Auszüge aus Arthur Koestler's
"Das Gespenst in der Maschine
"

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Vorwort

In meinem Buch Der göttliche Funke habe ich den schöpferischen Prozeß in Kunst und Wissenschaft behandelt. Der vorliegende Band ist ein Versuch, sich mit dem tragischen Dilemma des Menschen auseinanderzusetzen, und schließt damit den Betrachtungskreis. Das Kreative und das Pathologische am menschlichen Geist sind schließlich zwei Seiten derselben Medaille, geprägt in der Münze der Evolution. Der einen verdanken wir die Pracht und Würde unserer Kathedralen, der anderen jene grotesken Wasserspeier, die sie schmücken und die uns ständig vor Augen halten sollen, daß die Welt voll von Ungeheuern, Höllengeistern und Dämonen ist. In ihnen spiegelt sich der Hang zur Besessenheit wider, der sich durch die Geschichte des Menschen hinzieht und der die Vermutung nahelegt, es sei im Verlauf seines evolutionären Aufstiegs irgendwo etwas schiefgegangen. Man hat die Evolution der Spezies mit einem Labyrinth voller Sackgassen verglichen; die Hypothese erscheint daher durchaus nicht unwahrscheinlich, daß die Erbanlage des Menschen, obwohl der jeder anderen Spezies überlegen, dennoch einen Konstruktionsfehler enthalte, der den Menschen zur Selbstvernichtung prädisponiert.

Die Suche nach den Ursachen dieses Defekts beginnt schon im Alten Testament und hat seither niemals aufgehört. Jedes Zeitalter kam zu einer anderen Diagnose: sie reichen von der Doktrin vom Sündenfall bis zur Hypothese vom Todestrieb. Die Antworten waren unzulänglich, aber das Fragen hat sich dennoch gelohnt. Jede Epoche und jede Kultur formulierten die ängstliche Frage in der ihr eigenen Sprache; es ist daher unvermeidlich, daß wir sie heute in der Sprache der Wissenschaft formulieren. Aber, so paradox das auch klingen mag, die Wissenschaft hat sich im Verlauf der letzten hundert Jahre an ihren Erfolgen so berauscht, daß sie entweder vergessen hat, die entscheidenden Fragen zu stellen, oder daß sie ihnen vorsichtig aus dem Weg ging, unter dem Vorwand, derlei Fragen hätten keinen Sinn und gehörten außerdem nicht in das Ressort der Wissenschaft.

Dieser Vorwurf richtet sich natürlich nicht gegen die Wissenschaft im allgemeinen, sondern in erster Linie gegen die vorherrschende Tendenz in den zeitgenössischen Wissenschaften vom Leben, angefangen von der Evolutionsgenetik bis zur Experimentalpsychologie. Man kann keine gültige Diagnose des gefährdeten Menschen von jenen erhoffen, die darauf beharren, den Patienten als einen durch Zufallsmutationen entstandenen Reflexautomaten zu betrachten; Marionetten liefern keine Blutproben. Sir Alistair Hardy, einer unserer hervorragendsten Biologen, schrieb kürzlich: "Ich bin zu dem Schluß gekommen – und ich hoffe, ich kann auch Sie davon überzeugen –, daß die heutige Anschauung der Evolutionstheorie unzulänglich ist." W. H. Thorpe, ein bedeutender Zoologe, schrieb, daß sich "in den letzten fünfundzwanzig Jahren insgeheim eine neue Gedankenrichtung bei vielen, vielleicht Hunderten von Biologen herausgebildet hat, die der gegenwärtig dominierenden orthodoxen Doktrin skeptisch gegenüberstehen". Häretische Tendenzen dieser Art machen sich auch in anderen Sparten der Wissenschaft vom Leben bemerkbar, im Bereich der Genetik ebenso wie in dem der Neurologie, beim Studium der Wahrnehmung, der Sprache und der Denkvorgänge. Bisher aber haben sich die Aufrührer jeder auf sein Fachgebiet beschränkt; die neue Synthese, auf der sich ein neues Weltbild aufbauen ließe, läßt noch auf sich warten.

Auf den folgenden Seiten will ich versuchen, einige dieser losen Fäden aufzugreifen und sie zu einem einheitlichen Muster zu verarbeiten. Der Leser muß sich daher auf eine ziemlich lange Reise vorbereiten, bevor, wir gemeinsam beim Ziel anlangen – bei den Wurzeln des Übels, das uns alle bedroht – und uns an die Diagnose heranmachen können. Die Etappen der Reise bilden Teil I des Buches, der sich mit neuen Ausblicken in die Psychologie befaßt; Teil II stellt die Neuorientierung in der Evolutionslehre dar; Teil III gelangt dann an das obenerwähnte Ziel. Gelegentliche Exkurse in scheinbar abgelegene Gebiete sind dabei unvermeidlich, doch hoffe ich, daß auch diese nicht ganz ohne Interesse sind.

Ich bin darauf gefaßt, daß mich jene Leser, die im kalten Krieg zwischen Humanismus und Wissenschaft eine unversöhnliche Stellung bezogen haben, der Fahnenflucht bezichtigen werden. Man kann eben nicht oft genug wiederholen, daß zwei Halbwahrheiten noch keine ganze Wahrheit und zwei Halbkulturen keine ganze Kultur ergeben. Die Wissenschaft kann keine endgültigen Antworten erteilen, aber sie hilft uns, Fragen zu stellen. Ohne sie können wir die Grundprobleme unserer Existenz nicht formulieren, geschweige denn eine Diagnose stellen. Aber wir müssen von einer Wissenschaft vom Leben ausgehen, die diesen Namen verdient, und nicht von dem antiquierten Automatenmodell, das sich von dem naiv mechanischen Weltbild des 19. Jahrhunderts herleitet. Zu fruchtbaren Fragestellungen können wir nur dann gelangen, wenn wir dieses verstaubte Idol durch eine neue Konzeption vom lebenden Organismus ersetzen.

Es tröstet mich, zu wissen, daß auch andere Autoren, die sich anmaßen, die Grenzschranken zwischen den beiden Halbkulturen zu ignorieren, sich den gleichen Schwierigkeiten gegenübersahen. Auf einer der ersten Seiten seines Buches Das sogenannte Böse zitiert Konrad Lorenz aus dem Brief eines Freundes, den er um eine kritische Durchsicht seines Manuskripts gebeten hatte: "Dieses ist nun schon das zweite Kapitel, das ich mit brennendem Interesse und steigendem Unsicherheitsgefühl lese. Warum? Weil ich nicht genau den Zusammenhang mit dem Ganzen sehe. Du mußt mir das leichter machen." Sollte der geneigte Leser dieser Seiten gelegentlich die gleiche Reaktion empfinden, dann kann ich nur sagen: Ich habe mein möglichstes getan, es ihm leichter zu machen. Ich glaube nicht, daß es in diesem Buch viele Passagen gibt, die ihm allzu fachwissenschaftlich vorkommen werden; aber wo immer dies dennoch der Fall sein sollte, kann er sie ruhig überschlagen und den Faden später wiederaufnehmen.
Während der Arbeit an diesem Buch kam mir eine Berufung an das Centre for Advanced Study in the Behavioural Sciences in Stanford, Kalifornien, sehr zustatten. An diesem Institut – das weithin unter dem Namen "The Think Tank" bekannt ist – kommen alljährlich fünfzig Wissenschaftler verschiedener akademischer Disziplinen zusammen; sie erhalten dort die Möglichkeit, ein ganzes Jahr lang – frei von allen Verwaltungsfunktionen und Lehrverpflichtungen – Diskussionen zu führen und Forschungen zu betreiben, die über das Fachgebiet des Einzelnen hinausgreifen. Diese Einrichtung ermöglichte es, die Gedankengänge des vorliegenden Buches in Diskussionsgruppen und Seminaren zu überprüfen und zu klären. Ich kann nur hoffen, daß die Anregungen und Kritiken, die es in unseren manchmal recht hitzigen Diskussionen so reichlich gegeben hat, auf fruchtbaren Boden fielen.

Mit einigen der in diesem Band erörterten Themen habe ich mich schon in früheren Werken eingehend befaßt. Ich mußte daher im vorliegenden Band häufig aus ihnen zitieren; wo ein Zitat im Text ohne Nennung des Autors erscheint, stammt es aus diesen früheren Arbeiten.

Besonderen Dank für die kritische Durchsicht von Teilen meines Manuskripts schulde ich Professor Sir Alister Hardy (Oxford), Professor James Jenkins (University of Minnesota), Professor Alvin Liberman (Haskins Laboratories, New York) und Dr. Paul MacLean (N. I. M. H., Bethesda). Für anregende Gespräche und Diskussionen über das Thema dieses Buches fühle ich mich ferner den folgenden Persönlichkeiten zu Dank verpflichtet: Professor Ludwig von Bertalanffy (University of Alberta), Professor Holger Hydén (Universität Göteborg), Professor Michael Polanyi (Oxford), Professor Karl Pribram (Stanford University), Professor Paul Weiss (Rockefeller Institute) und L. L. Whyte (C. A. S., Wesleyan University).

Die vier Säulen

In den "Sprüchen Salomons" heißt es, das Haus der Weisheit ruhe auf sieben Säulen; bedauerlicherweise werden uns jedoch die Namen dieser sieben Säulen nicht genannt. Auch die Zitadelle der Orthodoxie, die die Wissenschaften vom Leben in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts errichtet haben, ruht auf einer Anzahl von imposanten Säulen, von denen einige bereits bedenkliche Risse zu zeigen beginnen und sich als monumentaler Aberglaube entpuppen. Ich meine damit in der Hauptsache vier Doktrinen, die man in vereinfachter Form wie folgt zusammenfassen könnte:

a)       Die biologische Entwicklung ist das Resultat von Zufallsmutationen, die durch die natürliche Zuchtwahl erhalten blieben.

b)      Die geistige Entwicklung des Menschen ist das Ergebnis von Zufallstreffern, die durch "Verstärkungen" (Belohnungen) erhalten blieben.

c)       Alle Organismen, einschließlich des Menschen, sind ihrem Wesen nach passive, von der Umwelt kontrollierte Automaten, deren einziger Daseinszweck die Herabsetzung von Spannungen durch Anpassung an die Umwelt ist.

d)      Die einzige wissenschaftliche Methode, die diesen Namen zu Recht trägt, ist die der quantitativen Messung; daher müssen komplexe Phänomene auf einfache Elemente reduziert werden, die einer solchen Behandlungsmethode zugänglich sind, auch wenn dabei von den spezifischen Merkmalen des komplexen Phänomens – zum Beispiel des Menschen – nichts mehr übrigbleibt.

Diese vier Säulen der Unweisheit werden in den folgenden Kapiteln wiederholt auftauchen. Sie bilden den Hintergrund, die zeitgenössische Landschaft, von der sich das neue Weltbild abheben muß. Man kann nicht in einem Vakuum operieren; nur wenn man vom bestehenden Bezugssystem ausgeht, kann durch Vergleiche und Kontrastwirkung der Umriß einer neuen Konzeption deutlich sichtbar werden. Diese Überlegung erscheint mir als wesentlich, und ich möchte hier eine persönliche Bemerkung einflechten, um einer bestimmten Art von Kritik vorzubeugen.

Greift man die zur Zeit dominierende psychologische Richtung an – wie ich das in meinem letzten Buch getan habe und im vorliegenden Kapitel wieder tun werde –, dann sieht man sich zwei entgegengesetzten Arten von Kritik ausgesetzt. Die erste ergibt sich aus der natürlichen Reaktion der Anhänger der orthodoxen Richtung; sie glauben, sie selbst seien im Recht und der Autor befinde sich im Irrtum – das ist durchaus recht und billig. Die zweite Kategorie von Kritikern rekrutiert sich jedoch aus dem entgegengesetzten Lager. Sie argumentieren, die Säulen der Zitadelle ließen bereits Risse erkennen und seien sowieso am Zusammenbrechen; man solle sie daher einfach ignorieren und von einer Polemik absehen.

Diese Art Kritik wird meist von Psychologen vorgebracht, die glauben, sie hätten die orthodoxen Doktrinen bereits überwunden. Dieser Glaube beruht aber recht häufig auf einer Selbsttäuschung, denn die modernisierte Version des Automatenmodells hat einen weit tiefgreifenderen Einfluß auf sie gehabt, als sie wahrhaben wollen. Er ist in den verschiedensten Wissenszweigen spürbar – in der Philosophie, der Sozialwissenschaft, der Erziehung, der Psychiatrie. Selbst die Vertreter der orthodoxen Richtung erkennen heute die Grenzen und Mängel der Pawlowschen Experimente; aber in der populären Vorstellung ist der Hund auf dem Labortisch, der genau nach Voraussage beim Gongschlag Speichel absondert, zu einem Symbol des Daseins, einer Art antiprometheischem Mythos geworden; und der Begriff der "Konditionierung" mit seinen starren deterministischen Assoziationen wurde zu einer magischen Formel, mit deren Hilfe man Grund und Wesen unseres Daseins erklären und jede moralische Verantwortung von sich schieben konnte.

Der Aufstieg des Behaviorismus

Blickt man aus der Sicht des Historikers auf die Geschichte der letzten fünfzig Jahre zurück, dann stellt man fest, daß sich in diesem Zeitraum – mit einer Ausnahme – alle Sparten der Wissenschaft in bisher noch nie dagewesenem Ausmaß fortentwickelt haben. Die erwähnte Ausnahme bildet die Psychologie, die immer noch in einer Art moderner Version des finsteren Mittelalters zu stecken scheint. Mit Psychologie meine ich in diesem Zusammenhang die akademische oder sogenannte "experimentelle Psychologie", wie sie an der überwiegenden Zahl unserer zeitgenössischen Universitäten gelehrt wird – im Gegensatz zur klinischen Psychiatrie, zur Psychotherapie oder zur psychosomatischen Medizin. Freud und in geringerem Ausmaß auch Jung üben natürlich einen sehr starken Einfluß aus, aber dieser Einfluß macht sich doch mehr im philosophisch-künstlerischen Bereich bemerkbar – in der Literatur, der bildenden Kunst und der Philosophie – als in der Zitadelle der offiziell etablierten Wissenschaft. Die bei weitem einflußreichste Schule der akademischen Psychologie, die gleichzeitig auch bestimmend auf das geistige Klima in allen anderen Sparten der Wissenschaft vom Leben einwirkt, war – und ist immer noch – eine Pseudowissenschaft: der sogenannte Behaviorismus. Seine Doktrinen sind in den Bereich der Psychologie wie ein Virus eingedrungen, der bei seinem Opfer zunächst Krämpfe hervorruft und es dann langsam paralysiert. Wie konnte es nur zu einer solchen Situation kommen?

Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs veröffentlichte John Broadus Watson, Professor an der John-Hopkins-Universität in Baltimore, eine Abhandlung, in der es hieß:
Die Zeit ist gekommen, in der die Psychologie jede Bezugnahme auf Bewußtseinszustände fallenlassen muß ... Ihre ausschließliche Aufgabe besteht in der Voraussage und Kontrolle von Verhaltensweisen; die Introspektion kann nicht zu ihren Verfahrensmethoden gehören.

Unter "Verhaltensweisen" verstand Watson beobachtbares Tun – das, was der Physiker als "öffentliches Geschehen" bezeichnet, wie zum Beispiel die Schwankungen eines Barometerzeigers. Da nun alle geistigen Vorgänge private Vorgänge sind, die von anderen nicht beobachtet werden können und sich nur durch Aussagen, die auf Introspektion beruhen, mitteilen lassen, mußten sie aus dem Bereich der Psychologie ausgeschlossen werden. Auf der Basis dieser Theorie gingen nun die Behavioristen daran, die Psychologie von allen "immateriellen und unzugänglichen Begriffen" zu "säubern". Ausdrücke wie "Bewußtsein", "geistiger Vorgang", "Wille", "Zielbewußtsein" und "Vorstellung wurden dementsprechend für unwissenschaftlich erklärt, als sozusagen obszön angesehen und aus dem Vokabular der Psychologie verbannt. Nach Watsons eigenen Worten mußte der Behaviorist aus seinem Vokabular "alle subjektiven Begriffe streichen, wie zum Beispiel Empfindung, Wahrnehmung, Wille; ja sogar die Worte 'Denken' und 'Emotion', da sie nur subjektiv definierbar sind".

Es handelte sich hier um die erste radikale ideologische "Säuberungsaktion" in der Wissenschaft; sie vollzog sich zeitlich noch vor den ideologischen Säuberungsaktionen in der Politik der totalitären Staaten, doch lag ihr die gleiche Zielstrebigkeit besessener Fanatiker zugrunde. Das folgende, inzwischen geradezu klassisch gewordene Urteil über sie fällte Sir Cyril Burt:

Seit Watson sein Manifest verkündet hat, ist nahezu ein halbes Jahrhundert vergangen. Abgesehen von einigen geringfügigen Vorbehalten, schließt sich – sowohl in unserem Land als auch in Amerika – immer noch die bei weitem überwiegende Zahl der Psychologen der von ihm vertretenen Auffassung an. Ein zynischer Betrachter könnte versucht sein zu sagen, das Resultat sei, daß die Psychologie, nachdem sie zuerst ihre Seele verschachert und dann den Verstand verloren habe, nun, da sie einem vorzeitigen Ende entgegensieht, auch noch das Bewußtsein völlig eingebüßt zu haben scheint.

Der Behaviorismus Watsonscher Prägung wurde zunächst in der akademischen Psychologie Amerikas und in der Folge auch in Europa zur dominierenden Fachrichtung. In den Lexiken definierte man den Begriff Psychologie früher als "Seelenkunde"; der Behaviorismus räumte mit Geist und Seele auf und setzte an ihre Stelle den "bedingten Reflex". Die Folgen dieses Schrittes waren nicht nur für die Experimentalpsychologie selbst verhängnisvoll, sie machten sich auch in der klinischen Psychiatrie, in der Sozialwissenschaft, in der Philosophie und in der Ethik bemerkbar sowie in der allgemeinen Lebensauffassung der jungen Akademiker. Zwar war Watsons Name der breiten Öffentlichkeit nicht so vertraut, aber er wurde – neben Freud und dem Russen Pawlow – zu einem der einflußreichsten Männer des 20. Jahrhunderts. Denn unglücklicherweise ist der Watsonsche Behaviorismus nicht nur ein historisches Kuriosum, sondern das Fundament, auf dem sich die modernisierten und noch weit einflußreicheren neobehavioristischen Systeme aufbauten, so zum Beispiel die von Clark Hull und B. F. Skinner. Die peinlichen Absurditäten in Watsons Werken hat man vergessen oder diskret übergangen, aber die Philosophie, das Programm und die Strategie des Behaviorismus sind im Prinzip die gleichen geblieben. Das mögen die folgenden Seiten verdeutlichen.

Watsons Werk Behaviorismus, in welchem er den Begriff des Bewußtseins und die Existenz geistiger Vorgänge verwarf, erschien im Jahre 1913. Ein halbes Jahrhundert später verkündete Professor Skinner von der Harvard-Universität – der wohl einflußreichste zeitgenössische Psychologe – die gleichen Ansichten in noch extremerer Form. In seinem Standardwerk Science and Human Behavior wird dem hoffnungsvollen Psychologiestudenten gleich zu Beginn fest versichert, die Begriffe "Geist" und "Ideen" seien nicht-existierende Wesenheiten, erfunden ausschließlich zu dem Zweck, als Grundlage für Pseudoerklärungen zu dienen ... Da geistigen und seelischen Vorgängen angeblich die Dimensionen der Naturwissenschaften fehlen, haben wir noch einen zusätzlichen Grund, sie abzulehnen.

Mit der gleichen Logik könnte natürlich auch der Physiker die Existenz von elektromagnetischen Wellen leugnen, weil sie sich innerhalb eines "Feldes" fortpflanzen, dem die Eigenschaften der gewöhnlichen physikalischen Media abgehen. Tatsächlich würden nur wenige Theorien und Konzeptionen der modernen Physik eine "ideologische Säuberung" nach den Prinzipien des Behaviorismus überstehen – aus dem einfachen Grund, weil die wissenschaftliche Konzeption des Behaviorismus sich an der mechanischen Physik des 19. Jahrhunderts orientiert.

Der "zynische Betrachter" könnte nun mit Recht fragen: Wenn geistig-seelische Vorgänge vom Studium der Psychologie ausgeschlossen werden sollen, was bleibt dann für den Psychologen überhaupt noch als Studienobjekt übrig? Die Antwort lautet kurz und bündig: die Ratten. Während der letzten fünfzig Jahre hat die Hauptbeschäftigung der behavioristischen Schule im Studium gewisser meßbarer Aspekte in der Verhaltensweise von Ratten bestanden, und ein Großteil der behavioristischen Literatur ist diesen Untersuchungen gewidmet. Diese Entwicklung war, so seltsam das auch scheinen mag, im Grunde eine unvermeidliche Konsequenz, die sich aus der behavioristischen Definition wissenschaftlicher Methodik ergab (die obenerwähnte "vierte Säule der Unweisheit"). Infolge der selbstauferlegten Beschränkungen darf der Behaviorist nur objektive, äußerlich meßbare Aspekte von Verhaltensweisen studieren. Es gibt jedoch nur wenige wirklich relevante Aspekte menschlicher Verhaltensweisen, die sich durch quantitative Messungen im Laboratorium studieren lassen und die der Forscher untersuchen kann, ohne auf introspektive Aussagen der Versuchsperson angewiesen zu sein. Wollte der Behaviorist also seinen eigenen Prinzipien treu bleiben, dann war er gezwungen, als Versuchsobjekte die Tiere den Menschen vorzuziehen – unter den Tieren aber mußte er Ratten und Tauben den Vorzug geben, denn die Verhaltensstruktur von Primaten gilt immer noch als zu komplex.

Anderseits ist es durchaus möglich, Ratten und Tauben unter entsprechend arrangierten Versuchsbedingungen zu Verhaltensweisen zu veranlassen, die nahezu völlig denen eines konditionierten Reflexautomaten entsprechen. Fast jedes psychologische Institut der westlichen Welt, das etwas auf sich hält, besitzt heute einige Albinoratten, die in den sogenannten Skinner-Käfigen (Skinner boxes) – so genannt nach dem Erfinder – ihre bescheidenen Künste vollführen. Im Käfig befinden sich ein Futternapf, eine Glühbirne und ein Hebel; dieser läßt sich ähnlich wie der Hebel an einem Spielautomaten herunterdrücken, und dabei fällt ein Futterkügelchen in den Napf. Placiert man eine Ratte in den Käfig, dann drückt sie früher oder später mit ihrer Pfote den Hebel herunter und wird dadurch automatisch mit einem Futterkügelchen belohnt; bald lernt sie am Erfolg, daß sie den Hebel herunterdrücken muß, wenn sie Futter haben will. Diese Versuchsprozedur nennt man "instrumentale Konditionierung" (operant conditioning), da die Ratte eine bestimmte Tätigkeit an einem "Instrument", dem Hebel, auszuführen hat; im Gegensatz dazu ist das bei der "klassischen Konditionierung" (classical conditioning) Pawlows nicht der Fall. Das Niederdrücken des Hebels bezeichnet man als "instrumentale Reaktion", die Einschleusung des Futterkügelchens als "Verstärkung" (reinforcement) und das Zurückhalten des Futterkügelchens als "negative Verstärkung"; die abwechselnde Anwendung dieser beiden Prozeduren gilt als "intermittierende Verstärkung" (intermittent reinforcement). Die "Reaktionsquote" der Ratte – das heißt wie häufig sie den Hebel innerhalb eines bestimmten Zeitraums niederdrückt – wird automatisch gemessen und graphisch aufgezeichnet. Der Zweck des Experimentierkäfigs besteht darin, daß der Behaviorist in die Lage versetzt werden soll, seine Ambition zu verwirklichen: nämlich die Messung von Verhaltensweisen nach rein quantitativen Methoden und die Kontrolle von Verhaltensweisen durch die Manipulation von Reizfaktoren.

Den Versuchen mit den Skinner-Käfigen verdanken wir einige in fachtechnischer Hinsicht interessante Ergebnisse. Am interessantesten war wohl die Tatsache, daß die "intermittierende Verstärkung", bei der das Niederdrücken des Hebels nur gelegentlich durch ein Futterkügelchen belohnt wurde, ebenso wirkungsvoll und sogar noch wirkungsvoller war, als wenn die Ratte bei jedem Hebeldruck ein Futterkügelchen erhielt; die Ratte, die darauf trainiert wurde, nicht bei jedem Hebelversuch eine Belohnung zu erwarten, läßt sich weniger leicht entmutigen und unternimmt nach dem Ausbleiben der Futterkügelchen noch weit zahlreichere Hebelversuche als diejenige Ratte, die vorher bei jedem Hebelversuch belohnt worden war. (Die von mir verwendeten Ausdrücke "erwarten" und "entmutigen" würde ein Behaviorist natürlich nicht akzeptieren, denn mit ihnen sind geistig-seelische Vorgänge impliziert.) Das ist aber auch die "kühnste" Errungenschaft der während eines Zeitraums von dreißig Jahren andauernden Hebelversuche, und sie ist ein guter Maßstab dafür, wie hoch ihre Bedeutung als Beitrag zur psychologischen Forschung zu veranschlagen ist. Schon 1953 schrieb Harlow:
Es spricht dafür, daß die Bedeutung der in den letzten fünfzehn Jahren untersuchten psychologischen Probleme ständig abgenommen hat und sich der Asymptote absoluter Irrelevanz nähert.

Blickt man auf die weiteren fünfzehn Jahre zurück, die inzwischen vergangen sind, dann kommt man zu der gleichen Schlußfolgerung. Der Versuch, die komplexen Handlungen des Menschen auf die hypothetischen "Verhaltensatome" der Ratte zu reduzieren, hat keinerlei wissenswerte Erkenntnisse zutage gefördert – ebensowenig etwa wie eine chemische Analyse von Ziegelsteinen und Mörtel Auskünfte über die Architektur eines Bauwerks erteilt. Während des gesamten "finsteren Mittelalters" der Psychologie hat der Großteil der Forschungsarbeit in den Laboratorien darin bestanden, Mörtel und Ziegelsteine zu analysieren, in der frommen Hoffnung, diese fleißigen Bemühungen würden doch eines Tages irgendwie Aufbau und Wesen unserer Kathedralen erklären.

Die Enthumanisierung des Menschen

So unglaublich das auch erscheinen mag, die Anhänger Skinners behaupten, die Hebelexperimente mit Ratten und das Trainieren von Tauben durch ähnliche Methoden böten alle erforderlichen Elemente, mit denen sich auch menschliche Verhaltensweisen beschreiben, vorhersagen und kontrollieren ließen – einschließlich der Sprache ("Verbalverhalten"), der Wissenschaft und der Kunst. Die beiden bekanntesten Werke Skinners tragen die Titel The Behavior of Organisms (1938) und Science and Human Behavior (1953). In ihren klangvollen Titeln findet sich nicht der geringste Hinweis darauf, daß die in diesen Büchern gegebenen Daten nahezu ausschließlich aus Konditionierungsexperimenten mit Ratten und Tauben herstammen – die dann mit Hilfe naiver Analogien in zuversichtliche Behauptungen über die politischen, religiösen, ethischen und ästhetischen Probleme des Menschen umgemünzt wurden.

Pawlow zählte die Anzahl der Speicheltropfen, die seine Hunde durch Kanülen absonderten, und destillierte daraus eine Philosophie vom Menschen. Die Professoren Skinner und Hull mit ihren Gefolgsleuten schlossen in einem ebenso rasanten Verfahren von der Ratte im Experimentierkäfig auf die Verhaltensweisen des Menschen.
Der Fachjargon des Behaviorismus basiert auf mangelhaft definierten Verbalkonzeptionen, die sich besonders gut für Zirkelschlüsse und tautologische Formulierungen eignen. Unter "Reaktion" versteht der Laie normalerweise die Antwort auf einen stimulierenden Reiz; aber "instrumentale Reaktionen" dienen dazu, einen stimulierenden Reiz hervorzubringen, der erst nach der Reaktion in Erscheinung tritt; die Reaktion "wirkt so auf die Umwelt ein, daß ein verstärkender Reiz entsteht". Mit anderen Worten: die Reaktion reagiert auf einen Reiz, der erst in der Zukunft erfolgen wird – nimmt man diese Aussage wörtlich, dann ist sie barer Unsinn. Eine "instrumentale Reaktion" ist in Wirklichkeit nicht eine Reaktion, sondern eine von dem Versuchstier eingeleitete Aktion; da jedoch nach dieser Lehre Organismen von den Umwelteinflüssen kontrolliert werden, ist in der gesamten Literatur der passive Begriff "Reaktion" obligatorisch. Der Behaviorismus baut auf der S-R-Theorie auf (S = Stimulus, R = Response), wie sie zuerst von Watson definiert wurde:

Die Richtschnur, an die sich der Behaviorist stets halten muß, ist die folgende: Kann ich die Elemente des von mir beobachteten Verhaltensvorgangs als eine Folge von "Reiz und Reaktion" ausdrücken?

Diese Reiz-Reaktionen oder diese "S-R"-Elemente gelten als die "Atome" der Verhaltenskette; eliminiert man aus dieser Terminologie den Begriff "R" für "Reaktion", dann bricht die Kette auseinander, und das gesamte Theoriegebäude stürzt in sich zusammen.

Welche Stellung nimmt nun der Behaviorismus zum Problem der menschlichen Kreativität ein? Wie lassen sich wissenschaftliche Erfindungen und künstlerische Originalität erklären oder beschreiben, wenn jegliche Bezugnahme auf Bewußtsein, Geist und Vorstellungskraft verboten ist? Die beiden folgenden Zitate sollen die Antwort auf diese Fragen verdeutlichen. Das erste stammt aus Watsons 1925 erschienenem Buch Behaviorism, das zweite aus Skinners rund dreißig Jahre später erschienenem Werk Science and Human Behavior; auf diese Weise können wir beurteilen, ob zwischen der paläo-behavioristischen und der neobehavioristischen Auffassung irgendein wesentlicher Unterschied besteht:

Eine natürliche Frage, die häufig gestellt wird, lautet: Wie kommen wir jemals zu neuen Verbalschöpfungen wie zum Beispiel einem lyrischen Gedicht oder einem brillanten Essay? Die Antwort lautet: Wir erhalten sie, indem wir Worte manipulieren, sie so lange hin und her schieben, bis plötzlich ein neues Muster vor uns auftaucht ... Wie entwirft Ihrer Meinung nach Patou ein neues Kleid? Hat er irgendein Vorstellungsbild in seinem Kopf, wie das fertige Kleid aussehen soll? Nein, das hat er nicht ... Er ruft sein Mannequin zu sich, nimmt ein Stück Seide, drapiert es um das Modell herum, zieht hier ein bißchen ein, läßt dort ein bißchen aus ... Er manipuliert das Material so lange, bis es eine kleidähnliche Gestalt annimmt ... Erst wenn die neue Création allgemeine Bewunderung erregt, ist die Manipulation abgeschlossen – das entspricht dem Augenblick, in dem die Ratte ihr Futterkügelchen findet ... Der Maler übt seinen Beruf auf die gleiche Weise aus, und auch der Dichter kann sich keiner anderen Methode rühmen.

In dem Artikel über Behaviorismus in der 1955 erschienenen Ausgabe der Encyclopaedia Britannica findet man eine fünf Spalten lange Lobrede auf Watson. Seine Bücher, so wird behauptet, "demonstrieren die Möglichkeit, eine angemessene und umfassende Schilderung menschlicher und tierischer Verhaltensweisen zu geben, ohne sich dabei der philosophischen Konzeption 'Geist' oder 'Bewußtsein' zu bedienen". Man fragt sich, ob der Autor (Professor Hunter vom Brown College) wohl die obenzitierten Ausführungen Watsons für eine "angemessene und umfassende Schilderung" über die Entstehung von Shakespeares Hamlet oder der Werke in der Münchner Pinakothek hält.

Dreißig Jahre nach Watson faßte Skinner die behavioristische Anschauung über die Entstehung künstlerischer Schöpfungen und wissenschaftlicher Entdeckungen in seinem Werk Science and Human Behavior folgendermaßen zusammen:

Das Ergebnis der Lösung eines Problems ist das Auftauchen einer Lösung in Form einer Reaktion ... Die Relation zwischen dem Präliminarverhalten und dem Auftauchen der Lösung ist einfach die Relation zwischen der Manipulation von Variablen und der Auslösung einer Reaktion. Das Auftauchen dieser Reaktion in der Verhaltensstruktur des Individuums überrascht durchaus nicht mehr als das Auftauchen irgendeiner Reaktion der Verhaltensstruktur eines beliebigen Organismus. Der Begriff "Originalität" ist völlig überflüssig ...

Bei den "Organismen", auf die sich Skinner hier bezieht, handelt es sich natürlich erneut um seine Ratten und Tauben. Im Vergleich zu Watsons Formulierungen ist die Sprache Skinners und seiner Gefolgsleute noch wesentlich trockener und esoterischer geworden. Watson spricht von der Manipulation von Worten, bis "plötzlich ein neues Muster vor uns auftaucht", Skinner von der Manipulation von "Variablen bis zur Auslösung einer Reaktion". Bei beiden wird in drastischem Ausmaß die Tendenz erkennbar, dem Problem durch Zirkelschlüsse auszuweichen, getrieben von einem geradezu fanatischen Bestreben, unter allen Umständen die Existenz von Merkmalen zu leugnen, die das Menschsein des Menschen und das Rattesein der Ratte ausmachen.

Die Philosophie des Rattomorphismus

Der Behaviorismus war zu Beginn so etwas wie eine puritanische Revolte gegen die exzessive Anwendung introspektiver Methoden durch ältere psychologische Schulen, die die Ansicht vertraten – so definiert es James –, die Aufgabe des Psychologen bestehe in der "Beschreibung und Erklärung von Bewußtseinszuständen". Watson entgegnete, ein Bewußtseinszustand

ist weder definierbar noch sonst ein brauchbares Konzept, er ist nur eine Umschreibung für das Wort "Seele" ... Niemand hat jemals eine Seele berührt oder sie in einem Reagenzglas gesehen. Ein "Bewußtseinszustand" ist ebenso unbeweisbar und ebenso unzugänglich wie eine "Seele" ... Die Behavioristen kamen daher zu dem Schluß, sie dürften sich nicht länger damit zufriedengeben, mit immateriellen und unzugänglichen Begriffen zu arbeiten. Sie entschieden, die Psychologie entweder ganz aufgeben zu müssen oder aber sie zu einer Disziplin der Naturwissenschaften zu machen ...

Dieses "klare, frische Programm", wie Watson selbst es nannte, basierte auf der naiven Vorstellung, man könne Psychologie mit den Methoden und Konzeptionen der klassischen Physik studieren. Watson und seine Gefolgsleute meinten es ernst damit und wollten ihr Programm durch eine Art von Prokrustesoperation durchführen. Aber während der sagenhafte attische Unhold seine Gäste nur durch Ausrenken oder Abhacken der Beine dem berüchtigten Bett anpaßte, schlug der Behaviorismus seinem Opfer zuerst den Kopf ab und zerstückelte es dann in S-R-Einheiten des Verhaltens. Die ganze Theorie basiert auf den atomistischen Konzeptionen des vergangenen Jahrhunderts, die von allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen längst fallengelassen worden sind. Ihr Hauptpostulat – alle Handlungsakte des Menschen, einschließlich der Sprache und des Denkens, ließen sich nach elementaren Reiz-Reaktions-Einheiten analysieren – gründete sich ursprünglich auf die philosophische Konzeption vom Reflexbogen. Danach kam der neugeborene Organismus mit einer Anzahl von "unkonditionierten" Reflexen auf die Welt und war dann während seines ganzen Lebens in seinem Tun und Lernen den Gesetzen des Pawlowschen Konditionierens unterworfen. Dieses simple Schema kam jedoch bei den Physiologen schon bald völlig aus der Mode. Der bedeutendste unter den Physiologen seiner Zeit, Sir Charles Sherrington, schrieb bereits 1906:

Der einfache Reflex ist vermutlich eine rein abstrakte Konzeption, denn alle Teile des Nervensystems stehen untereinander in Verbindung, und man muß annehmen, daß keiner seiner Teile einer Reaktion fähig ist, die nicht auch andere Teile beeinflußt und gleichzeitig auch von ihnen beeinflußt wird ... Der Reflex ist eine bequeme, aber unglaubhafte Fiktion.

Mit dem Ausscheiden der Reflexkonzeption waren die physiologischen Grundlagen, auf denen sich die S-R-Psychologie aufbaute, zunichte geworden. Die Behavioristen fühlten sich aber dadurch nicht sonderlich beeinträchtigt. Sie gingen in ihrer Terminologie von konditionierten Reflexen zu konditionierten Reaktionen über und manipulierten auch weiterhin in der uns inzwischen bekannten Manier mit ihren undefinierten Begriffen herum: Reaktionen wurden von Reizen kontrolliert, die noch im Schoß der Zukunft lagen, die "Verstärkung" wandelte sich zu einer Art Phlogiston, und die "Atome" des Verhaltens lösten sich unter den Händen der Psychologen in Dunst auf wie schon lange vorher die unteilbaren Atome des Physikers.

Historisch gesehen entstand der Behaviorismus als eine Gegenbewegung gegen die Exzesse der introspektiven Methoden, wie sie insbesondere von den deutschen Psychologen der sogenannten Würzburger Schule praktiziert wurden. Zunächst hatte er nur die Absicht, Bewußtseinszustände, Vorstellungsbilder und andere öffentlich nicht registrierbare Phänomene als Studienobjekte aus dem Bereich der Psychologie zu verbannen; später wurde jedoch gleichzeitig impliziert, daß diese verbannten Phänomene überhaupt nicht existieren. Das Programm für eine Methodologie, über das sich diskutieren ließ, wurde in eine Philosophie transformiert, die ins Absurde führte. Ebenso könnte man einer Gruppe von Landvermessern erklären, sie dürften bei der Vermessung eines kleinen Grundstückes so vorgehen, als ob die Erde flach wäre – um dann allmählich das Dogma einzuführen, die Erde sei in Wirklichkeit flach.

Der Behaviorismus vertritt in der Tat eine Art "Flache-Erde-Theorie" in der Psychologie. Er hat die anthropomorphe Verirrung, die den Tieren menschliche Fähigkeiten und Empfindungen zuschreibt, durch eine entgegengesetzte Verirrung ersetzt; er leugnet, daß der Mensch irgendwelche Fähigkeiten besitzt, die man nicht auch bei den niederen Tierarten findet. Die anthropomorphe Sicht der Ratte wurde durch die rattomorphe Sicht des Menschen ersetzt. Er hat sogar der Psychologie einen neuen Namen gegeben – denn der alte Name leitet sich ja aus dem griechischen Wort für "Seele" ab – und nennt sie jetzt "Verhaltensforschung" (science of behavior). Man könnte das einen demonstrativen Akt der Selbstkastration nennen, der ganz im Einklang steht mit Skinners Auffassung, die Aufgabe des Erziehungswesens sei die "Manipulation von Verhaltensweisen". Sein Ziel, "menschliche Handlungen ebenso vorherzubestimmen und zu kontrollieren wie die Naturwissenschaftler Phänomene der Natur kontrollieren und manipulieren",16 ist ebenso abscheulich wie naiv. Werner Heisenberg, einer der bedeutendsten lebenden Physiker, hat lakonisch erklärt: "Die Natur ist unberechenbar"; es erscheint geradezu absurd, dem lebenden Organismus selbst jenen Grad von Unberechenbarkeit abzusprechen, den die Quantenphysik der leblosen Natur zugesteht.
Während der gesamten Dauer des "finsteren Mittelalters" der Psychologie hat der Behaviorismus die Bühne beherrscht, und auch heute noch, in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, nimmt er an unseren Universitäten eine dominierende Stellung ein; aber seine Herrschaft war niemals unumstritten. Vor allem gab es immer einige "Rufer in der Wüste", meist einer älteren Generation angehörig, die noch vor der großen "Säuberungswelle" herangereift war. Zweitens gab es die Gestaltpsychologie, von der man zeitweilig den Eindruck hatte, sie könnte zu einem ernsthaften Rivalen des Behaviorismus werden. Aber die großen Hoffnungen, die die Schule der Gestaltpsychologie erweckte, erfüllten sich nur teilweise, denn ihre Mängel und Grenzen wurden bald offenbar. Die Behavioristen vermochten gewisse Einsichten ihrer Gegner ihrer eigenen Theorie einzuverleiben, und sie beherrschten auch weiterhin die wissenschaftliche Bühne.*

* Der interessierte Leser kann sich über diese Kontroverse in meinem Buch The Act of Creation (Der göttliche Funke), insbesondere in Buch II der englischen Ausgabe, und zwar in Kapitel 12, "The Pitfalls of Learning Theory", und in Kapitel 13, "The Pitfalls of Gestalt", orientieren. Auf eine eingehendere Stellungnahme wird daher im vorliegenden Band verzichtet.

Das Endergebnis war eine Art fehlgeschlagener Renaissance, gefolgt von einer Gegenreformation. Schließlich gibt es noch – um das Bild abzurunden – eine junge Generation von Neurophysiologen und Kommunikationstheoretikern, die die orthodoxe S-R-Psychologie für senil hält; sie ist jedoch häufig gezwungen, ein Lippenbekenntnis für sie abzulegen, wenn sie in ihrer akademischen Laufbahn vorwärtskommen und ihre wissenschaftlichen Arbeiten in Fachzeitschriften publiziert sehen will.

Man kann unmöglich zu einer Diagnose der menschlichen Tragödie gelangen, und schon gar nicht zu einer Therapie, wenn man von einer Psychologie ausgeht, die die Existenz des Bewußtseins leugnet und sich auf trügerische Rattenanalogien stützt. Was sich in fünfzig Jahren rattomorpher Psychologie abgespielt hat, das läßt sich in seiner sterilen Pedanterie nur mit der mittelalterlichen Scholastik während ihrer Niedergangsphase vergleichen, als sie dazu übergegangen war, Engel auf Stecknadelköpfen zu zählen; was immer noch ein vergnüglicherer Zeitvertreib war als das Registrieren von Hebeltritten im Experimentierkäfig.

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Das Holon

Ich bitte den Leser, daran zu denken, daß gerade bei den augenfälligsten Dingen eine Analyse höchst lohnend sein kann. Untersucht man alltägliche Fakten aus einer neuen Perspektive heraus, dann können sich fruchtbare neue Ausblicke eröffnen. L. L. Whyte

Die Konzeption von der hierarchischen Ordnung hat für dieses Buch zentrale Bedeutung; damit der Leser nun nicht auf den Gedanken verfällt, ich frönte hier einem privaten Hobby, kann ich ihm versichern, daß diese Konzeption eine lange und respektable Vorgeschichte hat. Anhänger orthodoxer Vorstellungen sind sogar geneigt, sie verächtlich als "alten Hut" zu bezeichnen – und im selben Atemzug ihre Gültigkeit zu bestreiten. Ich hoffe aber, im Verlauf dieser Untersuchungen zu zeigen, daß man aus diesem alten Hut, wenn man ihn ein wenig liebevoll behandelt, sehr wohl lebendige Kaninchen hervorholen kann.*

* Vor mehr als dreißig Jahren schrieb Needham: "Die Hierarchie der Beziehungen, von der Molekularstruktur von Kohlenstoffverbindungen bis hin zum Aquilibrium einzelner Arten und ökologischer Gesamtkomplexe, wird vermutlich eines Tages die beherrschende Idee der Zukunft sein." Aber in den meisten modernen Lehrbüchern der Psychologie und der Biologie taucht das Wort "Hierarchie" nicht einmal im Sachregister auf.

Die Parabel von den beiden Uhrmachern

Wir wollen mit einer Parabel beginnen. Ich verdanke sie Professor H. A. Simon, aber ich habe mir die Freiheit genommen, sie etwas auszubauen.

Es lebten einmal zwei Schweizer Uhrmacher; sie hießen Bios und Mechos und machten sehr schöne und teure Uhren. Ihre Namen mögen etwas seltsam klingen, aber ihre Väter konnten ein wenig Griechisch und hatten außerdem eine Vorliebe für Rebusse. Zwar war die Nachfrage nach den Uhren der beiden gleich groß, aber nur Bios wurde wohlhabend; Mechos dagegen konnte sich nur eben über Wasser halten; er sah sich schließlich gezwungen, seinen Laden zu schließen und als Mechaniker in die Dienste von Bios zu treten. Die Bewohner der Stadt diskutierten lange über die Ursachen dieser Entwicklung, und jeder brachte eine andere Theorie vor; schließlich sickerte eines Tages der wahre Grund durch, und es zeigte sich, daß er ebenso einfach wie verblüffend war.

Die Uhren, welche die beiden herstellten, bestanden jeweils aus etwa tausend Einzelteilen; beim Zusammensetzen dieser Einzelteile hatten sich jedoch die beiden Rivalen unterschiedlicher Methoden bedient. Mechos hatte seine Uhren Stück für Stück zusammengesetzt – so wie man etwa einen Mosaikfußboden aus lauter kleinen bunten Steinen zusammenfügt. Jedesmal wenn er bei seiner Arbeit gestört wurde und eine bereits teilweise zusammengesetzte Uhr beiseite legen mußte, fiel sie auseinander, und er mußte mit seiner Arbeit wieder ganz von vorne beginnen.

Bios dagegen hatte sich eine Methode ausgedacht, mit deren Hilfe er die Uhren so konstruierte, daß er zunächst aus jeweils etwa zehn Einzelkomponenten bestehende Teilgebilde montieren konnte, die als selbständige Werkeinheit zusammenhielten und, wenn man sie beiseite legte, nicht wieder auseinanderfielen. Zehn dieser Teilgebilde ließen sich dann ihrerseits wieder zu einem Teilsystem höherer Ordnung zusammensetzen, und aus zehn solchen Teilsystemen setzte sich schließlich die ganze Uhr zusammen.

Wie sich herausstellte, hatte diese Methode zwei bedeutende Vorteile. Der erste war folgender: Jedesmal wenn Bios in seiner Arbeit unterbrochen wurde und die Uhr, an der er gerade arbeitete, beiseite legen oder sogar fallen lassen mußte, zerfiel sie nicht gleich in ihre einzelnen Elementarbestandteile; er mußte nachher also nicht wieder ganz von vorne mit der Arbeit beginnen, sondern brauchte jeweils nur das Teilgebilde wieder zusammenzusetzen, an welchem er bei der Unterbrechung gerade gearbeitet hatte; schlimmstenfalls (wenn nämlich die Unterbrechung zu einem Zeitpunkt eintrat, da er das gerade in seinen Händen befindliche Teilgebilde nahezu vollendet hatte) mußte er neun Arbeitsgänge beim Zusammensetzen wiederholen, bestenfalls brauchte er keinen einzigen zu wiederholen. Es ist nun ein leichtes, rein mathematisch nachzuweisen, daß Mechos, wenn eine Uhr aus tausend Einzelteilen besteht und es durchschnittlich einmal bei jedem der hundert Arbeitsgänge des Zusammensetzens der Teile zu einer Unterbrechung kommt, für die Montage der ganzen Uhr viertausendmal mehr Zeit brauchen würde als Bios. Statt eines einzigen Tages benötigt er volle elf Jahre. Setzen wir an Stelle der mechanischen Einzelteile Aminosäuren, Proteinmoleküle, Organellen und so weiter, dann erreicht die Verhältniszahl zwischen den beiden Zeitmaßstäben eine geradezu astronomische Höhe; einige Berechnungen lassen darauf schließen, daß nicht einmal die gesamte Erdgeschichte für Mechos ausreichen würde, um auch nur eine Amöbe zu produzieren – es sei denn, er ginge zu Bios’ hierarchischer Methode über, aus einfacheren Teilgebilden komplexere Teilgebilde zu konstruieren. Simon kommt zu dem Schluß:

Komplexe Systeme entwickeln sich aus einfacheren Systemen wesentlich rascher, wenn es stabile Zwischenformen gibt, als wenn diese Voraussetzung nicht zutrifft. Im erstgenannten Fall zeigen die schließlich entstehenden komplexen Formen hierarchische Struktur. Kehren wir dieses Argument um, dann haben wir eine einleuchtende Erklärung dafür, daß unter den komplexen Systemen, die wir in der Natur antreffen, diejenigen mit hierarchischer Struktur erwiesenermaßen dominieren. Unter den möglichen komplexen Formen haben nur die hierarchisch strukturierten ausreichend Zeit für ihre evolutionäre Entwicklung gehabt."

Der zweite Vorteil von Bios’ Methode besteht natürlich darin, daß das fertige Produkt ungleich widerstandsfähiger ist und sich leichter warten, regulieren und reparieren läßt, als Mechos’ instabiles Mosaikwerk, das sich aus zahllosen einzelnen Elementarteilen zusammensetzt. Was für Lebensformen sich auf anderen Planeten im Universum entwickelt haben, wissen wir nicht, aber eines können wir mit Sicherheit sagen: Lebenssysteme, wo immer sie auch vorkommen mögen, müssen hierarchisch organisiert sein.

Der Janus-Effekt

Betrachten wir die Form irgendeiner sozialen Organisation von einiger Kohärenz und Stabilität – vom Insektenstaat bis zum Pentagon –, dann werden wir stets finden, daß sie eine hierarchische Struktur hat. Das gleiche gilt auch für die Struktur der lebenden Organismen und für ihre Funktionsweise – von rein instinktiven Verhaltensweisen bis zu den komplexen Fertigkeiten des Klavierspielens und der Sprache. Und es gilt ebenso für alle Prozesse des Werdens: Phylogenese [Stammesentwicklung], Ontogenese [Einzelentwicklung] und Wissenserwerb. Soll aber der sich verzweigende Baum mehr sein als nur eine oberflächliche Analogie, dann muß es gewisse Prinzipien beziehungsweise Gesetze geben, die sowohl für alle Stufen einer bestimmten Hierarchie als auch für alle verschiedenen Arten von Hierarchien gültig sind – mit anderen Worten: es müßte sich mit ihrer Hilfe die Bedeutung des Begriffs "hierarchische Ordnung" klar definieren lassen. Einige dieser Prinzipien werde ich auf den folgenden Seiten in groben Zügen darlegen. Sie mögen auf den ersten Blick ein wenig abstrakt scheinen, aber alle zusammengenommen werfen doch neues Licht auf einige alte Probleme.
Das erste universale Charakteristikum aller Hierarchien ist die Relativität – und Ambiguität der Begriffe "Teil" und "Ganzes", wenn man sie auf irgendeines der zur Hierarchie gehörenden Teilgebilde anwendet. Gerade weil diese Tatsache so augenfällig ist, neigen wir leicht dazu, die mit ihr verbundenen Implikationen zu übersehen. Ein "Teil" bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch soviel wie: etwas Fragmentarisches und Unvollständiges, das aus sich selbst keine legitime Existenzberechtigung ableiten könnte. Anderseits betrachten wir ein "Ganzes" als etwas, was in sich vollkommen abgeschlossen ist und keiner weiteren Erklärung bedarf. Aber im Grunde gibt es nirgendwo "Ganze" und "Teile" in diesem absoluten Sinn des Wortes, und zwar weder im Bereich der lebenden Organismen noch in dem der sozialen Organisationen. Was wir vorfinden, sind intermediäre Strukturen auf allen Stufen der Hierarchie, die mit jeder Stufe aufwärts komplexer werden: Sub-Einheiten, die – je nachdem, wie man sie betrachtet – gewisse Eigenschaften aufweisen, die ganzheitlich, und andere, die fragmentarisch sind. Wir haben festgestellt, daß es unmöglich ist, die Sprache in elementare oder atomare Einheiten aufzuspalten; Phoneme, Wörter und Sätze sind autonome Ganze, zugleich aber auch Bestandteile höherer Einheiten; und das gleiche gilt für Zellen, Gewebe und Organe wie auch für Familien, Sippen und Stämme. Die Sub-Einheiten einer Hierarchie haben – wie der römische Gott Janus – jeweils zwei Gesichter, die in entgegengesetzte Richtungen blicken; das den untergeordneten Teilen zugewandte Gesicht zeigt die Züge eines in sich geschlossenen Ganzen; das aufwärts zum Gipfel der Hierarchie gerichtete die eines abhängigen Teilgebildes. Eines ist das Gesicht des Herrn und Meisters, das andere das des Dieners. Dieser Janus-Effekt ist ein fundamentales Charakteristikum der Sub-Einheiten in allen Arten von Hierarchien.

Unser Wortschatz hat leider kein passendes Wort für diese janusgesichtigen Entitäten; von Sub-Einheiten, Sub-Strukturen oder Sub-Systemen zu reden ist mühsam und schwerfällig. Ich habe daher zur Bezeichnung der Komponenten einer Hierarchie, die sich – je nach der Betrachtungsweise – als Ganzheiten oder als Teile verhalten, das Wort "Holon" vorgeschlagen, nach dem griechischen hólos = ganz; das Suffix on deutet dabei – wie in den Wörtern Proton und Neutron – auf den Teil- beziehungsweise Partikelcharakter hin.

"Man prägt", so schrieb Ben Jonson, "ein neues Wort nicht ohne Gefahr; wird es akzeptiert, dann ist die Anerkennung, die man erhält, recht mäßig; wird es aber abgelehnt, dann ist der Spott, den man erntet, beträchtlich." Ich glaube aber, das "Holon" lohnt dieses Risiko, denn es kommt einem echten Bedürfnis entgegen. Es symbolisiert zugleich das fehlende Bindeglied – oder, besser gesagt, eine ganze Reihe von Bindegliedern – zwischen der atomistischen Auffassung der Behavioristen und der holistischen – ganzheitstheoretischen – Auffassung der Gestaltpsychologen.

Die Schule der Gestaltpsychologie hat unser Wissen um die visuelle Wahrnehmung beträchtlich bereichert, und es ist ihr gelungen, die starre Haltung ihrer Gegner bis zu einem gewissen Grad aufzulockern. Trotz ihrer bleibenden Verdienste stellte sich jedoch heraus, daß der "Holismus" in seiner generellen Einstellung zur Psychologie kaum weniger einseitig war als der Atomismus, denn beide behandelten "Ganze" und "Teile" als absolute Entitäten, und beide ließen den hierarchischen Aufbau der intermediären Strukturen von Teilganzen außer Betracht. Ersetzen wir für einen Augenblick das Symbol des umgekehrt dargestellten Baumes durch das Symbol der Pyramide, dann sieht es aus, als ob die Behavioristen niemals über die unterste Steinschicht hinausgelangten und die Holisten niemals vom Gipfelpunkt der Pyramide herunterkämen. Der Begriff der "Ganzheit" erwies sich in der Tat als ebenso unbefriedigend wie derjenige der unteilbaren Elementarpartikel; und wenn der Gestaltpsychologe das Phänomen der Sprache erörtert, dann befindet er sich im gleichen Dilemma wie der Behaviorist. Sätze, Wörter, Silben und Phoneme sind weder Teile noch Ganze, sondern Holons.

Der Dualismus "Teil und Ganzes" ist in unseren unbewußten Denkgewohnheiten tief eingewurzelt. Es wäre sehr vorteilhaft für unser geistiges Blickfeld, wenn es uns gelänge, uns von ihm zu befreien.

Soziale Holons

In Kapitel 2 habe ich die hierarchische Struktur der Sprache erörtert. Wir wollen uns nun für eine Weile einer ganz anderen Art von Hierarchie zuwenden, nämlich der Struktur der Gesellschaft.

Als biologischer Organismus betrachtet, stellt das Individuum eine wohlgeordnete Hierarchie von Molekülen, Zellen, Organen und Organsystemen dar. Blickt es nach innen, in den durch seine Haut begrenzten Raum, dann kann es mit gutem Recht behaupten, es sei etwas Vollständiges und Einmaliges, ein "Ganzes". Blickt es nach außen, dann wird es ständig – manchmal zu seiner Freude, manchmal zu seinem Leid – daran erinnert, daß es ein "Teil" ist, eine einfache Komponente in einer oder in mehreren sozialen Hierarchien.

Der Grund dafür, daß jede relativ stabile soziale Gemeinschaft – ganz gleich, ob es sich um eine solche von Menschen oder Tieren handelt – hierarchisch strukturiert sein muß, läßt sich auch wieder an der Parabel von den beiden Uhrmachern deutlich machen; ohne stabile Teilgebilde – soziale Gruppen und Untergruppen – könnte das Ganze einfach nicht fest zusammenhalten.

In der militärischen Hierarchie bestehen die Holons aus Kompanien, Bataillonen, Regimentern und so weiter, und die Zweige des Baumes stellen die Linien der Kommunikation und Befehlsübermittlung dar. Die Anzahl der Stufen, die eine Hierarchie aufweist (im vorliegenden Fall reichen sie vom Kommandierenden General bis zum einfachen Soldaten), bestimmt, ob man sie als "seicht" oder "tief" bezeichnet; die Anzahl der Holons auf einem gegebenen Stufenniveau wollen wir (nach Simon) als "Spannweite" bezeichnen. Eine Horde von primitiven Stammesangehörigen stellt eine sehr flach angelegte Hierarchie mit vielleicht zwei oder drei Stufen dar (Häuptling, Unterhäuptling, Horde), aber die unterste hat eine große Spannweite. Umgekehrt soll es früher in einigen lateinamerikanischen Armeen ebenso viele Generale wie einfache Soldaten gegeben haben – das wäre ein Grenzfall, bei dem die Hierarchie in eine Leiter übergeht. Die Funktionsfähigkeit einer komplexen Hierarchie beruht – unter anderem – auf einem angemessenen Verhältnis von Tiefenstaffelung und Spannweite – etwa analog zum Goldenen Schnitt der griechischen Bildhauer oder zu Le Corbusiers "Modulor"-Theorie.

Eine Gesellschaft ohne hierarchische Strukturierung würde sich ebenso chaotisch gebärden wie Gasmoleküle, die in allen Richtungen umherfliegen und aufeinanderstoßen. Aber die Struktur ist nicht immer deutlich sichtbar, da keine fortgeschrittene Gesellschaft – nicht einmal der totalitäre Staat – ein streng monolithisches Gefüge darstellt. Das könnte allenfalls bei sehr primitiven Stammesgesellschaften der Fall sein, in denen die Familie-Sippe-Stamm-Hierarchie eine vollständige Kontrolle über das Individuum ausübt. Die Kirche des Mittelalters und die modernen totalitären Staaten waren gleichermaßen bestrebt, monolithische Hierarchien zu errichten, hatten aber damit nur begrenzte Erfolge. Die Struktur fortgeschrittener Gesellschaften ist durch eine Vielzahl sich gegenseitig überschneidender Hierarchien bedingt: Kontrolle durch den politischen Machtapparat. Naheliegende Beispiele von dergleichen "Kontrollhierarchien" sind Regierungsbehörden sowie die Hierarchien militärischer, kirchlicher, akademischer, beruflicher und geschäftlicher Art. Die Kontrolle kann durch Einzelpersonen oder Institutionen ausgeübt werden; sie kann starr oder elastisch gehandhabt und bis zu einem gewissen Grad durch Rückkoppelung von "unten" beeinflußt werden; zum Beispiel von der Wählerschaft.

Mit diesen Kontrollhierarchien überschneiden sich noch andere Arten von "Baumstrukturen", die auf sozialer Kohäsion, geographischer Nachbarschaft und so weiter basieren. Es gibt die Familien-Sippen-Kasten-Hierarchien und ihre modernen Varianten. Mit ihnen überschneiden sich die auf geographischer Nachbarschaft beruhenden Hierarchien. Alte Städte wie Paris, Wien oder London haben ihre traditionellen Viertel, die relativ autark sind, mit ihren eigenen Kaufläden, Cafés, Kinos, Hausbesorgern und Straßenkehrern. Jedes Viertel ist gewissermaßen eine Gemeinde für sich, ein soziales Holon, das seinerseits wieder Teil einer größeren Einheit ist – wie linkes und rechtes Seineufer, City und West End, Amüsierviertel und Geschäftsviertel, Zentrum und Vorstadtgürtel. Alte Städte scheinen – trotz ihrer architektonischen Vielfalt – wie ein natürlicher Organismus gewachsen zu sein und ein ganz spezifisches eigenständiges Leben zu führen. Städte, die allzu rasch emporgewachsen sind, lassen eine deprimierende Amorphie erkennen, denn ihnen fehlt die hierarchische Struktur einer organischen Entwicklung. Man hat das Gefühl, bei ihrer Entstehung sei nicht Bios, sondern Mechos am Werk gewesen.

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