Auszüge aus Leo Kaplan's
"Die göttliche Allmacht"

Die religiöse Zentralphantasie im Lichte der Psychoanalyse

Leo Kaplan (1876-1956) war einer der wenigen unabhängigen Schüler Freuds, die sowohl Mystizismus wie biologiefeindliche Verflachung lebenslang zu meiden wußten. Von seinen zahlreichen Werken sind diejenigen, welche Freuds Lösung des Rätsels der Religion festigen und erweitern, sicherlich die wertvollsten. In dem vorliegenden Buche erweist Kaplan den Hochgott der Religionen nicht nur als Erben und Echo des frühkindlich erlebten Vaters (dessen Gestalt dann gesellschaftlich von Priesterschaften u.ä. standardisiert wird), sondern auch der eigenen Säuglingsexistenz und Säuglingsphantasie.

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Vorwort des Herausgebers Fritz Erik Hoevels

Das Rätsel der Religion hat die besten Geister immer wieder beschäftigt: obwohl ihre Inhalte haltlos, ja kindisch sind, werden sie dennoch geglaubt, und zwar ziemlich unabhängig von der Intelligenz und Bildungshöhe der von ihr Befallenen – wie ist das möglich? Und woher kommen diese Inhalte?

Die nächste Auskunft bietet in offenkundiger Weise die Gewalt: ihre religiösen Ansichten haben die Kinder allesamt in mehr oder weniger grober Weise aufgenötigt bekommen, und die damit beschäftigten Erwachsenen haben dabei keinen Spaß verstanden.

Wenn nämlich dem Menschen in früher Kindheit gewisse Grundansichten und Lehren mit ungewohnter Feierlichkeit und mit der Miene des höchsten, bis dahin von ihm noch nie gesehenen Ernstes wiederholt vorgetragen werden, dabei die Möglichkeit des Zweifels daran ganz übergangen, oder aber nur berührt wird, um darauf als den ersten Schritt zum ewigen Verderben hinzudeuten; da wird der Eindruck so tief ausfallen, daß, in der Regel, d.h. in fast allen Fällen, der Mensch fast so unfähig seyn wird, an jenen Lehren, wie an seiner eigenen Existenz zu zweifeln; weshalb dann unter vielen Tausenden kaum Einer die Festigkeit des Geistes besitzen wird, sich ernsthaft und aufrichtig zu fragen: ist das wahr? (...) So stark demnach ist die Gewalt früh eingeprägter religiöser Dogmen, daß sie das Gewissen und zuletzt alles Mitleid und alle Menschlichkeit zu ersticken vermag. (A. Schopenhauer, Parerga u. Paralipomena II, cap. XV, § 174. Ein Dialog)

Bei diesen und ähnlichen Anlässen fällt den klügeren Kindern durchaus auf, spätestens wenn sie größer werden und ihre Erinnerung nicht verloren haben, wie die Religion als eine ihrer auffälligsten Wirkungen die Moral der Erwachsenen herabsetzt: auch solche, die aufgrund ihres erreichten moralischen Niveaus sich an anderen Stellen sehr wohl "ein Gewissen machen würden", ihre oder überhaupt Kinder zu belügen, empfinden dies bei religiösen Gegenständen, an die sie selbst nicht glauben, auf einmal nicht mehr, und wenn die gleiche, an ihnen sonst kaum beobachtbare Skrupellosigkeit im Lügen doch wieder zu beobachten ist, so stets oder wenigstens auffallend regelmäßig im Zusammenhang mit Gegenständen, die eine erkennbare Verbindung zur Religion aufweisen, etwa dem Christkind, dem Osterhasen oder dem Weihnachtsmann. Und daß die Religion mit der menschlichen Moralität im offenen Krieg liegt und sie nicht nur hinsichtlich der Bereitschaft zur Lüge, sondern auch zur Gewalt verblüffend leicht und regelmäßig lahmlegt, beweisen genügsam die neolithischen Menschenopfer und alle ihre Nachfolgeunternehmungen bis hin zu den routinemäßigen Massenmorden kroatischer Franziskaner unter der von ihrer Kirche getragenen und von der Hitlerarmee militärisch geschützten Ustascha-Regierung an Hunderttausenden von Serben und Juden; von der berüchtigten Fast-Ausrottung dieser angeblichen, anthropologisch nie verifizierbaren Rasse, auf jeden Fall aber dem Christentum besonders verhaßten durchhaltefähigen Minderheitsreligion wollen wir gar nicht erst anfangen, das Feuermeer der Scheiterhaufen braucht zur Erkennbarkeit seines moralischen bzw. eben moralwidrigen Charakters keine episodische Zyklon-B-Verstärkung. Und könnte eine ernsthaft religionsneutrale Grundlage den Scheußlichkeiten etwa des Saudi-Arabiens oder Irans unserer Gegenwart, in welcher dieses wertvolle Buch nachgedruckt wird, insbesondere der systematischen Folterung und Ausmordung der landeseigenen Bahai-Minderheit und der massenhaften sadistischen Tötung vieler eigener und persönlich vertrauter Frauen, bei den Tätern ohne religiöse Anstiftung so wenige Gewissensbisse hinterlassen, ihre moralischen Kriterien also derartig herabsetzen? Der positive Zusammenhang zwischen Religion einerseits, Lüge und Gewalt andererseits ist evident und schon vielen Menschen aufgefallen, so sehr die zugunsten der Religion gesellschaftlich etablierte Gewalt, von den "Ketzergesetzen" bis zum "Gotteslästerungsparagraphen", sie jahrhundertelang hartnäckig daran zu hindern suchte und sucht, dieser ihrer Beobachtung angemessenen Ausdruck zu verleihen.

Erkennt man die Gewaltgrundlage der religiösen Lügen aber einfach an, vom vagen "sozialen Druck" und der "emotionalen Erpressung" durch nahe Angehörige bis hin zur juristischen Diskriminierung und Ermordung, je nach Zeitalter und sozialer Position des Individuums, so scheint sich auf der Basis der Festinger’schen "kognitiven Dissonanztheorie" das Rätsel der Religion einigermaßen leicht lösen zu lassen, jedenfalls dasjenige, warum sie trotz offenkundiger Realitätswidrigkeit, erkennbarer Willkürlichkeit, d.h. empirischer Unfundiertheit ihrer Aussagen sowie auch allerhand immanenter logischer Brüche dennoch geglaubt wird. Gewalt und sozialer Druck erklären in der Tat viel, auch in den primitivsten, "klassenlosen" Gesellschaften, die trotz aller Idealisierung durch viele ihrer Entdecker und noch mehr durch deren Leser oft, wenn nicht immer, randvoll sind von gesellschaftlichem Druck und latenter bis offener Gewalt – es ist eine anerkennenswerte Leistung Frans de Waals, gezeigt und ausgesprochen zu haben, daß schon der Affe in der Horde "nicht frei" ist. An Gewalt, in entwickelten Gesellschaften auch an institutionalisierter, ist bei der Weitergabe irrationaler und daher auch religiöser Vorstellungen von Anfang an kein Mangel, und wer klug genug ist, Festinger ernster zu nehmen als diesem gepaßt hätte, kann von dessen Funden aus den Glauben an die Behauptungen der Religion sehr gut verstehen. Nur höchst selten gedeihen Religionen ohne die direkte und massive Unterstützung der Machthaber, welche den ihnen Unterworfenen drastisch viel Geld oder dessen Analoga abnehmen, um den Trägern ihnen genehmer Religionen die eindrucksvollsten Bauten und mancherlei mehr hinzustellen; nur sehr selten und wenig eindrucksvoll entstehen diese dadurch, daß Freiwillige – und das ungestört von staatlich gestütztem Geschrei und Schikanen! – ihr Geld als Kultverein zusammenlegen, um dadurch Riten und Phantasien ihrer Wahl eine Heimstatt zu kaufen, obwohl nach dem idealisierten Zerrbild unserer Gesellschaft als gewaltlos "pluralistischer" durch unsere Sozialkundelehrer und sonstige Medien eigentlich nichts anderes der Fall sein dürfte. Aber jeder weiß, daß die Ehe von Gewalt und Religion, während einer gewissen langen, langen Epoche "Thron und Altar" genannt, so fest hält wie die Symbiose von Pilz und Alge bei den meisten Flechten.

So wäre also das Rätsel der Religion ganz einfach erklärt durch die funktionale Theorie des Psychologen Festinger, und der Beitrag der Psychoanalyse, dessen wenig bekannten Schlußstein ich in dieser Neuausgabe der Öffentlichkeit wieder zugänglich machen will, wäre überflüssig und damit wertlos? – Die nächste Überlegung zeigt den Fehler in dieser Vermutung.

Denn auch die selbstherrlichsten Gewalthaber haben die religiösen Vorstellungen ja nicht erfunden oder, wie heutzutage deren Nachfolger für den propagandistischen Tagesbedarf, von bezahlten Spezialisten "designen" lassen; wohl haben sie oft Einfluß auf sie genommen, aber im Normalfall haben sie sie vorwiegend vorgefunden, wobei sie die Nützlichkeit oder Gleichgültigkeit, wenn nicht Schädlichkeit einzelner Vorstellungsteile dieser irrationalen Komplexe für ihre Herrschaft im Einzelfall oft kaum beurteilen konnten, sondern gewöhnlich mit einer Mischung von Sympathie, Detailempirismus und isolierter Ad-hoc-Überlegung vorgingen – da ließ sich er König taufen mit allem Volk, aber das ist nur ein besonders klar hervortretender Markierungs- und Wendepunkt in der praktischen Religionsgeschichte, hinter jedem Tempelbau und jeder anderen religionserhaltenden Kostspieligkeit oder gewaltförmigen (legislativen) Begünstigung oder auch Diskriminierung stecken ähnliche Prozesse. Und keine Herrschaft, auch die blutrünstigste nicht, versucht dauerhaft Vorstellungen zu erzwingen, die nicht an psychologisch massenhaft Vorhandenes anknüpfen können und dadurch relativ gewaltarm, d.h. kostengünstig in den Köpfen zu verankern sind. Wir haben dies in unseren Tagen beispielsweise an der weltweiten Kriegspropaganda der USA unmittelbar beobachten können: die "Brutkastenbabys" ebenso wie die "Massenvergewaltigungen" entbehrten zwar ebenso jeder Realität gerade so wie etwa die Transsubstantiation des Weines im Dionysoskult oder dem auf ihm aufbauenden Ritual der Christen, aber bevor sie in den "Medien" unserer Gewalthaber verbreitet wurden, hatten diese sorgfältig durch Massenumfragen, also die Ermittlung psychischer Prädispositionen, herausfinden lassen, welche Behauptung über einen militärischen Gegner, den es anzugreifen gilt, den größten Abscheu erzeugt und zugleich als potentiell real empfunden wird. Die Gewalthaber früherer Zeiten konnten diese Umfragen nicht machen, sie waren für den gleichen Zweck auf ihren Instinkt bzw. denjenigen ihrer "Ratgeber" angewiesen; aber das Ergebnis war ganz ähnlich, und die empirisch-historische Verteilung und der Bestand sowie die Elaboration der Religionen seine auffälligste Folge.

Diesen psychischen Kern der Religionen herausgefunden zu haben, das also, was die Disposition zu ihrer Haftung in den Köpfen (oder "Seelen") abgibt oder herstellt – bzw. den individuellen Rohstoff, aus dem sie gesellschaftlich erschaffen, geknetet und vereinheitlicht worden sind –, ist das Verdienst Freuds, so sehr Marx und Engels sich vor ihm – und vorschnell! – dieser Leistung schon gerühmt hatten. (Tatsächlich löst ihre Forschung nur das Problem der historischen Unterschiede und Ausformungen der Religionen, im Ansatz vielleicht auch noch ihrer Förderung durch die Machthaber, aber keineswegs dasjenige der Herkunft ihrer doch so wesentlichen phantastischen Grundlagen und deren subjektiver Haftung, was bei einem so aufdringlich subjektiven Phänomen doch das wichtigste sein muß.) Die phantastische Folge durchschnittlicher Infantilsituationen in ihrer ganzen qualvollen Ausweglosigkeit und Wucht, die zu wieder aufsteigenden Phantasien gerinnenden Folgen des durch Verdrängung der erinnernden oder gar aktuellen Wahrnehmung entzogenen Ödipuskomplexes eben, der sich als schwer vermeidbare Folge der infantil erlebten Familiensituation einstellt, wurde von Freud endlich als die Grundlage der religiösen Vorstellungen und des ganzen sie umrankenden Komplexes von Riten, Ängsten und Sekundärphantasien erkannt, welcher dann zu indirekten oder sofort erkennbaren Herrschaftszwecken weitergeformt und gefestigt werden kann.

In den Mittelpunkt seiner entsprechenden, in Totem und Tabu vorgestellten Analyse hat Freud dementsprechend – in Gestalt des Opferritus – die verpönte und als Wunsch geleugnete und maskierte Vatertötung gestellt, die von den paläolithischen rituellen Tötungen eindrucksvoller, in genealogische Beziehung zur eigenen Verwandtschaftsgruppe gebrachten Jagdtieren bis zu den Kultmählern (oder deren fetischistischen Ersätzen) der Christen reicht – und natürlich die Gottesphantasie selbst, die das infantile Erleben des wirklichen, körperlich so viel größeren eigenen Vaters in der Familie in entsprechenden Figuren auf Berggipfeln oder sogar oberhalb derselben fortsetzt. Dabei blieb diejenige Seite der Opferriten, welche vom anti-ödipalen Präventivschlag abzweigt (der als vom gleichgeschlechtlichen Elternteil drohend nicht ganz ohne Berechtigung unbewußt gefürchtet wird), zunächst einmal unberücksichtigt, wie das bei Pionierleistungen normal und vielleicht unvermeidlich ist; diese Lücke hat wenige Jahre später mustergültig Freuds Schüler Theodor Reik gefüllt (dessen entsprechende Leistung der nächste Band dieser Reihe wieder zugänglich machen soll). Aber der Stoff, aus dem die Götter sind, erschöpft sich damit noch nicht ganz.

Wieder hat Freud in seinem genannten Pionierwerk auch die Grundlage zu der noch fehlenden Ergänzung seiner zentralen Religionstheorie selber gelegt: in der Würdigung des – nach Frazer benannten – "magischen Denkens" als einer Entwicklungsstufe nicht nur des menschlichen Denkens (wogegen aus durchsichtigen Gründen die gesamte einschlägige Professorenschaft unserer Zeit Sturm läuft und in ihrer auffällig wilden Kritik des "Evolutionismus" allzu viele Kinder mit dem Bade ausschüttet), sondern auch, aus sowohl physiologischen wie situationsbedingten Gründen, des Individuums. (Den Nachweis dieser Stufe und ihrer Fortwirkung hatte Freud die Psychoanalyse individueller Störungsphänomene ermöglicht; seine Schilderung und Verallgemeinerung füllt den Mittelteil von Totem und Tabu, wobei wir Freuds Comte/Hegel’schen Optimismus bezüglich der Menschheitsentwicklung nicht zu übernehmen brauchen – unsere eigene Zeit erlebt den Zusammenbruch des wissenschaftlichen ebenso wie die Rückkehr des magisch-religiösen Denkens gerade so wie die europäische Spätantike.)

Diese Würdigung und volle Nutzung der Einsichten Freuds in die Wirkungsweise und den untergründigen lebenslangen Fortbestand der "magischen Entwicklungsstufe des Denkens" erbrachte die letzte noch fehlende Einsicht in das Wesen und Funktionieren der Gottesphantasie: der Gott aller Religionen und Philosophen ist nicht nur das phantastische Abbild des infantil-ödipal erlebten Vaters, sondern auch die Verlängerung der subjektiven eigenen Säuglingsexistenz, er beerbt sozusagen Vater wie Säugling gleichermaßen!

Dies herausgearbeitet und damit erst das restlose Verständnis aller religiösen Vorstellungen ermöglicht zu haben ist das Verdienst Leo Kaplans. Seine entsprechenden Ausführungen bilden das vorliegende Buch, jene neben derjenigen Reiks unverzichtbare und abrundende Ergänzung von Totem und Tabu. (Beispielsweise hat es meine eigene Lösung der Frage, wie die Vorstellung einer Unsterblichkeit des eigenen Individuums zustandekommen kann [in: System ubw 1/1992], sehr erleichtert – die reine Wunschphantasie leistet derlei keineswegs.) Trotzdem wurde es zu Lebzeiten des Autors kaum beachtet, und auch danach ist es bedauerlicherweise ungenutzt geblieben.
Der Grund dafür liegt mindestens teilweise in der Person seines Verfassers: als C. G. Jung die Psychoanalyse beinahe demoliert und zu einer Art harmlos-unfalsifizierbarer Spinnerei ohne sexualpolitischen Sprengstoff für beschäftigungslose, aber eitle und feige Wohlhabende degradiert hatte, hielt sich Kaplan, der in Zürich wohnte und sein Geld verdiente, aus dem für das Überleben der psychoanalytischen Wissenschaft unvermeidbaren Fraktionskampf heraus und machte in der Folge aus dieser Not die Tugend der "Unabhängigkeit" und die Basis mancher unhaltbaren theoretischen Eigenbröteleien. Freuds Organisation, ohne welche die Psychoanalyse nicht bis wenigstens 1933 bzw. 1938 hätte bestehen können (wie weit ihre weiter reichende Fortsetzung noch als Fortbestand gelten kann, ist kontrovers, aber die Hitlerei im nahezu ganzen Kontinent der Aufklärung und Arbeiterbewegung ist auch in der Tat schwer zu überstehen), rächte sich für dieses persönliche Versagen durch weitgehendes Schweigen, und für die Jungianer war Kaplan um Lichtjahre zu rational; die restliche bürgerliche (oder kommunistische, die existierte ja noch) Öffentlichkeit hatte natürlich für eine auf psychoanalytischer Basis gewonnene Erklärung ideologischer Phänomene gar kein Interesse, zumal sie ja auch die Aussagen der organisierten Psychoanalyse ausschließlich deshalb nicht ignorierte, weil sie sie aufgrund besagter Organisation und deren Echo in einer damals noch verglichen mit heute unvorstellbar freieren und daher unruhigeren kleinbürgerlichen Intelligenz nicht ignorieren konnte. Nur Wilhelm Reich würdigte, selber gehetzt und gejagt, isoliert und bald durch diese geistige Isolation auch persönlich geschädigt, Leo Kaplan in seiner Sex-Pol-Zeitung, einer Ein-Mann-Exilzeitschrift, zu dessen sechzigstem Geburtstag. Gehetzt und gejagt war Kaplan in seiner derzeitigen Schweizer Rechtsstaatsinsel freilich nicht.

So hat dieses Buch, das wahrscheinlich wertvollste, weil von allen persönlichen Abwegigkeiten freie und auf angenehme Art die Bildung seines Verfassers spiegelnde Werk, seinen Platz im geistigen Waffenschrank des gesellschaftlicher Bevormundung und Verbiegung entstrebenden Denkens noch nie finden können. Da dies eine deutliche Lücke läßt, die noch kein anderer Wissenschaftler füllen wollte, ganz abgesehen von den Prioritätsrechten, mache ich es hier der interessierten Öffentlichkeit wieder zugänglich.
Vielen Lesern wird dieses Buch "altertümlich" vorkommen, weil es ausführlich und liebevoll aus großem Kenntnisfundus belegt. Das ist zwar inzwischen nicht mehr "Mode", weil es nicht mehr bezahlt wird (nämlich den Uni-Mandarinen, Professoren also), und die ganze seriöse Ethnologie wird allmählich ein versunkener Kontinent, der durch politische Kontinentaldrift linientreu unter Wasser geraten ist; gerade solche Neuausgaben wie die vorliegende vermögen aber die als "Positivismus" verbellten, durch Zeugenaussagen und -niederschriften gesicherten Fakten zu retten. Darum enthält diese Ausgabe auch einen ethnologischen Index; es wird ja immer schwieriger, sich vorkoloniale Gesellschaften außerhalb des euro-chinesischen Raums vorzustellen, gar zu vergegenwärtigen. Man braucht eben, und zum Glück, eine gewisse Ruhe, um die weniger als heute gleichgeschalteten Bücher einer besseren Zeit lesen zu können.

Einige fehlerhafte Zitate und Seitenangaben wurden stillschweigend korrigiert. Ebenso wurden Syntax und Zeichensetzung bisweilen vorsichtig modernisiert, Abkürzungen vereinheitlicht. Die Verifikation aller Zitate erwies sich allerdings als undurchführbar. Außerdem wurde Kaplans Zitierweise der heute üblichen (und auch wirklich praktischeren) angeglichen.

Hierbei bedaure ich wieder, daß ich meinen Helfern, die sich schon im vorangegangenen Buch dieser Reihe Verdienste erwarben, besonders R. H. und C. N., in einem Unrechtsstaat nicht öffentlich danken kann – Unrechtsstaaten spätestens seit Sulla kennen ja eine Art "Kontaktschuld".

Vorwort des Autors

Das Gebiet der Tatsachen, die von der Religionswissenschaft erfaßt werden sollen, abzustecken, ist nicht leicht. Je mehr wir uns in die weite Vergangenheit zurückversetzen, desto mehr sehen wir, wie Religion sich dem nähert, was wir heutzutage als Weltanschauung schlechthin gelten lassen. Und das, was wir jetzt Religion nennen, ist vielleicht bloß ein Überbleibsel einer primitiven Weltanschauung, das von dem nagenden Zahn der Zeit verschont blieb.

Das Objekt des Glaubens in den Religionen der Kulturvölker ist der "wahre" einzige Gott. Seinem letzten Wesen nach unterscheidet sich dieser Gott in nichts von den Göttern der sogenannten "heidnischen" Religionen. Diese sind Persönlichkeiten, begabt mit Allmacht, die leicht nun mit den unzähligen Dämonen, die ihrerseits wieder entweder selbständig oder als Werkzeuge Gottes agieren, verschmelzen. Aber Allmacht wird auch den Zauberern und Hexern beigelegt. Auf primitiver Stufe läßt sich keine scharfe Grenze ziehen zwischen Gott, Dämon und Zauberer. Außer den Göttern und Zauberern kannten die Religionen wie der primitiven so auch der Kulturvölker unpersönliche Gottheiten, wie z.B. Brahman der alten Inder.

Das grundlegende Problem der Religionsforschung ist uns die Idee der Allmacht. Nach einer kritischen Prüfung verschiedener möglicher Lösungen des Problems aus der kosmologischen Spekulation, der sozialen Determinierung usw., bleiben wir bei einer psychoanalytischen Lösung: Die Psychoanalyse leitet den Allmachtgedanken aus dem Narzißmus ab. Der Narzißt, der sich selbst Liebende, überwertet sich selbst, überschätzt die eigene kosmische Bedeutung: daraus resultiert sein Allmachtbewußtsein. Dem entspricht in der Entwicklung der Menschheit die Phase der Magie. Die neuere Ethnologie stellt sich ja auf den Standpunkt, daß der Ursprung der Religion nicht im Götterglauben, sondern im Kultus zu suchen sei; dieser aber ist eine magische Handlung, die ursprünglich nicht den Zweck hat, den Gott sich geneigt zu machen, sondern unmittelbar auf die Naturereignisse einwirken will. Mit der Überwindung des Narzißmus entsagt der Mensch der eigenen Allmacht, schafft sich aber den Gott, dem er jene Allmacht gleichsam überträgt. Auf einer noch weiteren Stufe der Entwicklung kann dieser Gott mit der Natur zusammenfallen (Spinozismus). Die unpersönliche Allmacht nimmt gleichsam eine Mittelstelle ein zwischen Gott und Gott-Natur.

Die Idee der Allmacht nimmt im Bewußtsein der Völker die wunderlichsten Gestalten an. Da tritt sie als Gott-Vater auf, da aber als eine mysteriöse Substanz, die aus sich die Welt emaniert, oder als die Notwendigkeit, die in der Welt der Erscheinungen herrscht, oder zuletzt als die moralische Kraft (der "Gott in uns"), die uns zwingt, das Gute zu tun und das Böse zu meiden.

Außer dem tätigen Gott trifft man ab und zu einen Gott, der sich vollständig in die Außerweltlichkeit zurückgezogen hat und in vollkommener Untätigkeit beharrt und qualitätlos ist. Dieser Gott ist der vollkommene Ausdruck einer Introversionstendenz. Damit die Beziehungen zwischen Gott und Menschen noch aufrechterhalten bleiben, muß der Mittler auftreten. Ein solcher Mittler ist z.B. Christus.

Zuletzt weist Gott noch Züge auf, die auch für den Seelenbegriff charakteristisch sind. Gott ist gleichsam die Seele des Alls, und die (individuelle) Seele ist der Gott des einzelnen Körpers. Innerhalb der spekulativen Psychologie treten wirklich Probleme auf, ähnlich denjenigen der Theologie. Es gibt z.B. in der Sânkhya-Philosophie eine Seelenlehre, wo die Seele qualitätlos, untätig und in ewiger Ruhe beharrend aufgefaßt wird, wie jener introvertierte Gott der Außerweltlichkeit. Und auch hier tritt ein Mittler auf, der "innere Körper" (linga), der die Beziehungen des Menschen zur Welt aufrecht hält.

Das sind die Fragen, die in der vorliegenden Arbeit behandelt sind. Sie bildet nur den ersten Teil eines größeren Zusammenhanges, dessen zweiter Teil die dramatische Kunst (als hervorgegangen aus der magisch-kultischen Handlung) und dessen dritter Teil den Dämonismus (die mehr ins Psychopathische gehende Seite der Religion) behandeln wird.

Gott-Allmacht

Unser Ausgangspunkt – das naive Volksbewußtsein

Zum Ausgang unserer Untersuchung über die Herkunft der Gottesidee nehmen wir die Vorstellungen, die sich der "einfache" Mann über Gott macht. Der Gott der "Philosophen" ist zu kompliziert, ist nicht das Produkt einfältigen Glaubens, sondern resultiert eher aus dem Bestreben, die rationalen Forderungen der Wissenschaft mit dem Verlangen der Seele nach Mystik zu vereinigen. Dieser Gott ist keine elementare, keine "natürliche" Erscheinung mehr. Wir lassen ihn darum beiseite.

Gott ist ursprünglich nicht das Gute, sondern das Mächtige

Die Gottesvorstellungen, die im Bewußtsein breiter Volksmassen lebendig sind, schreiben der Gottheit folgende Eigenschaften zu: Übersinnlichkeit (Jenseitigkeit), Allmacht und väterliche Sorge um die Welt, die sie geschaffen.

Aus diesen drei Eigenschaften ist aber eigentlich nur die Allmacht ein notwendiges Attribut Gottes. Nach urprimitiven Vorstellungen konnte das allmächtige Wesen auch im Diesseits anwesend sein und brauchte auch keinesfalls um die Welt väterlich besorgt zu sein, es war aber jedenfalls mächtig.

Unter dem Einfluß der Philosophie Kants, der auf dem Gebiete des reinen Denkens jegliche Theologie vertilgt hat, aber dessen ungeachtet in der Sittlichkeit einen göttlichen Grund erblicken wollte, sind viele sentimentale Gelehrte unserer Zeit bestrebt, die Gottesidee aus der Moral, die dem Menschen schon auf sehr primitiver Stufe eigentümlich sein soll, abzuleiten. Auf solchem Standpunkt steht z.B. der bekannte Indologe Leopold v. Schroeder. Er meint, daß schon der Primitive seinem Gotte sittliche Qualitäten beilegt. Seine Argumentation ist die folgende: Auf sehr früher Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft herrscht das Gewohnheitsrecht. Wird dieses Recht gebrochen, insbesondere aber in zweifelhaften Fällen, wendet man das Ordal an. Das Ordal ist ein Experiment, das den Zweck hat, den Schuldigen bloßzustellen oder die Unschuld des Beschuldigten zu beweisen. Worin besteht nun der Sinn des Ordals?

Der allem Volk einleuchtende, einfache Sinn der Ordalien besteht doch eben darin, daß man mit absoluter Sicherheit voraussetzt, eine höhere Macht, ein höheres göttliches Wesen werde unmittelbar in dem glühenden Gegenstand, im Feuer, Wasser u.dgl.m. sich wirksam erweisen und durch so oder so gewandte Lenkung der Naturkraft den Schuldigen erkennen lassen. Es setzt eine solche Institution auch in ihren rohesten Formen demnach nicht nur den Glauben an ein mächtiges Wesen voraus, sondern auch schon die weitere Vorstellung, daß dieses Wesen über gute und böse Handlungen wache, durch direktes Eingreifen den Schuldigen der Bestrafung überweise, den Unschuldigen rette, also eine entschieden moralisch gerichtete Macht sei und sich als solche tatkräftig bezeuge ...

Gott, der über die guten und bösen Taten wacht, der die Schuldigen straft und die Unschuldigen rettet, dieser Gott ist das allmächtige Gute oder der um seine Kinder besorgte Vater.

Der große Gott im Himmel wurde als Vater der Welt, der Menschen und der Götter gedacht, und damit war er wohl in erster Linie als Oberhaupt und fürsorgender Leiter bezeichnet ...

Stimmt diese Konstruktion in allen Punkten? Obgleich die Religion auf den höheren Stufen ihrer Entwicklung, wie zuzugeben ist, ethische Momente enthält und eine solche Religion, wie der Buddhismus, eigentlich nur ein ethisches System repräsentiert, ist es dennoch unzulässig, zum Ausgangspunkt der Gottesidee das ethisch Gute zu nehmen. Wie weit auch von uns die Zeiten liegen, wo die Gottesidee zuerst entstanden sei, ist es uns dennoch möglich, durch die Dicke der späteren Aufschichtungen zum ursprünglichen Kern durchzudringen.

Ist Gott wirklich nur das Gute? Und ist es richtig, daß ursprünglich der Mensch nur dem "guten" Gotte seine Ehrfurcht erwies? Die Tatsachen widersprechen dem! Von den Bahau auf der Insel Borneo wird z.B. folgendes erzählt:

Da die guten Geister nicht nur an sich ungefährlich sind, sondern den Menschen auch alles erdenkliche Gute anzutun bestrebt sind, die bösen Geister dagegen den Menschen, als Strafe für ihre Missetaten, alles Unglück übermitteln, haben diese für die Bahau begreiflicherweise mehr Interesse als jene. Man hört sie daher viel häufiger von den gefürchteten bösen als von den harmlosen guten so sprechen.

Von den Kamtschadalen wird ähnliches berichtet:

Von ihren alten Gottheiten und Dämonen erzählen die Leute, daß der Hauptgott Kuk’h mit seiner Gemahlin Kak’h, ihrem Sohn Trel-Kuthan und ihrer Tochter Isch-schachels zumeist auf den Gipfeln hoher Vulkane residieren, wo sie das Feuer zur Bereitung ihrer Speisen gebrauchen. Mit den Menschen hätten sie eigentlich gar nichts zu tun und lebten in ewiger Abgeschlossenheit und Machtlosigkeit, weshalb sie auch von den Kamtschadalen wenig beachtet würden. Allgemein werde diese alte Götterfamilie verlacht und verspottet, weil sie das Land so sehr unpraktisch erschaffen hätte. Nur hohe Berge und viel Eis und Schnee hätten sie den Bewohnern gegeben, und wenn sie den Menschen auch nicht gerade Böses antäten, so käme doch nur sehr selten etwas Gutes von ihnen. Dagegen lebe der böse Dämon Ssossotschelk fortwährend unter den Menschen, um diese bei jeder nur möglichen Gelegenheit zu necken, sie in all ihrem Tun zu stören und ihnen Böses zuzufügen. Diesem bösen Geist müsse man daher opfern und ihn durch Schamanen zu versöhnen suchen.

Ferner:

Unter den heidnischen Gottheiten, die von den Polen in Schlesien verehrt wurden, behaupten den ersten Rang der weiße und der schwarze Gott; Bialy Bog i Czerny Bog. Der weiße war ein guter, den Menschen wohlwollender, der schwarze ein ihnen gegenüber feindlich gesinnter Geist. Der erste war daher der Urquell alles Guten, der zweite der Quell alles Bösen. Darum hat sich auch bis auf die jetzigen Zeiten unter dem Volke das Sprichwort erhalten: "Es ist besser, dem Teufel zwei als dem lieben Herrgott ein Licht anzuzünden."

Von einigen Völkerschaften, die in den Steppen Arabiens und Syriens ein Nomadenleben führen, erzählt ein heutiger Beobachter:

Wenn sich ihre Gedanken zu einem göttlichen Wesen emporschwingen, dann denken sie es sich nicht als Vater, den man lieb haben muß, sondern als Tyrannen, von dem jegliches Übel kommt. Einem solchen Wesen dienen ... sie wie Sklaven. ... Gott scheint zur Hauptsache ein Beduinenschêch in idealer Gestalt zu sein, d.h. ein mächtiger, aber launenhafter Despot.

Die obigen Zeugnisse, die über verschiedene weit voneinander liegende Welten aussagen, bestätigen keinesfalls die Meinung der Philosophen von der grundsätzlich "guten" Natur Gottes, vielmehr widerlegen sie die Ansicht der Philosophen, daß "alle Religion nur Auslegung des moralischen Bewußtseins (sei)".

...

Gott und Vater

Wir kehren jetzt zur Frage der Genesis der Gottesidee zurück. Aus der Betrachtung des Kosmos allein konnte diese Idee nicht entstehen; in den religiösen und mythologischen Vorstellungen steckt viel "Menschliches, Allzumenschliches".

Gott wird gewissermaßen mit dem Himmel identifiziert; aber anderseits tritt der Himmel selbst als Vater auf.

Im Veda erscheint als eine alte, schon verblassende Göttergestalt Dyâus "der Himmel" oder "Lichthimmel", der auch Dyâus pitar oder "Himmel-Vater" genannt wird.

Der Gott der Götter der Römer heißt Jupiter = dies pater = Gott Vater. Bei den Esten heißt (der Gott) Pikker wanna essa, alter Vater. ... Der altnordische Thôrr selbst hieß zugleich Atli, d.i. Großvater ...

"In der Tat", meint mit Recht Max Müller, "gibt es wenig Völker, welche ihrem Gotte oder ihren Göttern nicht den Namen Vater gäben."

Unter den Zulus z.B. ist Unkulunkulu oder Unkulukulu, welches den Urgroßvater bedeutet, der Name Gottes. Allerdings hatte jede Familie ihren eigenen Unkulunkulu, und demgemäß wechselt auch sein Name. Aber es gibt auch einen Unkulunkulu für alle Menschen, sozusagen einen Vater aller Menschen.

Das Glaubensbekenntnis eines Zulu lautete z.B. so:

Wir Schwarzen ehren nicht alle unsere Amatongas (Vorfahren), d.i. alle Toten unseres Stammes ohne Unterschied. Im allgemeinen wird das Haupt eines jeden Hauses von den Kindern desselben angebetet, denn sie kennen nicht die übrigen Vorfahren, die tot sind, auch kennen sie nicht ihre Namen. Aber mit ihrem Vater, den sie kannten, beginnen und beenden sie ihr Gebet, denn sie kennen ihn und seine Liebe zu seinen Kindern am besten. Er wird uns in derselben Weise behandeln auch jetzt, da er tot ist.

Derselbe Vater also, der innerhalb der Familie der Beschützer seiner Kinder ist, setzt diese seine Funktion auch noch im Jenseits fort. Die Voraussetzung für diese Gott-Vater-Religion ist aber die animistische Seelenvorstellung: die Vorstellung, daß durch den Tod die allmächtige Seele sich von den Fesseln des Erdenlebens befreit und ihre verborgenen Kräfte nun voll zur Entfaltung bringen kann.

Der Missionar B. Gutmann berichtet aus Deutsch-Ostafrika:

Die eigentlichen Opferstätten der Wadschagga, an denen sie ihre persönlichen Nöte zu wenden suchen ... sind die Grabstätte der Vorfahren. Wer bei seinem Tode Kinder hinterläßt, wird auf seinem Hofe ehrlich begraben ... Diese Grabstellen von Vater und Mutter sind zunächst die Zufluchtsorte für die Kinder in ihren Nöten. Hier opfern sie bei Krankheit eines Familiengliedes Ziegen und Schafe und gießen Trankopfer aus.

Außer diesen Grabstätten, die den einzelnen Familien heilig sind und nur von ihnen Opfer und Gebete empfangen, gibt es nun Denkmäler, welche von einem ganzen Sippenverband geehrt werden und wo sie sich in allen wichtigen Angelegenheiten ihres Geschlechtes zu gemeinsamer Übung der Bräuche versammeln. Da ist die Begräbnisstätte ihres Ahnen, auf den das Geschlecht seinen Namen zurückführt ... Eine solche Grabstätte heißt: KIFU KYA NKUU WOVO, Grabmal ihres Alten.

Eine allgemeine Bedeutung für das ganze Land besitzen die Gräber der Bezirksahnen. Jede Landschaft des Wadschaggavolkes zerfällt wieder in sehr viele kleine Bezirke, deren jeder einem vom Häuptling bestellten Vorsteher gehorsam ist. Ein jeder dieser Bezirke ist ursprünglich nur ein Sippenverband gewesen, und jedenfalls fällt für einzelne Familien dieser Bezirksahne mit dem Alten der Sippe zusammen. Die Grabmäler dieser Bezirksahnen heißen: FIFA FINIMI, die Großen, d.h. hier einer Gesamtheit verehrungswürdigen fifu ...

Das Grabmal für den Alten von Madschame befindet sich in der Landschaft Tsien, am Steppenrande gelegen. Dieser erste Ansiedler namens Madschame gab dem Lande den Namen.

Wir sehen, wie sich bei den Wadschagga die Götterhierarchie auf Familien- oder Sippenverhältnisse stützt: an der Spitze steht der Allvater, der Alte des ganzen Volkes.

Die Götterhierarchie der Wadschagga ist zugleich ein gutes Beispiel dafür, wie die himmlische Sphäre die irdischen Verhältnisse abbildet.

Die Religion erklärte die ganze Welt nach demselben Vorbild, wie das Leben innerhalb der Gesellschaft erklärt wurde. Die ganze weitere Geschichte der Religion zeigt, daß mit der Änderung der Produktions- und sozialpolitischen Verhältnisse sich auch die Form der Religion änderte: besteht die Gesellschaft aus einigen schwach miteinander verbundenen Stämmen, von denen jeder seine Ältesten und Fürsten hat – dann hat die Religion die Form der Vielgötterei: wenn z.B. ein Prozeß des Zusammenschlusses stattfindet, eine zentralisierte Monarchie entsteht, so vollzieht sich dasselbe parallel auch im Himmel, wo ein einziger Gott den Thron besteigt, ein Gott, der ebenso grausam ist, wie der Herrscher auf Erden; haben wir es mit einer sklavenhaltenden Handelsrepublik (etwa Athen im 5. Jahrhundert) zu tun, so richten sich auch die Götter republikanisch ein, wenn auch unter den vielen Göttern sich die Göttin der siegreichen Stadt Pallas Athena hervortut.

Auch im Christentum spielt Gott-Vater eine Rolle. Neben ihm sitzt aber auch die Mutter Gottes, die zugleich eine liebende Mutter für alle Menschenkinder ist. Die infantilen Gefühle für die Mutter hören wir deutlich genug im folgenden Kirchenlied von Heinrich Bonne:

Maria, Himmelsfreund!
Dich will in Ewigkeit
ich kindlich lieben;
o süße Mutter mein!
Mir tief ins Herz hinein
bist du geschrieben.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß die späteren streng monotheistischen Religionen auf der Basis einer ausgesprochenen patriarchalischen Gesellschaftsordnung, wo die Mutter selbst schon der Macht des "Vaters" unterworfen war, entstanden sind. In den älteren Religionen aber erscheinen noch die Götterpaare, als Mann und Weib miteinander verbunden. Wir erfahren z.B. aus dem babylonischen Schöpfungsbericht, daß am Anfang, vor Erschaffung von Himmel und Erde nur Apsu, der "Erzeuger" und Tiamat, die "Gebärerin aller", da waren. Sie erschufen die ersten Götter paarweise: es entstehen Lachmu und Lachamu, Ansar und Kinsar usw. In der altslawischen Religionwaren die Hauptgötter: Perun und Mutter-Erde; in einer noch früheren Periode standen an der Spitze der slawischen Götter: Rod (= Erzeuger) und Rožanica (= Erzeugerin). Eine spätere Nachwirkung dieser Tatsachen finden wir im Christentum, wo die "Mutter Gottes" wieder in die ihr gebührende Stellung eingesetzt wird.

Die psychoanalytische Wissenschaft war in ihren Anfängen sehr geneigt, im Vater das Vorbild Gottes zu sehen. Die ursprüngliche soziale Zelle, in die der Mensch mit der Geburt eintritt, ist die Familie. Dem kindlichen Bewußtsein erscheinen die Eltern als allmächtig und allwissend: mit allen seinen Zweifeln geht der infantile Mensch zu ihnen, bei jeder Lebensschwierigkeit sucht er bei ihnen Zuflucht. Mit der zunehmenden intellektuellen Reife kann es aber nicht ausbleiben,

daß das Kind allmählich die Kategorien kennenlernt, in die seine Eltern gehören. Er lernt andere Eltern kennen, vergleicht sie mit den seinigen und bekommt so ein Recht, an der ihnen zugeschriebenen Unvergleichlichkeit und Einzigartigkeit zu zweifeln.

Es entstehen dann die "himmlischen Eltern", als Ersatz für jene Gestalten, die dem infantilen Gemüte so lieb geworden sind.

Die oben angeführten Beispiele belehren uns, daß in dem Gottesbilde unbestreitbar väterliche (bzw. mütterliche) Züge enthalten sind. Das erklärt aber nicht, wie wir noch unten ausführlicher zeigen wollen, alle Eigentümlichkeiten der religiösen Einstellung. Übrigens ist auch nicht zu vergessen, daß, wenn auch für das Bewußtsein des infantilen Menschen die Eltern über eine große Macht verfügen, so doch die Allmacht seiner eigenen ungezügelten Phantasie viel größer ist. Die infantile Phantasie des Volkes hat das Märchen mit seinem mächtigen Zauberapparat geschaffen: wie z.B. Tischlein deck dich, Siebenmeilenstiefel, der Mantel, mit dem man überall hinfliegen kann usw. Für diese Phantasie gibt es keine unüberwindlichen Schwierigkeiten. Auch die magische Phantasie des Kindes verwandelt sehr leicht jeden Stuhl in ein Auto, jeden Stock in ein blitzschnelles Pferd. Diese allmächtige Phantasie braucht eigentlich keine Vorbilder, um sich einen Gott zu schaffen, der alles vermag, der Mensch ist noch sich selbst Gott.

Die doppelte Natur der Eltern und der Gottheit

Das Verhalten der Eltern zu den Kindern ist von doppelter Natur: sie kommen zu ihren Kindern mit Liebe und Sorge um sie, aber auch als Vermittler der ethischen Forderungen, die die Gesellschaft dem einzelnen Individuum stellt. Diese doppelte Natur spiegelt sich auch in der Gottheit wider: Gott ist nicht nur der liebende himmlische Vater, sondern zugleich auch der strenge Richter. Wie weit die suggestive Macht der elterlichen Gebote reicht und wie sie sich mit dem Göttlichen vermengt, ersehen wir aus dem folgenden Beispiel:

Ein Zwangsneurotiker (Patient von Dr. W. Stekel, Wien), Herr J. V. träumte einmal:

"Meine Mutter lag schlafend, wie tot, im Zimmer. Plötzlich wurde sie lebendig und hob ihren Finger, als wollte sie mich warnen. ›Nimm dich vor der Rosa in acht‹, sprach sie langsam. Dann schrumpfte sie zusammen, und an ihrer Stelle lag ein großes schwarzes Buch."

In nachträglicher Treue zur Mutter, die ihm auf dem Totenbette den lapidaren Imperativ gab: "Hüte dich vor den Frauen!" und dann verschied, kann er bei keiner Frau in ein dauerndes Verhältnis kommen. Rosa ist seine jüngste Liebe. Er möchte sie heiraten, fürchtet aber, nichts "zusammenzubringen" ... In der Nacht erschien ihm die Mutter und wiederholte den Imperativ. Sie ist noch nicht tot. Sie lebt noch und befiehlt noch. Das große schwarze Buch, das an ihrer Stelle liegt, ist die Bibel, in der seine Mutter immer las und die jetzt ihm gehört.

Wir sehen, wie bei diesem Neurotiker die Gebote der Mutter mit denjenigen der Religion verschmelzen: an die Stelle der verstorbenen Mutter tritt die Bibel. Dasselbe treffen wir oft in der Religion an: Gott ist dann der Repräsentant der ethischen Forderungen.

Die alttestamentliche Religion hat den pater familias zum Jehova der Juden erhoben, dem das Volk mit Angst zu gehorchen hat.

So bekennen z.B. auch die wilden Eweer:

Gott will von uns Eweern haben, daß wir auf den Wegen das Übel vertreiben ... Wer Gutes tut, dem vergilt es Gott mit Gutem, und den Übeltätern vergilt Gott das Böse mit Bösem. Ein gütiger Mensch stirbt nicht bald; ein Übeltäter aber stirbt bald.

Ferner noch:

Die bösen Menschen liebt Gott nicht; deswegen ermahnen uns unsere Eltern immer und sagen: Wenn du morgens aufstehst, so gehe auf den Acker und arbeite fleißig; dann fängst du mit niemand Streit an, und du wirst dich auch nach dem Eigentum des Nächsten nicht gelüsten lassen. Auch wirst du kein Verlangen nach der Frau deines Nächsten haben. Du machst keine Schulden und bringst keine nach Hause.

Die suggestive Einwirkung der Eltern auf ihre Kinder fängt mit den ersten Tagen des Erwachens des kindlichen Bewußtseins an. Später erscheinen die elterlichen Imperative als etwas schlechthin Gegebenes, dessen Ursprung sich in einen mystischen Nebel hüllt. Im Zentrum steht jetzt Gott – der mystische Vater des Alls.
Wie bei den Kindern zugleich mit der Liehe zu den Eltern auch Haß vorhanden sein kann, so mischt sich in die Ehrfurcht zu Gott auch Unzufriedenheit und Widerspenstigkeit. So sagen die Eweer:

Gott ist gütig, aber er versteht es nicht immer, recht zu handeln, weil er den Menschen den Tod mitgegeben hat; Gott handelt unredlich: er hat einige Menschen gut und andere schlecht gemacht ... Ich bin ein alter und armer Mann, und meine Schutzgötter haben mir ihren Beistand versagt ... Wenn Menschen mich lieblos behandeln, das hat nichts zu sagen; aber wenn Gott uns lieblos behandelt, das schmerzt sehr. Daraus sieht man, daß er unredlich ist.

Daß Unzufriedenheit gegen Gott, als Repräsentanten der ethischen Instanz, sich auch in der katholischen Frömmigkeit manchmal kundgibt, sieht man aus folgendem kleinen geistlichen Lied:

O schwere Gottes Hand,
wie bist du hier zu Land
so schmerzlich zu erdulden!

Die doppelte Natur Gottes ist sehr treffend von einem Dichter des 18. Jahrhunderts, Ignaz Franz, geschildert:

Strenger Richter aller Sünder
Treuer Vater deiner Kinder
der du in dem Himmel wohnst
drohest, strafest und verschonst.

Die doppelte Natur Gottes – als liebende, wunscherfüllende und als strafende Instanz – wird manchmal auseinandergelegt. So z.B. im babylonischen Sintflutbericht. Im Unterschied zu der Bibel, wo derselbe Gott Jahve die Menschen durch die Flut ihrer bösen Taten wegen vertilgt, den Gerechten Noah aber in die Arche sich flüchten läßt, geschieht nach babylonischer Überlieferung die Geschichte etwas anders: Der böse Strafgott Enlil hat die Flut angerichtet. Der gute Gott Ea aber hat es dem Menschenkind Utnapischtim im voraus verraten und verhalf ihm sein Leben und das Leben seiner Angehörigen in einem Schiffe zu retten. Enlil, als er der Geretteten später gewahr wird, ist höchst entrüstet, bekommt aber von Ea den Verweis: "Du weisester der Götter, Held, wie, wie konntest du dich nicht bedenken und eine Flut anrichten; den Sünder laß seine Sünden büßen, den Frevler laß seinen Frevel büßen, (aber dann) lasse nach, (daß) er nicht umkomme ..." Wir sehen also, der "treue Vater seiner Kinder" und der "strenge Richter aller Sünder" sind hier (im Unterschied zu der späteren mosaischen Gottesvorstellung) nicht in einer Person vereint. Denn wenn sich gewisse Züge einer Person zum Teil widersprechen, d.h. von uns als widersprechend empfunden werden, "dann legt die Phantasie auseinander, was sich störend zusammendrängte, und schafft zwei Einheiten an Stelle des einen Urbildes".

Gott ist der Hüter der urväterlichen Tradition. Die Zwiespältigkeit, die in den Beziehungen zu den Eltern obwaltet, tritt auch in denjenigen des Menschen zu seinem Gott in Erscheinung. Der alte Gott, der Gebote dekretierte, vor dem die Menschen betend auf das Angesicht niederfielen, dieser Gott wurde von ihnen als zu streng, als zu wenig mild, zu wenig nahe empfunden. Und da mußte dieser alte Gott einen Sohn in die Welt schicken, der die Leiden und Freuden der Menschen aus der unmittelbaren Nähe besser verstehen lernen konnte. Wir begreifen diese Stimmung, die noch einen Dichter unserer Tage die folgenden Worte an Maria, die Mutter Gottes, zu richten veranlaßt: Sieh, der Gott, der über Völker grollte, macht sich mild und kommt in dir zur Welt.

Im Christentum wird die "Auseinanderlegung" Gottes in den strengen Richter und den Freund der Menschen durchgeführt in der Auffassung von Gott-Vater und Gott-Sohn, die verschieden sind und doch zugleich eins sein sollen. Dies Mysterium ist psychologisch aus unseren obigen Betrachtungen nicht schwer zu begreifen.

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