eindruck gewonnen, daß die meisten von uns eine tiefsitzende Störung mit sich herumgeschleppten, die es uns schwer machte, in der Welt, wie sie ist, zu Hause zu sein und eine lebendige Beziehung zu uns selbst und zu unserer Umwelt zu entwickeln, zumal in der Adenauer-Zeit das Unglück der frühen Jahre auch noch zusätzlich durch die staatlich angeleitete Flucht vor der eigenen Vergangenheit verdeckt worden war.

Die verheerenden Wirkungen dieser Haltung wurden 1988 sichtbar, als der christdemokratische Bundestagspräsident Philipp Jenninger, Jahrgang 32, mit einer mißglückten Rede die Öffentlichkeit erschreckte und unfreiwillig seine politische Karriere zerstörte. In einer Sondersitzung des Bonner Parlaments zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome, die bei den Nazis "Reichskristallnacht" hießen, erweckte er durch die Emotionslosigkeit seines Vortrags den irrigen Eindruck, als sei er von den "staunenserregenden Erfolgen" Adolf Hitlers noch heute fasziniert. Dabei hatte Philipp Jenninger, Sohn eines schwäbischen Buchdruckermeisters, als 12-jähriger Junge vom Vater den Lebensauftrag erhalten, sich dafür einzusetzen, "daß so etwas über unser Land nicht noch einmal hereinbricht". Da hatten die Nazis gerade den kleinen katholischen Verlag geschlossen, in dem Vater Jenninger das Geld für die Familie mit acht Kindern verdiente. Jetzt mußte er als Fabrikarbeiter für sie malochen. Zwei seiner Söhne fielen im Krieg.

Niemand, der Jenninger kannte, bezweifelte, daß er die Mahnung des Vaters ernst nahm. Doch in der "Atmosphäre des Schaffens und Wühlens", die, wie er sagte, sein strebsames Jura-Studium in Tübingen bestimmt hatte, war sein emotionaler Reifeprozeß wohl zurückgeblieben. Und so scheiterte er im Bundestag an seiner totalen Unfähigkeit zu trauern. Sein roboterhafter Auftritt, die völlige Abwesenheit eines persönlichen Gestus, verwischte alle Nuancen. Was Zitat war und was eigene Aussage, wo Anführungsstriche im geschriebenen Text Distanz signalisierten – das alles ebnete der leblose Sprechautomat Jenninger ein. Vergeblich suchten die Fernsehzuschauer einen Ton des Mitgefühls mit den Opfern, einen Anflug von Schrecken "über den politischen Triumphzug" des Diktators, einen Ausdruck der Trauer über das Versagen so vieler Anständiger.

Für diese Generation war das Kriegsende wirklich eine "Stunde null", wie Helmut Kohl – bis zu jenem Tag des Versagens ein herzhafter Kumpan Jenningers – nicht müde wurde zu behaupten. In ihrer Jugend ohne Jugend flüchteten sie, wie Hans "Johnny" Klein, Jahrgang 31, vor den sowjetischen Truppen und einem "mordenden Mob" aus ihren Heimatorten im Osten, vorbei an toten Soldaten und toten Frauen und Kindern, die im Sudetengau "auf der Flucht erschlagen worden waren"; wurden, wie Ignaz Kiechle, Jahrgang 30, auf dem Acker im heimischen Allgäu von Tieffliegern beschossen; wie Norbert Blüm, Jahrgang 33, und Manfred Wörner, Jahrgang 34, im Luftschutzkeller verschüttet; gerieten, wie Walter Wallmann, Jahrgang 32, im eigenen Haus in die Hauptkampfzone. "Der Bombenkrieg", schrieb Peter Glotz, Jahrgang 39, "ist ein anderes Kindheitserlebnis als die Eigenheimwelle." Bis heute fühlt sich Roman Herzog, Jahrgang 34, verfolgt "vom Horror beim Klang der Sirenen".

Das Inferno von Dresden am 13. und 14. Februar 1945 überlebten zwei künftige Bonner Politiker als Kinder in den Luftschutzbunkern. Mit Mutter und Bruder duckte sich der 13-jährige Gerhart Baum – später FDP-Innenminister in der Regierung Schmidt – unter den Angriffswellen der britischen und amerikanischen Bomberverbände. Er mußte mit ansehen, wie man später Zehntausende Menschenleichen aufeinander schichtete und verbrannte. Mit den beiden Kindern und den Resten ihres großbürgerlichen Haushalts auf einem Leiterwagen flüchtete die Mutter nach Bayern. Der Vater war gefallen. Der 7-jährige Andreas von Bülow – unter Schmidt SPD-Forschungsminister – konnte sein Cello retten und mitnehmen, als seine Mutter mit Kinderwagen und zwei Fahrrädern die Familie aus dem brennenden Dresden über Thüringen nach Heidelberg lotste.

Viele Jungen gerieten in die sie überfordernde Situation, "der einzige Mann in der Familie" oder der "übrig gebliebene Bruder" zu sein wie der 5-jährige Theo Waigel, als 1944 sein 18-jähriger Bruder in Lothringen sein Leben ließ. Gegen den Vater, der nach dem Krieg fast depressiv wurde, lehnte sich Sohn Theo dann auf. Er wollte nicht alles schwarz in schwarz sehen.

Vielleicht war das schon die ganze Philosphie dieser gebrannten Kinder. "Nicht jede Generation wird so früh gebrannt, auch geschunden, auch gerettet, wie diese Generation", hat Günter Gaus, Jahrgang 29, einmal gesagt. "Sie war vom Krieg noch mitgeprägt, aber nicht in ihm ausgeglüht worden." Er glaubt, daß seine Generation an einer "gnädigen Pause mitgewirkt hat, in der viel Gutes für viele Menschen möglich wurde, und beide Staaten in Deutschland zu den Gewinnern auf der Welt gehörten".
Sie waren Manager, keine Kämpfer wie die Ex-Soldaten vor ihnen und keine Spieler, wie die Jüngeren nach ihnen. Sie gingen auf Nummer sicher. Narben von Niederlagen, die sie als Menschen für Menschen glaubwürdig machen würden, kerbten ihre Gesichter nicht. Nur die Anstrengung, die es kostete, jedem Risiko aus dem Wege zu gehen. Gefühle lassen sich aber nicht nur nicht darstellen, sie fehlen auch tatsächlich, wenn man ein Leben lang daran gearbeitet hat, sie zu unterdrücken. Allenfalls in den Primitivformen von Selbstmitleid und Wut brachen sie bei den angeblich "Skeptischen" bisweilen noch durch. Sie trauten sich einfach nicht, die Damen und vor allem die Herren der "skeptischen Generation", sie trauten sich nicht im doppelten Sinne des Wortes. Was ihnen fehlte, war nicht ein dramatisches Kriegsschicksal, sondern der Mut, überhaupt Schicksal zuzulassen. Selbstkritisch notierte Peter Glotz:

Unser Versuch, unverletzlich zu erscheinen und uns an die Gebärden unserer Wähler anzupassen, verwandelt uns in einen Maskenzug.

Ein Zufall war es nicht, daß so ungewöhnlich viele dieser Altersgruppe in Schlüsselpositionen der deutschen Politik gelangten und sich dort ungewöhnlich lange hielten. Es waren eben nicht allzu viele übrig geblieben von den Soldaten-Jahrgängen, die den politischen Nachwuchs hätten bilden können. Schon zur Zeit der Großen Koalition 1966 fielen die jungen CDU-Abgeordneten Egon Klepsch, Jahrgang 30, und Manfred Wörner, Jahrgang 34, im Bundestag durch ihre Rührigkeit auf. Sie führten die Gruppe 46 an, eine Arbeitsgemeinschaft von 46 Volksvertretern der Union, die alle jünger als vierzig waren und gegen die Alten aufmuckten:

Jedes Wirtschaftsunternehmen, das wie der Bundestag arbeiten würde, wäre längst pleite.

Und unter den Kandidaten, die 2004 für das Amt des Bundespräsidenten öffentlich gehandelt wurden, waren immer noch fünf Aspiranten aus dieser Kriegskinder-Generation: die Liberalen Cornelia Schmalz-Jacobson, Jahrgang 34, Klaus Kinkel, Jahrgang 36, und Wolfgang Gerhardt, Jahrgang 43, sowie Rita Süssmuth, Jahrgang 34, und Klaus Töpfer, Jahrgang 38, von der Union.

Die Sozialdemokraten dieser Jahrgänge und die Linksliberalen haben in den Siebzigerjahren regiert – unter Willy Brandt und Helmut Schmidt: Neben Jürgen Schmude und Andreas von Bülow waren das die Genossen Dieter Haack, Rainer Offergeld, Volker Hauff, Anke Fuchs, Gunter Huonker, Klaus von Dohnanyi, dazu Gerhart Baum aus der FDP. Nach der politischen Wende 1982 wurden sie von ihren Altersgenossen Norbert Blüm, Wolfgang Schäuble, Heiner Geißler, Heinz Riesenhuber, Kurt Biedenkopf, Rita Süssmuth, Rudolf Seiters, Theo Waigel, Martin Bangemann und Klaus Kinkel abgelöst. Mochten in der Regierungszeit des Kriegsveteranen Schmidt die Jüngeren vorwiegend nur mitgelaufen sein – in der Kohl-Periode prägte ihre Mentalität das Klima der Bonner Republik. Im Bundestag saßen nach der Wahl 1983, die Helmut Kohl als Kanzler bestätigte, 212 Abgeordnete der Geburtsjahrgänge 1930 bis 1939.

Natürlich waren die individuellen Unterschiede beträchtlich. Die meisten Sozialdemokraten und linken Liberalen stammten entweder aus Familien, in denen die Väter gegen Hitler und die Nazis waren, oder sie hatten sich von ihren Nazi-Eltern abgewandt. In den Erzählungen der Kohl-Minister tauchten hingegen zumeist Väter oder ältere Brüder auf, die auch nach dem Ende des Nazi-Reiches noch wegen ihrer Rolle im Krieg als Autoritäten, wenn nicht gar als Helden verehrt wurden. Zweifel an Pflicht und Gehorsam, an Staat und Nation, an gottgewollten Ordnungen von oben nach unten schienen etwa Rupert Scholz nie befallen zu haben. Doch so unterschiedlich die Politiker dieser jugendlichen Kriegs-Jahrgänge individuell auch sein mochten – fast alle ähnelten sich darin, daß sie auf eine seltsam zeitlose Weise zugleich jünger wirkten, als sie tatsächlich waren, und ältlicher als die Wehners und Höcherls, die Straußens und Brandts es je werden konnten. Und ihre Erinnerungen klingen alle, als seien sie Vervielfältigungen eines gemeinsamen Lebensdrehbuches.

Ein deutscher Typus

Auch für Johannes Rau, Jahrgang 1931, der im Jahr 1986 gegen den um ein Jahr älteren Helmut Kohl als SPD-Herausforderer im Kampf um das Kanzleramt antrat, blieb der Krieg die negative Folie: "Bestimmte Erinnerungen bleiben." Zum Beispiel die Bombardierung Wuppertals im Mai 1943, wohl der schlimmste Angriff, den es bis dahin in Deutschland gegeben hatte.

Das brannte sich natürlich ein; man hat Leichen gesehen, zum ersten Mal im Leben. Das waren schreckliche Bilder. Zum Teil hatten die Körper gar keine menschliche Größe mehr. Man hatte den Asphalt gesehen, in dem die Füße der Flüchtenden abgedrückt waren. Man hatte Häuser zusammenstürzen sehen. Ich weiß noch, daß ich mit Schuhen im Wasser stand und daß sie sich auflösten; sie waren nicht aus Leder, sondern aus irgendeiner Pappe.

Dann kamen die Amerikaner. Der Krieg war zu Ende, die Not nicht. "Wir haben gehungert", erzählte Rau, "aber nicht aus individueller Armut, sondern wie fast alle in den Jahren 1945 bis 1948, als es nichts gab. Wir gehörten nicht zu denen, die – wie begüterte Leute – etwas zum Tauschen hatten." Im Herbst 1948 verließ er das Gymnasium vor der Mittleren Reife und begann eine Verlagsbuchhändlerlehre. Er mußte morgens den Ofen heizen, dann mit dem Handwagen zur Post fahren und verdiente im ersten Jahr 35 Mark im Monat. Mit neunzehn erlebte er Gustav Heinemann, der ihn begeisterte. Zwei Jahre später wurde er in dessen Gesamtdeutscher Volkspartei aktiv, und schon 1952 war er Kreisvorsitzender in Wuppertal. Fortan ging es für Johannes Rau in der jungen Bundesrepublik nur noch voran.

Allerdings war die Partei des verehrten Gustav Heinemann laut Rau "kein Verein, in dem einer was werden konnte". Der engagierte junge Mann malte seine Wahlplakate selbst und hängte sie eigenhändig an die Bäume. Als die GVP bei der Bundestagswahl 1953 nur auf 1,2 Prozent kam, vermutete Rau einen Irrtum: "Ihr müßt das Komma weglassen." Im Mai 1957 löste die Partei sich auf. Rau trat – wie Heinemann, Eppler und Schmude – der SPD bei. "Der Wechsel ist uns schwer gefallen", bekannte er, "und zwar aus politischen und stilistischen Gründen. Wir waren Bürgerliche im Lebensgefühl."

Im Juni 1958 errang Johannes Rau in Wuppertal sein erstes Landtagsmandat. Zum Fraktionschef wählten ihn die SPD-Abgeordneten 1967, da war er sechsunddreißig Jahre alt. Er gab seinen Verlagsjob auf und wurde Berufspolitiker. Nach einem knappen Jahr als Oberbürgermeister von Wuppertal berief ihn Ministerpräsident Heinz Kühn 1970 als Wissenschaftsminister ins Düsseldorfer Kabinett. 1977 wählten die Genossen Johannes Rau gegen den favorisierten Friedhelm Fahrtmann zum Landesvorsitzenden, ein Jahr später war er Ministerpräsident. Bei den Landtagswahlen 1980 erzielte die SPD in Nordrhein-Westfalen unter Raus Führung zum ersten Mal die absolute Mehrheit, ein Erfolg, den Rau im Mai 1985 wiederholen und noch ausbauen konnte. Aus dem "Predigersohn aus Wuppertal", wie er sich selbstironisch nannte, war ein sozialdemokratischer "Menschenfischer" geworden. Das machte ihn damals geradezu zwangsläufig zum Kanzlerkandidaten.

Sein Gegenkandidat, der amtierende Kanzler Helmut Kohl, Sohn eines Steuersekretärs aus Ludwigshafen, gehörte natürlich auch längst zu den Gewinnern der Nachkriegsgeneration. Als der 17-jährige Pennäler drei Jahre vor dem Abitur 1947 in die CDU eintrat, konnte das wahrlich niemand voraussagen. Daß er dann schon als Student im Vorstand der pfälzischen Christdemokraten saß, verdankte er der harten Schule des Krieges und der Nachkriegszeit. In gesetzloser Zeit hatte sich der halbsoldatische Kinder-Kämpfer quer durch Deutschland geschlagen, von Berchtesgaden bis Ludwigshafen. Helmut Kohl sah sich als Überlebenssieger an der Heimatfront, einer, der sich auskannte mit den Tricks und Tücken des Daseins. Auch für ihn gehörten Trümmer und Ruinen zur realen Welt seiner Kindheit:

Ab 44 habe ich schon eine sehr konkrete Erinnerung. Wir hatten dauernd Fliegerangriffe in Ludwigshafen. Ich war beim Schüler-Löschtrupp – und das war keine Kindheit, wie man sie sich heute bei einem 14-Jährigen vorstellt. Wenn Sie Tote nach einem Fliegerangriff geborgen haben, sind Sie kein 14-Jähriger mehr.

Dann kam sein 18-jähriger Bruder bei einem Bombenangriff um, und der 15-jährige Helmut Kohl wurde im Wehrertüchtigungslager von Berchtesgaden am 20. April 1945 auf den Führer vereidigt. Einer, der sich dem entziehen wollte, "ein Bub", ein oder zwei Jahre älter, hing an einem Baum mit einem Schild um den Hals: "Ich bin ein Vaterlandsverräter". Kohl:

Es gab ja solche Wahnsinnstaten am Ende, das hat mich schon geprägt.

Unvergessen auch die Hungerzeit während der französischen Besatzung. Nie mehr wurde er "dieses schreckliche, ausweglose Gefühl" los, "nicht satt zu sein, und die depressive Grundstimmung, die daraus kommt". Das Gymnasium konnte einen Schüler mit diesem Hintergrund nicht mehr voll fesseln. Kohl begann politisch tätig zu werden; mit siebzehn erlebte er Kurt Schumacher, dessen politische Leidenschaft ihn faszinierte, später Adenauer – und fortan ging es immer aufwärts.

Für den nur wenig jüngeren Journalisten Jürgen Engert ist Kohl ein "deutscher Typus". Sein Kennwort hieß "organisieren". Kohl zählte zu jenen Kindern, die der Krieg zu Halb-Erwachsenen machte. Sie wußten sich zu behaupten. "Wir haben gestohlen wie die Raben", erinnert er sich, "aber wir haben gewußt, daß wir stehlen. Wir haben es halt aus Hunger gemacht und gingen nicht zur Beichte." In der gesetzlosen Zeit unmittelbar nach dem Waffenstillstand bestimmte er aus eigenem Ermessen, was richtig und falsch, was gut und böse war. Engert über diesen Menschenschlag:

Er knüpfte ein Beziehungsgeflecht. Er wußte, wo was zu holen war. Er hatte den Überblick. Er war das spezifische Produkt einer spezifischen Zeit.

Helmut Kohl war immer der Jüngste auf der nächsten Karrierestufe. 1959 zog er in den Mainzer Landtag ein, mit dreiunddreißig Jahren war er Fraktionsvorsitzender, mit fünfunddreißig CDU-Landesvorsitzender, mit neununddreißig stellvertretender Bundesvorsitzender. Ein Angebot Kurt Georg Kiesingers, im Bonner Kabinett der Großen Koalition Innenminister zu werden, lehnte Kohl 1968 ab. Am 19. Mai 1969 wurde er Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. "Wir erleben gegenwärtig, daß nicht nur die sogenannte Großväter-Generation abtritt, sondern gleichzeitig eine Ablösung der Väter-Generation erfolgt", triumphierte er. Ab Juni 1973 führte er als Bundesvorsitzender die CDU. "Ein Filzpantoffel-Politiker", höhnte Franz Josef Strauß. Doch der Pfälzer überflügelte auch ihn. Nach einer knapp verlorenen Bundestagswahl 1976 gegen Helmut Schmidt amtierte Kohl in Bonn sieben Jahre als Fraktionsvorsitzender, bevor er im Oktober 1982 ins Kanzleramt einzog.

Für den "schwarzen Riesen" aus Mainz, den Starken und Selbstbewußten unter den Verunsicherten, den Großen unter all den Kleinen, mußte es eine Selbstverständlichkeit gewesen sein, die Herrschaftsmuster seiner wilden Schülerzeit in die Politik hinein zu verlängern. Diese angelernte Egozentrik trug Kohl durch sein gesamtes politisches Leben. Immer mehr gewöhnte er sich an, sich als eine Art Retter zu betrachten. Für seine Ziele suchte er sich zunächst in der Jungen Union Kampfgefährten gegen die Alten, dann heuerte er intellektuelle Talente für sein Mainzer Kabinett an, schließlich lockte er Erfolgstypen aus Wissenschaft und Wirtschaft in die Politik: Roman Herzog, Kurt Biedenkopf, Richard von Weizsäcker. Kohl agierte wie ein Headhunter. Er ließ sich Namen nennen und holte dann über verschiedene Mittelsmänner Einschätzungen ein.
So schuf Kohl in seinen mehr als fünfzig Unionsjahren ein verläßliches System von Verbindlichkeiten, das er auch nach seiner Kanzlerzeit weiterpflegte. Er wählte vorwiegend solche Gefährten, von denen er sich Hilfe für die eigene Karriere versprach. Kohl-Biograph Klaus Dreher:

Sie mußten sich in die Gruppe einordnen, keinen übertriebenen Ehrgeiz entwickeln, verschwiegen und diskret und außerdem zuverlässig sein.

Über die Jahre entstand auf diese Weise ein Netzwerk von gleichgesinnten und ähnlich geprägten Männern in Schlüsselpositionen des politischen Lebens der Bundesrepublik, die den Ton des Landes bestimmten. Es hat deshalb wohl seine Berechtigung, die 16-jährige Regierungszeit des Pfälzers als Ära Kohl zu charakterisieren, wie es nicht nur seine Propagandisten tun.

Helmut Kohl verkörperte – noch dazu in unübersehbarer Gewichtigkeit – die Eigenheiten seiner Generation, die ideologischen Glaubenssätze der Adenauer-CDU und den rücksichtslosen Durchsetzungswillen des Machtmenschen. In ihm bündelten sich die Kraftlinien der Nachkriegsjahre. Geleitet von seinem emotionalen Gedächtnis, reagierte dieser Kanzler weit mehr mit Gefühlen als mit abstrakter Logik auf Geschehnisse, Argumente, Menschen und Daten. Seine Fähigkeit, die Welt in Bildern und Szenen wahrzunehmen, diese zu speichern und bei Bedarf – angereichert mit eigenen Botschaften – systematisch als Weltdeutungen und Herrschaftssignale unter die Leute zu bringen, verschaffte ihm in der sich entfaltenden Medienwelt einen beängstigenden Wirkungsgrad. Er teilte die Gefühle der Mehrheit seiner Mitmenschen, wußte, daß seine Altersgenossen sich wie er selbst nach einer harmonischen Welt des Wohlstands und der Sicherheit sehnten, und traute sich, seine eigenen Wünsche und Ambitionen als verbindliche Normalität zu propagieren. Daß der Mensch hinter dem Politiker durch die TV-Inszenierungen zunehmend ins Interesse der Öffentlichkeit rückte, das Private und Amtliche sich immer mehr vermischten, kam Kohls Neigung zur assoziativen Bilder- und Gefühlssprache sehr entgegen. Um seine Empfindungen zu verdeutlichen, lud er seine Handlungen mit nonverbalen Botschaften auf und fand, daß "die ja mehr sagen, als man mit Wörtern ausdrücken kann".

Wirklichkeitseinbruch Tschernobyl

Eine solche Botschaft war dringend gefragt, als im Mai 1986 die Deutschen fast panisch auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl reagierten. Das war ein Realitätseinbruch, wie ihn der Kanzler bei seinen Bemühungen, die Wende zu einer heilen Welt der Vergangenheit zu beschwören, nun ganz und gar nicht gebrauchen konnte. "Wir stellen Betroffenheit und Angst von einer Art fest, wie sie noch nie bekannt war", konstatierte der Gießener Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter; eine veränderte "gesellschaftliche Stimmungslage" sei zu erwarten, "Bedrücktheit, Mißmut, Gereiztheit", bis hin zu massenhaft "unguten Träumen".

Im oberfränkischen Dorf Schneckenlohe bei Coburg saß Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle in einem überfüllten Festzelt der CSU und jammerte mit fast tonloser Stimme und tieftraurigem Blick "über diese blöde Strahlerei", die den Bauern gerade noch gefehlt hätte. Die Blasmusik hatte ihn mit der schmetternden Falschmeldung empfangen: "Wohlauf, die Luft geht frisch und rein." Das machte ihn noch unfroher. Denn gerade hatte er auf einem gespenstischen Hubschrauberflug über das frühlingssonnige Deutschland erlebt, daß offenbar niemand der frischen und reinen Luft traute. Von Bonn über Hildesheim nach Coburg und später weiter nach Kempten im Allgäu hatte der Minister, den ich begleitete, in der ersten Maiwoche 1986 als Folge der Angst vor der radioaktiven Strahlung überall das gleiche Bild wahrnehmen müssen: ein leeres Land – keine Bauern auf den Feldern, keine Kinder auf den Spielplätzen, keine Spaziergänger in den Parks, keine Wäsche auf der Leine, keine Kühe auf den Weiden.

Der Schock des 1300 Kilometer Luftlinie entfernten atomaren Supergaus hatte die Deutschen in Schrecken bis zur Hysterie versetzt. Die Fernsehbilder von Autos waschenden Strahlenschutz-Trupps, von Bergen unverkaufter Radieschen und welkendem Spinat auf den Wochenmärkten, von überfüllten Flugzeugen nach Mallorca, wohin Familien flüchteten, rückten den Bundesbürgern die Risiken ins Bewußtsein, die sie – trotz aller Proteste gegen Kernkraftwerke und Wiederaufbereitungsanlagen – seit der vagen Furcht vor dem Atomtod in den Fünfzigerjahren weitgehend verdrängt hatten.

Zu einem bezeichnenden Ausbruch kam es während einer Pressekonferenz von Gerhard Schröder und Johannes Rau in Hannover, die beide damals die Kernkraft noch für eine saubere Lösung künftiger Energieprobleme hielten. Als der niedersächsische SPD-Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten ankündigte, er werde das Thema Tschernobyl aus dem Wahlkampf heraushalten, war es mit der Fassung einer Journalistin vorbei. Sie fände das "entzückend", höhnte sie, und dann brach es schluchzend aus ihr heraus:

Aber wir sterben alle. Kapieren Sie das denn nicht?

Hilflos versuchte Wolfgang Clement, der als SPD-Sprecher die Veranstaltung leitete, die Frau zu beruhigen. Hinterher gestand er, daß seine Frau und seine Töchter beim Frühstück fast dieselben Befürchtungen ausgesprochen hätten.

Beflügelt wurden die Ängste, ja, Alpträume, durch einen beispiellosen Wirrwarr behördlicher Maßnahmen, Anordnungen und Empfehlungen. Es war eine krisenhafte Situation, und die Bürger fühlten sich von ihren Regierenden ohne Durchblick im radioaktiven Regen stehen gelassen. Daß Innenminister Friedrich Zimmermann die Situation mit beschwichtigenden Erklärungen zu entschärfen versuchte, erschien dem Bundeskanzler nicht ausreichend. Helmut Kohl liebte zwar das Wort Umwelt nicht, wie er einmal einräumte, er sprach stattdessen lieber von der Schöpfung, doch jetzt richtete er ein Umweltministerium ein und betraute Walter Wallmann mit dem Job.

Nicht, daß der Jurist Wallmann ein leidenschaftlicher Umweltschützer gewesen wäre, oder der Kanzler sich mit der Anfälligkeit von Kernkraftwerken oder der ungeklärten Entsorgung befaßt hätte – es ging Helmut Kohl allein um den Eindruck von Handlungsfähigkeit. In dieser Situation war Wallmann, der im Herbst 1982 eine Landtagswahl und 1985 eine Kommunalwahl in Hessen verloren hatte, für den Regierungschef der richtige Mann. Kohl wußte, als er Wallmann nach Bonn berief, daß sich hinter dessen ständiger Forderung nach einer "Industriegesellschaft mit menschlichem Gesicht" in Wahrheit dieselbe Haltung verbarg, die er selbst propagierte: Weiter so, Deutschland. Er ließ dem Kandidaten keine Chance, das Angebot zu überdenken. Kohl:

Ich sage dir, du hast keinen Ermessensspielraum. Ich sage dir das als dein Parteivorsitzender und Bundeskanzler.

Wallmann hätte sowieso nicht abgelehnt. Man mußte ihn nur das Wort "Ausstieg" sagen hören, um das zu wissen. Der Sohn eines christlich-konservativen Lehrers aus der niedersächsischen Kleinstadt Uelzen sprach dieses Keulenwort von Grünen und Alternativen nie einfach so aus, er erbrach es. Denn der Ausstieg, den die Sozis und Grünen meinten, so erfuhren Walter Wallmanns alarmierte Zuhörer, war ja nicht nur der "aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie"; aus allem, was dem CDU-Politiker heilig war, wollten sie aussteigen: aus der Automobilindustrie, aus der chemischen und der pharmazeutischen Industrie, aus dem Straßenbau, ja, aus der modernen Informations- und Kommunikationsgesellschaft, aus der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft und am Ende gar "aus unserer Zivilisation". Stets war bei Wallmann ein Unterton persönlichen Schreckens unüberhörbar. Merkte denn keiner, was "Ausstieg" bedeutete? "Verweigerung" hieß das, "Abstieg", "Abkoppelung", "Isolierung" – lauter existenzielle Horrorwörter für den erfolgreichen Karrieristen aus der Lüneburger Heide, der ein Leben lang zwanghaft gesucht hatte, was er jetzt als Bundesminister für die Bonner Republik propagierte: "Neue Einstiege".

Es gehörte zum Stil und zur Art Wallmanns, daß er alle Rollen perfekt darbot. Als Oppositionspolitiker war Konfrontation unumgänglich, da war er Partei. Als Oberbürgermeister, als Minister, als Ministerpräsident in Hessen wollte er für alle da sein; "Diener des Ganzen" nannte er das mit salbungsvollem Pathos. Seine Mitmenschen konnten sich die Botschaften aussuchen, die ihnen der geschmeidige Rollenspieler anbot. Es war für jeden etwas Gefälliges dabei.

Damit war Wallmann – wie nahezu alle Politiker seiner Generation, mit Helmut Kohl und Johannes Rau an der Spitze – ein Musterbeispiel des politischen Typus "Amtsinhaber". Amtsinhaber waren die Herren nicht nur in dem Sinne, daß sie Regierungen führten oder mindestens Ministerien, und daß sie gewählt worden waren von den großen Mehrheiten in ihren Wahlgebieten. "Amtsinhaber" meint nach der Definition von Guy Kirsch und Klaus Mackscheidt auch einen bestimmten Politikertyp. Dessen Erfolg gründet – wie die beiden Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler 1985 in einer Abhandlung mit dem Titel Staatsmann, Demagoge, Amtsinhaber, darlegten – auf der Erwartung der Wähler, "daß er ihnen in seiner politischen Analyse ein Bild der Realität anbietet, in dem alle beunruhigenden und Angst machenden Elemente fehlen". Amtsinhaber können das überzeugend, weil sie sowohl alle psychosozialen Ängste ihrer Bürger teilen als auch deren dringlichste Wünsche. Sie sind wie die Mehrheit. Ihr Markenzeichen ist eine "überdurchschnittliche Durchschnittlichkeit". Was sie aber darüber hinaus auszeichnet, ist eine überdurchschnittliche Robustheit ihrer Abwehrmechanismen gegen das Eindringen all jener Schrecken und Verlockungen der Wirklichkeit, die das innere Gleichgewicht im Alltag zu gefährden drohen. Das befähigt sie, ihre Mitbürger zu beruhigen, Gefahren zu verharmlosen, Zweifel zu zerstreuen, Optimismus zu verbreiten. Und genau das wird von ihnen auch erwartet.

Mir hat diese Demokratie-Theorie damals schon deshalb eingeleuchtet, weil sie das parlamentarische System als eine Mischung aus sachlicher Diskussion und persönlicher Auseinandersetzung beschreibt. Damit schien sie mir näher an der von mir und meinen Kollegen täglich erfahrenen Lebenswirklichkeit als andere idealtypische Modelle, denen zumeist die emotionale Komponente fehlte. Denn Politik ist, nach Mackscheidt und Kirsch, nicht nur eine Auseinandersetzung über Sachen, sondern auch eine Auseinandersetzung von Menschen.

Gerade am Werdegang Walter Wallmanns hatte ich das mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Für mich war er als Prototyp der irrlichternden Kriegskindergeneration eine Art negative Vorbildfigur, und was er sagte, erschien mir sehr vertraut – auch ich stamme aus einer Kleinstadt in der Lüneburger Heide, bin in einem Beamtenhaushalt groß geworden und habe in Marburg studiert. Wallmann verkörperte einerseits die neue Leistungs- und Macherwelt, stellte ein Erfolgsmodell der technokratischen Fortschrittsgesellschaft dar. Andererseits klammerte er sich hartnäckig an das deutschnationale Traditionserbe aus dem bürgerlichen Elternhaus. Und so wie er – mit all diesen fast karikaturhaften Zügen von kleinstädtischer Angepaßtheit, vorauseilender Korrektheit und selbstverleugnender Erfolgswut bis in die Haarspitzen hinein – hätte auch ich werden können, wäre ich nicht durch meine Sucht lebensrettend aus der Bahn geworfen worden. Daß auch er Politik für eine Sucht hielt, räumte Walter Wallmann ohne Umschweife ein; dazu rauchte er gierig und arbeitete wie besessen.

Jedermann konnte den Preis erkennen, den das ständige "Ja"-Sagen kostete, wenn Walter Wallmann lächelte. Er öffnete sich nicht, er legte eine Freundlichkeitsmaske an, die dem Tatbestand der passiven Bewaffnung nahekam. Seine wachen blauen Augen kontrollierten derweil die Wirkung. "Gefühle gehören in die Familie und nicht in die Politik", fand Wallmann. Und der Grüne Tom Koenigs, der im Frankfurter Römer ein Jahr lang versuchte, den damaligen Oberbürgermeister in Wallung zu bringen, war am Ende sicher:

Die Person Wallmann gibt es gar nicht. Das ist eine Figur wie aus dem Wachsfigurenkabinett, die Zigarette ist das einzige, was an dem brennt.

Wie alle Kriegskinder war Wallmann mit einem verstümmelnden Blick auf die Welt herangewachsen. Hatte er – vom Krieg abgesehen – nicht eine wunderbare Jugend gehabt? Auch ich habe die Defizite meiner frühen Jahre erst später erkannt. Die vielzitierte "Pubertät der Republik" war auch die Zeit des eigenen, in der Rückschau unbeschwert erscheinenden Heranwachsens. Alles, was damals aufgebaut wurde, erschien besser als die kaputte Welt, die der Krieg hinterlassen hatte. Alle dunklen und belastenden Affekte wurden verdrängt. Und das geschah ausdrücklich im Sinne der Mehrheit der Bundesbürger. Kein Wunder, daß in der Politik der Bonner Republik der Typus des Amtsinhabers besonders gedieh.

Er dient seinen Wählern mit seiner Deutung von Wirklichkeit. Die krasse Realität ist für niemanden uneingeschränkt erfreulich. Für den Politiker aber, der gewählt wird, um den Bürgern ein möglichst erfreuliches Leben zu gestalten oder wenigstens vorzugaukeln, ist eine verunsichernde Realität besonders bedrohlich. Also versucht er, sie aufzuhübschen. So entwickelt sich eine wechselseitige Manipulation, mit der sich Politiker und Wähler in ihrer Gemütsruhe bestätigen. Wie in jeder Beziehung zwischen einem Süchtigen und seinen Angehörigen, Freunden oder Kollegen sind auch Politiker und ihre Wähler durch einen Prozeß des Leugnens aneinander gebunden. Der Politiker verspricht, weil er die Stimmen der Bürger braucht, um seine Position zu halten, mehr, als er verwirklichen kann. Die Wähler helfen ihm und erwarten dafür Gratifikationen.
Bei der Bundestagswahl 1987, als Johannes Rau den Kanzler Helmut Kohl herausforderte, hätte der SPD-Kandidat als Personifizierung der Thesen von Mackscheidt und Kirsch auftreten können. Für Helmut Kohl mit seinem "Weiter so, Deutschland" galt das natürlich sowieso. Für die Mehrheit der Bürger – all jener, die etwas zu verlieren hatten, seien es Eigentum oder Einkünfte, Privilegien, ihre Seelenruhe oder Aufstiegshoffnungen – erweckte der Kanzler den Eindruck, daß er alle mehr oder weniger deutlich sichtbaren Bedrohungen des Lebens in den Griff zu kriegen vermöge. Schließlich waren die Preise stabil, und die Kasse stimmte.

Und so ähnlich "weiter" wollte auch Johannes Rau, der sich das Land ausdrücklich nur "ein bißchen menschlicher, ein bißchen sozialer und ein bißchen gerechter" wünschte. "Es geht doch der Mehrheit der Menschen erfreulich gut", fand er. Sollte er etwa wollen, daß die Wirtschaftsdaten schlechter wären, nur um regieren zu können? Johannes Rau war nicht Franz Josef Strauß. Redlich sagte er im Wahlkampf: "Wir haben doch dieses Land in vier Jahrzehnten mit aufgebaut und können jetzt nicht die Bundesbedenkenträger der Republik sein."

Beim Katholikentag in Aachen trafen die Kanzleramtsbewerber von CDU und SPD am 13. September 1986 erstmals direkt aufeinander. Die Festversammlung brummelte schleppend den ersten Choral, da erschien der Kanzler. "Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit", sang innig der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Als der verspätete Helmut Kohl, mürrisch und ohne hinzugucken, seine Rechte ausfuhr, um nach den kirchlichen Würdenträgern notgedrungen auch seinen weltlichen Kollegen aus Düsseldorf zu begrüßen, griff Johannes Rau beherzt zu. Er strahlte. Die Fotographen brachten ihn mit einem höchst säuerlichen Kohl aufs Bild.
Aber hatte der Sozialdemokrat nicht in Wahrheit schon verloren, bevor der Wahlkampf begann? Eine Szene – wenige Minuten später auf der Freitreppe des Aachener Rathauses – verdeutlichte, was Demoskopen wieder und wieder in trockenen Kurven ausdrückten: Rau, der zuerst geredet hatte, war mit gesenktem Kopf auf dem Weg nach unten; Kohl stürmte erhobenen Hauptes ans Mikrofon hinauf. Von der Straße, außerhalb der Festversammlung, schallte es beiden Rednern entgegen:

Wir sind arbeitslos, und ihr labert bloß.

Es wurde ein Winterwahlkampf, und der fand vorwiegend im Fernsehen statt. Die Witterung verhinderte Großkundgebungen unter freiem Himmel. Bei der Verbreitung der Botschaften traten die elektronischen Medien weitgehend an die Stelle von Plakaten, Prospekten und anderen traditionellen Freiluft-Werbeträgern.

Beide Kandidaten gaben vor, daß ihnen das zuwider sei. Pathetisch pflegten sie sich schon seit Jahren zu beklagen über die Scheinwelt der Medien-Inszenierungen, die sie von Politikern in Showstars zu verwandeln drohe. Kohl bedauerte sich jahrelang als Opfer einer "Schweigespirale" linker Medienmenschen, die ihn 1976 vorsätzlich so unvorteilhaft fotographiert und gefilmt hätten, daß die Wähler verschreckt zu Helmut Schmidt geflüchtet seien. Rau, der auch in hohen Ämtern grundsätzlich als "einer von uns" gesehen werden wollte, empfand die Vermittlung durch das Fernsehen als eine Beeinträchtigung seiner persönlichen Wirkung.

Ihre Wahlkampfmanager, die beide ihr Metier in Amerika gelernt hatten, sahen das ganz anders. Der CDU-Geschäftsführer Peter Radunski, der alle Wahlkämpfe Helmut Kohls zwischen 1973 und 1994 gestaltete, und Bodo Hombach, der Johannes Rau beriet, wußten aus Umfragen, daß in 97 Prozent der westdeutschen Haushalte mindestens ein Fernsehapparat stand. Die Mehrzahl der Bürger bezog ihre politischen Informationen längst in erster Linie vom Bildschirm. Die Bundesbürger konnten 1985 zwischen drei und vier Programmen auswählen, die im Durchschnitt wöchentlich 35 bis 45 Stunden sendeten. Die Deutschen waren eine Mediengesellschaft geworden, auch wenn die – nach einem heftigen politischen Kulturkampf zwischen den Befürwortern aus der Union und sozialdemokratischen Gegnern – 1984 gestarteten Testprogramme der Privatsender auf die Kampagne 87 noch keinen Einfluß hatten.

Umso weniger konnte Radunski verstehen, daß die deutschen Polit-Profis sich über die Bedeutung des Fernsehens nicht im Klaren zu sein schienen: "Wer Arbeits- und Terminpläne führender Politiker kennt, kann sich nur wundern, wie niedrig der Stellenwert von Fernsehauftritten darin ist." Sie selbst würden zu wenig fernsehen und hätten deshalb keine Vorstellungen von den Wirkungen, die sie erzielen könnten. Hombach konnte sich gar nicht genug mopsen über die hochakademischen Denk- und Sprachformen, mit denen die SPD sich den Wählern entfremdete. "Emotion ist Manipulation", habe Helmut Schmidt einmal geschrieben, der sich für das "Seelenheil" seiner Mitmenschen ausdrücklich nicht zuständig fühlte. Jetzt glaubte Hombach: "Diese Weigerung ihrer politischen Führer hat der SPD den Draht zu einer ganzen Generation gekappt." Sein Gegenspieler Radunski hielt 40 Prozent der Wähler für beeinflußbar – vielleicht nicht mit Argumenten, wohl aber durch Werbung: "Menschen haben Menschen etwas zu sagen."

Ich habe die Winterwochen dieser Wahlkampagne aus vielerlei Gründen als geisterhaft in Erinnerung. Um so etwas wie einen Wettbewerb herzustellen, aktivierten beide Kandidaten im Fernsehen längst verblichene Feindbilder. Helmut Kohl lieferte halbherzig eine matte Wiederaufnahme des alten Franz-Josef-Strauß-Schlagers "Freiheit statt Sozialismus" ab, und Johannes Rau gab die Kirchentagsversion von "Proletarier aller Länder vereinigt Euch". Bei genauerem Hinhören und Nachlesen waren die beiden so gut wie nicht voneinander zu unterscheiden. "Aussteigen", das Wort wie die Haltung war Johannes Rau nicht weniger zuwider als dem Rivalen Helmut Kohl. Wie Kohls Reden wimmelten auch die Raus von Begriffen wie "gemeinsam", "zusammen", "miteinander". Mißtrauisch beäugten sie weniger einander als all jene Gruppen in der Gesellschaft, die am radikalsten auf Veränderung drängten. Jene, die Strauß die "Insassen der Szenen" nannte: emanzipierte Frauen, Intellektuelle, radikale Umweltschützer, Jugendliche und linke Christen. Ihnen gegenüber wirkten Kohl und Rau wie das Zentralkomitee einer Honoratioren-Einheitspartei.

Geisterhaft erschien mir denn auch weniger das ausbleibende Duell der Volksparteien als die Tatsache, daß an Konfliktstoff und Reformnotwendigkeit in der Gesellschaft nun wirklich kein Mangel herrschte. "Wir dürfen nicht zulassen, daß, weil da dieser Mann im Kanzleramt sitzt, dieses Land in Stagnation verfällt", hatte schon 1984 Kohls in Ungnade gefallener Ex-Generalsekretär Kurt Biedenkopf gewarnt. Aber die angemahnte große Steuerreform blieb ebenso aus wie Konsequenzen aus der vom Kanzler selbst düster beschworenen "Katastrophe in der demographischen Entwicklung". Der neue CDU-Generalsekretär Heiner Geißler mahnte, daß sich "ab dem Jahr 2000 die Probleme in der Rentenversicherung dramatisch verschärfen", falls sich nichts ändern sollte. Kurz, alle Strukturkrisen, die heute das vereinigte Deutschland in massive Nöte bringen, waren schon vor zwanzig Jahren erkannt – und blieben unbearbeitet. Die SPD beschuldigte die Union, sie habe die Sozialabgaben auf den höchsten Stand seit Gründung der Bundesrepublik getrieben, verlangte aber, daß der Prozeß der Arbeitszeitverkürzung weitergehen müsse.

Weiter so, Deutschland? Die Kräfte der Veränderung in der SPD um Oskar Lafontaine, Erhard Eppler und viele Junge waren mit der Abwahl Helmut Schmidts ja nicht verschwunden, so wenig wie die Grünen in Bonn und die sozialen Bewegungen überall im Lande. Im Gegenteil – sie prägten das Klima stärker denn je, fanden durch die Grünen auch Gehör in der institutionalisierten Bundespolitik, aber einen Kandidaten, der sich getraut hätte, schon jetzt nach der Macht zu greifen, hatten sie nicht. Die jugendlichen Helden der SPD, Willy Brandts "Enkel" Lafontaine, Schröder, Engholm und Scharping und deren grüner Freund Joschka Fischer, hatten sich alle in die Provinz abgesetzt und übten dort als Zaunkönige Regieren. Am Bundeswahlkampf nahmen sie nur als eine Art Rahmenprogramm teil – in Wahrheit waren sie die eigentlichen Herausforderer für beide Spitzenkandidaten. Gegen sie verteidigten Helmut Kohl und Johannes Rau den Schein der heilen Welt, in der sie aufgestiegen waren. Und mit ihnen die Mehrzahl der westdeutschen Wähler.

So blieb es bis zum Wahltag. Kohl gegen Rotkohl, Birne gegen Ersatzbirne, spotteten die Kabarettisten. Statt eines spannenden Wahlkampfes gegeneinander erlebten die Bundesbürger einen gemeinsamen Werbefeldzug für die Erhaltung des kulturellen und gesellschaftlichen Status quo in der Bundesrepublik – gegen die Grünen und Linken, selbst in den eigenen Parteien. Nur als Personen unterschieden sich die Kontrahenten beträchtlich, als Amtsinhaber suchten sie ihre Mehrheiten auf austauschbare Weise.
Nie hatte ich einen Kandidaten erlebt, der so unverkennbar nicht gewinnen wollte, wie Johannes Rau – obwohl er tapfer seine Pflicht tat. Am Abend vor seinem Nominierungsparteitag saßen wir in einem Hotel in Würzburg mit ihm zusammen, ein halbes Dutzend Journalisten und der bayerische Landesvorsitzende Hiersemann, und je länger das Abendessen dauerte, desto deutlicher kriegte es den Charakter einer Henkersmahlzeit. "Eigentlich müßte ich ja noch mal durch meine Rede gehen", seufzte der Kandidat, aber dann erzählte er doch lieber noch einen Witz:

Trifft ein Sozialdemokrat einen anderen und fragt, warum der denn nicht bei der letzten Ortsvereinssitzung gewesen sei? –"Ach", sagt der, "wenn ich gewußt hätte, daß es die letzte ist, wäre ich bestimmt gekommen."

Johannes Rau kann wunderbar Witze erzählen. Er weiß auch so viele, und wenn er erst einmal angefangen hat, ist er nicht mehr zu bremsen. Und so reihte sich an diesem Abend eine Schote an die andere, Anekdoten dazwischen, wieder Witze – die Runde wurde zum atemlosen Lachkabinett. Gegen neun Uhr hatte er begonnen, nach Mitternacht erzählte er immer noch, immer krampfhafter hechelte er von Pointe zu Pointe, immer erschöpfter stöhnten wir vor Lachen. Natürlich hatte Rau längst gemerkt, wie zwanghaft er sich in diese Rolle hineingewirtschaftet hatte. Er wirkte wie besiegt, als er endlich aufstand und leise sagte: "Ja, Witze erzählen kann ich wohl besser, als Kanzler sein."

Solche Augenblicke der offenen Wahrheit sind rar in der Politik. Er mochte Bonn nicht, er fürchtete die kalte Erfolgswelt. Ich hatte Johannes Rau persönlich immer gemocht, seit diesem Wahlkampf respektierte ich ihn für seine Anstrengung, sich gegen den Sog des politischen Betriebes zu behaupten. Es gelang ihm nicht immer, aber er reduzierte die Rituale der Macht auf ein Minimum. Daß er auf Schritt und Tritt beobachtet wurde, daß sein Körper und sein Gesicht, seine Bewegungen und seine Stimme auf deutbare Zeichen überprüft wurden, wo immer er sich öffentlich zeigte – das war Johannes Rau nicht nur sichtbar lästig, es quälte ihn.

Helmut Kohl war im Wahlkampf ganz Bundeskanzler. Er kam nicht einfach, er ereignete sich. Wo immer er auftrat, fand "unsere Republik" statt. "Unsere Hymne", das Deutschlandlied, riß die Menge von den Stühlen. Auf einer Riesenleinwand flatterte die schwarzrotgoldene Fahne, und dann füllte mit pompösem Ernst SEINE Stimme die Halle. Dem Volke wollte er dienen, Schaden von ihm wenden und seinen Nutzen mehren. "Unser Kanzler", vermeldete eine ergriffene Stimme, "mit ihm läuft’s wieder." Vierzig Jahre lang war Helmut Kohl jetzt Politiker, er sagte es in jeder Versammlung. Und so sah er auch aus, wenn er von der Bühne winkte wie eine Freiheitsstatue, gemessen, staatsmännisch und von sich selbst zutiefst ergriffen.

Als wäre der Kontrast nicht an sich schon kraß genug, inszenierte Johannes Rau demonstrativ das Gegenmodell. Er präsentierte sich als "der Mensch Rau", und meist erweckte er den Eindruck, als sei er eher zufällig in seine Veranstaltungen geraten.

"Ich will der Johannes Rau bleiben, der ich war, als ich Kandidat wurde", pflegte er zu versichern. Natürlich war auch er umdrängt von Fotographen, wenn er sich Hände schüttelnd, winkend und lachend durch die Säle treiben ließ. Aber das hatte nichts Hoheitliches. Wenn er endlich auf der Bühne stand, wirkte er schon deswegen wie ein Sieger, weil er diesen Weg geschafft hatte. Johannes Rau schwitzte. Er war gerührt, und den Leuten gefiel, daß einer sich so demonstrativ nicht verbiegen lassen wollte. "Die ganze Politik, die kann mir gestohlen bleiben", sagte er bisweilen, "wenn sie das Leben der Menschen nicht menschlicher macht."

Unglaubliche Alkoholikerversammlung

Erfolgreich waren die Kandidaten mit ihren Anstrengungen beide nicht. Erwartungsgemäß hatte Johannes Rau – ohnehin nur halbherzig unterstützt von seiner Partei – gegen den amtierenden Bundeskanzler keine Chance. Doch richtig glücklich konnte auch Helmut Kohl über seinen Sieg nicht sein. Er war zwar, als ausgezählt wurde, eindeutiger Sieger über seinen sozialdemokratischen Herausforderer (44,3 Prozent gegen 37,0), doch gewann er mit dem schlechtesten Ergebnis der Union seit 1972. Kohl schnitt – als amtierender Kanzler – sogar schlechter ab als Franz Josef Strauß 1980. Rau büßte gegenüber Helmut Schmidt 5,9 Prozent ein. Die Grünen steigerten sich auf 8,3 Prozent.
Das Wahlvolk hatte den etablierten Parteien einen Denkzettel verpaßt. Zwei Drittel der Befragten hatten kurz vor der Wahl "negativ getönte Aussagen" gemacht, berichtete das Meinungsforschungsinstitut Emnid. Auch wenn man Helmut Kohl den Verfall der politischen Kultur persönlich ankreidete, der Kanzler repräsentierte auch das Großklima: Alle Altparteien und das gesamte politische Personal in Bonn hatten in den vorhergehenden Jahren beträchtlich an Ansehen verloren. "Gefühle wie Ärger, Verdrossenheit und Verunsicherung" registrierte eine Sinus-Studie. Das Vertrauen in die Entscheidungskompetenz der Politiker war ebenso dahingeschwunden wie der Glaube an ihre persönliche Integrität. Sie tickten nach den Regeln der Medien im Sinne der vorher erfragten Stimmungen, ihr einziges Ziel war die Macht. Sie redeten unanstößig, leidenschaftslos und unverbindlich.

Auch die Glaubwürdigkeit des Fernsehens nahm in den Augen der Zuschauer kontinuierlich ab. Die Frage, ob das Fernsehen "wahrheitsgetreu" berichte und "die Dinge" immer so wiedergebe, "wie sie wirklich sind", beantworteten 1970 noch 56 Prozent der Befragten positiv, 1980 waren es nur noch 41 Prozent, 1985 ganze 27 Prozent. Zweifel an der Objektivität der öffentlich-rechtlichen Sender bei der politischen Berichterstattung wuchsen nicht zuletzt angesichts des Parteiengezerres in den Aufsichtsgremien, in denen die Politiker auf "Ausgewogenheit" pochten, Minuten zählten, kritische Moderatoren rüffelten und Nachrichten zu beeinflussen suchten.

Doch vor allem waren es der Flick-Parteispenden-Skandal und die Affäre um den Gewerkschaftskonzern "Neue Heimat", die das Potential politischer Entfremdung beträchtlich anwachsen ließen. "Es gab Zeiten", erinnert sich der damalige Bonner SPD-Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel, "in denen die Verachtung geradezu körperlich zu spüren war." 69 Prozent der Westdeutschen glaubten, daß Politiker bestechlich seien, 54 Prozent hielten sie für weniger ehrlich als andere Menschen.

Im Verlauf der mehrjährigen Versuche, die illegalen Parteispenden aufzuklären, mußte Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) von seinem Amt zurücktreten, nachdem ein Gericht Klage wegen Steuerhinterziehung und Bestechlichkeit erhoben hatte und ihn wegen des Steuervergehens verurteilte. Seinen Amtsvorgänger Hans Friderichs, inzwischen Vorstandssprecher der Dresdner Bank, ereilte das gleiche Schicksal. Auch Parlamentspräsident Rainer Barzel (CDU) verlor sein Amt. Nie erweckten die drei Altparteien den Verdacht, daß sie die unappetitlichen Verfilzungen von Wirtschaft und Politik, von Geld und Macht bis in die letzten Einzelheiten aufgeklärt wissen wollten. Sie schoben sich gegenseitig eine gewisse Teilschuld in die Schuhe und überließen die Angelegenheit dann weitgehend den Justizbehörden, die am Ende in 1860 Verfahren wegen Bestechung und Bestechlichkeit gegen Politiker und Industrielle wie den Flick-Manager Eberhard von Brauchitsch ermittelten.

Die Grünen bezeichneten die Union, die Liberalen und die Sozialdemokraten als "ein Kartell der Spurenverwischer, Verdunkler und Vernebler", als der Deutsche Bundestag am 13. März 1986 den Untersuchungsbericht des Parteispenden-Ausschusses debattierte. In der Tat war es von Anfang an die Absicht der drei Parteien gewesen, den Skandal zu vertuschen, und fast wäre es ihnen gelungen. Denn als 1981, noch zur Zeit der Schmidt-Regierung, die ersten Meldungen über den Flick-Skandal erschienen, ereiferten sich die Medien gerade über Korruption und Mißwirtschaft beim gewerkschaftseigenen Baukonzern Neue Heimat. Und hätte sich nicht der damalige Justizminister Jürgen Schmude quer gelegt, hätten die Fraktionen noch vor der Wahl Helmut Kohls im Schnellverfahren die Parteispenden-Affäre mit einer Amnestie beerdigt. Noch zwanzig Jahre später ist Schmude ziemlich fassungslos über diese Bereitschaft ehrenwerter SPD-Kollegen.

Die neuen Regierungsparteien versuchten es dann noch einmal. In geheimer Kommandosache beschlossen die Parteichefs von CDU, CSU und FDP – Kohl, Franz Josef Strauß und Hans-Dietrich Genscher – einen zweiten Amnestieplan für Parteispender. Kanzler Kohl gab Weisung, den Kreis der Mitwisser so klein wie möglich zu halten. Wolfgang Schäuble, den Kohl als Bundesminister für besondere Aufgaben ins Kanzleramt geholt hatte, sollte die Ausführung erledigen. Am Ende scheiterte das Vorhaben im Mai 1984 am Aufruhr der FDP-Basis. Schäuble nannte dieses Ergebnis "einen meiner größten Flops, eine der bittersten Stunden meiner parlamentarischen Arbeit".

Dem loyalen Kanzlergehilfen war indes nicht verborgen geblieben, daß sein Chef selbst damals nur haarscharf am Verlust seines heiß geliebten Kanzleramts vorbeischrammte. Vor dem Untersuchungsausschuß, bei dem er sich 79-mal auf Gedächtnislücken berufen hatte, bestritt Kohl, vom illegalen Treiben einer "Staatsbürgerlichen Vereinigung 1954 e.V." gewußt zu haben, die ihn in Wahrheit seit 1964 mit Spenden versorgte. Das war eine glatte Lüge. Sein Generalsekretär Heiner Geißler rettete ihn vor dem Kadi, indem er die flattrige Falschaussage seines Chefs entschuldigend als momentanen "Blackout" charakterisierte. Die staatsanwaltlichen Ermittlungen, die Otto Schily durch eine Strafanzeige ausgelöst hatte, wurden eingestellt, weil man dem Kanzler und CDU-Vorsitzenden keinen Vorsatz zur Lüge nachweisen konnte. Jahre später offenbarte sein Helfer Uwe Lüthje, daß Helmut Kohl damals sogar an Rücktritt gedacht habe. Nur weil er, Lüthje, vor den Staatsanwälten gelogen hatte, sei Kohl ein Gerichtsverfahren erspart geblieben.

Auch die Unregelmäßigkeiten bei der Neuen Heimat und die anstößigen Praktiken großkotziger Gewerkschaftsbosse hielt ein Bonner Untersuchungsausschuß bis drei Wochen vor der Bundestagswahl im Januar 1987 im öffentlichen Scheinwerferlicht. DGB-Bundesvorständler Alfons Lappas, der regelmäßig zur Großwildjagd nach Zentralafrika zu fliegen pflegte, weigerte sich, vor dem Untersuchungsausschuß zu erscheinen, und wurde bei der Eröffnungsveranstaltung eines IG-Metall-Kongresses in Hamburg festgenommen. Seine Mahlzeiten ließ er sich dann aus dem Hotel "Atlantic" in die Zelle bringen. Das Stichwort Neue Heimat genügte noch lange, um auch die SPD in die Defensive zu drängen, klagte Hans-Jochen Vogel.

Plötzlich war der Begriff "politische Klasse" zum Schimpfwort geworden. Politik als Beruf bedeutete spätestens seit jenen Jahren, die einmal "die Ära Kohl" heißen sollten, Politik als Karriere: Jeder gegen jeden, und so gut wie alle Mittel waren recht. Um die politischen Abläufe in Bund, Ländern und Kommunen zu organisieren, brauchte und braucht das Land ein paar tausend Profis, Abgeordnete des Bundestages und der Landtage, Bürgermeister und Stadträte, hauptamtliche Funktionäre in Parteien und Verbänden. Das war die "politische Klasse", die für die und von der Politik lebte. Die Angehörigen dieser Klasse – das begann die Öffentlichkeit in den Achtzigerjahren zu erkennen – lagen miteinander in einem unerbittlichen Wettbewerb. Und jeder dachte in erster Linie an den eigenen Erfolg, gerade dann, wenn er vorgab, sich für andere aufzureiben.

Es trug gewiß ebenso zum schlechten Ruf der Gewählten bei wie zur Hochnäsigkeit vieler öffentlicher Urteile über sie, daß es den Berufspolitiker, den Max Weber beschrieben hatte, nicht mehr gab, aus vielerlei Gründen nicht mehr geben konnte. Politik als Beruf, das mochte in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik noch einen gewissen Zauber gehabt haben, solange die Akteure Adenauer, Schumacher, Dehler, Luise Schröder, Brandt, Schmidt, Hamm-Brücher oder Heuss hießen, also Frauen und Männer mit einem Schicksal waren, die durch ihre Biographien Ansehen in die Nachkriegsrepublik brachten. Nun hießen sie Kohl und Rau, Blüm und Bangemann und waren Kinder des Nachkriegsalltags wie Otto Normalwähler und Produkte der allgemeinen Angestelltenkultur. Kurt Biedenkopf, der von der Hochschule und aus der Wirtschaft in die Politik gewechselt war, machte sich über das Niveau seiner neuen Umgebung nie Illusionen:

Systeme, in denen die einzige formale Qualifikation auch für höchste Ämter darin besteht, mehrheitsfähig zu sein, haben eine eingebaute Tendenz zur Mittelmäßigkeit.

Nach Helmut Kohls Wiederwahl begann politische Apathie Bonn zu lähmen. Was immer auch geschah oder unterblieb, nichts folgte daraus. Heute erscheint es mir fast unmöglich, mich noch einmal in das ohnmächtige Gefühl hineinzuversetzen, mit dem wir damals die dreiste Herrschaft Kohlscher Lachhaftigkeiten ertrugen. Es wurde ja nicht leichter, wenn auf der Speisekarte unserer linken Stammkneipe statt der Kohlroulade "der Kanzler in seiner besten Rolle" angekündigt wurde. Der war ja keine Ulknummer, der war Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland.

Im Nachhinein würden Berichte über die damaligen Grotesken wie Ausgeburten linker Rachephantasien wirken, hätte der große Helmut Kohl nicht mit seinen späten Spendenaffären wenigstens noch einmal angedeutet, wie er in jenen Phasen zu regieren pflegte, als er noch nicht als Kanzler der Einheit im Geschichtsbuch stand. Damals dachte im Übrigen niemand – außer ihm selbst – an einen historischen Stellenwert dieses Kanzlers. Aber lustig konnte ich ihn trotzdem nicht finden. Immer blieb mir das Lachen im Halse stecken, wenn ich sah, wie die Leute das mochten, daß da einer, wie im Slapstick-Kino, strampelte, herumstolperte und unentwegt einbrach zwischen den Ebenen seiner idyllisch-heilen Wendewelt und dem Gemenge aus Täuschung und Tollpatschigkeit, Eigensucht und Machtgier, den er und die anderen "da oben" als Politikausgaben. Denn so ähnlich hilflos und überfordert fühlten die Bürger sich offenbar alle in einer Welt, die sich täglich zu ändern schien. Kohl zeigte: Keiner kann was machen.

Viele, die permanent über ihn lachten, hatten ihn wiedergewählt. Sie brauchten ihn. Lachen, so der Anthropologe Helmuth Plessner, ist – wie Weinen – eine stark gefühlsgeladene, unbeherrschte und gebrochene Antwort auf Situationen, denen die Menschen nicht gewachsen sind.

So empfand ich mich auch. Ich war fünfzig Jahre alt, hatte fünfundzwanzig Jahre als politischer Journalist gearbeitet, davon die Hälfte in Bonn. Und noch nie waren mir bisher Zweifel gekommen an meiner Arbeit, nie hatte mich Politik gelangweilt, und ich hatte mich auch nicht unwohl gefühlt in Bonn. Doch in der zweiten Amtszeit Helmut Kohls hatte ich genug. Ich suchte mir andere Themen, begann über Sportler zu schreiben, über Theater und sogar über Wirtschaftsbosse, und ich nahm mir vor, aus Bonn wegzugehen. Abstand zu kriegen von dem, was sich als Politik ausgab. Gespräche mit dem Kollegen Rolf Zundel von der Zeit trugen zu diesen Überlegungen bei. Zundel, der Doyen der politischen Journalisten in Bonn, überraschte damals die Kollegen mit seinem Entschluß, als Psychotherapeut arbeiten zu wollen. Er hatte persönliche Gründe, aber auch diesen: "Seit Kohls Amtsantritt verstehe ich die Politik nicht mehr."

Kein Wunder, daß gesoffen wurde in Bonn. Die üblichen Hilfsmittel zur Verdrängung aktueller halluzinatorischen Aggressionen, Sorgen und Ängste – Machtrituale, Arbeitsüberlastung, selbstgemachter Termindruck und öffentliches Gefragtsein – standen nicht allen in gleicher Weise zur Verfügung. Da half vielen nur ein verbreitetes Hausmittel: Alkohol.

Wie in Washington, D.C., wo ich es erlebt hatte, und wie in vermutlich allen anderen Hauptstädten der Welt gehörte der Suff auch in Bonn zur politischen Routine – vom gepflegten Sherry-Genippe auf Lobbyisten-Empfängen am Vormittag, über die "Anfeuchter" beim mittäglichen Arbeitsessen, das abendliche Frust- oder Renommierbesäufnis in der Parlamentsbar, bis zum einsamen nächtlichen Verzweiflungssuff am Schreibtisch. Und wie alle Problemtrinker verstanden sich die Polit-Profis vorzüglich darauf, ihren Alkoholkonsum zu verstecken. Nicht zuletzt mit Hilfe des Bundestagswirtes Osvaldo Cempellin, genannt "Ossi", der inzwischen seit mehr als drei Jahrzehnten den Abgeordneten gut eingeschenkt, zugehört und noch besser geschwiegen hatte. Im Herbst 2003 wurde ihm "in Anerkennung der um Volk und Staat erworbenen Verdienste" das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Mit Methoden, den Suff zu verstecken und noch sturztrunken einen Eindruck von Funktionstüchtigkeit zu erwecken, kannte ich mich aus. Ich war zwar inzwischen ein Dutzend Jahre trocken, aber die Erinnerung hielt ich wach. Gegen Anfälle von Übermut hatte ich mir ein Foto über den Schreibtisch meines Bonner Büros gehängt, auf dem ich 1972, als Korrespondent in Washington, dem damals mächtigen Vorsitzenden des Haushaltsausschusses im amerikanischen Repräsentantenhaus, Wilbur Mills, Feuer für seine Zigarre gab. Mills wollte Präsident der USA werden, und ich interviewte ihn für meine Zeitschrift.

Es wurde ein munteres, lockeres Gespräch, für das mich meine Redaktion ausdrücklich belobigte. Weder dem Text des Interviews noch dem Foto ist anzusehen, daß wir beide – Mills und ich – sturzvoll waren, beflügelt von mindestens einer Flasche Wodka pro Person. Keiner hatte es beim anderen gemerkt. Wir funktionierten prächtig. Das gab sich aber bald, bei beiden. Ein paar Jahre später konnte ich die Fassade nicht mehr durchhalten und mußte mich als Alkoholiker akzeptieren. Mills wurde etwas eher auffällig – 1974, als er nachts einer Stripperin namens Fanny, genannt "das argentinische Knallbonbon", in einen Teich vor dem Capitol hinterhersprang.

Meine Washingtoner Erfahrungen erwiesen sich in Bonn als hilfreich. "Der Bundestag ist eine unglaubliche Alkoholikerversammlung, die teilweise ganz ordinär nach Schnaps stinkt", hatte der Grüne Joschka Fischer öffentlich verkündet, nachdem er ins Parlament eingezogen war. Knapp fünf Jahre später, im November 1988, konfrontierte das ARD-Magazin "Panorama" die Öffentlichkeit mit einem sorgfältig dokumentierten Film über die "Suchtgefahr bei Abgeordneten und Ministern". Darin schätzte der Berliner Medizinprofessor und Gerichtsgutachter Detlef Cabanis, daß bis zu 20 Prozent der Spitzenpolitiker und 10 Prozent der "Politiker im mittleren Bereich richtig oder akut durch Alkohol gefährdet" seien.

Ein Sturm der Entrüstung einte plötzlich die Parteien, mit Ausnahme der Grünen, versteht sich. Deren gesundheitspolitische Sprecherin, die Suchtärztin Heike Wilms-Kegel, selbst eine trockene Alkoholikerin, hatte den Fernsehleuten erzählt, abends herrsche im Hohen Haus bisweilen Bierzelt-Atmosphäre. Ihr wurden daraufhin von christlichen Volksvertretern Prügel angedroht. Empört versammelten sich die Abgeordneten der etablierten Parteien am Morgen nach der Sendung in der Lobby des Bonner Wasserwerks, das damals als Ersatzparlament diente, vor den TV-Geräten, um die Wiederholung der Magazin-Sendung zu begutachten. Annemarie Renger (SPD) und Richard Stücklen (CSU) sahen in dem Bericht "eine Unverschämtheit" und "eine Beleidigung des höchsten Verfassungsorgans". Minister Ignaz Kiechle hielt den Tenor der Sendung für "die dümmste Aussage, die ich je gehört habe".

Und ausgerechnet der FDP-Abgeordnete Detlef Kleinert, den Fischer als den "schwankenden Teil der Koalition" zu verhöhnen pflegte, sprach wegwerfend von "willkürlichen Tatsachenbehauptungen und herausgegriffenen falschen Beispielen". Dabei hatten die Panorama-Leute mit gutem Grund ihn als Beispiel herausgegriffen und ihn gefilmt, als er zu später Stunde, aus "Ossis" Bundeshausbar herbeieilend, im Plenum das Wort ergriff und sich über die Ansicht seines Vorredners empörte, die Mehrheit des Bundestages sei der Diskussion mit den Bürgern nicht gewachsen. Kleinert lallte: "Wir haben es nicht nötig, uns hier von einigen, die eine Außenseiterrolle zur persönlichen Hochsteigerung mißbrauchen wollen, haben wir es nicht nötig, dieses Parlament mißbrauchen zu lassen."

Weder für Suchtexperten noch für Bonner Journalisten lieferte der handwerklich sauber gearbeitete und differenziert kommentierende Film aufregende Neuigkeiten. Auf die Tatsache, daß jeder fünfte Arbeitnehmer in der Bundesrepublik "massive Probleme mit Alkohol" hatte, hatte die Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren wiederholt aufmerksam gemacht. Warum also nicht auch die Arbeitnehmer in der Branche Politik? Jeder, der die Bonner Szenerie aus der Nähe miterlebte, hätte die Beispielreihe aus dem Film beliebig verlängern können. Und, ja – "illuminierte Journalisten", wie eine Abgeordnete giftete, gab es auch genug.

Gewiß, Politiker, insbesondere die bekannteren, mochten anfälliger erscheinen als Durchschnittsbürger, aber in Wahrheit unterschieden sie sich in ihrem Trinkverhalten nicht von den Usancen in der Wirtschaft oder den freien Berufen – in den Chefetagen wurde mehr gesoffen. Der (inzwischen verstorbene) Chefarzt der Oberbergkliniken für Suchtkranke, Matthias Gottschaldt, der viele Politiker unter seinen Patienten hatte, erläuterte:

Karrieretypen sind meist intelligent, kopfgesteuert und haben Schwierigkeiten, über ihre Probleme zu sprechen. Sie setzen sich selbst unter hohen Leistungsdruck. Sie sind einsam und maßlos. Maßlos im Arbeitspensum, im Alkoholkonsum und in Partnerschaften. Den meisten fehlt das Gefühl, gebraucht zu werden.

So erlebte ich die Politiker, und so erlebte ich auch uns Journalisten. Nur hatte ich erfahren, daß es nicht der Alkohol war, der süchtig machte, sondern daß Suchtanfällige instinktiv nach allem griffen, das versprach, sie emotional zu entlasten vom Druck und Dreck der realen Welt – und Alkohol war immer zur Hand.

Es dauerte denn auch nur ein paar Monate, bis Bild, im Juli 1989, wieder mit einer dicken Schlagzeile aufjaulte: "Die heimlichen Trinker von Bonn". Es waren noch dieselben wie im Panorama-Film. Nur daß jetzt einer auf allen vieren eine Gangway hoch gekrochen war, einer in einen Dienstmercedes gekotzt und einer seiner Sekretärin an den Busen gegrapscht hatte. Mit anderen Worten: Volksvertreter, Menschen wie überall. Doch einen hatte Bild aufgetan, der – leider nur anonym – den Unterschied zu Otto Normalschlucker auf den Punkt brachte:

Der Parlamentarier entscheidet über unser Land, unser Volk, über uns alle. Dazu braucht er alle Sinne und einen klaren Kopf.

Erfolgsmenschen

Eigentlich war Helmut Kohl schon im Spätsommer 1989 am Ende. Auf der Popularitätsskala lag er auf Platz 18. Nach den Erkenntnissen der drei Meinungsforschungsinstitute Emnid, Infratest und Infas war die Union im Ansehen der Wähler auf bis zu 31 Prozent abgerutscht. Zum ersten Mal gab es eine rechnerische Chance für eine rot-grüne Koalition, die rechtsextremen Republikaner würden ins Bonner Parlament einziehen. "Die schlimmen Jahre kommen erst", unkte Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher.

Die Bundesanstalt für Arbeit rechnete erfaßte und nicht registrierte Arbeitswillige auf gut 3,5 Millionen Arbeitslose zusammen. Laut Nachtragshaushalt 1988 lieh sich Bonn 39,19 Milliarden Mark und verstieß gegen das Grundgesetz, weil die Regierung nur 34 Milliarden investierte. Die Subventionen wucherten, die Renten kamen ins Gerede. "Wir haben uns benommen wie jemand, der in einem fürstlichen Restaurant ein opulentes Mahl zu sich nimmt und nachher erstaunt ist, wenn er die Rechnung sieht", spottete der FDP-Wirtschaftssprecher Otto Graf Lambsdorff.

Seit dem Frühjahr 1989 hatte der Kanzler einen neuen Finanzminister – den CSU-Chef Theo Waigel, Jahrgang 39. Sein Vorgänger, Gerhard Stoltenberg, hatte sich bei dem Versuch, eine große Steuerreform durchzusetzen, in kürzester Zeit verschlissen. Der CSU-Chef, der genau wußte, daß sich gegen Helmut Kohl in der CDU eine Revolte zusammenbraute, trat selbstbewußt als Retter des Kanzlers und als Stabilisator seines wackligen Kabinetts auf. "Wer sich jetzt versagt, versagt", feuerte er seine CSU-Parteifreunde pathetisch zur Unterstützung an. Persönlich versprach sich Waigel, der als CSU-Landesgruppenvorsitzender in Bonn viele Jahre zwischen Helmut Kohl und Franz Josef Strauß vermittelt hatte, von der neuen Schlüsselposition persönliches Prestige und gute Chancen beim noch ausstehenden Griff nach der ganzen Hinterlassenschaft des vor einem Jahr gestorbenen Franz Josef Strauß.

Der belesene und oft sarkastische Theo Waigel hatte in Bonn zu den angenehmeren Figuren der Regierungskoalition gehört – gelassen, oft selbstironisch, heiter. Aber das dauerte nicht lange. Schon Monate nach seinem Eintritt in die Regierung wurde er von der allgemeinen Misere eingeholt, ja mehr noch, er schien sie zu verkörpern. In Bonn sorgten sich seine engsten Mitarbeiter: "Der Theo reibt sich auf."

Selten hatte ich einen einsameren Mann erlebt als den Theo Waigel, den ich im Sommer 1989 an einem kühlen Sonntag besuchte. Vor dem flackernden Kamin seines Wohnzimmers, das einst der Kuhstall des väterlichen Kleinbauernhofes gewesen war, schien der Minister innerlich zu frösteln, als er sagte: "Immer könnte man so wohl nicht leben." Theo Waigel litt. In Bayern hatten so genannte Parteifreunde eine schmutzige Flüsterkampagne gegen ihn gestartet, weil er eine Beziehung zu der Skiläuferin Irene Epple unterhielt und sie heiraten wollte. Er war aber noch nicht geschieden, obwohl seine Ehe schon seit Jahren kriselte. Seine Frau, die mit ihm auf dem Dorf aufgewachsen war, hatte seit langem mit seelischen Problemen auf seine ständige Abwesenheit reagiert, die beiden Kinder, inzwischen erwachsen, lebten ihr eigenes Leben und mieden das triste Zuhause in dem Klosterdorf Oberrohr in der Nähe von Augsburg. Mutterseelenallein saß der Minister daheim, um an einer wichtigen Rede zu arbeiten.

Immerhin war Theo Waigels Mund hier weder schief noch verbissen. In Bonn rutschte ihm, sobald er ins Grübeln versank, der Mundwinkel immer tiefer nach rechts unten. Als Physiognomie des zynischen Zeitgeistes hat Peter Sloterdijk diesen schiefen Mund der Herrschenden beschrieben: Die eine Hälfte versucht zu lächeln, die andere weiß, "daß es im Grunde nichts zu lachen gibt". Jetzt lebte Waigel auf, als er mir das in ein schwäbisches Eiszeittal hingeduckte Dorf zeigen konnte – gut 500 Einwohner, bei der Europawahl 80,5 Prozent CSU. Und am liebsten führte er das ehemalige Prämonstratenser-Chorherrenstift Ursberg vor, das Heim- und Ausbildungsstätte für fast 2000 Behinderte war. Dorf und Kloster waren die Kraftquellen seines Lebens. "Hier singe ich noch manchmal im Kirchenchor", sagte er, und dann redete er über die Kühe, mit denen er einst die acht Äcker seines Vaters gepflügt hatte. "Das wird einen niemals loslassen, da habe ich mir die Ewigkeit vorstellen können." Ein wenig klang es, als betreibe Theo Waigel Selbstbeschwörung. In dieser Heimat wurzelt der Aufsteiger Theo. Sein Vater, Maurerpolier und Nebenerwerbslandwirt, "fast ein Sonderling", der aber immer "sehr kluge Gedanken" hatte, schickte den Sohn ins Gymnasium. Nachdem der ältere Bruder im Krieg gefallen war, sollte aus dem Theo "etwas Großes" werden.
Nun war es seine Aufgabe, in Bonn einen noch Größeren zu stützen. Kohl brauchte ihn, weniger gegen Widersacher von SPD und Grünen in Bonn und den Bürgerbewegungen im Lande, sondern gegen eine bedrohliche Front in der Union. Generalsekretär Heiner Geißler, dazu Rita Süssmuth, Kurt Biedenkopf, Ernst Albrecht und vor allem der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth planten gegen den CDU-Parteichef einen Putsch – der freilich kläglich zusammenbrach.

Im Grunde war von vornherein klar, daß der Verlierer nicht Kohl heißen würde. Der hatte sich inzwischen zu einem gewaltigen Modell von schierer Macht und Herrschaft ausgewachsen, 260 Pfund schwer, Anzuggröße 62. Kein Hals, kein Kragen – ein immer starrer werdender Koloß. Er verkörperte die Unbeweglichkeit seiner Bonner Republik. "Kohls jeder geistigen Wahrnehmung widersprechende Körperlichkeit – im Unterschied zur Leiblichkeit Bismarcks oder Churchills – ist aus dem Status des rein Physischen herausgetreten und hat eine symbolische Qualität angenommen", höhnte Karl Heinz Bohrer.

Das sah er selbst auch so, wenn er es auch anders wertete. Er liebte es, sich in der Rolle des ländlichen Patriarchen zu produzieren, Essen und Trinken als Beleg seiner prallen Lebenskraft öffentlich vorzuführen. Der Philosoph Elias Canetti beschrieb in Masse und Macht diesen Politikertypus als "Meistesser" – als hätte er Helmut Kohl gekannt:

Je voller er ist, umso besser ist ihm zumute ... aber er ißt und zecht mit den ausgewählten Leuten seiner Umgebung, und was er ihnen vorsetzen läßt, gehört ihm. Wenn er schon nicht selbst der stärkste Esser ist, so müssen doch seine Vorräte die größten sein ... Er könnte, wenn er nur wollte, immer der Meistesser sein.

Vor den Frondeuren hatte er keine Angst. Ganz im Stile seiner jugendlichen Raufbold-Herrschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit nahm Kohl zunächst den Kampf mit seinem langjährigen Vertrauten Heiner Geißler direkt auf. "Kohls Machtbewußtsein hat etwas beinahe Physisches an sich", beobachtete CSU-Innenminister Zimmermann, "er setzt, wenn er jemandem gegenübersteht, ganz ungeniert die Wucht seines großen massigen Körpers ein, verbunden mit einer Seele, die wie eine Dampfwalze über Widersprüche hinweggehen kann." Geißler, der freilich auf diese Weise nicht einzuschüchtern war, kannte das schon. Er war nicht überrascht, als ihm Kohl ohne Verbrämung den Kampf ansagte: "Heiner, einer von uns bleibt auf der Strecke."

Auch Geißler war ein harter Kämpfer, aber er brauchte Mitstreiter in der Partei, und die – das wußte Kohl – würden einknicken. Denn die innerparteilichen Frondeure waren alle durch dieselbe Lebensschule der Nachkriegszeit gegangen wie "der Dicke", und sie alle teilten seinen platten Pragmatismus, nach dem am Ende allein zählte, "was hinten rauskommt". Daß die meisten seiner Gegner ihm intellektuell weit überlegen waren, irritierte Helmut Kohl nicht im Geringsten, denn die Biedenkopfs und Albrechts, Süssmuths und Späths hatten – wie die gleichaltrigen Sozialdemokraten und Liberalen – schon ein Jahrzehnt lang bewiesen, daß ihre geistig-politischen Ansprüche sich nicht nur der Macht des Faktischen, sondern vor allem dem Faktum der Macht unterordneten.

Und wer hätte die Techniken der Macht in einer Parteiendemokratie virtuoser entwickelt, wer wüßte sie so skrupellos anzuwenden wie Helmut Kohl? Nie hatte der etwas anderes gemacht und nie etwas anderes gewollt. Hingabe? Leidenschaft? Zu diesem Zeitpunkt seiner Laufbahn war keine große Sache zu erkennen, der er verpflichtet gewesen wäre, auch wenn er das nachträglich behauptete. Politik war Betrieb, nicht Inhalt. Das Ziel war die Macht.

Karriere durch Aufstieg, und Aufstieg, sein eigener und derer, die ihn dabei unterstützten, durch Pfründe und durch Abhängigkeiten und durch Teilhabe an der Beute.
So beschrieb der Publizist Warnfried Dettling, der den Aufstieg Kohls als Mitarbeiter in dessen Administration aus der Nähe beobachtet hatte, diesen Techniker der Macht.
Konrad Adenauer beherrschte die Partei, weil er ein großer, ein respektierter Kanzler war. Helmut Kohl blieb so lange Kanzler, weil er die Partei beherrschte.

Kohl war immer mißtrauisch. "Es ist unglaublich", staunte ein Parteifreund, "was der alles weiß, was dem alles zugetragen wird." Dieses Wissen benutzte er als Waffe. Er hatte seine Informationen zu einem bedrohlichen Machtschatz aufgetürmt. Er vergaß nichts, er vergab nicht. Der direkte Zugang zu Menschen war die Methode, mit der Kohl sich die Welt erschloß. Nicht daß er wirklich ein Menschenkenner gewesen wäre. Er näherte sich anderen instinktgelenkt auf der Gefühlsebene, witterte Sympathie oder Abneigung. Für die Wünsche und Schwächen seiner Mitmenschen, für ihre Schläue, ihre Energie und ihre Sentimentalität hatte er ein feines Gespür. Auf dieser emotionalen Ebene setzte er ein Wechselspiel gegenseitiger Abhängigkeiten in Gang. Diese Beziehungen gliederten sich hierarchisch. Jeder hatte nach einer Weile verinnerlicht, was er zu tun und zu lassen hatte. Was in Ordnung war und was nicht, bestimmte der Chef. Zivilcourage war nicht gefragt.

Auf seine Machtmaschine aber, die durch Ämterpatronage betrieben wurde, konnte sich der CDU-Chef schon Ende der Achtzigerjahre verlassen. Er hängte sich persönlich ans Telefon und ließ skrupellos seine Beziehungen spielen, um einflußreiche Helfer zu gewinnen und Kritiker auszuschalten. Über die Hälfte aller Parteitagsdelegierten und Bundestagsabgeordneten der CDU, schätzte Ralf Dahrendorf, waren dem Kanzler für persönliche Förderung und Gefälligkeiten zu Dank verpflichtet. Er konnte Ämter in Aussicht stellen und Straßenbauprojekte für den Wahlkreis – er hatte etwas zu bieten. Die Putschisten aber konnten nicht wissen, ob sie Erfolg haben würden, was sie bei Mißerfolg erwarten und wie es im Falle eines Erfolges weitergehen würde. Entsprechend zaghaft agierten sie. "Und es hat auch", glaubt Warnfried Dettling, der die Akteure alle gut kannte, "an der Radikalität, an der Entschlossenheit gefehlt, die für ein solches Unternehmen erforderlich ist" – nicht zuletzt dem persönlichen Herausforderer und Rivalen Lothar Späth, Jahrgang 37.

Im September 1989, auf dem Parteitag in Bremen, erhielt der umtriebige, aber letztlich halbherzige Stuttgarter Ministerpräsident die Rechnung. Kalter Schweiß glitzerte ihm auf der Stirn, und fast flehend suchte er in der ihn umdrängelnden Runde nach Signalen der Bestätigung und der Zuneigung, als das Ergebnis der Wahl zum Parteipräsidium bekannt wurde: Nur 357 von 780 Delegierten hatten für ihn gestimmt. Lothar Späths Augen irrten von seinen empörten Gefolgsleuten zum gierigen Pulk der Journalisten, die unbarmherzig ihre Mikrofone vor sein fahles Gesicht schoben. Gelle, bettelten seine Blicke, das Lotharle ist doch trotzdem lieb? Oder? Eine gute halbe Stunde blieb er hocken inmitten des hektischen Getümmels. Über ihm, mit schnellem Blick registrierte es Späth, betrieb der Sieger Helmut Kohl, scheinbar ungerührt, seine Parteitagsgeschäfte weiter. Daß ihn Prostatabeschwerden quälten, weil er für den Bremer Macht-Showdown die Operation verschleppt hatte, sah ihm keiner an.

Lothar Späth lächelte schmal und versicherte seinen Mitverschwörern, die zu gemurmelten Artigkeiten herandrängten, es sei alles in Ordnung. Norbert Blüm, Ernst Albrecht, Kurt Biedenkopf zwängten sich durch den Belagerungsring der Journalisten. Rita Süssmuth hatte sich neben ihn gesetzt, tätschelte seinen Arm, mehr Krankenschwester als Kampfgefährtin. Ihr traute er, nur ihr und Heiner Geißler. Den anderen mochte er kaum in die Augen sehen – er haßte die triefenden Blicke, die schmalzigen Betroffenheitssprüche. Oft genug in seiner politischen Laufbahn hatte er sie selbst produziert. Aber erst als der glatte Walter Wallmann sein Sprüchlein aufsagte, reichte es dem Betrauerten: "Was soll denn das? Das ist doch hier keine Beerdigung."

Späth hatte sich und die anderen in diesen Augenblicken des tiefen Falls, als die Emotionen brodelten in der Halle, kühl und genau beobachtet, erzählte er hinterher. Ganz so überraschend wie den meisten anderen wollte ihm das Ergebnis nicht erschienen sein. "Ich mache ja nicht viel aus dem Bauch", sagt er, "aber mein Gefühl für Gefahren ist intakt." Und die Zeichen des Unmuts über den ewigen Meckerer, der nie den Aufruhr wagte, die glaubte er überall gespürt zu haben. "Was machste eigentlich, wenn’s schief geht?", hatte er sich deshalb zuvor gefragt. Insgeheim mußte er sich im Kopf eine Art Checkliste mit typischen Merkmalen und Reaktionen von Verlierern zurechtgelegt haben, die er abhakte, als es geschehen war.

Hatten nicht viele gesagt, erst eine Niederlage werde ihm Tiefe verleihen? War es nicht immer ein Ziel des flinken Schwaben gewesen, sich selbst "abzurunden"? Neue Erfahrungen waren schließlich allemal ein Gewinn für Politiker, insbesondere für einen, der sich in der letzten Zeit manchmal vorgekommen war, als hätte er, zunehmend dem richtigen Leben entfremdet, gelebt "wie in einem goldenen Gefängnis". Und so verwandelte sich Schritt für Schritt die Erfahrung des "Erfolgsmenschen" (Späth über Späth), endlich einmal Verlierer zu sein, in einen Gewinn. Hätte etwa der Präside Lothar Späth so viel Aufmerksamkeit und Beachtung gefunden in den Medien wie der Verlierer? Zwei Dutzend Interviews hatte er abgespult am Tag danach.

Als Helmut Kohl, den das Aufsehen um seinen Widersacher nicht glücklich machen konnte, in seinem Schlußwort zum Bremer Parteitag mit einer persönlichen Erklärung Lothar Späth zur Zusammenarbeit aufforderte, nickte der nur zögernd dem Kanzler Zustimmung. Sein Widerstreben war fast körperlich spürbar. Doch erst irgendwann später sagte er – so leise, daß er kaum zu verstehen war: "Vielleicht bin ich ja auch zu weich."

Ach, wie gut konnte sich Lothar Späth schon damals immer mal wieder vorstellen, den ganzen Kram hinzuschmeißen. Aber in der Praxis, "da bin ich wie’n Zirkuspferd. Da klimpert die Musik, und dann muß ich lostraben." In Gedanken war er vermutlich schon wieder in Indonesien, Singapur oder Japan. Schnelle Wechsel, immer was Neues – anstoßen, vorausdenken, andere Bereiche entdecken. So hatte der Mann, den sie "das Cleverle" nannten, gelebt, bis er in die Politik geriet, und so hatte er auch Politik gemacht. "Getrieben" sei er, höhnten seine politischen Gegner in Stuttgart, und selbst seinen Freunden erschien die Hektik oft befremdlich und zwanghaft. Er selbst sprach von einer "Gier", die ihn trieb. Die Kanzlerfrage hatte sich mit Bremen erst einmal erledigt, doch mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit glaubte er weiter an die Gunst "schicksalhafter Stunden".

Wirklichkeitseinbruch Mauerfall

Die schicksalhafte Stunde schlug den Deutschen knapp zwei Monate später, und sie erwischte den Bundeskanzler zur falschen Zeit am falschen Ort. Helmut Kohl saß am Abend des 9. November 1989 als Gast des polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki beim offiziellen Staatsbankett in Warschau, als die Berliner Mauer fiel. Er konnte die Botschaft gar nicht glauben: "Das gibt’s doch nicht." Der Bonner Ministerialdirektor Eduard Ackermann, seit Jahren Kohls Kontaktmann zu den Medien, übermittelte seinem Chef telefonisch die historische Nachricht: "Herr Doktor Kohl, halten Sie sich fest, die DDR-Leute machen die Mauer auf." Dann erzählte er von der Schabowski-Pressekonferenz, und ein ums andere Mal kam aus Warschau ein fassungsloses: "Sind Sie wirklich sicher, Ackermann?" Der war es. Er sah es mit eigenen Augen: "Das Fernsehen überträgt live aus Berlin." Kohl: "Das ist ja unfaßbar."

In der Hotelhalle des "Marriott" in der polnischen Hauptstadt warteten wir mitgereisten Presseleute angespannt auf den Kanzler, der zu später Stunde zu einem vorher angesagten Hintergrundgespräch eintraf. Helmut Kohl wirkte eher verunsichert und gedämpft als "elektrisiert", wie er später gern behauptete. Er scheuchte zunächst die Fotographen weg. Wie eigentlich immer, solange er regierte, waren es die unverhofften Einbrüche von Wirklichkeit in seine angestrengt behauptete Normalität, die sich gespenstisch ausnahmen – so mächtig war die inszenatorische Bonner Routine, die Irritationen und Unpassendes wegzudeuten pflegte. Das war beim Einzug der Grünen ins Bonner Parlament so gewesen, bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, zuletzt bei sich abzeichnenden neuen Parteienkonstellationen und Wählermehrheiten. Und jetzt wieder. In die Routine eines offiziellen Regierungsbesuches platzte die Weltgeschichte mit einem Störfall.

Kohl wollte zunächst nicht einmal darüber reden. "Wir sind hier in Polen", blaffte er, "und ich möchte gern über meinen Besuch etwas sagen." Würde er nach Deutschland zurückfliegen? "Das kann ich meinen Gastgebern nicht zumuten." Massig und hoch aufgerichtet saß Helmut Kohl da, mehr nach innen lauschend als nach außen donnernd. Die Öffnung der Mauer schien ihn in einen tranceähnlichen Zustand versetzt zu haben. Würde nicht alle Welt in Ost und West auf uns, die Deutschen, achten? Auf unsere Sprache? Darauf, daß wir in ruhiger Weise reagierten? Andererseits – mußte er in dieser historischen Stunde nicht doch etwas zeigen von der beträchtlichen nationalen Wallung, die ihn vor "innerer Leidenschaft" fiebern ließ?

Helmut Kohl war ohne Frage in einer wenig beneidenswerten Situation. Er war zu weit weg, wußte zu wenig und sollte ein staatsmännisches Bild abgeben. Unfreiwillige Einblicke konnten nicht ausbleiben, wenn einer in solcher Situation vor über hundert Journalisten, Fotographen und Kameraleuten laut vor sich hin sinniert. Niemand hatte ihn danach gefragt, aber Helmut Kohl sagte: "Ob einer groß ist als Kanzler oder nicht, das ist keine Frage der Zeitgenossen, das wird später beurteilt." Und ohne zu wissen, ob man ihm dereinst ein Monument setzen werde, schwang er sich aufs hohe Roß der Demut: "Die, die sich die größten Denkmäler gebaut haben, werden später am wenigsten noch in den Denkmälern aufgesucht." Schon in dieser Stunde tauchten aus dem Nebel der Geschichte die Umrisse von Helmut dem Großen auf, der ständig Brücken baut "zwischen Ost und West", der sich selbst als Akteur sieht in "einer Brückenfunktion, die uns zuwächst". In Wahrheit wußte er nicht einmal, ob er nun in Warschau bleiben oder nach Deutschland fliegen sollte.

Am nächsten Morgen war alles anders. Helmut Kohl hatte während der Nacht ausdauernd mit seinen Leuten in Bonn telefoniert, die seine Anwesenheit in Berlin für dringend nötig hielten. Konrad Adenauer war der geteilten Stadt ferngeblieben, als die Mauer gebaut wurde. Das hatte Kohl nie verstanden. Sollte er jetzt fehlen, wenn sie fiel? Plötzlich waren dem Kanzler Bewegung und Aufregung anzusehen. Gegen den deutlichen Wunsch der polnischen Gastgeber beschloß er, den Besuch zu unterbrechen und für gut vierundzwanzig Stunden nach Deutschland zu reisen. Den deutschen Journalisten und Wirtschaftsbossen teilte er das auf der Straße neben jenem Denkmal mit, vor dem Willy Brandt gekniet hatte. Wohin der Kanzler reisen würde, was er zu tun gedenke, sagte er nicht. Den Medienmenschen eröffnete er die Alternative, entweder in Warschau auf seine Rückkehr am Samstagabend zu warten, oder – in einer gesonderten Pressemaschine – direkt nach Bonn zu fliegen.

Ich habe mich mit niemanden beraten. Vom ersten Augenblick an war mir klar, daß ich versuchen müßte, irgendwie am Kanzler dranzubleiben. Was sollte ich in Warschau in dieser Situation? Und was in Bonn, wenn er doch vermutlich nach Berlin fliegen würde? Um Helmut Kohl zu beobachten bei diesem historisch und politisch delikaten Polenbesuch, war ich mitgereist. Jetzt war die Beobachtung noch aufregender. Allerdings lagen meine Chancen, mit in die Kanzlermaschine zu kommen, ziemlich nahe bei null. Schließlich hatte Kohl mich seit seinem Amtsantritt eigenhändig von allen Begleitlisten gestrichen. Dennoch – ich mußte es versuchen.

Als angebliches Mitglied der deutschen Delegation mogelte ich mich am Flugplatz durch die polnischen Sicherheitskontrollen und gelangte so zumindest erst einmal bis vor die Maschine. Das hatten außer mir von den gut zweihundert Kollegen nur noch zwei geschafft. Auch sie hatten sich, um Delegation zu mimen, wie ich pikfein in Schale geschmissen und sich hochnäsig geriert, als sie die Posten passierten. Doch Außenminister Genscher, Umweltminister Töpfer, Norbert Blüm und Finanzminister Theo Waigel hielten unseren Versuch für aussichtslos. "Ihr glaubt doch nicht im Ernst, daß der Kanzler euch mitnimmt?"

Der kam und federte sichtlich beflügelt die Gangway zur Maschine hinauf. Für ihn hatte es am gestrigen Abend zwei historische Ereignisse gegeben: In Berlin war die Mauer gefallen, und in Bonn hatten sich Abgeordnete aller Parteien im Deutschen Bundestag von ihren Sitzen erhoben und gemeinsam das Deutschlandlied gesungen. Das hatte ihm sein Pressesprecher Johnny Klein noch während des offiziellen Banketts im Palais Radziwill erzählt. Selbst einige Grüne hatten sich von ihren Plätzen erhoben. Für das sentimentale Gemüt Helmut Kohls war eines so symbolträchtig wie das andere. Bevor er in der Maschine verschwand, hörten wir, wie ihm seine Büroleiterin Juliane Weber zuraunte, indem sie auf uns drei Pressefiguren wies: "Herr Bundeskanzler, da unten steht die elegante Linke. Sollten wir die nicht mitnehmen?" Und dann geschah das nächste historische Wunder. Kohl blickte einen Augenblick auf uns herab, dann winkte er. Er kannte keine Presse mehr, er kannte nur noch Deutsche.

Wir flogen über Skandinavien nach Hamburg, da die Luftwaffe Berlin nicht ansteuern durfte. Der Kanzler wirkte geradezu euphorisch. So als summe in ihm unablässig das "Lied der Deutschen", düste Kohl gen Westen. Im Flugzeug schrieb er mit eigener Hand seine Rede nieder, die er, im Gang stehend, sich selbst vorlas – kein Zweifel, Helmut Kohl war bereit für die historische Stunde. In Hamburg stieg der Kanzler mit seiner Regierungsmannschaft in eine kleine Militärmaschine des amerikanischen Botschafters Vernon Walters um, in der für uns kein Platz war. Aber die Mirakel dauerten an: Wir drei Journalisten, dazu ein Fernsehteam des NDR, flogen mit einer eigens gecharterten Boeing der BA hinterher. In Tegel wartete eine Polizei-Eskorte auf Motorrädern, um uns mit Sirenengeheul durch das total verstopfte Westberlin zum Rathaus Schöneberg zu bringen, wo die politische Prominenz der Bundesrepublik Ost- und Westberliner zu einer Kundgebung geladen hatte.

Für Helmut Kohl war es ein Desaster. Er wurde ausgepfiffen und niedergebrüllt. Seine Berliner Parteifreunde hatten eine eigene CDU-Kundgebung an der Gedächtniskirche organisiert, alle "Helmut, Helmut"-Jubler waren dort. Die Stars am Rathaus Schöneberg waren Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher – der sich nach des Kanzlers Geschmack schon bei der Jubelarie auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag allzu aufdringlich in den Vordergrund gespielt hatte – und vor allem der Mann mit dem provozierend roten Schal, der Regierende Bürgermeister Walter Momper. Daß der ausdrücklich betonte, es ginge um Wiedersehen, nicht um Wiedervereinigung, brachte Kohl an den Rand der Raserei. "Der will eine andere Republik", murmelte er ein ums andere Mal. Und: "Lenin spricht."

Das Allerschlimmste aber sei für ihn gewesen, bekannte Helmut Kohl später, daß der "linke Pöbel" auf dem Platz das Deutschlandlied, das er mit Inbrunst angestimmt hatte, auspfiff und niederbrüllte. Mund und Stimme so schief nach oben verzerrt wie den Blick, sang er unbeirrt gegen das Gejohle unter ihm an. Und dort, wohin er ins Weite blickte, mußte irgendwo die Geschichte sein, deren Sonnenseite Helmut Kohl plötzlich unheilvoll verdüstert sah. Lachhaft wirkte dieser monströse Auftritt, lachhaft und furchterregend zugleich. Es wurde ein schauerlicher Gesang. Die ganze aufgeregte und chaotische Vielstimmigkeit der Bonner Führungselite schlug sich in dieser kakophonen Darbietung nieder, die im Protest der Menge unterging. Die Berliner alternative Tageszeitung taz verteilte eine CD dieser musikalischen Kostbarkeit mit ihrer nächsten Ausgabe.

So hatte sich Helmut Kohl, der – eingezwängt hinter der Balustrade des Rathauses stehend – nebenher auch noch Gorbatschow telefonisch versichern mußte, daß in Berlin alles unter Kontrolle sei und für die Alarmierung sowjetischer Truppen kein Anlaß bestehe, den Auftakt der Deutschen Einheit nicht vorgestellt. Entsprechend schnell und rückstandslos verdrängte er die Ereignisse – bis auf Walter Mompers Auftritt. "Schändlich" fand er den, den Beifall dafür "bestellt". Noch am nächsten Tag, auf dem Rückflug nach Warschau, äußerte der Kanzler, wie einen Refrain, kopfschüttelnd immer wieder den Satz: "Der will eine andere Republik."

Ansonsten hatte er am Checkpoint Charly Brüder und Schwestern aus dem Osten getroffen, glückliche Menschen allüberall, alles so "positiv" und er mittendrin. "Wie auf den Champs-Élysées am 14. Juli", erzählte er am nächsten Tag François Mitterrand am Telefon. In eine Gruppe von Brandenburgern war der Kanzler geraten, lauter 16-Jährige, und die Autos mußten halten – "aber kein Gehupe, kein Vogelzeigen; die kommen einfach mal raus, und dann hoch die Tassen, phantastisch". So war es in Berlin. Und war nicht auch das ein Symbol? Der Kanzler, der unbemerkt vom Fernsehen – was er an anderer Stelle heftig rüffelte – als Mensch wie du und ich im jubelnden Volk stand? Ein glücklicher Sieger wie alle, nur größer?

Ich hatte Helmut Kohl im Gewühl nach der Kundgebung verloren, dafür Hans-Jochen Vogel getroffen, der mir anbot, zusammen mit Willy Brandt nach Ostberlin zu fahren, um die neuen Genossen von der Ost-SDP zu treffen. Ich mußte aber nach Bonn, um am nächsten Tag wieder mit dem Kanzler zurück nach Warschau fliegen zu können. Ich hängte mich an Hans-Dietrich Genscher und gelangte so völlig unerwartet zu einem Zwischenstopp in der rheinischen Idylle, wo alles seinen üblichen Gang ging und am nächsten Morgen – am 11.11. um 11 Uhr 11 – die Karnevalssaison begann. Die deutsche Einheit gab es nur im Fernsehen.

An diesem Morgen, als auf dem Godesberger Theaterplatz die Jecken schunkelten, traf ich meine ganz persönliche Berlin-Entscheidung. Dort waren jetzt endlich die Dinge in Bewegung geraten, die lähmende Immobilität der Bonner Republik wurde von außen aufgebrochen. Dort wollte ich leben. Daß ich aus Bonn wegstrebte, war schon vorher klar gewesen. Jetzt wußte ich, wo in den nächsten Jahren die "action" sein würde.

Mich beflügelte plötzlich eine Empfindung, als hätte mir jemand eine große Last abgenommen. Mit nationaler Emphase hatte das nichts zu tun, an ein vereintes Deutschland dachte ich da noch keinen Augenblick – nur an Aufbruch. Die Stimmung in Berlin, die Bilder im Fernsehen, die Telefonate mit Frau und Tochter, die beide an diesen Tagen zufällig in Leipzig waren, meine unmittelbare Nähe zu einem Geschehen, dessen Grundstimmung Freude war und dessen Ausgang ganz und gar ungewiß – das alles wirkte wie ein euphorisierender Energiestoß. Bonn, so viel war klar, hatte ich hinter mir.

Zu meiner großen Verwunderung blieb Helmut Kohl auch auf dem Rückflug nach Warschau uns Journalisten gegenüber ausgesprochen aufgekratzt. Er erzählte von seinen Telefongesprächen mit George Bush, Mitterrand, Margret Thatcher, Egon Krenz und Felipe Gonzáles, machte aber in keiner Weise den Eindruck, als rechne er – trotz seines Zorns über die Momper-Bemerkung – selbst in absehbarer Zeit mit der Vereinigung.

Schon in der Nacht, Abfahrt drei Uhr, fuhren wir von Warschau aus mit dem Bus weiter nach Auschwitz, dann durch Breslau ins früher schlesische Kreisau, wo die Hitler-Widerständler ihre konspirativen Pläne geschmiedet hatten. Hier endlich, während einer Messe auf dem Gut des von den Nazis hingerichteten Widerständlers Helmuth Grafvon Moltke, verdichtete sich des Kanzlers historisch überhöhte Wunschwelt, sorgsam inszeniert, zur Hauptmetapher seiner Reise. Da pfiff keiner, da buhte niemand.

"Helmut, Helmut", riefen die polnischen Schlesier, "denk an uns, du bist auch unser Kanzler." Weihrauch wallte; Transparente, Fahnen flatterten, und die Fernsehkameras schweiften über jenen gelben Baldachin, unter dem auf ausdrücklichen Wunsch Kohls vor den frisch getünchten Wänden der arg heruntergekommenen Gutsgebäude seine Minister saßen. Und Kohl selbst lieferte die Interpretation: "Wir haben die Geschichte gespürt. Sie war da, gerade auf diesem Platz in Europa."

Alles floß in dieser Inszenierung zusammen, was des Kanzlers heile Welt nährte: nationaler Stolz und katholische Glaubensfestigkeit, historische Rechtfertigung durch Verweis auf "den deutschen Widerstand gegen die Tyrannei", die zeremonielle Beschwichtigung der Verlierer von gestern und die vereinnahmende Freundschaftsumarmung des Siegers von heute. Unvergeßlich, wie der Koloß Kohl den schmächtigen polnischen Ministerpräsidenten an seiner Brust fast zerqueschte. Der gebeugte Tadeusz Mazowiecki, den seine Landsleute einen "Schmerzensmann" nannten, hatte für seine Überzeugungen sichtbare Verwundungen erlitten. Kohls stabiles Weltbild diente – wie das Gewicht, das er auf die Waagschale der Geschichte brachte – vorwiegend dazu, sich die unbequemen, widersprüchlichen, schmerzlichen Seiten des Lebens vom Leibe zu halten.

Bonn – Warschau – Berlin – Bonn – Warschau – Auschwitz –Kreisau – Bonn in drei Tagen, und das immer in Sichtnähe zum Bonner Regierungschef, während sich vor unseren Augen die Welt veränderte. Diese Reise gehörte mit ihrem Übermaß an Realität zu den unwirklichsten Erlebnissen meines journalistischen Lebens. Helmut Kohl wirkte, je mehr passierte, geradezu erleichtert, wenn er im Stützkorsett protokollarischer Routine oder vorgeplanter Veranstaltungen Halt und Sicherheit fand. Mir schien er bedrückter und verunsicherter, je deutlicher ihm wurde, daß sein gehätschelter Status quo der Nachkriegszeit endgültig zu Ende war.

Einsam und wie in sich selbst verkrochen saß Kohl in der folgenden Woche während der ersten Plenarsitzung nach dem Fall der Mauer auf der Regierungsbank im Bundestag. Der Kanzler hatte seine Pflicht getan. Die kenne er, versicherte er im letzten Satz einer so lustlos, fast mürrisch vorgetragenen Regierungserklärung, daß Willy Brandt den Kanzler mahnte, jetzt bloß nicht "die beleidigte Leberwurst zu spielen". Schämte er sich, weil er im entscheidenden Augenblick nicht im Lande gewesen war? Ärgerten ihn noch die Pfiffe von Berlin? Ängstigten ihn die mißtrauischen Reaktionen der europäischen Freunde in London, Paris und Rom? Quälte ihn Ratlosigkeit über den nächsten Schritt?

"Die ganze Welt schaut heute auf die Deutschen", hatte Helmut Kohl vom Blatt gelesen. Dabei wirkte er, als wäre es ihm peinlich, mit in den Blick zu geraten. Nicht trotzig gab sich der Regierungschef, nicht arrogant oder hochfahrend – eher resigniert, als sei er der einzige Verlierer der vergangenen Tage. Nahezu unbewegt sprach er von bewegenden Ereignissen, unfroh über "Freude und Genugtuung", ganz und gar unfeierlich über das "Fest des Wiedersehens, der Zusammengehörigkeit und der Einheit". Bis zur Tonlosigkeit abgeflacht klang seine Stimme, in der eine Woche zuvor das Pathos vibriert hatte, als sei jeder Satz dem Text der Nationalhymne entliehen. Später würde er den Weg, der jetzt begann, als "Durchquerung eines Hochmoors" charakterisieren. "Wir standen knietief im Wasser, Nebel behinderte die Sicht, und wir wußten nur, daß es irgendwo einen festen Pfad gab."

Vor allem aber ging alles zu schnell. Wie eine "tektonische Verschiebung" war Umweltminister Töpfer am Abend des 9. November die Situation beim Staatsbankett in Warschau vorgekommen:

Über die eine Wirklichkeit wurde noch geredet, da schob sich die andere darüber.

Dieser Prozeß dauerte an. Er schien Kohl zu lähmen, der in den folgenden Wochen die deutsch-deutsche Szene Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher und Lothar Späth überließ. Erst auf energisches Drängen seiner Mitarbeiter raffte er sich zu jenem Zehn-Punkte-Programm auf, das später zu einer Art Magna Charta der Deutschen Einheit hochgefeiert wurde. Gewiß gelang es Kohl, mit seiner mit niemandem abgestimmten Überraschungsrede am 28. November im Bundestag wieder Tritt zu fassen im innerdeutschen Vereinigungsprozeß. Aber an einen baldigen staatlichen Zusammenschluß, wie nachträglich gern behauptet wurde, glaubte der Kanzler da noch keineswegs. Kohl:

Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Daß aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen – dessen bin ich sicher.

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