Auszüge aus Otto F. Kernberg's
"Ideologie, Konflikt und Führung"

Psychoanalyse von Gruppenprozessen und Persönlichkeitsstruktur

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Vorwort zur deutschen Ausgabe von Peter Buchheim

Das Beeindruckendste an diesem jetzt auch für deutsche Leser vorliegendem Buch von Otto Kernberg ist wohl die Reichweite seiner auf der Psychoanalyse gründenden Erfahrungen. Es wird aufgezeigt, wie weit über das traditionelle Einzel- und Gruppentherapiesetting hinaus die Bedeutung psychodynamischer Prozesse für das Individuum, insbesondere im Kontext von Gruppen, Institutionen und Organisationen verständlich und nutzbar gemacht werden kann. Dies ist gerade in einer Zeit von aktueller Brisanz, in der von vielen Seiten der Psychoanalyse insbesondere im therapeutischen Feld mit zunehmender Skepsis aufgrund ihrer Exklusivität und der noch zu wenig empirisch gesicherten Effektivität begegnet wird. Kernberg macht uns hier mit Anwendungsbereichen der Psychoanalyse vertraut, in denen ein psychodynamisches Verständnis der strukturellen Eigenschaften von Persönlichkeiten und ihrer Interaktionen in vielfältigen zwischenmenschlichen Beziehungskonstellationen für die Analyse und Lösung von Problemen sehr nützlich sein kann. Besonders beeindruckend ist auch, wie sehr sich Kernberg in seiner Funktion als Präsident der "Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung" äußerst kritisch für eine zeitgemäße Erneuerung und Weiterentwicklung der psychoanalytischen Ausbildung einsetzt, um das Selbstverständnis der Kandidaten zu stärken für die künftigen Herausforderungen an sie in einer immer breiter gefächerten wissenschaftlichen und sozialpolitischen Gesellschaft. In der jüngeren Vergangenheit waren nicht selten Versuche von Psychoanalytikern trotz ihrer fundierten Kenntnisse über Persönlichkeitsstrukturen und Interaktionsprozesse wenig erfolgreich, in den eigenen Institutionen oder beratend für andere Einrichtungen und Unternehmen adäquate Problemlösungsstrategien umzusetzen. Kernberg zeigt uns aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen gerade auch in diesem Bereich, wie mit einer bestimmten realitäts- und situationsorientierten Pragmatik psychoanalytisches "Know-how" für die Beratung von Führungskräften, therapeutischen Teams und Organisationen effektiv eingesetzt werden kann und sich wiederum in Bereichen der Beratung und der Aus- und Weiterbildung nutzen läßt. Insgesamt ist das Buch eine Fundgrube zur Anwendung psychoanalytischer Theorie und Praxis nicht nur für Psychoanalytiker, sondern für alle psychodynamisch orientierten Psychologen, Soziologen und Ärzte, insbesondere in verantwortlichen Leitungs- und Führungspositionen.

Vorwort des Verfassers

Mein Interesse an der Behandlung schwerer Persönlichkeitsstörungen konfrontierte mich sehr früh mit den alles beherrschenden destruktiven und selbstdestruktiven Strömungen, die ein wesentliches Element der unbewußten Konflikte und interpersonalen Schwierigkeiten der betreffenden Patienten bilden. Durch ihre Behandlung im Rahmen eines Klinik-Settings konnte eine Fülle von Erkenntnissen über die Äußerung ihrer unbewußten intrapsychischen Konflikte innerhalb des sozialen Lebens der Klinikumwelt gewonnen werden. Überraschend war die Einsicht, daß die Konflikte dieser Patienten Konflikte widerspiegelten, die sich zuvor bereits in der sozialen Matrix der Klinik entwickelt hatten. Sie konnten mitunter die Klärung lautloser, aber ausgesprochen beunruhigender unterschwelliger Konflikte der Krankenhausadministration ermöglichen.

Unter einem komplementären Blickwinkel gaben mir meine über fünfundzwanzigjährigen Erfahrungen – als medizinischer Leiter des C. F. Menninger Memorial Hospital, danach als Leiter der General Inpatient Services am New York State Psychiatric Institute und in den vergangenen Jahren als medizinischer Leiter des New York Hospital-Cornell Medical Center, Westchester Division – Gelegenheit, die Aktivierung regressiver Gruppenprozesse zu beobachten, für die destruktive und selbstdestruktive Konflikte als praktisch unausweichliche Aspekte des Funktionierens in der Institution charakteristisch waren; solche Konflikte bildeten gleichsam die dunkle Seite der produktiven Arbeit, die von effizienten Aufgabengruppen und Organisationsstrukturen innerhalb dieser Institutionen geleistet wurde.

Ich erkannte, daß die dynamische Wechselwirkung von libidinösen und aggressiven Strebungen nicht allein im dynamischen Unbewußten des Individuums stattfindet, sondern auch auf der Ebene von Gruppen und sozialen Institutionen agiert wird. Defensive und sublimierende Prozesse, in denen die Schicksale von Erotik und Aggression, von Kreativität und Selbstdestruktivität Ausdruck finden, lassen sich sowohl am Individuum als auch auf Organisationsebene beobachten. Die auffallende wechselseitige Beeinflussung von individuellen, Gruppen- und Organisationsprozessen erfordert fraglos eine integrierte Theorie dieser Gegenströmungen.

Die vielleicht dramatischste Illustration der Interaktion zwischen individueller und Gruppendynamik ist die Beobachtung, daß sich sehr kranke Patienten in Gruppen, die über eine stabile Struktur und klar definierte und konsequent vertretene Aufgaben verfügen, ganz normal verhalten können. Im Gegensatz dazu können absolut gesunde und gut angepaßte, hochqualifizierte Fachleute, die im Kontext regressiver Gruppen mit inadäquater Aufgabenstruktur arbeiten, sehr rasch auf abnormale Verhaltensweisen regredieren. Zuweilen hat es den Anschein, als würden in solchen dysfunktionalen Gruppensituationen die destruktivsten und selbstdestruktivsten Kräfte des dynamischen Unbewußten freigesetzt. Meine Erfahrungen als Mitglied und Leiter psychiatrischer und psychoanalytischer Organisationen sowie als Organisationsberater für Krankenhäuser und Ausbildungseinrichtungen haben mir die Beziehung zwischen den unbewußten Konflikten des Individuums sowie den regressiven Gruppenprozessen und der Beteiligung der Organisationsführung an der Reduzierung oder Verstärkung primitiver Aggression in einem sozialen Kontext ebenfalls deutlich werden lassen.

Im Laufe der Jahre habe ich einen theoretischen Rahmen entwickelt, der unser heutiges Wissen über die Psychodynamik von Individuen, Gruppen und Organisationen integriert. Im vorliegenden Buch stelle ich diesen integrativen Rahmen ausführlich dar und wende ihn auf die Analyse regressiver Gruppenprozesse, auf die Beschaffenheit institutioneller Führung und auf jene Bedingungen eines rationalen Funktionierens von Organisationen an, die vor den gefährlichsten Konsequenzen regressiver Gruppenprozesse schützen können. Die Anwendung dieses Bezugrahmens auf die Gruppentherapie und die therapeutische Gemeinschaft illustriert die therapeutische Umsetzung dieses Modells; ein anderer Teil des Buches, der den Problemen in psychoanalytischen Instituten gewidmet ist, zeigt, wie diese Theorie in der Beratung Anwendung finden kann. Mit mehreren Beiträgen über die Psychologie der Ideologiebildung, über Bürokratie, Konventionalität und schließlich über den politischen Prozeß öffne ich diesen theoretischen Rahmen für eine Verbindung mit den Sozialwissenschaften, um ihn über den spezifischen Bereich des institutionellen Funktionierens hinaus anzuwenden.

Ich hoffe, daß die folgenden Kapitel Licht auf die Turbulenzen der menschlichen Interaktionen in Gruppen und Organisationen werfen werden, warne aber davor, utopische Erwartungen an dieses Wissen zu knüpfen. Ich habe zu zeigen versucht, wo und in welchem Ausmaß dieses Verständnis dazu beitragen kann, Konflikte auf der Ebene von Gruppen und Institutionen zu lösen, und welches Potential diesem Modell als therapeutischem Instrument bei der Suche nach institutionellen Veränderungen zukommt.

Für die Ausarbeitung meiner Ideen und Überlegungen habe ich einer Gruppe hervorragender Kollegen und Freunde zu danken, von denen einige zu den Pionieren der zeitgenössischen Forschung über die Organisationspsychologie zählen. Harry Levinson, ehemaliger Direktor des Department of Industrial Psychology der Menninger Foundation und später Präsident des Harry Levinson Institute in Boston hat mich als erster dazu ermuntert, Konflikte in Organisationen unter psychoanalytischem Blickwinkel zu untersuchen. Thomas Dolgoff, der mittlerweile verstorbene ehemalige Leiter und Lehrer für Administrationstheorie an der Menninger Foundation, gewährte mir im ersten Jahr meiner Tätigkeit als Direktor des C. F. Menninger Memorial Hospital die Gunst seiner persönlichen Beratungen. Der verstorbene John Sutherland, ehemaliger Direktor der Tavistock Clinic, Herausgeber des International Journal of Psycho-Analysis und viele Jahre lang führender Berater der Menninger Foundation, machte mich mit Ronald Fairbairns Objektbeziehungstheorie und der am Tavistock Institute of Group Relations entwickelten Theorie der Gruppendynamik bekannt. Er regte mich dazu an, Konzepte zu entwickeln, die eine Brücke zwischen der Psychopathologie des Individuums und der Psychopathologie von Gruppen und Organisationen schlagen.

Meine ersten Erfahrungen mit Gruppendynamik und Gruppenpsychotherapie sammelte ich unter der hervorragenden Anleitung und Supervision von Ramón Ganzaraín, dem ehemaligen Direktor der Abteilung für Gruppendynamik und Psychosomatische Medizin am Department of Psychiatry der School of Medicine an der University of Chile und späterem Leiter der Abteilung für Gruppenpsychotherapie an der Menninger Foundation. Jerome Frank, Professor für Psychiatrie an der Johns Hopkins Medical School, ein Pionier der Forschung über Gruppenpsychotherapie an der Henry Phipps Clinic des Johns Hopkins Hospital, half mir, meine Erfahrungen in der Gruppenpsychotherapie und der Psychotherapie-Forschung zu erweitern. Der berufliche Austausch mit Leonard Horwitz bei der Menninger Foundation, mit Howard Kibel am New York Hospital-Cornell Medical Center, Westchester Division, und mit Saul Scheidlinger, dem ehemaligen Herausgeber des International Journal of Group Psychotherapy, hat es mir erheblich erleichtert, meine Kenntnisse über die Gruppenpsychotherapie zu vertiefen und zu erweitern.

Durch die Arbeit von Didier Anzieu in Frankreich und René Kaës in der Schweiz, Pierre Turquet, Malcolm Pines und Earl Hopper in Großbritannien und Abraham Zaleznik in den Vereinigten Staaten sowie durch die Erfahrungen, die ich als Mitglied und in der Leitung von Konferenzen am A. K. Rice Institute sammeln konnte, habe ich vieles über Gruppendynamik und Organisationstheorie gelernt. Besonders hilfreich waren meine anregenden Kontakte zu Margaret Rioch und Roger Shapiro.

Während meiner gesamten beruflichen Tätigkeit und meiner Arbeit an den Publikationen der vergangenen Jahre hat mir eine Gruppe von Freunden und Kollegen beigestanden, denen ich für ihre begleitende, herausfordernde und stimulierende Kritik zu tiefem Dank verpflichtet bin. Zu ihnen gehören Harold Blum, Arnold Cooper, William Grossman, Paulina Kernberg, Robert Michels, Ethel Person, Gertrude Ticho und Robert Wallerstein.

Die Ermutigung und Unterstützung, die mir bei meiner augenblicklichen Arbeit Jack Barchas, Professor und Dekan am Department of Psychiatry des Cornell University Medical College, zuteil werden läßt, war für dieses Buch ungemein anregend. Meine Kollegen am Personality Disorders Institute der Westchester Division des New York Hospital geben mir immer wieder Gelegenheit zur therapeutischen Forschung im Gruppen- und individualtherapeutischen Setting. Ihnen allen bin ich außerordentlich dankbar, vor allem Ann Appelbaum, Stephen Bauer, John Clarkin, Pamela Foelsch, Kay Haran, Paulina Kernberg, Harold Koenigsberg, Sonia Kulchycky, Lawrence Rockland, Michael Stone und Frank Yeomans.

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Die Psychologie großer und kleiner Gruppen

Freud (1921) war der erste, der Gruppenprozesse psychoanalytisch erforschte und sie im theoretischen Rahmen der Ich-Psychologie erklärte, die er nicht lange zuvor entwickelt hatte. Seiner Ansicht nach empfinden Menschen in Massen ein Gefühl unmittelbarer wechselseitiger Nähe, das sich aus der Projektion ihres Ich-Ideals auf den Führer sowie aus ihrer Identifizierung mit diesem Führer und den übrigen Gruppenmitgliedern herleitet. Die Projektion des Ich-Ideals auf den Führer eliminiert sowohl moralische Zwänge als auch die vom Über-Ich vermittelten Funktionen der Selbstkritik und Verantwortlichkeit, während das Gefühl der Einheit und Zugehörigkeit die Mitglieder der Masse davor schützt, ihr Identitätsgefühl zu verlieren. Verbunden ist diese Projektion mit einer erheblichen Einschränkung der Ich-Aktivität. Infolgedessen brechen sich primitive, normalerweise unbewußte Bedürfnisse Bahn, und die Masse wird von Trieben und Affekten beherrscht, von Erregung und Wut, Affekten, die der Führer auslöst und lenkt.

In Arbeiten, die während der 40er und frühen 50er Jahre entstanden, hat Bion die regressiven Prozesse beschrieben, die er beobachtete, wenn sich der Leiter unstrukturierter, aus sieben bis zwölf Mitgliedern bestehender Gruppen konsequent weigerte, an Entscheidungsprozessen der Gruppe teilzunehmen, und deren Verhalten lediglich beobachtete und kommentierte. Bion erklärte diese Prozesse in bezug auf drei emotionale Grundannahmen der Gruppe (Grundannahmen-Gruppe), welche die Basis für Gruppenreaktionen bilden, die potentiell ständig vorhanden sind, aber aktiviert werden, sobald die Aufgabenstruktur oder die "Arbeitsgruppe" zusammenbricht.
Bion beschrieb erstens die Gruppengrundannahme der Abhängigkeit. Die Mitglieder erleben den Leiter als allmächtig und allwissend und sich selbst als unzulänglich, unreif und inkompetent. Sie verbinden ihre Idealisierung des Leiters mit Versuchen, das Wissen, die Macht und das Gute, über das er verfügt, aus ihm "herauszuziehen". Die Gruppenmitglieder sind daher immerzu gierig und immerzu unzufrieden. Wenn der Leiter ihrem Ideal nicht entspricht, reagieren sie zunächst mit Verleugnung und dann mit einer rapiden und vollständigen Entwertung sowie der Suche nach Ersatz. Primitive Idealisierung, projizierte Omnipotenz, Verleugnung, Neid und Gier sowie die entsprechenden Abwehrmechanismen kennzeichnen somit die Abhängigkeitsgruppe.

Die zweite Grundannahmen-Gruppe operiert unter einer "Kampf-Flucht"-Grundannahme, die sie gegen verschwommen wahrgenommene äußere Feinde vereint. Diese Gruppe erwartet, daß ihr Leiter den Kampf gegen solche Feinde anführt und die Gruppe zudem vor inneren Kämpfen bewahrt. Weil die Mitglieder keinen Widerstand gegen ihre gemeinsame Ideologie tolerieren können, spalten sie sich leicht in Untergruppen auf, die einander bekämpfen. Häufig unterwirft sich eine Untergruppe dem idealisierten Leiter, während eine andere die unterwürfige Gruppe entweder angreift oder vor ihr flieht. Zu den besonders auffälligen Merkmalen gehören die Tendenzen der Gruppe, den Führer zu idealisieren oder sich von ihm kontrolliert zu fühlen, Nähe durch gemeinsame Verleugnung der in der Gruppe vorhandenen Feindseligkeit zu erleben und Aggression auf eine Außengruppe zu projizieren. Kurz: Spaltung, Projektion der Aggression und projektive Identifizierung sind vorherrschende Eigenschaften. In der Kampf-Flucht-Gruppe ist die Suche nach Nahrung und Abhängigkeit, welche die Abhängigkeitsgruppe charakterisiert, durch Konflikte infolge aggressiver Kontrolle, durch Mißtrauen, Kampf und Vernichtungsangst ersetzt.

Die dritte Grundannahmen-Gruppe operiert unter der Grundannahme der "Paarbildung". Die Mitglieder neigen dazu, sich auf ein Paar innerhalb der Gruppe zu konzentrieren, das gewöhnlich, aber nicht immer, heterosexuell ist. Das fokale Paar symbolisiert die positive Erwartung der Gruppe, daß sie sich schließlich fortpflanzen wird, um auf diese Weise die bedrohte Identität der Gruppe zu sichern und ihr Überleben zu gewährleisten. Die Paarbildungsgruppe empfindet allgemeine Intimität und sexuelle Entwicklungen als potentiellen Schutz vor den gefährlichen Konflikten, die im Zusammenhang mit Abhängigkeit und Aggression – den Merkmalen der abhängigen Gruppe und der Kampf-Flucht-Gruppe – auftauchen. Im Gegensatz zu den beiden letztgenannten Gruppen, die einen prägenitalen Charakter haben, hat die Paarbildungsgruppe genitalen Charakter.

Le Bon (1895) wie auch Freud (1921) haben die direkten Manifestationen starker Aggression in Massen beschrieben. Anders als in der Masse wird das Gewaltpotential in kleinen Gruppen normalerweise unter Kontrolle gehalten, da sie nicht nur die soeben dargestellten Mechanismen aktivieren, sondern die Möglichkeit des Blickkontakts sowie wechselseitige Vertrautheit es ihnen erleichtern, eine gewisse zivilisierte Haltung zu wahren. Ein äußerer Feind dient dazu, die innerhalb der Gruppe erzeugte Aggression zu absorbieren. Gelegentlich aber läßt sich kein äußerer Feind definieren oder lokalisieren, und dies erzeugt wesentlich stärkere Spannungen, die den inneren Zusammenhalt der Gruppe bedrohen.

Rice (1965) und Turquet (1975) haben das Verhalten großer, unstrukturierter Gruppen (40-120 Mitglieder) untersucht und dabei ähnliche Methoden benutzt, wie sie Bion für die Erforschung der Prozesse in kleineren Gruppen verwendete. Turquet beschrieb den vollständigen Identitätsverlust, den das einzelne Mitglied einer großen (unstrukturierten) Gruppe erlebt. Damit einhergehend nimmt die Fähigkeit des Einzelnen, die Folgen seiner Worte und Handlungen realistisch vorauszusehen, in der Großgruppe dramatisch ab, weil das gewohnte Feedback auf die individuelle verbale Kommunikation verlorengeht. In großen, unstrukturierten Gruppen ist offenbar niemand imstande, einem anderen zuzuhören; der Dialog wird durch die daraus resultierende Diskontinuität der Kommunikation erstickt, und Versuche, kleine Untergruppen zu bilden, schlagen in der Regel fehl. Selbst Projektionsmechanismen versagen, weil niemand das Verhalten des anderen realistisch einzuschätzen vermag. In diesem Zusammenhang werden Projektionen multipel und instabil, und das Individuum muß sich eine Art "Haut" zulegen, durch die es sich von den anderen abgrenzt.
Turquet beschrieb auch die Ängste, die das Individuum vor der Aggression anderer Mitglieder, vor Kontrollverlust und Gewalttätigkeit empfindet – Ängste, die in der Großgruppe jederzeit auftreten können. Angst bildet die Entsprechung zu den provozierenden Verhaltensweisen, die Gruppenmitglieder gelegentlich willkürlich zeigen, normalerweise aber gegen den Führer richten. Nach und nach wird deutlich, daß diejenigen, die sich in einer solchen Atmosphäre einen Hauch von Individualität zu bewahren versuchen, auch diejenigen sind, die am häufigsten angegriffen werden. Gleichzeitig herrschen Homogenesierungsbemühungen vor; jede simplizistische Generalisierung oder Ideologie, die sich in der Gruppe durchsetzt, kann sich ohne weiteres in eine Überzeugung verwandeln, an deren absolutem Wahrheitsgehalt niemand zweifelt. Im Gegensatz zur Rationalisierung der Gewalt, welche die Masse charakterisiert, dient die vulgäre oder gewöhnliche Philosophie der Großgruppe jedoch als beruhigende, Sicherheit vermittelnde Doktrin, die jeden Gedanken auf ein Klischee reduziert. Aggression in der Großgruppe äußert sich zumeist als Neid – Neid auf das Denken, auf Individualität und auf Rationalität.

Anzieu (1971) zufolge bewirkt die Regression in der unstrukturierten Gruppe, daß die Beziehungen der Individuen zur Gruppe die Merkmale einer Verschmelzung annehmen. Seiner Meinung nach verschmelzen individuelle Triebbedürfnisse mit einer phantasmatischen Vorstellung von der Gruppe als primitivem Ich-Ideal; dieses setzt Anzieu mit einem unbegrenzt gratifizierenden Primärobjekt, der Mutter der allerersten Entwicklungsphasen, gleich. Die Psychologie der Gruppe spiegelt unter diesem Blickwinkel drei Konstellationen gemeinsamer Illusionen wider:

1.       daß sich die Gruppe aus Individuen zusammensetze, die gleich sind – eine Verleugnung des Geschlechtsunterschiedes und der Kastrationsangst;

2.       daß sich die Gruppe selbst geschaffen habe, nämlich als mächtige Mutter ihrer selbst;

3.       daß die Gruppe sämtliche narzißtischen Verletzungen heilen könne, weil sie zu einer idealisierten "Brustmutter" wird.

Chasseguet-Smirgel (1975) arbeitete Anzieus Beobachtungen weiter aus und entwickelte die Überlegung, daß unter diesen Bedingungen jede Gruppe, sei sie klein oder groß, dazu neige, Führer auszuwählen, die nicht die väterlichen Aspekte des verbietenden Über-Ichs repräsentieren, sondern einen pseudoväterlichen "Urheber der Illusion" verkörpern. Ein Führer dieser Art bedient die Gruppe mit einer Ideologie, einem einigenden Ideensystem; in diesem Fall ist die Ideologie eine Illusion, welche die narzißtischen Hoffnungen des Individuums bestätigt, mit der Gruppe als primitivem Ich-Ideal – der allmächtigen und unbegrenzt gratifizierenden präödipalen Mutter – zu verschmelzen. Ihre Identifizierung miteinander ermöglicht es den Klein- oder Großgruppenmitgliedern am Ende, zu einer primitiven narzißtischen Befriedigung ihrer Wünsche nach Bedeutung und Macht zu gelangen. Wenn gewalttätige Gruppen unter dem Einfluß von Ideologien operieren, die sie sich unter derartigen psychologischen Bedingungen angeeignet haben, dann spiegelt ihre Gewaltbereitschaft das Bedürfnis wider, jede äußere Realität zu zerstören, die der illusionären Gruppenideologie entgegensteht. Der Verlust der persönlichen Identität, der kognitiven Unterscheidungsfähigkeit und der differenzierenden Individualität innerhalb der Gruppe wird durch das gemeinsame Omnipotenzgefühl kompensiert. Dieser Sichtweise zufolge werden das regredierte Ich, das Es und das primitive (präödipale) Ich-Ideal des Individuums in der Gruppenillusion miteinander verschmolzen.

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