Auszüge aus Ronald D. Laing's
"Weisheit, Wahnsinn, Torheit"

Der Werdegang eines Psychiaters 1927-1957

Und doch wußte er, daß dies nicht die Chronik des endgültigen Sieges sein konnte. Sie konnte nur das Zeugnis dessen sein, was man hatte vollbringen müssen und was ohne Zweifel noch alle jene Menschen vollbringen müssen, die trotz ihrer inneren Zerrissenheit gegen die Herrschaft des Schreckens und seine unermüdliche Waffe ankämpfen, die Heimsuchungen nicht anerkennen wollen, keine Heiligen sein können und sich dennoch bemühen, Ärzte zu sein.
(Albert Camus, "Die Pest")

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Einleitung

In den letzten zehn Jahren oder so hat mich meine Tätigkeit in viele Teile der Welt geführt, wo ich alte Freunde traf, denen ich vorher noch nie begegnet war. Diese Leute kannten mich von meinen Büchern und von Berichten über ein 1964 in Kingsley Hall (einem Gemeindezentrum in London) begonnenes Experiment, bei dem ein paar von uns mit einer ganzen Anzahl von stark gestörten "psychotischen" Menschen zusammenlebten, die sonst in einer Heilanstalt oder einer psychiatrischen Abteilung gewesen und dementsprechend behandelt worden wären. Unter uns gab es keinen Stab, keine Patienten, keine verschlossenen Türen, keine psychiatrische Behandlung in der Absicht, einen Geisteszustand einzudämmen oder zu verändern.

Wir ließen einander alle Freiheiten: die Freiheit, zu denken, zu sehen und zu empfinden, wie und was man wollte; die Freiheit des Biorhythmus (Autorhythmus) für uns alle. Auf der anderen Seite ist ein regelwidriges Verhalten – aus welchen Gründen und welcher Art auch immer – unannehmbar. In dieser oder jeder anderen Frage nahmen wir das Risiko gemeinsam auf uns.

Da dies in mancherlei Hinsicht das genaue Gegenteil der üblichen psychiatrischen Vorgehensweise ist, hat, es Anlaß zu viel Kritik und Meinungsverschiedenheiten und Mißverständnissen gegeben. Ich werde oft gefragt, wie ich mir als Psychiater eine – richtige oder falsche – Einstellung zur Psychiatrie aneignen konnte, die sich in weiten Teilen von der Psychiatrie, in der ich ausgebildet worden bin, stark unterscheidet und manchmal im Streit mit ihr liegt. Diese Lebenserinnerungen geben eine Antwort auf solche Fragen. Sie umfassen die ersten dreißig Jahre meines Lebens, von 1927 bis 1957. Ich mache nicht den Versuch, mich zu rechtfertigen oder zu beweisen, daß ich recht habe. Ich habe vielmehr versucht, Aspekte meiner Welt und meiner Reaktionen auf diese Welt zu schildern. In diesen Erinnerungen findet sich nichts über mein Sex- und Familienleben, wenig über Freunde und mein Privatleben, fast nichts über Theorien, Bücher, Artikel, wissenschaftliche Details. Was ich schildere, sind Dinge, die mich unterwegs "getroffen" haben, als ich nach und nach das Leiden sehen und darauf reagieren lernte, in das die Psychiatrie auf andere als die gewöhnliche Art verwickelt ist. Dieser Unterschied hat nichts mit wissenschaftlichen Tatsachen zu tun. Soweit mir bewußt ist, habe ich nie gesagt, eine wissenschaftliche, klinische, medizinische Tatsache sei nicht genau das, was sie ist: eine wissenschaftliche, klinische, medizinische Tatsache. Aber man kann dieselben Tatsachen unterschiedlich sehen. Man kann sie unterschiedlich auslegen. Diese unterschiedlichen Standpunkte will ich hier beschreiben und dabei zeigen, wie ich zu meinem eigenen gekommen bin. Die Tatsachen selbst sind nicht umstritten. Ich glaube, eine ernsthafte Beschäftigung mit den Fragen, die daraus entstehen, daß ein und dieselbe Sache unterschiedlich gesehen wird, kann für sich allein dazu beitragen, einen Teil der Angst, des Leidens, des Wahnsinns und der Torheit auf der Welt zu verringern. Als junger Psychiater in allgemeinen Krankenhäusern und psychiatrischen Kliniken habe ich Leute in geschlossene Abteilungen gesteckt und Drogen und Injektionen ebenso verordnet wie Gummizellen und Zwangsjacken, Elektroschocks und Insulinschocks und was es da sonst noch alles gibt. Bei Lobotomien hatte ich ein ungutes Gefühl, wußte aber nicht recht, warum. Gewöhnlich wurden diese Behandlungsmethoden gegen den Willen der Betroffenen angewandt. Ich hatte einen weißen Mantel an, und in den Taschen steckten – wie bei jedem anderen Arzt – Stethoskop, Reflexhammer und Augenspiegel. Und wie jeder andere Arzt untersuchte ich Patienten klinisch. Ich ließ Blut- und Urinproben und Rückenmarksflüssigkeit im Labor analysieren, machte Elektroenzephalogramme und so fort.

Alles glich der sonstigen Medizin, und doch war es anders. Ich war verwirrt und beunruhigt. Kaum einer meiner Psychiatrie-Kollegen schien verwirrt oder beunruhigt zu sein. Und das verwirrte und beunruhigte mich erst recht.

Psychiatrie heute

Die Psychiatrie von heute besteht aus einer Reihe von Einrichtungen in einem Netzwerk aus medizinischen Einrichtungen, das den größten Teil der Welt umspannt – Europa, die USA, die UdSSR, China, Australien, Neuseeland, Teile Südamerikas, Afrikas, Indiens usw. In ihrer Theorie, ihrer Praxis, ihren Funktionen, ihrer Stellung und ihrem Einfluß ist sie ein wesentlicher Bestandteil dieser größeren Einrichtungen. Alle angehenden Psychiater müssen als Medizinstudenten und junge Ärzte tief in die Medizin als Ganzes eintauchen, ehe sie Psychiater werden können. Diese medizinische Ausbildung unterscheidet Psychiater von Nichtmedizinern, die mit geistig-seelischen Erkrankungen zu tun haben. Nicht jeder Arzt ist Psychiater, aber jeder Psychiater ist Arzt. Es ist möglich, daß einer als Psychiater aufhört, ohne daß er damit auch aufhört, Arzt zu sein. Hört er jedoch als Arzt auf, ist er auch kein Psychiater mehr.

Mit dem Wort "Psychiatrie" wurde ein Begriff geprägt, der sich auf die Einrichtung einer Disziplin innerhalb der Medizin bezieht. Etymologisch bedeutet das Wort psychologisches Heilen, jene Wissenschaft und Kunst also, die mit dem Heilen der Psyche, des Geistes, der Seele der Person befaßt ist. Doch die Psychiatrie ist faktisch ein Zweig der Medizin. Die medizinische Psychiatrie ist nur einer der möglichen Wege zur Kunst des psychologischen Heilens. Ein Geistheiler kann Psychiater sein.
Ein Psychiater kann, muß aber nicht, ein Geistheiler sein. Ein Geistheiler kann Priester oder Schamane sein. In Zivilisationen, die technologisch immer noch nicht entwickelt – oder kaputtgemacht – sind, sind mir mehrmals "primitive" Priester, Schamanen, Medizinmänner begegnet, die medizinische Qualifikationen haben. Aber das ist sehr selten. Die Kunst des nichtmedizinischen psychiatrischen Geistheilens hat mit der Psychiatrie nichts zu tun, jedenfalls im Augenblick nicht; in Zukunft könnte es aber durchaus zu einer stärkeren wechselseitigen Befruchtung kommen.

Als Medizinstudent (1945-1951) bin ich innerhalb der medizinischen Psychiatrie selbst auf keinen derartigen Riß gestoßen. Für mich war die Psychiatrie eine Abteilung der Medizin, und sie hatte selber mehrere Unterabteilungen: Es gab – und es gibt sie heute noch – verschiedene "Schulen" oder Richtungen innerhalb der Psychiatrie. Ich brauchte ziemlich lange, um hinter die medizinpolitische Bedeutung dieser Richtungen zu kommen – der biologisch-organischen, der dynamischen, der sozialen, der existentiellen usw. –, und ich brauchte mehrere Jahre, um zu begreifen, wie sehr sich die "Psychiatrie" als Ganzes vom Rest der Medizin unterscheidet. Es gibt medizinische Fakultäten, die den Studenten "Psychiatrie" praktisch als Neurologie vermitteln. Psychiatrie ist in Wirklichkeit Neuropsychiatrie, Neuropsychiatrie ist in Wirklichkeit die Wissenschaft von den Nerven. Psychiatrie, Neuropsychiatrie und Neurologie sind im Grunde genommen Zweige einer auf die Medizin angewandten Biologie (einschließlich der Genetik, Biophysik und Biochemie). Auch der Begriff der "Medizin" hat seine Tücken. Er wird manchmal für die Gesamtheit der Mediziner gebraucht, für die Medizin im allgemeinen, zugleich aber für die allgemeine Chirurgie, Geburtshilfe und Gynäkologie, öffentliche Gesundheitspflege, Kinderheilkunde, Geriatrie, Psychosoziale Medizin, Neurologie, Dermatologie und für Spezialgebiete innerhalb von Spezialgebieten – Neurochirurgie, Herzchirurgie, Thanatologie. Als Zweig der modernen Medizin des Westens – innerhalb der internationalen medizinischen Gemeinschaft – wird die Psychiatrie oft als eine wesentliche Abteilung der Medizin-im-allgemeinen gleichrangig neben die Chirurgie, die innere Medizin, die Geburtshilfe und die Gynäkologie gestellt, obschon sie mancherorts als Teilbereich eines Teilbereiches angesehen wird, als Zweig eines Zweiges (Allgemeinmedizin) der Medizin im umfassenden Sinn. Die Psychiatrie hat ihre eigenen Unterabteilungen, von der Kinderpsychologie bis zur Psychogeriatrie, und wendet sich mit verschiedenen Verfahren verschiedenen Branchen zu – dem biologischen zum Beispiel oder dem sozialen.

Die Psychiatrie hat viele Funktionen. Einige davon decken sich mit denen anderer Bereiche der Medizin im Westen, aber die Psychiatrie ist in mehr als einer Hinsicht einzigartig. Sie ist der einzige Zweig der Medizin, der Menschen physisch behandelt, auch wenn keine physische Pathologie vorliegt. Sie ist der einzige Zweig der Medizin, der allein das Verhalten "behandelt", auch wenn keine Krankheitssymptome der üblichen Art vorliegen. Sie ist der einzige Zweig der Medizin, der Menschen gegen ihren Willen und nach eigenem Gutdünken behandelt, wo sie das für notwendig erachtet. Sie ist der einzige Zweig der Medizin, der Patienten einsperrt, wenn ihr das notwendig erscheint.

Ich schien Teil einer gemeinschaftlichen Anstrengung geworden zu sein, unerwünschte Geisteszustände und Verhaltensweisen abzustellen und unerwünschte Menschen, die in solchen unerwünschten Geisteszuständen und Verhaltensweisen verharrten, von den Menschen draußen, die sie nicht um sich haben wollten, fernzuhalten. Italienische Psychiater bieten diesen Dienst seit kurzem fast gar nicht mehr an. Kann unsere Gesellschaft, so wie sie ist, darauf verzichten? Wie sieht die Alternative aus? Eingreifen, wenn die Krise da ist? Aber was ist, wenn eine unerträgliche, ausweglose Situation entsteht? Angenommen, ein Geiger in einem Orchester spielt unsauber und hört es nicht und glaubt es nicht und will das Feld nicht räumen und besteht darauf, seinen Platz einzunehmen und bei allen Proben und Konzerten zu spielen und die Musik zu verderben – was ist da zu machen? Gibt es denn, wenn alle Überredungskunst scheitert, eine andere Möglichkeit, als ihn oder sie gegen seinen oder ihren Willen mit physischer Gewalt entfernen zu lassen und so lange fernzuhalten, wie er oder sie darauf beharrt, allen anderen den Spaß zu verderben, ob man ihn oder sie nun als krank ansieht oder nicht?
Es ist nicht leicht. Was tun wir, wenn wir nicht wissen, was zu tun ist? Ich will den Burschen nicht mehr sehen, nicht mehr hören, nicht mehr an ihn denken. Ich will mit der Musik weitermachen. In Ordnung? Aber wie gehe ich vor? Was würden wir ohne Psychiater anfangen? Wenn nicht die Psychiater, dann die Polizei? Die Polizei reißt sich nicht darum, als "Lückenbüßer" einzuspringen.

Diese Situation ergibt sich in unserer Gesellschaft immer dann, wenn Menschen – wie sehr man sie auch liebt oder achtet – für andere unerträglich werden. Niemand, den sie kennen, will mit ihnen zusammenleben. Sie brechen kein Gesetz, aber sie wecken in den Menschen ihrer Umgebung Mitleid, Besorgnis, Angst, Ekel, Unwillen, Erbitterung – Gefühle, die so eindringlich sind, daß etwas geschehen muß. Ein Sozialarbeiter oder Psychiater wird "hinzugezogen". Er oder sie haben die Aufgabe, besonnen und verantwortungsbewußt zu entscheiden, was geschehen soll. Als erstes muß die kritische, maßgebliche Frage entschieden werden: Sollte diese oder jene Person weggebracht, eingesperrt und eine Zeitlang beobachtet werden? Es folgt die zweite Entscheidung: Sollte diese Person nicht länger drinbleiben, damit sie weiter beobachtet und vielleicht auch "behandelt" werden kann? In Italien, wo es Psychiater ablehnen, solche Entscheidungen zu treffen, bemüht man sich um eine Weiterentwicklung der Kunst, der "Gruppe" lediglich zu helfen, mit der "Krise" aus eigener Kraft fertigzuwerden. Wo liegen die gewöhnlichen Grenzen gewöhnlicher Menschen? Der "Bedarf" an dieser Dienstleistung, am Wegbringen, Isolieren und Behandeln, wird nicht von Psychiatern geschaffen. Die Nachfrage kommt vom Konsumenten. Solange es eine solche Nachfrage gibt, wird irgendeine Gruppe beauftragt werden, sie zu befriedigen. Dieses Eingreifen muß nicht in jedem Fall unter ärztlicher Kontrolle erfolgen. Man kann sich unsere Gesellschaft nur schwer ohne eine solche Dienstleistung vorstellen, ob sie nun der Kontrolle von Medizinern untersteht oder nicht.

Da sitzt er. An einem Freitagabend um zehn, in einem verlassenen Büro im Herzen Londons. Er bewegt sich nicht. Er redet nicht. Seit zwölf Stunden sitzt er so da. Niemand weiß, warum. Niemand weiß, wer er ist. Klinik oder Gefängnis? Die Polizei will ihn nicht. Die Klinik muß es sein. Die Klinik ist es.

Der Übeltäter oder Störenfried wird in eine geschlossene Abteilung gebracht. Er wird beobachtet. Er bewegt sich nicht. Er redet nicht. Wenn sich das nicht bald ändert, wird er einen oder mehrere Elektroschocks verabreicht bekommen. Er wird so lange in "unfreiwilligem Gewahrsam" bleiben, bis er auf irgendeine Weise wieder zu sich kommt. Um dieses Vorgehen zu genehmigen, unterschreibt ein Psychiater (oder zwei) ein Formular, mit dem die Genehmigung erteilt wird. Könnte es denn anders ablaufen, so wie die Dinge liegen?

Wenn wir wollen, daß eine bestimmte Gruppe die Macht hat, all das zu tun, was erforderlich ist, um andere zu bremsen, aufzurütteln oder zu verändern, dann gibt es keine Gruppe, die dazu besser in der Lage wäre, als Psychiater. Wir sollten den Psychiatern nicht vorwerfen, daß wir ihnen eine so weitreichende Macht anvertrauen, zumal diese Macht – soll ihre Ausübung den Erwartungen entsprechen – routinemäßig ausgeübt werden muß.

...

Familie und Schule

Die Familie

Die Geschichte meines familiären "Hintergrundes", von meinem Vater und meiner Mutter, von meinem Großvater, von der Schwester des Großvaters meines Vaters, von der Mutter meiner Mutter, von Tanten und Onkeln, ob richtig oder falsch, wurde mir als eine Tatsache dargestellt.

Die Familie meines Vaters sah ihre Vorfahren in den Wikingern, die sich im Nordosten Schottlands niedergelassen hatten. Sie waren aus dem Norden nach Schottland gekommen, hatten aber vergessen, woher – aus Skandinavien, wahrscheinlich aus Norwegen. Die Familie meiner Mutter zählte sich zu den keltischen Protestanten aus dem Südwesten Schottlands.

In der Familie meines Vaters hatten sie alle blaue Augen, in der Familie meiner Mutter hatten sie alle dunkle Augen. Ich habe dunkle Augen. Ich dachte oft, meine Mutter sehe fast wie eine Spanierin aus, fast wie eine Jüdin.

In der Familie meines Vaters gab es eine Großtante, die Altphilologie unterrichtete. Ein Großonkel meines Vaters hielt den Rekord des ältesten Studenten, der je die Universität von Aberdeen absolvierte; als er seinen Magistergrad erhielt, war er fünfundsiebzig. Unter meinen Verwandten auf beiden Seiten der Familie gab es Töpfer, Glas- und Porzellanmaler, Lehrer, Pfarrer. Mein Großvater väterlicherseits war Marineingenieur. Mein Vater wurde mit vierzehn in eine Werft am Clyde – Mavers & Colston – in die Lehre gegeben, ging mit siebzehn als einfacher Soldat zum Royal Tank Corps und war am Kriegsende Oberleutnant im Royal Air Corps und verbrachte den Rest seines Arbeitslebens als Elektroingenieur in Diensten der "Corporation of Glasgow", wo er sich auf die Instandhaltung des Stromnetzes der Stadt Glasgow spezialisierte.
Er sang auch über zwanzig Jahre lang im "Glasgow University Chapel Choir", wo er Stimmführer im Bariton war. In dieser Funktion lernte er so manchen berühmten Gastmusiker kennen. Es war, glaube ich, sein schönstes Erlebnis, zu singen, während Albert Schweitzer Orgel spielte, und anschließend einen kleinen Spaziergang mit ihm zu machen. Sein größter Held – aus seiner und auch meiner Zeit – war Mahatma Gandhi.

Meine Großmutter väterlicherseits beanspruchte für ihre Seite der Familie Robert Louis Stevenson als Großonkel und daher auch George Stevenson, R. L.’s Vater, als Vorfahr. In einigen Teilen der Highlands und der Inseln im Westen Schottlands ist R. L. Stevenson immer noch in erster Linie als Sohn George Stevensons bekannt, der in dieser Gegend etliche Leuchttürme erbaut hat. Eine meiner frühesten Erinnerungen gilt einem Ausflug zu einem seiner Leuchttürme im Firth of Clyde. Ich wurde ausgezankt, weil ich eine große Glasplatte berührte. Aber es könnte auch alles ein Traum gewesen sein.

Ob Kelten oder Wikinger, seit ein paar Jahren waren jedenfalls beide Seiten der Familie schottisch. Anderes Blut gab es unseres Wissens nur einmal in der Familie, und es floß durch meine Adern. Eine der Schwestern meiner Mutter hatte einen Engländer geheiratet. Sie behandelten ihn mit ausgesprochener Höflichkeit.

Meine Großeltern erlebten den Burenkrieg. Meine Eltern und alle Erwachsenen hatten den "Großen" Krieg, den Ersten Weltkrieg, erlebt. Ich erlebte das Ende der Gaslaternen und Pferdekutschen, den spanischen Bürgerkrieg und den Zweiten Weltkrieg. Ich wurde ein Jahr nach dem Generalstreik von 1926 geboren, als auf Winston Churchills Anordnung Panzer durch Glasgow patrouillierten. Der Große Krieg, der Letzte Krieg, sollte der letzte Krieg gewesen sein, der Krieg, dem nie wieder ein Krieg folgen würde. Es gab einen Völkerbund. Aber ich kannte keinen, der dieses Märchen geglaubt hätte. Keiner war überrascht, als wir alle zuhörten, wie uns Chamberlain im Radio erzählte, nach einer gewissen Verzögerung sei nun der Vorhang endlich aufgegangen. Niemand in meiner Umgebung – meine Eltern, Großvater, Tanten, Onkel, Lehrer, andere Kinder, Freunde der Familie – zweifelte daran, daß es Krieg geben würde, einen furchtbaren Krieg, furchtbarer als alle bisherigen.

Als der Zweite Weltkrieg begann, konnte sich niemand vorstellen, daß er einmal zu Ende gehen könnte, ohne uns vorher die schlimmsten Erlebnisse gebracht zu haben: grenzenlose Verwüstungen, Giftgas, biologische Kriegsführung, Folter, Verstümmelung, Vergewaltigung, Plünderungen, Massaker, Tote und Tote und Tote, Granaten, Bomben, Seekrieg, Nahrungsmittelknappheit, Hungersnot und Seuchen, und das alles nicht zum ersten und vermutlich auch nicht zum letzten Mal in der Geschichte. Aber wir dachten alle (es gab nur diesen einen Gedanken), das bedeute mit Sicherheit das Ende der Zivilisation, wie wir sie kannten. Nicht wie wir heute argwöhnen, das Ende der gesamten Makro-Biosphäre und des Ökosystems.

H. G. Well’s Vision in Von kommenden Tagen und Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten kam dem Arbeiter- und Mittelstand in meiner Nachbarschaft am Südufer des Clyde keineswegs unwahrscheinlich vor. Juden, Christen (Katholiken und Protestanten), Atheisten, religiöse Nihilisten, Labour oder Tory, Kommunisten – sie alle sagten: "Jawohl, die Weltrevolution ist unumgänglich; es wird viele, viele Tote geben, aber man kann kein Omelett machen, ohne daß ein paar Eier in die Brüche gehen." Willie Gallacher, Glasgows kommunistischer Unterhausabgeordneter, erinnerte uns immer wieder gern daran, wenn er sonntags abends auf seiner Seifenkiste stand. Das war es nun also. Wir saßen in der Klemme. Gasmasken erinnerten uns daran. Wir gingen alle mit unseren Gasmasken in die Schule. Wir mußten jederzeit damit rechnen, daß wir sie brauchten. Luftschutzkeller, Luftangriffe. Ein Juwel von einer klassizistischen Thomson-Kirche, die Dixon Road rauf, unweit Queen’s Park, am nächsten Morgen in Trümmern.

Hiroshima, Nagasaki, die Dokumentarfilme von den Konzentrationslagern. Noch nie hatte ich, hatte irgend jemand, etwas derartiges gesehen wie diese ersten Aufnahmen von Bergen-Belsen, Buchenwald, Auschwitz bei der Ankunft der Amerikaner und Briten. Ich war bestürzt. War es das nun? Oder würden noch andere Greuel kommen?
Als der Krieg schließlich zu Ende ging, war die Erleichterung riesengroß. Die ganze Nacht hindurch brannten Freudenfeuer auf den Straßen, es wurde gesungen, getanzt, gefeiert, alle waren auf den Beinen, alle Arm in Arm, und es gab, soweit ich mich erinnern kann, keine Zwischenfälle, keine Gewalttätigkeit.
Aber unter den Leuten, die ich kannte und an die ich mich erinnern kann, glaubte keiner, damit – mit dem Ende des Krieges – sei nun das Ende jeder Zerstörung und Vernichtung gekommen. Hiroshima und Nagasaki waren nicht das Ende, sondern der Anfang einer Entwicklung. Das Kriegsende brachte nur eine Pause, aber dafür dankten wir Gott.

Die Atmosphäre damals war ganz anders als während der regelmäßig wiederkehrenden atomaren Bedrohungen und Krisen in den darauffolgenden sechsunddreißig Jahren. Wir wußten, daß wir verloren waren – wenn nicht ein Wunder geschah. Nicht wenige glaubten an Wunder, und Millionen beteten, durch Gottes Gnade möge sich das Wunder einstellen, daß Menschenherzen sich erbarmten, verziehen und bereuten und daß alle die Waffen niederlegten und nie mehr so häßlich zueinander waren und als Brüder und Schwestern vor Gott ein freudvolles, gottergebenes, glückseliges Leben führten. Wie die meisten glaubte auch ich, daß ein weiterer Krieg oder noch Schlimmeres kommen mußte. Es war, als befänden wir uns mit einem Zug auf Kollisionskurs und versuchten, ihn dadurch anzuhalten, daß wir gegen die Rückwand unseres Abteils rannten. Wir waren bereits vom Empire State Building gestürzt und hatten nur noch wenige Meter bis zum Aufprall.

Für uns sah alles danach aus, daß wir – wenn nicht noch ein Wunder geschah – drauf und dran waren, das Ende unserer Zivilisation herbeizuführen.

Brav sein

Das System der Bestrafung, mit dem ich groß geworden bin, war relativ wohltuend und direkt. Ich wurde (a) für meinen Ungehorsam bestraft und (b) für das, was ich an Unrechtem tat – das heißt sowohl für den Ungehorsam, was allein schon unrecht ist, als auch für das, was ich, als ich ungehorsam war, getan hatte und nicht hätte tun dürfen, da es einfach unrecht war, es zu tun, ob mir das nun gesagt worden war oder nicht. Bestimmte Dinge durfte ich, wie mir gesagt wurde, einfach deshalb nicht tun, weil es für mich unrecht gewesen wäre, sie zu tun.

Mir wurde beigebracht, nicht in der Nase zu bohren; nicht vornübergebeugt auf dem Stuhl zu sitzen; keinen Finger ins Ohr zu stecken; natürlich keinen Finger in den Mund zu stecken; den Mund nicht offenzulassen; nicht herumzustottern; nicht geräuschvoll zu essen; nicht aus der Untertasse zu trinken und erst gar nichts in die Untertasse schwappen zu lassen; die Teetasse, mit zwei Fingern, an die Lippen zu heben, nicht die Lippen zu ihr herunterzubeugen; mich anständig zu schneuzen; wie ich mir die Zähne zu putzen, die Haare zu kämmen, die Schuhe zu schnüren, die Krawatte zu binden hatte; rutschende Socken hochzuziehen; auf die richtige Art zu scheißen und mir den Hintern zu wischen; nicht die Augen zu verdrehen; was es heißt, ordentlich zu reden; wann zu reden und mit wem, mit einer ordentlichen Ausdrucksweise – nicht im "Singsang", zum Beispiel, oder mit einem der mindestens ein halbes Dutzend zählenden verbotenen Akzente und einem beträchtlichen Schatz an vulgären Ausdrücken.
Vom siebenten Lebensjahr an hatte ich morgens selbständig aufzustehen, mir die Zähne zu putzen, Hände, Arme, Gesicht und Hals zu waschen, zu gurgeln, das kleine und das große Geschäft zu verrichten, die Hände und den intimen Bereich zu waschen, abzuwischen und abzutrocknen, mich ordentlich anzuziehen, die Haare zu bürsten, mich rechtzeitig an den Frühstückstisch zu setzen, zu essen, ohne dabei ein Buch zu lesen, mein Aussehen im Spiegel zu überprüfen, die Mütze aufzusetzen und, falls nötig, Überschuhe, Schal, Mantel und Handschuhe anzuziehen und mich mit einem Kuß und einem "Wiedersehn" auf den Schulweg schicken zu lassen, mit dem Fahrgeld für Hin- und Rückweg, einem sauberen Taschentuch, einem Federhalter, einem Bleistift, einem Lineal, einem Radiergummi, einem Zeichenkasten, einem Taschenmesser und meinen Büchern in meiner Schultasche auf dem Rücken.

Gewöhnlich – wenn wir nachmittags auf den Sportplatz gingen, wurde es später – war ich um vier Uhr dreißig wieder zu Hause. Dann noch einmal fort zum Musikunterricht oder raus zum Spielen. Um sechs gab’s Tee, nachdem inzwischen auch mein Vater nach Hause gekommen war, danach Klavierspielen – später ging das wegen der Nachbarn nicht mehr – und vielleicht ein bißchen Radio, "The Brains Trust" (C. E. M. Joad, Julian Huxley, der anonyme schottische Doktor, hinter dem sich, wie ich später entdeckte, der Psychoanalytiker Edward Glover verbarg), "Henry Hall’s Guest Night", Charlie Kunz und Chopin; und dann Hausaufgaben, und dann Bad, Bett, Gebete und Schlafen oder Kaminfeuer, Bett, Gebete und Schlafen, die morgendliche Prozedur in umgekehrter Reihenfolge, Ausziehen, Bad, kleines Geschäft, großes Geschäft, Händewaschen und dann ins Bett, Licht löschen, nicht mehr lesen, nicht mehr reden. Wenn es nicht gerade kleinere Reibereien gab (und abgesehen von ein, zwei Vorfällen, die ich noch schildern werde), war ich die meiste Zeit – vorausgesetzt, ich sah ordentlich aus, roch ordentlich und redete ordentlich – so frei wie ein Vogel, solange nur meine Gedanken gut waren und mein Herz rein.

Wenn ich geübt und meine Hausaufgaben gemacht hatte und es noch nicht Zeit fürs Bett war, durfte ich ohne weiteres vor dem Kamin sitzen und meinen Gedanken nachhängen. Meine Mutter und mein Vater sahen keinerlei Veranlassung, mich ohne besonderen Grund zu unterbrechen. Wir führten ein ruhiges Leben. Es gab fast nie irgendwelche besonderen Gründe. Das galt auch, wenn ich übte, Hausaufgaben machte, las. Ich wurde nie in unfairer Weise unterbrochen. Ich konnte im Bett jede beliebige Stellung einnehmen. Solange ich mich nur ruhig verhielt, brauchte ich nicht zu schlafen.

Solange du das und das tust (und das ist nicht zuviel verlangt, wenn man bedenkt, was wir schon für dich getan haben und immer noch tun und noch zu tun haben werden) und das und das nicht tust (und wenn wir dir sagen, du sollst irgend etwas nicht tun, dann gibt es immer einen guten Grund), brauchst du dich nicht schuldig zu fühlen oder zu schämen, ganz gleich, was du denkst oder empfindest oder dir vorstellst oder tust, vorausgesetzt, es ist nichts Böses.

Du weißt, wir brauchen es dir nicht zu sagen, wenn du unrecht tust. Du weißt, ob du eine Lüge erzählst. Du weißt (du bist nicht verdorben), was ein sauberer und was ein schmutziger Gedanke ist. Du weißt, wir brauchen dir den Unterschied zwischen der Wahrheit und einer Lüge nicht klarzumachen und dir nicht zu sagen, wann du die Wahrheit sagst und wann du lügst. Und du weißt, wir brauchen dir nicht zu sagen, wie du dich selbst achten (d. h. nicht masturbieren) sollst und wie du das andere Geschlecht achten sollst. Wenn du irgendwelche Zweifel hast, dann denk daran, daß Gott alles sieht, überall und jederzeit. Sorge dafür, daß deine Seele und dein Herz, deine Worte und deine Taten das sind, was sie ohnehin sind (das ist das Komische daran, nicht wahr?): für Gott ein offenes Buch.

Mit fünf, kurz vor meinem sechsten Geburtstag, bekam ich ein eitriges Ekzem in Form vieler Wasserblasen, die sich leicht entzündeten, wobei sich gewöhnlich die Haut in ihrer Umgebung rötete; betroffen waren meine Arme und meine Beine unterhalb der Knie, nie jedoch Kopf, Gesicht, Hals oder Rumpf.

Meine Mutter nahm es mit dem Essen sehr genau. Zwieback oder Toast. Honig, Sirup, Butter. Niemals Margarine, Süßigkeiten, "billige" Marmelade, Coca-Cola oder ähnliches.

Als ich in die Schule kam, machte mir meine Mutter noch einmal klar, daß es gefährlich sei, etwas, das andere einem gegeben haben, in den Mund zu stecken, und sie nahm mir das feierliche Versprechen ab, insbesondere keine Marmelade, keine Margarine, kein Brötchen und kein Brot zu essen, auf jeden Fall nichts, was auch nur entfernt an Marmelade erinnerte.

An meinem ersten Schultag ließ mich ein Junge während der Mittagspause im Tausch gegen einen Zwieback von seinem sehr großen und sehr weißen Brötchen abbeißen, das in der Mitte dick mit – wahrscheinlich – Margarine und einer knallroten Marmelade bestrichen war. Um reinbeißen zu können, mußte man den Mund so weit aufreißen, wie es nur ging: Ich bekam einen ordentlichen Bissen ab. Es schmeckte alles köstlich. Die Marmelade hatte einen richtig herzhaften Geschmack, ganz anders als Honig.
Das war meine erste Kostprobe von jener minderwertigen Marmelade, die jedem die Zähne verfaulen läßt und meine Mutter ruinieren würde, denn sie würde ein Vermögen ausgeben müssen: für Salben, Watte, weißes Zupflinnen und rosa Zupflinnen und einen grünen wasserdichten Verband und Einzollbinden und Halbzollbinden, falls jemals etwas von diesem Gift in meinen Körper eindringen sollte.

Als ich nach Hause kam, forderte mich meine Mutter auf, ihr in die Augen zu sehen und die Wahrheit zu sagen. Ob ich mein Versprechen gebrochen und in der Schule heute etwas Verbotenes gegessen habe?

Nein.

Ist das auch wahr?

Ja.

Bist du ganz sicher?

Ja.

Du hast mich angelogen, Ronald, und ich werde es deinem Vater sagen, wenn er nach Hause kommt. Und er wird dir eine Tracht Prügel verpassen, weil du dein Versprechen nicht gehalten und mich angelogen hast.

Das war’s. Als mein Vater nach Hause kam, sagte meine Mutter ihm Bescheid, und er gab mir eine "gehörige" Tracht Prügel, eine Stufe strenger als eine "ordentliche" Tracht Prügel.

Bevor ich an dem Abend meine Gebete aufsagte, mußte ich versprechen, meine Mutter und meinen Vater nie wieder anzulügen und nie wieder diese Dinge zu essen, die ich, wie ich genau wußte, nicht essen durfte und die schlecht für mich waren, und nachdem ich mein altes Versprechen nicht gehalten hatte, mußte ich noch einmal versprechen, sie niemals zu essen.

Die nächsten drei Monate hielt ich mein Versprechen. Aber nach ein paar Wochen brach das Ekzem aus, so schlimm wie nie zuvor, und obwohl es meine Mutter ein Vermögen kostete, blieb es mit nur gelegentlichen kurzlebigen Unterbrechungen die nächsten drei Jahre chronisch.

Wie vorher schon, so fragte mich meine Mutter auch in diesen drei Monaten immer wieder, ob ich etwas gegessen habe. Ich verneinte, wahrheitsgemäß, und sie glaubte mir.
Nach drei Monaten waren meine Unterarme, Handgelenke und Hände fast immer mit Binden umwickelt, durch die die Nässe aus den Wasserbläschen nach außen drang.
Ich wußte nicht, woher das kam, und all die anderen waren ebenso ratlos. Keiner konnte es verstehen. Nach etwa zwei Monaten verlor sich dann der Ausschlag.

Ich glaubte nicht, daß das Geleebonbon, das Charlie mir vor Monaten gegeben hatte, mir das jetzt antun konnte, und außerdem war ich ja dafür, daß ich mein Versprechen gebrochen und gelogen hatte, schon bestraft worden, also konnte es das nicht sein. Vor allem hatte ich ja dieses Ekzem bekommen, ohne Süßigkeiten oder irgendwelche anderen verbotenen Dinge gegessen zu haben. Nach einer Weile ging es dann weg, und ich war monatelang frei davon. Jedenfalls hatte ich den Ausschlag auch so bekommen, warum also dieses Geleebonbon nicht nehmen, es zwischen die Zähne stecken, mit der Zunge den durch die Zähne ragenden Teil des Bonbons ablecken und es dann rasch aus dem Mund nehmen und wegwerfen, wenn keiner hinsah? Auf die Weise wäre es gar nicht richtig in meinem Mund gewesen, ich hätte es nicht zerkaut, meine Lippen hätten es nicht berührt, und es wäre tatsächlich nur mit zwei Fingern, zwei Zähnen und der Zungenspitze in Berührung gekommen.

An einem Samstagmorgen setzte ich an der Ecke Victoria Road und Calder Street meinen Plan in die Tat um.

Als ich zum Mittagessen heimkam, fragte mich meine Mutter, ob ich weiterhin mein Versprechen gehalten habe. Sie warnte mich nachdrücklich, und ich beteuerte mindestens dreimal, daß das wirklich die Wahrheit sei.

Daraufhin sagte sie, beim Einkaufen kurz vor ein Uhr sei ihr auf der Straße zufällig die Mutter eines meiner Spielkameraden begegnet und habe ihr erzählt, sie wisse von ihrem Sohn, daß ich von ihm ein Geleebonbon bekommen und gegessen habe; sie habe sich noch gewundert, da sie glaubte, ich dürfe keine Süßigkeiten essen, um nicht diesen fürchterlichen Ausschlag zu bekommen.

Ich bestritt, ein Geleebonbon gegessen oder auch nur von ihm genommen zu haben. Damit war der Fall erst einmal erledigt, bis es gegen zwei Uhr an der Tür läutete. Draußen stand der Junge, der mir das Bonbon gegeben hatte, und fragte meine Mutter, ob Ronald zum Spielen rauskommen dürfe. Er war vorher noch nie zu mir nach Hause gekommen. Meine Mutter bat ihn einen Augenblick herein. Er kam ins Wohnzimmer.

"Hast du Ronald heute morgen ein Geleebonbon gegeben?" Es klang ganz unverdächtig.

"Ja", sagte er.

"Das ist nicht wahr!" rief ich.

Aber es kam zu spät. Er hatte nicht rechtzeitig kapiert, und wer weiß, vielleicht hätte er auch so gepetzt.

Jeder von uns mußte an seiner Geschichte festhalten. Unsere drei anderen Kumpel vom Vormittag warteten draußen darauf, daß wir zum Spielen herauskamen. Meine Mutter und mein Vater riefen sie ins Haus. Zwei von ihnen konnten sich nicht erinnern, der dritte meinte, doch, er wisse noch genau, ich hätte ein Geleebonbon genommen – hast du das denn vergessen?–, als wir aus dem Süßwarenladen in der Victoria Road, gleich um die Ecke von der Galder Road, gekommen seien.

Das war’s dann. Ich gab zu, daß ich ein Geleebonbon genommen hatte, daß ich es mit zwei Fingern angefaßt und zwischen einen oberen und unteren Schneidezahn geschoben hatte (zwischen welche Zähne? wurde ich gefragt, und ich zeigte es ihr) und daß ich dann, ohne etwas anderes zu berühren, das kleine in den Mund ragende Stück kurz mit der Zunge abgeleckt und gleich danach ausgespuckt hatte.

Die Jungs wurden mit der Bemerkung weggeschickt, ich würde jetzt nicht zum Spielen rauskommen, und nachdem in aller Form ein kurzes Urteil verkündet war, bekam ich, am Boden liegend, von meinem Vater eine wirklich ordentliche, gehörige Tracht Prügel. Meine Mutter war vorher aus dem Zimmer gegangen.

...

Das Psychiatrische Krankenhaus

Als ich 1953 mit sechsundzwanzig Jahren aus dem Militär ausschied, wußte ich, was von einem Psychiater beim Militär erwartet wird. Es war viel mehr als die Anwendung eines unkomplizierten klinischen und medizinischen Urteilsvermögens, und bei der Behandlung von Patienten wurde etwas ganz anderes verlangt als die gewöhnliche, unkomplizierte Medizin oder Chirurgie. Die Entscheidungen, die von mir erwartet worden waren, und die Befehle, auf die ich zu reagieren gehabt hatte, rührten an viele Aspekte der Menschenführung, der Verwaltung, der organisatorischen institutionellen Machtpositionen und Strukturen, die mit der klinischen Medizin nichts zu tun hatten. Ich konnte zwar – dachte ich – die "bedingte Notwendigkeit" all dessen ganz klar sehen, aber in den psychiatrischen Lehrbüchern hatte ich nichts darüber gelesen, und wenn ich in meiner Eigenschaft als Psychiater von einem Offizier wegen der Kampfmoral der von ihm befehligten Truppe um Rat gefragt wurde, konnte ich mich nur einigermaßen durchmogeln. Ich wußte, daß mir die Kompetenz fehlte, in solchen Dingen einen Rate zu erteilen, aber er nahm an, ich sei kompetent. Während des Zweiten Weltkriegs waren die Psychiater beim Militär zu Spezialisten darin geworden, die menschliche "Software" in guter Ordnung zu halten. Mit anderen Worten: Als Fachleute für menschliche Beziehungen konnten sie die Militärs über den ökonomischen Einsatz der verfügbaren Menschenkraft beraten. Setzt die Leute nicht am falschen Platz ein. Was nutzte die ganze Hardware der Welt, wenn nicht die Software, das Menschenmaterial, wirkungsvoll eingesetzt werden konnte? Wie wirkt sich diese Art des psychiatrischen Denkens auf die klinische Praxis aus?

Was für ein Geschöpf soll ein Psychiater eigentlich sein? Ich wurde nun tief in die Verwicklungen und Verwirrungen der Psychiatrie hineingezogen und ging vom Militär nach Glasgow zurück, um dort am "Gartnavel Royal Mental Hospital" zu arbeiten.

Die Militärpsychiatrie war nicht an langjähriger stationärer Pflege interessiert. In Gartnavel gab es Patienten, die seit zehn, dreißig, sechzig Jahren "drin" waren: seit dem neunzehnten Jahrhundert.

Ich wurde dem Frauenflügel des Krankenhauses zugeteilt. Nachdem ich beim Militär zwei Jahre lang Männer um mich gehabt hatte, war ich froh, unter Frauen zu sein.
Ausgerechnet in der geschlossenen Abteilung eines Psychiatrischen Krankenhauses an Homer erinnert zu werden, ist sicher ungewöhnlich. Aber diese Frauen in der geschlossenen Abteilung ließen mich an Homers Schilderung der toten Seelen im Hades denken, auf ihrer Seite durch die Weite des Meeres von den Lebenden getrennt, die ihrerseits durch die Ströme der Angst von den Toten ferngehalten werden. Odysseus geht ins Reich der Toten, um seine Mutter zu treffen. Er kann sie zwar sehen, muß aber verzweifelt erkennen, daß er sie nicht umarmen kann. Sie erklärt ihm, daß sie keine Muskelkraft hat, keine Knochen, keinen Leib, der Knochen und Fleisch zusammenhalten könnte. Nachdem die Lebenskraft aus ihren weißen Knochen gewichen ist, wird alles durch die sengende Hitze einer lodernden Angst verzehrt, und die Seele entschwindet wie ein Traum und flattert in der Luft.

Welche Lebenserfahrung stand hinter dieser Schilderung? Sie schien so fern und doch so nah.

Wie können wir diese toten Seelen ins Leben zurücklocken, über ihren ozeanischen Abgrund hinweg, über unsere Ströme der Angst?

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