Auszüge aus Marie-France Hirigoyen's
"Die Masken der Niedertracht"

Seelische Gewalt im Alltag und wie man sich dagegen wehren kann

zurück zur Seite über Psychologie

Einführung

Was habe ich getan, eine solche Züchtigung zu verdienen?
Ein Wort, das trifft,
vermag zu töten oder zu demütigen,
ohne daß man sich die Hände schmutzig macht.
Eine der großen Freuden des Lebens ist es,
seinesgleichen zu demütigen.
Pierre Desproges

Es gibt Begegnungen im Leben, die so anregend sind, daß wir unser Bestes zu geben versuchen, aber es gibt auch solche, die uns zermürben und an denen wir zerbrechen können. Ein Mensch kann einen anderen tatsächlich durch fortgesetztes seelisches Quälen vernichten, was man mit Fug und Recht "psychischen Mord" nennen kann. Wir sind alle schon auf verschiedenen Ebenen Zeugen solcher Angriffe gewesen, zwischen einem Paar, innerhalb von Familien, in Betrieben oder auch im politischen und sozialen Leben. Trotzdem erweist sich unsere Gesellschaft als blind gegenüber dieser Form indirekter Gewalt. Unter dem Vorwand von Toleranz wird man nachsichtig.
Seelische Perversionen und was sie anrichten können zeigen Filme wie Die Teuflischen von Henri-Georges Clouzot (1954) oder Kriminalromane, und dabei ist jedem klar, daß es sich um perverse Manipulationen handelt. Aber im Alltagsleben wagen wir nicht, von Perversität zu sprechen.

In dem Film Tante Danièle von Etienne Chatiliez (1989) amüsieren wir uns über die seelischen Qualen, die eine alte Dame ihrer Umgebung zufügt. Sie beginnt damit, daß sie ihre alte Hausangestellte derartig peinigt, daß sie deren "Unfalltod" herbeiführt. Der Zuschauer sagt sich: "Geschieht ihr recht, sie war zu unterwürfig!" Anschließend überschüttet sie die Familie ihres Neffen, die sie bei sich aufgenommen hat, mit ihrer Bosheit. Der Neffe und seine Frau tun alles, was in ihren Kräften steht, um sie zufriedenzustellen, aber je mehr sie geben, desto mehr quält sie sie.

Zu diesem Zweck setzt sie Techniken der Destabilisierung ein, wie sie bei Perversen üblich sind: versteckte Anspielungen, böswillige Andeutungen, Lügen, Demütigungen. Man wundert sich, daß die Opfer nicht merken, daß sie manipuliert werden. Sie versuchen zu verstehen und fühlen sich verantwortlich: "Was haben wir nur getan, daß sie uns derart verabscheut?" Tante Danièle leistet sich keine Wutausbrüche, reagiert nur kalt und gemein; aber auch nicht allzu offenkundig, um ihre Umgebung nicht gegen sich aufzubringen: nur immer mal wieder eine kleine unscheinbare Bosheit, wohldosiert und destabilisierend, aber schwer dingfest zu machen. Tante Danièle ist äußerst geschickt: Sie stellt die Situation auf den Kopf und nimmt den Platz des Opfers ein, versetzt die Familienmitglieder in die Rolle der Verfolger, die eine alte Frau von zweiundachtzig Jahren mutterseelenallein sich selbst überlassen haben, eingesperrt in eine Wohnung, mit Hundefutter als einziger Nahrung.

In diesem humorvollen Filmbeispiel nehmen die Opfer nicht Zuflucht zu Gewalttätigkeiten, wie es im gewöhnlichen Leben geschehen könnte; sie hoffen, ihre freundliche Art werde schließlich doch Anklang finden und ihr "Aggressor" sich besänftigen. Doch stets tritt das Gegenteil ein: Zuviel Freundlichkeit wirkt wie eine unerträgliche Herausforderung. Die einzige Person, die am Ende Gnade vor Tante Danièles Augen findet, ist eine neu Hinzugekommene, vor der sie kuschen muß. Endlich hat sie einen Partner gefunden, der ihr gewachsen ist, und eine beinahe zärtliche Beziehung entwickelt sich.

Wenn diese alte Frau uns dermaßen amüsiert und bewegt, dann doch wohl, weil man spürt, daß so viel Bosheit nur von vielem Leid herrühren kann. Sie erregt unser Mitleid, wie sie das Mitleid ihrer Familie erregt, und eben dadurch manipuliert sie uns, wie sie ihre Familie manipuliert. Wir Zuschauer haben nicht das geringste Mitgefühl mit den armen Opfern, die uns schön dumm vorkommen. Je boshafter Tante Danièle sich aufführt, desto liebenswürdiger werden ihre anverwandten Partner und folglich unausstehlich für Tante Danièle – aber auch für uns.

Nichtsdestoweniger handelt es sich um perverse Angriffe. Diese Aggressionen beruhen auf einem unbewußten Prozeß psychologischer Zerstörungswut, der sich darstellt in offenen oder versteckten feindseligen Machenschaften eines oder mehrerer Individuen gegenüber einer ausgewählten Person, dem "Prügelknaben" im eigentlichen Sinn des Wortes. Durch scheinbar harmlose Worte, durch Anspielungen, Einflüsterungen oder Nichtausgesprochenes ist es in der Tat möglich, jemanden zu destabilisieren oder ihn sogar zugrunde zu richten, ohne daß die Umgebung eingreift. Der oder die Angreifer "kommen groß raus", indem sie die anderen herabsetzen und gleichzeitig sich jeden inneren Konflikt oder jegliche Gemütsbewegung ersparen, indem sie dem anderen die Verantwortung zuschieben für das, was nicht klappt: "Nicht ich, der andere ist verantwortlich für das Problem!" Keine Schuld, kein Leid. Es handelt sich hier um Perversität im Sinne der seelischen Perversionen.

Jeder von uns mag ab und zu in dieser Weise "pervers" handeln. Zerstörerisch wird der Prozeß aber erst durch Häufigkeit und Wiederholung. Jedes "normal neurotische" Individuum legt bei gewissen Anlässen, zum Beispiel in einem Anfall von Zorn, perverse Verhaltensweisen an den Tag, ist aber auch imstande, zu anderen Verhaltensmustern überzuwechseln (hysterischen, phobischen, zwanghaften ...), doch nach derlei perversen Anwandlungen fragt es sich erschrocken, was es da getan habe. Ein perverses Individuum ist beständig pervers; es ist fixiert auf diese Form der Beziehung zum anderen und stellt sich in keinem Augenblick in Frage. Selbst wenn seine Perversität eine gewisse Zeit unbemerkt bleibt, wird sie immer dann zutage treten, wo es Stellung zu beziehen und seinen Teil Verantwortung anzuerkennen gilt; denn es ist ihm unmöglich, sich in Frage zu stellen. Diese Personen können nicht anders leben, sie müssen den anderen "zerstören". Sie müssen ihn herabwürdigen, um Achtung vor sich selbst zu gewinnen und dadurch Macht; denn sie gieren nach Bewunderung und Anerkennung. Sie empfinden weder Mitgefühl noch Anerkennung für den anderen, da Beziehungen sie ja nicht berühren. Den anderen respektieren bedeutet, ihn als menschliches Wesen zu betrachten und den Schmerz zu erkennen, den man ihm zufügt.

Die Perversion fasziniert, verführt und macht angst. Manchmal beneidet man die Perversen, weil man ihnen eine Überlegenheit zuspricht, die es ihnen erlaubt, stets Sieger zu sein. In der Tat verstehen sie es, ganz unauffällig zu manipulieren, was ein Trumpf zu sein scheint in der Welt der Geschäfte oder der Politik. Gleichzeitig fürchtet man sie, weil man instinktiv weiß, daß es besser ist, mit ihnen zu sein als gegen sie. Das ist das Gesetz des Stärkeren. Am meisten bewundert wird der, der es versteht, das Leben zu genießen und sowenig wie möglich zu leiden. Von den Opfern dieser Menschen redet man kaum, sie gelten als Schwächlinge oder Versager, und der Vorwand, die Freiheit des anderen zu achten, kann blind machen gegenüber schlimmen Situationen. Denn eine der heute herrschenden Auffassungen von Toleranz besteht darin zu unterlassen, sich in Handlungen und Ansichten anderer einzumischen, selbst dann, wenn diese Ansichten und Handlungen uns unpassend oder sogar moralisch tadelnswert erscheinen. Desgleichen üben wir beispiellose Nachsicht gegenüber den Lügen und Manipulationen der "Mächtigen". Der Zweck heiligt die Mittel. Aber bis zu welcher Grenze ist das hinnehmbar? Laufen wir auf diese Weise nicht Gefahr, uns selbst – aus Gleichgültigkeit –als Komplizen wiederzufinden und unsere Grenzen und Prinzipien zu verlieren? Toleranz setzt eindeutig definierte Grenzen voraus. Nun besteht dieser Typus von Aggression aber gerade in einem Übergriff auf den psychischen Bereich des anderen. Der gegenwärtige sozio-kulturelle Kontext gestattet der Perversion, sich zu entfalten, weil sie dort toleriert wird. Unsere Epoche verweigert das Aufstellen von Normen. Eine Schranke aufzurichten, indem man eine Manipulation pervers nennt, wird mit "Zensur" gleichgesetzt. Wir haben die moralischen und religiösen Grenzen verloren, die eine Art Sittenkodex darstellten und die uns veranlassen konnten zu sagen: "Das tut man nicht!" Wir finden unsere Fähigkeit, uns zu entrüsten, erst wieder, wenn die Vorfälle sich auf der öffentlichen Bühne abspielen, aufgegriffen und ausgewalzt von den Medien. Die Staatsgewalt setzt keinen Rahmen und wälzt ihre Verantwortung ab auf diejenigen, die sie eigentlich zu führen oder zu unterstützen hätte.

Selbst die Psychiater zögern, die Perversion beim Namen zu nennen. Wenn sie es tun, so entweder, um ihre Ohnmacht einzugestehen, etwas dagegen zu unternehmen; oder aber, um ihre Neugier gegenüber der Geschicklichkeit des Manipulateurs erkennen zu lassen. Sogar die Definition "seelische Perversion" wird von einigen zurückgewiesen, die lieber von Psychopathie sprechen, eine geräumige Rumpelkammer, in die sie alles zu verbannen trachten, was sie nicht behandeln können. Die Perversität rührt aber nicht von einer psychiatrischen Störung her, sondern von einer kühlen Rationalität, verbunden mit der Unfähigkeit, die anderen als menschliche Wesen zu betrachten. Eine gewisse Anzahl dieser Perversen begeht strafbare Handlungen, für die sie abgeurteilt wird, doch die Mehrheit setzt auf Charme, gebraucht ihre Anpassungsfähigkeit, um sich einen Weg in der Gesellschaft zu bahnen, und läßt verletzte Menschen und ruinierte Leben kaltlächelnd hinter sich. Psychiater, Richter, Erzieher – wir alle sind Perversen in die Falle gegangen, denen es gelang, sich als Opfer darzustellen. Sie führten uns vor, was wir von ihnen erwarteten, um uns besser zu ködern, und wir haben ihnen neurotische Gefühle zuerkannt. Wenn sie danach ihr wahres Gesicht zeigten und ihr Machtstreben offen zur Schau stellten, haben wir uns hintergangen gefühlt, eingeseift, manchmal sogar gedemütigt. Dies erklärt die Vorsicht der Fachleute, sie zu entlarven. Die Psychiater sagen hinter vorgehaltener Hand: "Vorsicht, das ist ein Perverser!", was heißen soll: "Das ist gefährlich" und auch: "Da kann man nichts machen". So verzichtet man darauf, den Opfern zu helfen. Natürlich ist es etwas Ernstes, die Diagnose "Perversion" auszusprechen, man behält diesen Begriff meist Handlungen von großer Grausamkeit vor, unvorstellbar selbst für Psychiater – wie die Untaten von Serienmördern. Dennoch – ob man sich nun die subtilen Aggressionen vor Augen hält, von denen ich in diesem Buch berichten werde, oder ob man von Serienmördern spricht, es geht um "Beraubung", das heißt um einen Akt, der darin besteht, sich fremden Lebens zu bemächtigen. Das Wort "pervers" erregt Anstoß, stört. Es enthält ein Werturteil, und die Psychoanalytiker weigern sich, Werturteile auszusprechen. Müssen sie deshalb aber alles akzeptieren? Die Perversion nicht zu benennen, wiegt noch schwerer, denn es bedeutet, das Opfer im Stich zu lassen, wehrlos, auf Gnade und Ungnade weiteren Überfällen ausgeliefert.

In meiner klinischen Praxis als Psychotherapeutin habe ich das Leid der Opfer zu begreifen gelernt und ihr Unvermögen, sich zu wehren. Ich werde in diesem Buch zeigen, daß die erste Handlung dieser räuberischen Verfolger darin besteht, ihre Opfer zu lähmen, um sie daran zu hindern, sich zu verteidigen. Selbst wenn sie danach zu verstehen versuchen, was ihnen geschieht, fehlt ihnen das Handwerkszeug, es zu tun. Desgleichen werde ich versuchen, anhand der Analyse der perversen Beziehung den Vorgang zu veranschaulichen, der den Angreifer und den Angegriffenen verbindet, um den Opfern bzw. künftigen Opfern zu helfen, aus den Netzen ihrer Aggressoren herauszukommen. Wenn die Opfer sich helfen lassen wollen, hat man sie möglicherweise nicht verstanden. Es geschieht nicht selten, daß Analytiker den Opfern eines perversen Angriffs raten, erst einmal herauszufinden, inwieweit sie selbst verantwortlich sind für die erlittene Aggression, inwieweit sie diese, wenn auch unbewußt, durchaus gewollt haben. Denn die Psychoanalyse befaßt sich nur mit dem Innerpsychischen, das heißt mit dem, was sich im Kopf eines Individuums abspielt, und berücksichtigt nicht das Umfeld: Sie beachtet folglich nicht das Problem des Opfers, das sie als masochistischen Komplizen betrachtet. Wenn Therapeuten dennoch versucht haben, den Opfern zu helfen, so ist es möglich, daß sie durch ihr Zögern, einen Aggressor einen Aggressor und einen Angegriffenen einen Angegriffenen zu nennen, das Schuldgefühl des Opfers verstärkt und eben dadurch den Prozeß seiner Zerstörung verschärft haben. Ich habe den Eindruck, daß die klassischen Therapiemethoden nicht ausreichen, diesem Typus yon Opfern zu helfen. Ich möchte deshalb Vorgehensweisen vorschlagen, die geeigneter sind und der Eigenart der perversen Aggression Rechnung tragen.

Es geht hier nicht darum, den Perversen den Prozeß zu machen – die verteidigen sich im übrigen recht gut allein –, sondern darum, ihre Schädlichkeit vor Augen zu führen, ihre Gefährlichkeit für andere, um es den Opfern bzw. künftigen Opfern zu erleichtern, sich gegen sie zu verteidigen. Selbst wenn man die Perversion, völlig zu Recht, als eine defensive Verhaltensweise betrachtet (Abwehr einer Psychose oder einer Depression), entschuldigt das die Perversen doch nicht. Es gibt harmlose Handlungen, die gerade nur eine Spur von Bitterkeit oder Scham darüber hinterlassen, an der Nase herumgeführt worden zu sein; aber es gibt auch viel schwerwiegendere Manipulationen, die an die Identität des Opfers rühren und wobei es um Leben und Tod geht. Man muß wissen, daß die Perversen unmittelbar gefährlich sind für ihre Opfer, aber auch mittelbar für die Umgebung, da sie dazu verleiten, Orientierungsmaßstäbe aufzugeben und zu glauben, man könne alles auch "lockerer" sehen – selbst wenn andere dabei auf der Strecke bleiben.

Ich werde in diesem Buch die Natur der Perversion nicht theoretisch diskutieren, sondern mich ganz bewußt, als Viktimologin, der angegriffenen Person zur Seite stellen. Die Viktimologie ist eine junge Disziplin, entstanden in den Vereinigten Staaten, und war zunächst nur ein Zweig der Kriminologie. Sie analysiert die Gründe, die jemanden zum Opfer werden lassen; die Verläufe der Viktimisierung; die Folgen, die sich daraus ergeben; und die Rechte, die daraus erwachsen. In Frankreich existiert eine Viktimologen-Ausbildung seit 1994, die zu einem Universitätsdiplom führt. Dieser Ausbildungsgang richtet sich an Notärzte, an Psychiater und Psychotherapeuten, an Juristen sowie an alle, zu deren Berufspflichten es gehört, den Opfern zu helfen. Eine Person, der seelische Gewalt widerfuhr, ist wirklich ein Opfer, da ihre seelische Struktur mehr oder weniger dauerhaft zerrüttet ist. Selbst da, wo ihre Art, auf die seelische Aggression zu reagieren, dazu beitragen kann, mit dem Aggressor eine Beziehung aufzubauen, die sich aus sich selbst erhält, und den Eindruck zu vermitteln, "symmetrisch" zu sein, darf man nicht vergessen, daß diese Person unter einer Situation leidet, für die sie nicht verantwortlich ist. Wenn es geschieht, daß die Opfer dieser schleichenden Gewalttätigkeit sich für eine individuelle Psychotherapie entscheiden, dann tun sie das eher wegen intellektueller Hemmungen, Mangel an Selbstvertrauen, an Durchsetzungsvermögen, oder wegen eines anhaltenden depressiven Zustandes, der sich resistent zeigt gegen Antidepressiva, oder sogar wegen eines offeneren depressiven Zustands, der zu Selbstmord führen kann. Wenn diese Opfer sich mitunter auch über ihre Partner oder ihre Umgebung beklagen, so sind sie sich selten der Existenz dieser furchtbaren geheimen Gewalt bewußt und wagen daher auch selten sich zu beschweren. Die psychische Verwirrung, die sich schon eingenistet hat, kann selbst den Psychotherapeuten vergessen lassen, daß es sich um eine Situation objektiver Gewalt handelt. Diesen Situationen ist das Moment der Unaussprechbarkeit gemeinsam: Das Opfer, obwohl es sein Leiden eingesteht, wagt nicht, sich wirklich vorzustellen, daß Gewalttätigkeit und Aggression stattgefunden haben. Bisweilen bleibt ein Zweifel: "Bin nicht vielleicht ich es, der das alles erfindet, wie so manche mir nahelegen?" Wenn es wagt, sich über das, was geschieht, zu beschweren, hat es das Gefühl, es nur unvollkommen zu beschreiben und deshalb nicht verstanden zu werden.

Ich habe mich mit Bedacht dafür entschieden, die Begriffe "Angreifer" und "Angegriffener" zu gebrauchen; denn es handelt sich erwiesenermaßen um eine Gewalttat, selbst wenn sie im Verborgenen verübt wird. Sie zielt darauf ab, sich an die Identität des anderen heranzumachen und ihn jeder Individualität zu berauben. Es geht um einen wirklichen Prozeß seelischer Zerstörung, der zu Geisteskrankheit oder Selbstmord führen kann. Ich werde auch an der Bezeichnung "pervers" festhalten, weil sie deutlich hinweist auf den Begriff des Mißbrauchs, welcher bei allen Perversen im Spiel ist. Das beginnt bei einem Machtmißbrauch, setzt sich fort in einem narzißtischen Mißbrauch in dem Sinne, daß der andere alle Selbstachtung verliert, und kann manchmal sogar zu sexuellem Mißbrauch führen.

Die perverse Gewalt im Alltag

Kleine perverse Handlungen sind so alltäglich, daß sie die Regel zu sein scheinen. Das beginnt mit einem einfachen Mangel an Respekt, mit Lüge oder Manipulation. Unerträglich finden wir das nur, wenn wir direkt betroffen sind. Falls die soziale Gruppe, in der dieses Verhalten sich zeigt, keinen Widerstand leistet, verwandelt es sich fortschreitend in unverhüllt perverse Verhaltensweisen, die schwere Folgen für die psychische Gesundheit der Opfer haben. Da sie nicht sicher sind, verstanden zu werden, schweigen die Opfer und leiden stumm.

Diese seelische Zerstörung gibt es seit jeher, in den Familien, wo sie verborgen bleibt, und im Betrieb, wo man sich damit abfand in Zeiten der Vollbeschäftigung, weil es den Opfern freistand zu kündigen. Heute klammern sie sich verzweifelt an ihren Arbeitsplatz, auf Kosten ihrer körperlichen wie auch seelischen Gesundheit. Einige haben aufbegehrt, haben mitunter Prozesse angestrengt. Das Phänomen beginnt das Interesse der Medien auf sich zu ziehen; und dies veranlaßt die Gesellschaft, sich Fragen zu stellen.

In unserer psychotherapeutischen Praxis werden wir tagtäglich Zeugen von Lebensgeschichten, bei denen es schwerfällt, zwischen äußerer Realität und psychischer Realität zu unterscheiden. Was aber auffällt in all diesen Leidensgeschichten, ist die Wiederholung: Was jeder für einzigartig hielt, teilen in Wahrheit viele andere mit ihm.

Die Schwierigkeit klinischer Beschreibungen wurzelt in dem Umstand, daß jedes Wort, jede Intonation, jede Anspielung von Bedeutung ist. Alle Einzelheiten erscheinen, für sich genommen, harmlos, doch in ihrer Gesamtheit setzen sie einen zerstörerischen Prozeß in Gang. Das Opfer wird hineingezogen in dieses demütigende Spiel und kann seinerseits im Gegenzug auf perverse Art und Weise reagieren; denn dieser Form von Beziehung kann sich jeder von uns zu seiner Verteidigung bedienen. Das ist es, was dazu verleitet, zu Unrecht von geheimem Einverständnis zwischen Opfer und Aggressor zu sprechen.

Ich hatte Gelegenheit, im Laufe meiner klinischen Praxis zu sehen, daß das perverse Individuum dazu neigt, sein zerstörerisches Verhalten in allen Lebensbereichen zu wiederholen: am Arbeitsplatz, gegenüber seinem Lebenspartner, mit seinen Kindern. Gerade diese Verhaltenskontinuität möchte ich hervorheben. So gibt es Individuen, die auf ihrer Bahn Leichen oder vielmehr lebende Leichname zurücklassen. Das hindert sie nicht, anderen Sand in die Augen zu streuen und gesellschaftlich völlig angepaßt zu erscheinen.

Die private Gewalt

Die perverse Gewalt gegenüber dem Lebenspartner

Die perverse Gewalt gegenüber dem Partner wird häufig bestritten oder banalisiert, verkürzt auf ein einfaches Herrschaftsverhältnis. Eine psychoanalytische Vereinfachung besteht darin, den Partner als Komplizen oder sogar als verantwortlich für die perverse Beziehung hinzustellen. Das heißt, das Ausmaß des beherrschenden Einflusses zu leugnen, der das Opfer lähmt und es hindert, sich zur Wehr zu setzen; das heißt ferner, die Gewalt der Angriffe und das Gewicht der psychologischen Auswirkung des Quälens auf das Opfer zu leugnen. Die Aggressionen sind subtil, es gibt keine greifbaren Spuren, und die Zeugen neigen dazu, als schlichte konfliktbeladene oder leidenschaftliche Beziehung zwischen zwei Personen mit schwierigem Charakter zu deuten, was in Wahrheit ein gewalttätiger Versuch von seelischer, ja sogar körperlicher Vernichtung des anderen ist, der manchmal gelingt.

Ich werde mehrere Paare in verschiedenen Entwicklungsstadien perverser Gewalt beschreiben. Die unterschiedliche Länge meiner Berichte rührt von der Tatsache her, daß diese Beziehungen über Monate, wenn nicht über Jahre hinweg heranreifen, und die Opfer erst im Laufe der Zeit lernen, den perversen Umgang zu erkennen, sich zu wehren und Beweise zusammenzutragen.

Die Herrschsucht

Bei Paaren stellt sich die perverse Regung ein, wenn das Gefühl abflaut, oder aber wenn zu große Nähe besteht.

Zuviel Nähe kann angst machen, und eben deshalb wird zum Ziel der größten Gewalttätigkeit, was am vertrautesten ist. Ein narzißtisches Individuum zwingt seine Herrschaft auf, um den anderen festzuhalten, fürchtet aber zugleich, daß der andere zu nahe ist und es vereinnahmen könnte. Es geht also darum, ihn in einem Abhängigkeits- oder sogar Eigentumsverhältnis zu halten und damit die eigene Allmacht zu erproben. Der Partner, gefangen in Zweifel und Schuldgefühl, vermag keinen Widerstand zu leisten.
Die unausgesprochene Botschaft lautet: "Ich liebe Dich nicht!" Aber sie ist verdeckt, damit der andere nicht fortgeht, und sie wird auf indirekte Art vermittelt. Der Partner muß dableiben, um andauernd in seinen Erwartungen enttäuscht zu werden. Gleichzeitig muß er am Denken gehindert werden, damit er sich des Vorgangs nicht bewußt wird. Patricia Highsmith beschrieb es in einem Interview in der Zeitung Le Monde:

Es geschieht manchmal, daß die Leute, die uns am meisten anziehen oder in die wir verliebt sind, so effizient wie Isolationsmittel aus Kautschuk auf den Funken der Phantasie einwirken.

Der beherrschende Einfluß wird von einem narzißtischen Individuum ausgeübt, das seinen Partner lähmen will, indem es ihn in eine unbestimmte Lage, in Ungewißheit versetzt. Das erspart es ihm, sich in einer Paarbeziehung zu binden, die ihm angst macht. Durch dieses Vorgehen hält es den anderen auf Abstand, innerhalb von Grenzen, die ihm nicht gefährlich erscheinen. Wenn es auch selbst nicht von anderen vereinnahmt werden möchte, so läßt es doch den Partner erdulden, was es selbst nicht erdulden möchte, indem es ihm den Atem nimmt und ihn "zur Verfügung" bereithält. Bei einem Paar, das sich normal verhält, müßte es eine gegenseitige narzißtische Bestärkung geben, selbst wenn vereinzelte Elemente eines beherrschenden Einflusses vorkommen. Es mag geschehen, daß der eine versucht, den anderen zu "unterdrücken", um ganz sicher zu sein, im Paar in der dominierenden Position zu bleiben. Aber ein Paar, das von einem narzißtischen Perversen geleitet wird, wird zu einer tödlichen Verbindung: Verleumdung, heimliche Angriffe geschehen systematisch.

Diese Entwicklung ist nur möglich durch zu große Nachsicht des Partners. Diese Nachsicht wird sehr häufig von den Psychoanalytikern gedeutet als verbunden mit unbewußtem, seinem Wesen nach masochistischem Gewinn, den er aus einer solchen Verbindung ziehen könne. Wir werden sehen, daß diese Deutung nur teilweise gültig ist, denn manche dieser Partner hatten zuvor keinerlei Selbstbestrafungsneigungen gezeigt und werden auch danach keine zeigen. Und wir werden sehen, daß sie gefährlich ist; denn da sie das Schuldgefühl des Partners verstärkt, hilft sie ihm in keiner Weise, Wege zu finden, um aus dieser Zwangslage herauszukommen.

Der Ursprung dieser Nachsicht findet sich weit häufiger in einer Familientreue, die zum Beispiel darin besteht, das nachzuahmen, was ein Verwandter erlebt hat, oder auch in der Annahme der Rolle eines Heilers für den Narzißmus des anderen, eine Art Sendung, bei der sich die Person aufopfern muß.

Benjamin und Annie sind sich vor zwei Jahren begegnet. Annie war damals liiert in einer frustrierenden Beziehung mit einem verheirateten Mann. Benjamin ist eifersüchtig auf diesen Mann. Verliebt fleht er sie an, diese Beziehung abzubrechen: Er möchte sie heiraten und Kinder mit ihr haben. Annie bricht die Beziehung ohne viel Zögern ab und lebt mit ihm, behält aber ihre eigene Wohnung bei.

Von diesem Zeitpunkt an ändert sich Benjamins Verhalten. Er geht auf Distanz, wird gleichgültig und zeigt Zärtlichkeit nur, wenn er sexuelles Verlangen hat. Annie fordert zunächst Erklärungen, aber Benjamin streitet ab, daß es eine Veränderung in seinem Verhalten gebe. Da sie Konflikte nicht mag, bemüht sie sich, heiter zu erscheinen, selbst auf die Gefahr hin, Spontaneität einzubüßen. Wenn sie sich aufregt, scheint er nicht zu verstehen und reagiert nicht. Nach und nach gleitet sie in einen Zustand der Depression.

Da die Beziehung sich nicht bessert und Annie sich über Benjamins Ablehnung immer wieder wundert, gibt er am Ende zu, daß etwas geschehen sei; er habe es einfach nicht ertragen, sie deprimiert zu sehen. Also beschließt sie, die Depression behandeln zu lassen, die die Ursache ihrer Schwierigkeiten als Paar zu sein scheint, und beginnt eine Psychotherapie.

Annie und Benjamin haben denselben Beruf. Sie hat sehr viel mehr Erfahrung. Oft bittet er sie um Rat, weist aber jede Kritik zurück: "Das ist zu nichts nütze, ich habe die Nase voll, ich weiß nicht, wovon Du sprichst!" Wiederholt hat er sich ihre Einfälle angeeignet und dabei ihre Hilfe völlig geleugnet. Nie dankt er ihr.

Wenn sie ihn auf einen Irrtum aufmerksam macht, rechtfertigt er sich damit, daß er sagt, seine Sekretärin habe das vermutlich nicht richtig aufgezeichnet. Sie tut so, als glaube sie das, um einer Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen.

Er umgibt seinen Zeitplan stets mit der größten Geheimhaltung, ebenso sein Leben, seine Arbeit. Durch Zufall erfährt sie von Freunden, die sie dazu beglückwünschen, daß Benjamin soeben eine bedeutende Beförderung zugestanden wurde. Er belügt sie ständig, sagt, er komme von einer Geschäftsreise mit dem Zug zurück, während eine Fahrkarte, die er herumliegen läßt, beweist, daß das falsch ist.

In der Öffentlichkeit bleibt er sehr zurückhaltend. Eines Tages, bei einer Cocktailparty, kommt er auf sie zu und schüttelt ihr die Hand: "Fräulein X, Sie sind im Beruf X tätig, wie interessant!", läßt sie aber schnell alleine stehen. Als sie daraufhin eine Erklärung von ihm verlangt, stammelt er, er sei eben sehr beschäftigt.
Er macht ihr Vorhaltungen über das Geld, das sie ausgibt, obgleich sie ihren Lebensunterhalt selbst verdient. Ihm wäre am liebsten, daß sie fast nichts in ihren Schränken hätte und er zwingt sie, ihre Hausschuhe aufzuräumen, wie ein kleines Mädchen. Er macht sich öffentlich lustig über ihre Cremetöpfchen im Badezimmer: "Ich verstehe nicht, warum Du Dir all dieses Zeug ins Gesicht schmierst!"

Annie fragt sich, wieso sie zärtlich sein kann zu einem Mann, der alles berechnet: seine Gesten, seine Worte, sein Geld. Er erträgt es nicht, wenn man vom Paar spricht. "Das Wort Paar stammt aus der Mottenkiste." Er weigert sich, sich ihr gegenüber zu binden. Eines Tages hält ein Clown sie auf der Straße an, will ihnen ein Kunststück zeigen, und sagt zu Benjamin: "Das ist Ihre Frau, nicht wahr?" Benjamin antwortet nichts und versucht, sich zu verdrücken. Für Annie bedeutet das: "Er konnte nichts erwidern, weil man dazu keine Meinung haben kann. Ich bin weder seine Frau, noch seine Verlobte, noch seine Freundin. Man kann nichts sagen zu diesem Thema, weil es zu ernsthaft ist."

Wenn sie darauf besteht, über ihre Beziehung zu sprechen, antwortet er: "Meinst Du wirklich, es ist der richtige Moment, darüber zu reden?"

Auch andere Themen enden in Verletzungen, wie z.B. ihr Kinderwunsch. Wenn sie Freunde treffen, die Kinder haben, bemüht sie sich, nicht zuviel Begeisterung angesichts der Babys zu zeigen, was sonst Benjamin auf den Gedanken bringen könnte, sie wünsche sich ein Kind. Statt dessen nimmt sie eine neutrale Haltung ein, als bedeute ihr das nichts.

Benjamin möchte Annie beherrschen. Sie soll eine unabhängige Frau sein, die finanziell nicht auf ihn zählt; aber gleichzeitig möchte er sie unterwürfig, andernfalls ängstigt er sich und weist sie ab.

Wenn sie bei Essenseinladungen redet, verdreht er mißbilligend die Augen gen Himmel. Anfangs sagte sie sich: "Das ist sicher Blödsinn, was ich gesagt habe!" und in zunehmendem Maße hat sie sich kontrolliert.

Trotzdem hat sie seit Beginn ihrer Psychotherapie gelernt, nicht mehr hinzunehmen, daß er a priori alles kritisiert, was sie sagt – auch wenn das zu Spannungen führt.

Zwischen ihnen gibt es keine Aussprachen, nur Streit, wenn sie genug hat, wenn ein Tropfen das Faß zum Überlaufen bringt. Dann regt nur sie allein sich auf. Benjamin setzt eine erstaunte Miene auf und sagt: "Du willst mir schon wieder Vorwürfe machen. Klar, für Dich bin ich an allem Schuld!" Sie sucht sich zu rechtfertigen: "Ich sage nicht, daß Du Schuld hast, ich hätte nur gern, daß wir über das reden, was nicht klappt!" Er scheint nicht zu verstehen und schafft es immer, Selbstzweifel in ihr aufkommen zu lassen und sie dahin zu bringen, sich Schuldgefühle einzureden. Sich zu fragen, was zwischen ihnen nicht stimmt, bedeutet für ihn: "Das ist Deine Schuld." Er will sie nicht anhören und beendet die Diskussion; oder vielmehr, er versucht, ihr mit einer Pirouette zu entkommen, noch bevor sie begonnen hat.

"Wenn er mir doch nur sagte, was ihm an mir mißfällt; das würde eine Diskussion ermöglichen."

Nach und nach haben sie aufgehört, über Politik zu sprechen; denn wenn sie Schlußfolgerungen zog, beklagte er sich, daß sie nicht seiner Meinung sei. Ebenso hörten sie auf, über Annies berufliche Erfolge zu sprechen. Benjamin ertrug alles schlecht, was ihn in den Schatten stellen konnte.

Annie ist sich bewußt, auf ihr eigenes Denken verzichtet zu haben, auf ihre Individualität, weil sie fürchtet, daß es sonst nur noch schlimmer würde. Das führt dazu, daß sie ständig Anstrengungen unternimmt, damit der Alltag erträglich bleibt.

Ab und zu widersetzt sie sich und droht zu gehen. Er hält sie zurück mit einer zweifachen Begründung. "Ich möchte, daß unsere Beziehung weitergeht. Ich kann Dir im Augenblick nicht mehr geben."

Ihre Erwartungen sind dermaßen auf ihn gerichtet, daß sie beim geringsten Zeichen einer Annäherung wieder Hoffnung schöpft.

Annie spürt sehr wohl, daß diese Beziehung nicht normal ist. Aber da sie jede Orientierung verloren hat, fühlt sie sich verpflichtet, Benjamin zu schützen und zu entschuldigen, egal, was er tut. Sie weiß, daß er sich nicht ändern wird: "Entweder ich passe mich an, oder ich gehe!"

Auf sexuellem Gebiet steht es nicht besser, weil Benjamin keine Lust mehr hat, mit ihr zu schlafen. Bisweilen versucht sie, darüber zu sprechen:

"So können wir doch nicht weiterleben!"

"So ist das nun mal, man kann nicht auf Kommando mit jemandem ins Bett gehen."

"Was können wir tun? Was kann ich tun?"

"Es gibt nicht für alles eine Lösung! Du willst alles schulmeistern!"

Wenn sie sich ihm nähert, um ihn liebevoll zu umarmen, leckt er ihre Nase. Wenn sie protestiert, macht er sie darauf aufmerksam, daß sie wahrhaftig keinerlei Sinn für Humor habe.

Was hält Annie zurück?

Wäre Benjamin ein reines Ungeheuer, so wäre alles einfacher; aber er ist ein zärtlicher Liebhaber gewesen. Wenn er jetzt so ist, so heißt das, daß es ihm schlecht geht. Er kann sich also ändern. Sie lauert auf diese Änderung. Sie hegt die Hoffnung, daß eines Tages das Knäuel sich entwirrt und daß sie endlich miteinander reden könnten.

Sie fühlt sich für die Veränderung Benjamins verantwortlich: Er hatte nicht ertragen, daß sie deprimiert war. Ebenso fühlt sie sich schuldig, nicht reizvoll genug zu sein (er hatte sich eines Tages vor Freunden lustig gemacht über Annies unattraktive Kleidung), nicht gut genug (sie sei nicht großzügig), um Benjamin glücklich zu machen.

Sie sagt sich auch, es sei wohl weniger schwer, diese unbefriedigende Paarbeziehung fortzusetzen, als sich allein wiederzufinden; denn Benjamin hatte ja gesagt: "Wenn wir uns trennen, würde ich sofort wieder jemanden finden, aber Du mit deinem Hang zur Zurückgezogenheit, Du wirst mutterseelenallein bleiben!" Und sie hatte es geglaubt. Auch wenn sie weiß, daß sie viel geselliger ist als Benjamin, bildet sie sich ein, allein wäre sie nur wieder deprimiert und würde alles ewig bereuen.

Sie weiß außerdem, daß ihre Eltern ebenfalls in einer unbefriedigenden Partnerbeziehung stecken, aber aus Pflichtgefühl zusammen geblieben sind. Bei ihr zu Hause war die Gewalt stets gegenwärtig, aber verschleiert; denn es handelte sich um eine Familie, in der man die Dinge nicht beim Namen nannte.

Die Gewalt

Die perverse Gewalt kommt in Krisenmomenten zum Vorschein, wo ein Individuum mit perversen Verteidigungsmechanismen nicht imstande ist, die Verantwortung für eine schwierige Wahl auf sich zu nehmen. Sie zeigt sich in diesem Fall indirekt, vor allem in der Nichtachtung des anderen.

Monique und Lucien sind seit dreißig Jahren verheiratet. Lucien hat seit sechs Monaten ein Verhältnis. Als er es Monique gesteht, sagt er, er könne sich nicht entscheiden. Er möchte mit ihr zusammenbleiben, aber parallel dazu die neue Beziehung fortführen. Monique lehnt mit Entschiedenheit ab. Ihr Mann verläßt sie.

Monique ist am Boden zerstört. Sie weint die ganze Zeit, schläft nicht mehr, ißt nicht mehr. Sie weist psychosomatische Zeichen von Angst auf. Gefühle von kaltem Schweiß, Kloß im Magen, Tachykardie ... Sie ist zornig, aber nicht über ihren Mann, der sie leiden läßt, sondern über sich selbst, die es nicht versteht, ihn zu halten. Könnte Monique Zorn gegenüber ihrem Mann empfinden, fiele es ihr leichter, sich zu wehren. Aber um Zorn zu empfinden, muß man schon bereit sein zuzugeben, daß der andere aggressiv ist und gewalttätig, was dazu führen kann, seine Rückkehr nicht mehr zu wünschen. Wenn man sich in einem Schockzustand befindet wie Monique, so ist es leichter, die Wirklichkeit der Fakten zu leugnen und zu hoffen; selbst wenn diese Hoffnung aus Schmerzen gefügt ist.

Lucien bittet Monique, weiter regelmäßig mit ihm zu frühstücken, um die Bindung aufrecht zu erhalten; andernfalls bestünde die Gefahr, daß er für immer fortginge. Wenn sie sich entfernt, vergißt er sie. Wenn sie sich deprimiert zeigt, hat er keine Lust mehr, mit ihr zusammenzubleiben. Auf Anraten seines Psychoanalytikers schlug er Monique sogar vor, seine Freundin zu treffen, um miteinander "ins Gespräch zu kommen"!
Nicht für einen Moment hat man den Eindruck, daß er sich je gefragt hat, was er seiner Frau antut. Er sagt nur, er habe genug, sie mit dieser Leichenbittermiene herumlaufen zu sehen. Indem er seiner Frau Schuldgefühle einredet, weil sie nicht tut, was nötig wäre, um ihn zu halten, entlastet sich Lucien von der Verantwortung für die Trennungsentscheidung.

Die Weigerung, die Verantwortung für das Scheitern der Ehe auf sich zu nehmen, steht oft am Anfang eines perversen Umkippens. Jemand, der ein hohes Idealbild von der Ehe hat, pflegt scheinbar normale Beziehungen zu seinem Partner, bis zu dem Tag, wo er die Wahl treffen muß zwischen dieser Beziehung und einer neuen Bekanntschaft. Die perverse Gewalt wird um so stärker sein, je großartiger die Idealvorstellung vom Paar war. Es ist unmöglich, diese Verantwortung anzuerkennen, die ganz und gar vom anderen getragen werden muß. Wenn die Liebe schwindet, wird der Partner dafür verantwortlich gemacht, wegen eines Fehlers, den er begangen haben soll, der aber nicht benannt wird. Dieses Schwinden der Liebe wird zumeist wortreich geleugnet, während es seine Wirkung längst schon getan hat.

Das Bewußtwerden der Manipulation kann das Opfer nur in einen furchtbaren Angstzustand versetzen, den es nicht loszuwerden vermag, weil ihm der Gesprächspartner fehlt. Zusätzlich zum Zorn empfinden die Opfer in diesem Stadium auch noch Schmach: die Schmach, nicht geliebt worden zu sein, die Schmach, diese Demütigungen geduldet zu haben, die Schmach, sich gefügt zu haben.

...

Download
zurück zur Seite über Psychologie