Auszüge aus Viktor E. Frankl's
"
Psychotherapie für den Alltag"

Runfunktvorträge über Seelenheilkunde

Seelisches Leiden ist alltägliches Leiden. Viele Menschen sind davon betroffen. Doch es gibt Wege, die neuen Sinn und neue Lebenskraft erschließen. Liebe, Melancholie, Überlastung und Streß, Älterwerden und Reifen, das Verhältnis von Leib und Seele: solche Lebensthemen stehen im Zentrum dieses Buches des weltbekannten Logotherapeuten Viktor E. Frankl.

In diesem Bande sind im besten Sinne allgemeinverständliche Rundfunksendungen des weltbekannten Wissenschaftlers sehr glücklich zusammengestellt. Sie vermitteln nicht nur ohne jede Effekthascherei Einblick in die moderne Psychiatrie; der Band enthält auch echte Lebenshilfe für fragende, suchende, leidende Menschen. (Die Zeit im Buch)

Ein Buch, das vielen Menschen konkrete Information und Hilfen bieten kann.

Viktor E. Frankl, 1905-1997, Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, Professor of Logotherapy an der United States University in Kalifornien, ist Begründer der Logotherapie. Frankl war auch Professor an der Harvard University, an der Stanford University sowie an den Universitäten Dallas und Pittsburgh. Frankls 29 Bücher sind in 22 Sprachen übersetzt – darunter ins Chinesische, Japanische und Russische. Von seinem amerikanischen Buch Man’s Search for Meaning" (Die Suche des Menschen nach Sinn) sind mehr als vier Millionen Exemplare verkauft worden. Frankls erste Publikation erschien 1924 in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse, und zwar auf ausdrückliche Empfehlung von Sigmund Freud hin.

Vortragsreisen, zu denen ihn insgesamt 208 Universitäten eingeladen hatten, führten Frankt nach Amerika, Australien, Asien und Afrika. 21 Universitäten verliehen ihm Ehrendoktorate.

zurück zur Seite über Psychologie

Vorwort

In den Jahren 1951 bis 1955 wurde ich jeden Monat von der Wissenschaftlichen Abteilung des Wiener Senders Rot-Weiß-Rot eingeladen, einen Vortrag über ein psychotherapeutisches Thema zu halten. Nachdem die ersten sieben dieser Rundfunkvorträge bereits in Buchform erschienen waren, entschloß ich mich, auch eine Auswahl aus den weiteren Vorträgen zu veröffentlichen, nicht ohne daß die zuerst erschienenen in diese Sammlung aufgenommen worden wären, und zwar in wesentlich erweiterter, durch Anmerkungen ergänzter Form. Maßgeblich für diesen meinen Entschluß war der Widerhall, den die Vorträge gefunden hatten und der aus vielen Zuschriften aus dem Hörerkreis hervorgegangen war. Ich glaubte, meinen Hörern es schuldig zu sein, wenn ich es ihnen ermöglichte, was ich vorgetragen hatte, nachzulesen. Auch hoffte ich, auf diesem Wege die Wirkung der Vorträge zu vervielfältigen; die Wirkung aber, die beabsichtigt war, sollte eine psychohygienische sein. Denn was mir vorschwebte, war weniger: Psychotherapie zu besprechen – als vielmehr: Psychotherapie zu betreiben – Psychotherapie vor dem Mikrophon. Und dazu sollte der Rundfunk dienen: zu einer kollektiven Psychotherapie – so recht danach angetan, der kollektiven Neurose entgegenzuwirken.

Jeder einzelne Vortrag ist in sich geschlossen; dadurch ergeben sich unvermeidliche Überschneidungen und so denn auch Wiederholungen, welch letztere insofern nicht einmal so unerwünscht sind, als sie ja didaktisch nützlich sein mögen. Was den Stil der Vorträge anbelangt, wurde die Diktion beibehalten, in der sie gehalten worden waren, auf die Gefahr hin, daß diese Diktion den einen oder anderen allzu salopp anmutet. Bekanntlich ist eine Rede keine Schreibe; am allerwenigsten darf ein gemeinverständlicher Rundfunkvortrag einer wissenschaftlichen Abhandlung gleichgesetzt werden.

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Psychotherapie für jedermann ist eine Zusammenstellung und Erweiterung von Rundfunkvorträgen aus den vergangenen zwanzig Jahren, deren Widerhall bei den Hörern so groß war, daß ein Großteil von ihnen mit demselben Echo vor kurzem wiederholt werden mußte. Das hier vorgelegte Taschenbuch bietet in der Diktion unmittelbar ansprechender Rede zweierlei: eine sich aller Problematik eines solchen Unterfangens selbstkritisch bewußte allgemeinverständliche Darstellung psychiatrischer und psychotherapeutischer Grundprobleme einerseits, die keiner Schulrichtung verschworen ist, und andererseits – etwas Emmaliges in der psychiatrischen Literatur unserer Zeit – eine "Psychotherapie vor dem Mikrophon". Was hier noch einmal nachgelesen werden kann, ist ein Stück praktischer psychischer Hygiene. Wir danken es Viktor Frankl, daß er sich bereit erklärt hat, der Herausgabe dieses Taschenbuchs zuzustimmen und es auf sich zu nehmen, möglicherweise wegen mancher der lebendigen Rede eigener, gleichsam unbekümmerter und das Anekdotische nicht verschmähender Formulierungen beim einen oder anderen Kritiker Anstoß zu erregen. Ich meine jedoch, daß Frankl gezeigt hat, daß man schwierige Sachverhalte verständlich machen kann, ohne deshalb oberflächlich zu werden oder Mißverständnissen durch eine verfehlte Popularisierung Vorschub zu leisten.

Im Zentrum des Interesses stehen zweifellos diejenigen Vorträge, die nichts Geringeres intendieren und leisten, als ein Stück Psychotherapie, insbesondere kollektiver Neurosen, zu verwirklichen – durch das geschriebene Wort nunmehr wie ursprünglich über den Sender. Niemand freilich kennt die schmerzlichen Grenzen solchen Wirkens und Helfenwollens auch durch die hier in Dienst genommenen Medien einer außerpersonalen Wegweisung zur Befreiung aus neurotischer Fesselung besser als der Autor selbst. Was ihn schließlich dazu ermutigt hat, sind zahlreiche Bekundungen von Patienten, die auf der Suche nach dem verlorenen oder noch nie erfaßten Sinn ihres Lebens, aus der lähmenden noogenen Neurose heraus also, an irgendeinem bestimmten Satz des Gehörten Halt und Hilfe fanden, ja in einigen Fällen sogar von dem Suizid abgehalten wurden.

Mancher Mensch auf der Suche nach dem Sinn – dies ist der Titel des ersten Vortrags – kann, meine ich, solchermaßen erfahren, daß er nicht unverstanden allein zu stehen braucht und daß Psychohygiene mehr sein kann als ein theoretisierendes Erwägen dessen, was man vielleicht tun könnte, um an Menschen in Not heranzukommen.

Die Problematik psychiatrischer Aufklärung

In einem Bericht über seine Studienreise nach den Vereinigten Staaten von Amerika schreibt der Marburger Psychiater Professor Villinger, die dort herrschende Neigung zur Popularisierung und zur Propagierung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse werde der eine mehr für einen Vorzug, ein anderer aber eher für einen Schönheitsfehler ansehen. Nun, ich möchte diesbezüglich einen vermittelnden Vorschlag machen, so zwar, daß ich sage: die Propaganda mag sehr wohl ein Vorzug sein; die Popularisierungstendenz jedoch halte ich für einen Schönheitsfehler.

Während nämlich die Propaganda beispielsweise psychohygienisches oder psychotherapeutisches Wissen effektiv ins Volk hineinträgt und solcherart in die Breite wirksam macht, läßt es sich nicht leugnen, daß die Popularisierung der Psychotherapie selber nicht immer Psychotherapie ist, also nicht immer psychotherapeutisch wirken muß. Bevor ich dazu übergehe, dies im einzelnen aufzuzeigen und nachzuweisen, möchte ich bezüglich wissenschaftlicher Aufklärung im allgemeinen jemanden zitieren, dessen Wissenschaftlichkeit ebenso über jeden Zweifel erhaben ist wie sein Rekord hinsichtlich der Anzahl von Versuchen, seine Lehre zu popularisieren: ich denke an Albert Einstein, und zwar im besonderen an ein Wort von ihm, demzufolge dem Wissenschaftler nur die Wahl bleibe, entweder verständlich und oberflächlich zu schreiben oder aber gründlich und unverständlich.*

* Hierbei sehe ich davon noch ab, daß die Wissenschaftler, die verständlich zu schreiben versuchen, für gewöhnlich den Fehler begehen, daß sie abstrakt bleiben und nicht konkret werden, daß sie nicht kasuistisch (spitzfindig) vorgehen.

Kehren wir aber zum besonderen Thema psychotherapeutischer Aufklärung zurück, so ergibt sich, daß die Gefahr des Unverständlichen nicht einmal die größte Gefahr ist, die da allen Popularisierungsbestrebungen droht; größer als die Gefahr des Unverständnisses ist vielmehr die von Mißverständnissen. So hat etwa Dr. Binger, der Verantwortliche für die psychische Hygiene in New York, darüber geklagt, daß man vor dem Mißverstandenwerden auch dann nicht sicher ist, wenn man wirklich gute Vorträge hält; er selbst z.B. habe im Radio einen Vortrag über die sogenannte psychosomatische Medizin gehalten und am darauffolgenden Tage einen Brief erhalten, in welchem ihn jemand fragte, wo man ein Fläschchen psychosomatische Medizin zu kaufen bekomme.

Nun, ich muß gestehen, daß ich keineswegs davon überzeugt bin, daß das Wissen um irgendwelche Krankheiten unter allen Umständen auch etwas Heilsames darstellt. Im Gegenteil, ich könnte mir sehr wohl vorstellen, daß es sich sogar schädlich auswirkt. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur daran erinnern, wie die Verhältnisse beispielsweise bei einer Blutdruckmessung liegen: nehmen wir an, ich messe einem Patienten den Blutdruck und stelle dabei fest, daß der Druck leicht erhöht ist; wenn ich nun auf die bange Frage des Kranken: Herr Doktor, wie sieht es mit meinem Blutdruck aus? erkläre, daß er sich nicht zu ängstigen braucht, daß hierzu kein Grund vorliegt – lüge ich meinen Patienten dann an? Ich behaupte nun, daß dies nicht der Fall ist. Denn mein Kranker wird auf meine beruhigende Mitteilung hin erleichtert aufatmen und etwa seinerseits erklären: Gott sei Dank – wissen Sie, Herr Doktor, ich habe nämlich schon gefürchtet, mich könnte der Schlag treffen. Und sobald sich diese ängstliche Erwartung gegeben hat, wird der Blutdruck des Patienten auch wirklich normal sein. Was wäre aber im umgekehrten Fall geschehen – wenn ich dem Kranken die Wahrheit gesagt hätte? Es wäre bei dieser Wahrheit gar nicht geblieben, es wäre nämlich gar nicht bei der leichten Druckerhöhung geblieben, sondern der nunmehr erst recht besorgte und ängstlich gemachte Patient hätte, auf meine Eröffnung hin, sofort mit einer wesentlichen Erhöhung seines Blutdruckes reagiert.

Oder denken wir an die Popularisierung statistischer Forschungsergebnisse: ich bin überzeugt davon, wenn man auf Grund einer Statistik feststellen würde, daß soundso viele Männer ihre Frauen betrügen – und dergleichen ist ja im Rahmen einer großzügigen statistischen Erhebung tatsächlich geschehen –, wenn man solches feststellen und diese Feststellung allgemein bekanntmachen würde – ich bin überzeugt davon, daß es auch in diesem Fall gar nicht dabei bliebe, nicht beim festgesetzten Prozentsatz untreuer Männer; sondern der durchschnittliche Mann wird sich gewiß nicht denken: es ist ein Skandal, daß die Majorität der Männer so ist (so wie er selbst) und von heute an bin ich meiner Frau treu – schon um die Minorität der Anständigen zu stärken und zu stützen. Sondern der durchschnittliche Mann wird sich einfach denken: nun, ich bin eben auch kein Heiliger und brauche nicht besser zu sein als der Durchschnitt – und diese Erwägung wird vielleicht das nächste Mal, bei der erstbesten Gelegenheit einer Versuchung, die an ihn herantritt, in die Waagschale seiner Entscheidung fallen. Mag sein, daß all dies sich vergleichen ließe mit der bekannten These des Physikers Heisenberg, daß die Beobachtung eines Elektrons immer auch schon eine Beeinflussung mit sich bringt: Analoges gilt in unserem Zusammenhang, und ich möchte variierend zu behaupten wagen, daß z.B. die Mitteilung einer statistischen Wahrheit immer auch schon eine Beeinflussung derjenigen bedeutet, die von der betreffenden Statistik erfaßt wurden, also letzten Endes zu einer Verfälschung der Wahrheit führt.

In Amerika, wo die Popularisierunggerade der Tiefenpsychologie, der Psychoanalyse, Ausmaße angenommen hat, von denen sich der Mitteleuropäer kaum einen Begriff machen kann, zeigen sich bereits die Schattenseiten. So konnte man kürzlich lesen – in einer fachärztlichen Zeitschrift! –, daß jene sogenannten freien Einfälle, auf deren Produktion bekanntlich die psychoanalytische Behandlungsmethode basiert, vielfach längst nicht mehr "frei" sind, zumindest nicht so frei, als daß sie noch dem Arzt irgendwelche Aufschlüsse über das Unbewußte des Patienten geben könnten: viel zu sehr weiß der Kranke beiläufig darum, "wo" der Psychoanalytiker "hinaus will", und zwar weiß er darum von den vielen Büchern her, die sich mit Psychoanalyse und derartigen Lieblingsthemen der dortigen Leserschaft befassen – und von Unbefangenheit und Vorurteilslosigkeit kann keine Rede mehr sein.*

* Vgl. Emil A. Gutheil (New York): "In solchen Fällen bringen die Patienten oft vorgedachtes assoziatives Material, das dazu bestimmt ist, dem Analytiker einen Gefallen zu tun. Je mehr sich die Analyse verbreitet und ihre Grundbegriffe Allgemeingut werden, um so mißtrauischer darf man bezüglich der sogenannten ›freien‹ Assoziationen sein. Heutzutage kann man nur wenigen Patienten trauen, daß ihre Assoziationen wirklich spontan erfolgen. Die meisten Assoziationen, die der Patient in einer längeren Behandlung produziert, sind alles eher als ›frei‹; vielfach sind sie darauf berechnet, dem Analytiker bestimmte Ideen zu übermitteln, von denen der Patient annimmt, daß sie dem Analytiker willkommen sein werden. Dies erklärt den Umstand, daß man in von gewissen Analytikern veröffentlichten Krankenberichten so viel Material findet, das die Ideen des Therapeuten zu bestätigen scheint. Die Patienten von Adlerianern haben anscheinend nur Machtprobleme, und ihre Konflikte scheinen ausschließlich durch ihren Ehrgeiz, ihr Streben nach Überlegenheit und dgl. bedingt zu sein. Die Patienten von Anhängern Jungs überfluten ihre Ärzte mit Archetypen und allerhand anagogischen Symbolismen. Die Freudianer hören den Kastrationskomplex, das Trauma der Geburt und ähnliches von ihren Patienten bestätigt. Nur wenige Einfälle des Patienten sind nicht im voraus durchdacht und verfälscht." (Aktive Psychoanalyse, in: Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, herausgegeben von V. E. Frankl, V. E. v. Gebsattel und J. H. Schultz)

Der durchschnittliche Leser kennt die wichtigsten Komplexe.* Was er jedoch nicht weiß, das ist: daß solche Komplexe oder die Konflikte oder die sogenannten traumatischen Erlebnisse, also seelischen Verletzungen sozusagen, am Entstehen der Neurosen letzten Endes gar nicht so beteiligt sind, wie er annimmt. Um dies zu illustrieren, möchte ich nur darauf hinweisen, daß ich einer Ärztin meiner Abteilung den Auftrag gegeben habe, wahllos, also auslesefrei, die zufällig letzten 10 Fälle von Neurose, die in unserer ambulanten Behandlung standen, auf alle erschütternden Erlebnisse hin auszufragen. Daraufhin wurden, ebenso wahllos und auslesefrei, 10 weitere Patienten, und zwar solche, welche wegen organischer Nervenkrankheiten in unserer Abteilung lagen, gleichsam durchkämmt – mit dem erstaunlichen Resultat, daß diese seelisch gesund Gebliebenen nicht nur ähnliche (auch ähnlich schwere) Erlebnisse durchgemacht hatten wie die ersten zehn, sondern daß sie diese Erlebnisse sogar in einer weitaus größeren Anzahl gehabt hatten, aber eben überwinden konnten, ohne neurotisch zu erkranken.

* Der amerikanische Psychiater G. R. Forrer erwähnt beispielsweise den Fall einer Dame, die einen 3 Jahre alten Sohn hatte, in dessen Gegenwart keine Schere gebraucht werden durfte – "weil kleine Knaben sich davor fürchten, kastriert zu werden". (The Psychiatric Quarterly 28, 126, 1954) – Vgl. W. G. Eliasberg (New York): "Die Gewissensfrage ist, ob wir nicht vielleicht zuviel Psychologie haben. Gemeint ist natürlich Psychologismus. Etwas von diesem Psychologismus macht sich in Amerika breit, nämlich das Suchen von Komplexen, Trieben, Emotionen und Interessen hinter allem und jedem Menschlichen." (Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 62, 113, 1948)

Es besteht also ganz und gar kein Grund, irgendwie fatalistisch zu sein: eine fatalistische Einstellung hinsichtlicher vergangener Erlebnisse, auch schwerer Erlebnisse, ein solcher Fatalismus wäre nämlich seinerseits neurotisch, wäre selber ein neurotisches Symptom. Denn es ist typisch neurotisch, sich auf seine Komplexe oder auf seinen Charakter auszureden und so zu tun, als ob man sich von sich selbst alles gefallen lassen müßte. Aber beim Neurotiker ist es typischerweise eben so: was er an sich selbst feststellt – auf das legt er sich immer auch schon fest; was er in sich vorfindet – damit findet er sich immer auch schon ab. Spricht er beispielsweise von seiner Willensschwäche, so vergißt er, daß nicht nur gilt: wo ein Wille ist, dort ist auch ein Weg – sondern es gilt mehr als dies, es gilt nämlich auch: wo ein Ziel ist, dort ist auch ein Wille. Sobald jedoch ein Neurotiker von seinen Charakterzügen, überhaupt von seinem Charakter nur redet, redet er sich auf diesen Charakter auch schon aus. Aber wie sollte einer, der sein Schicksal für besiegelt hält, es besiegen können?

Das ist es, warum wir gegen den neurotischen Fatalismus auftreten müssen, in einem damit aber auch gegen eine Art, psychiatrische Forschungsergebnisse zu popularisieren, die nur Schaden stiften kann. Wie vielen Patienten begegnen wir doch, deren neurotische Erkrankung dadurch überhaupt erst entstanden ist, daß sie auf irgendwelche an sich harmlose nervöse Beschwerden mit der Befürchtung reagieren, sie könnten entweder das Symptom oder ein Prodrom [Vorzeichen einer Krankheit], also entweder das Anzeichen oder ein Vorzeichen, drohender ernstlicher Krankheiten darstellen. Und zu solchen Befürchtungen findet der Laie immer wieder Anlaß in einer medizinischen bzw. psychiatrischen Volksbildung, die auf eine gefährliche Halbbildung hinausläuft.

Heutzutage, wo es nachgerade zum guten Ton des Journalismus gehört, mit psychiatrischen Fachausdrücken nur so herumzuwerfen, heutzutage kann auch der Film nicht zurückstehen, und so kommt es denn, daß er sich mit der Psychoanalyse, mit Fällen von Bewußtseinsspaltung und Gedächtnisverlust befaßt – zumindest aber damit, was er sich unter Psychoanalyse usw. vorstellt. In Wirklichkeit werden dabei eben nur allzu unnötige Befürchtungen gezüchtet. So mußte sich jede konsequent denkende Frau, die sich den Film "Die Schlangengrube" angesehen hatte, nachher fragen: Ja, hat meine Mutter nicht auch mich einmal zu spät gestillt, oder hat nicht auch mein Vater einmal meine Puppe zertreten – kurz: bin nicht auch ich seelisch so verletzt worden wie die Heldin im Film in ihrer Kindheit? Zwar weiß ich nichts davon; aber auch ihr war es ja so lange unbewußt geblieben, bis der Psychoanalytiker es ihr bewußtzumachen vermochte! Und so mochte eine wirklich konsequent denkende Frau das Kino verlassen in der Sorge, selber ebenfalls in einer Schlangengrube, in einem Gitterbett zu landen. Dabei handelt es sich bei derartigen Befürchtungen im allgemeinen um Zwangsbefürchtungen, und gerade derjenige, der zu solchen Zwangsvorstellungen neigt, ist gegen eine Erkrankung an eigentlichen Geistesstörungen geradezu gefeit.

Es ist hier nicht der Ort, in künstlerischer Beziehung an einem Film Kritik zu üben; aber es muß gesagt werden, daß zwar keineswegs alles, aber immerhin manches von dem, was der Film "Die Schlangengrube" an psychiatrischen Informationen verzapft, eine Irreführung bedeutet – um nicht zu sagen einen Schlangengrubenhund ... Und um zu schweigen von jenen Filmen, die so weit gehen, daß sie beispielsweise den Selbstmord, kombiniert mit einem Euthanasiemord, als der Weisheit letzten Schluß hinstellen. Semper aliquid haeret, sagt der Lateiner; immer bleibt etwas haften, und immer fällt es dann eines Tages in die Waagschale einer Entscheidung. Und es wäre zu wünschen, daß sich die Verantwortlichen der Filmproduktion dessen bewußt werden, daß jeder Meter Film, den sie drehen, einen Eingriff in die Massenpsyche darstellt, und jede Filmvorführung, ob man will oder nicht, eine psychologische Massenordination. Niemand mache es sich einfach – niemand rede sich darauf aus, daß Dinge wie die jeweils zeitgenössische Film- und Buchproduktion doch nur Symptome seien, bloße Krankheitszeichen der Zeit. Denn es bleibt uns unbenommen, dafür Sorge zu tragen, daß der Film und das Buch, daß die Zeitung und der Rundfunk, kurz, daß alles, was die Masse beeindruckt und beeinflußt, nicht Krankheitszeichen bleibt, sondern Heilmittel wird.

Psychoanalyse und Individualpsychologie

Die Psychoanalyse, die Lehre von Sigmund Freud, ist – im Gegensatz zu einer unter Laien verbreiteten Ansicht – nur eine bestimmte Schule der modernen Psychotherapie (d.h. der seelischen Krankenbehandlung) – freilich nicht nur eine, sondern die erste. Als solche haben wir sie auch zuerst zu besprechen.

Fragen wir uns, was das Anliegen der Psychoanalyse war, so wäre zu sagen: Freud fragte nach dem Sinn jener seelischen Krankheitszeichen, die man als hysterisch bezeichnet. Und er stellte fest, daß diese Symptome tatsächlich einen Sinn haben, daß dieser Sinn jedoch unbewußt ist, also vom Kranken selber gar nicht verstanden wird. Aber dieser Sinn ist nicht etwa unbewußt so, wie auch etwas Vergessenes unbewußt ist: er wurde nicht vergessen, sondern verdrängt, ins Unbewußte abgedrängt, vom Bewußtsein ausgeschaltet und ferngehalten. Des weiteren glaubte Freud feststellen zu können, daß der Inhalt solcher unbewußten, verdrängten Erlebnisse letzten Endes mit dem Geschlechtsleben zusammenhängt. Ja, diese Tatsache war – nach Freud – überhaupt der Grund, aus dem es zur Verdrängung der betreffenden Erlebnisse kam. Allerdings müssen wir im Auge behalten, daß der Begriff "Sexualtrieb" von der Psychoanalyse in einem weiten Sinne verstanden wird und schließlich mehr oder minder für Triebhaftigkeit oder Lebensenergie steht.

Freud hat nun gezeigt, daß das, was einer Verdrängung zum Opfer gefallen ist, beispielsweise in den Träumen wieder zum Vorschein, zum Bewußtsein kommt: aber es geschieht dies in veränderter, und zwar in symbolischer Form. Die Vorstellungen oder Strebungen können sich sozusagen nur getarnt, nur unter der Maske des Symbols, ans Licht des Bewußtseins wagen. Mit anderen Worten, das Bewußtsein und das Unbewußtsein gehen miteinander gleichsam einen Kompromiß ein. Nun, einen solchen Kompromiß stellt nach Freud auch die Neurose dar, z.B. eine Zwangsvorstellung. Auch ihr liegt, der psychoanalytischen Lehre zufolge, ein verdrängter Triebimpuls zugrunde, der in larvierter Form, eben in der Maskerade einer absonderlichen Zwangsidee, im Bewußtsein des Patienten auftritt. Die psychoanalytische Behandlung aber hat die Aufgabe, durch eine Aufhebung der Verdrängung und durch ein Wiederbewußtmachen unbewußter Vorgänge die Befreiung von der Neurose herbeizuführen.
Aus der psychoanalytischen Schule ist auch eine zweite bedeutsame Richtung hervorgegangen – ebenfalls auf Wiener Boden –, die sogenannte Individualpsychologie von Alfred Adler. Dieser Gelehrte ging in seinen Forschungen aus von dem, was er Organminderwertigkeit nannte und worunter er eine angeborene, anlagemäßige Minderwertigkeit von Organen verstand. Alsbald beobachtete er nun, daß eine solche körperliche Minderwertigkeit auch im Bereich des Seelischen sich auswirkt und zu dem führt, was die Individualpsychologie mit dem allgemein bekanntgewordenen Ausdruck Minderwertigkeitsgefühl bezeichnet. Nun aber eröffnete sich für Alfred Adler eine interessante Perspektive: er konnte nachweisen, daß auch andere Umstände, außer der Organminderwertigkeit, ein Minderwertigkeitsgefühl zu erzeugen vermögen, und zwar schon in frühester Kindheit: z.B. allgemeine Kränklichkeit, allgemeine Schwächlichkeit und vor allem wirkliche oder auch nur vermeintliche Häßlichkeit. Nun, ein gewisses Ausmaß an Minderwertigkeitsgefühl hat nach den Lehren der Individualpsychologie eigentlich jeder Mensch: er hat es als Mensch, das heißt als jenes Wesen, das in seinen frühesten Lebensstadien viel mehr als etwa die Tiere auf die Hilfe der anderen, der Erwachsenen, der Eltern durchaus angewiesen ist. Aber das normale Minderwertigkeitsgefühl des normalen Kindes wird wettgemacht, wird ausgeglichen oder, wie es die Individualpsychologie nennt, kompensiert durch ein natürliches Streben nach Sicherung, und zwar im Rahmen der menschlichen Gemeinschaft.

Anders beim abnormen Minderwertigkeitsgefühl, beim vertieften Minderwertigkeitsgefühl der kränklichen, schwächlichen oder häßlichen Kinder: hier genügt keine Kompensation, sondern hier bedarf es der sogenannten Überkompensation. Tatsächlich wissen wir alle aus Erfahrung, daß gerade jene Menschen, die sich besonders unsicher fühlen, sich auch besonders hervorzutun pflegen – sei es nun, daß sie dies durch besondere Leistungen versuchen, dabei innerhalb der Gemeinschaft verbleiben und dieser Gemeinschaft besonders nützlich werden – sei es, daß sie sich gegen die Gemeinschaft stellen und den übrigen Menschen nur imponieren wollen, also ihr Minderwertigkeitsgefühl durch den bloßen Schein der Überlegenheit zu kompensieren trachten. Alfred Adler hat nun gemeint, daß auch alle neurotischen Erkrankungen, also das, was er selbst in einem Buchtitel den nervösen Charakter nennt, auf eine derartige verfehlte Überkompensation eines vertieften Minderwertigkeitsgefühls zurückzuführen sei. Und die Therapie? Nun, die Individualpsychologie bemüht sich in solchen Fällen, das übertriebene Geltungsstreben dieser selbstunsicheren nervösen Menschen an der Wurzel anzugreifen, indem sie solchen Menschen erstens bewußtmacht, was dahintersteckt, nämlich ihr uneingestandenes Minderwertigkeitsgefühl, und zweitens indem sie diese Menschen lehrt, dieses Minderwertigkeitsgefühl zu überwinden, mit einem Wort, indem sie sie ermutigt und in die menschliche Gemeinschaft zurückführt.

Die moderne Seelenheilkunde ist nun in ihrer Entwicklung nicht stehengeblieben, sondern hat auch andere Methoden seelenärztlicher Behandlung auf den Plan gerufen. Ich erinnere nur an die Richtung von C. G. Jung, dem berühmten Schweizer Psychologen, der ein Schüler Sigmund Freuds war, sich aber frühzeitig von seinem Lehrer trennte und eigene Wege der Forschung beschritt – die ihn beispielsweise zu der Entdeckung führten, daß in den unbewußten Schichten sowohl des gesunden als auch des kranken Menschen nicht nur sexuelle Symbole anzutreffen sind, sondern auch Symbole, denen wir in fernen und fremden Kulturkreisen begegnen bzw. in den entsprechenden Religionen.

Auf all dies soll und kann hier nicht näher eingegangen werden. Für um so wichtiger halte ich es, darauf hinzuweisen, wie sehr die Lehre von Sigmund Freud, also die Psychoanalyse immer weniger verleugnen konnte, daß sie durchaus ein Kind ihrer Zeit war. Wir wissen: heute ist sie mehr denn je ins breite Publikum gedrungen – während sie zur Zeit, als Freud seine großen Entdeckungen machte, auf den größten Widerstand auf seiten der Öffentlichkeit stieß – und auf seiten der Zünftigen, der Kliniker, wohl erst recht. Aber weder von dieser ihrer Breitenwirkung, welche die Psychoanalyse heute entfaltet, noch von unserer Ehrfurcht vor der Genialität eines Sigmund Freud, ihres Begründers, dürfen wir unser Urteil trüben lassen. Schließlich verehren wir auch einen Hippokrates und einen Paracelsus heute noch, ohne uns darum bemüßigt zu sehen oder für verpflichtet zu halten, nach den Lehren dieser beiden großen Ärzte zu rezeptieren oder gar zu operieren. Und so müssen wir uns auch eingestehen, daß Sigmund Freud zutiefst dem Naturalismus seiner Epoche verhaftet war. Das heißt, er sah im Menschen letztlich nur ein Naturwesen, übersah aber die Geistnatur des Menschen. Gewiß: der Mensch hat auch Triebe; aber sein Eigentlichstes läßt sich unmöglich von diesen Trieben herleiten, und Dinge wie der Geist, die Person, das Ich können unmöglich auf Triebe zurückgeführt werden.

Freud sah richtig, aber er sah nicht alles, sondern er verallgemeinerte bloß, was er gesehen hatte. Ein Röntgenologe sieht auch richtig, wenn er –im Rahmen eines Schirmbildes – den Menschen so sieht, als ob es sich nicht um einen Menschen, sondern nur um das Skelett eines Menschen handeln würde. Aber keinem Röntgenologen wird es einfallen zu behaupten, der Mensch bestehe nur aus Knochen. Sondern er wird sich sagen: im Röntgenbild sehe ich zwar nur Knochen, aber in Wirklichkeit gibt es auch andere Gewebe. Ja, es gilt sogar mehr als dies, es gilt nämlich folgendes: Wann immer beim lebenden Menschen ein Knochen außerhalb des Röntgenbildes zum Vorschein kommt, ist dieser Mensch auch schon nicht mehr heil, sondern es handelt sich um einen offenen Knochenbruch.

Nun, ähnlich steht es mit der Psychoanalyse: der Mensch hat Triebe; aber wann immer desintegrierte Triebhaftigkeit beim Menschen zutage tritt, ist der Mensch ebenfalls nicht mehr heil, sondern es handelt sich hierbei bereits um einen Sonderfall, um den Fall eines Menschen, der sich – wie schon die Sprache verrät – von seinen Trieben treiben läßt. Von diesem Sonderfall her dürfte man aber niemals ein Menschenbild zu konstruieren wagen oder gar, wie Freud es getan hat, von der Triebhaftigkeit her die gesamte menschliche Kultur erklären wollen.

Jede Zeit hat ihre Neurosen, und jede Zeit braucht ihre Psychotherapie. Und so hat man denn auch nachgewiesen, wie die Freudsche Psychoanalyse so recht dem viktorianischen Zeitalter und dem Zeitalter der Plüschkultur entsprach – einer Zeitepoche also, in der man einerseits prüde und andererseits lüstern war. Damals galt es wahrlich, speziell der sexuellen Unaufrichtigkeit der damaligen Gesellschaft die Maske abzureißen und den Spiegel vorzuhalten. Heute aber sind die Nöte der Zeit andere, und so hat es denn die Psychotherapie von heute weniger mit dem sexuellen Unbefriedigtsein der Menschen zu tun, sondern mit ihrer existentiellen Unerfülltheit: mit der Sehnsucht der Menschen nach einem Lebensziel und Daseinszweck, nach einer konkreten Aufgabe und einem persönlichen Auftrag – mit einem Wort: mit dem Ringen um einen Daseinssinn.*

* Nicht weniger als durch das sogenannte Minderwertigkeitsgefühl kann der Mensch seelisch krank werden durch ein solches Sinnlosigkeitsgefühl. Dann leidet er nicht an dem Gefühl, daß er selbst wenig Wert hat, sondern daß sein Sein keinen Sinn hat.

Nietzsche hat einmal gesagt: "Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie." Das heißt: wer um einen Sinn seines Lebens weiß, dem verhilft dieses Bewußtsein mehr als alles andere dazu, äußere Schwierigkeiten und innere Beschwerden zu überwinden. Daraus ergibt sich, wie wichtig es auch vom therapeutischen Gesichtspunkt aus wäre, dem Menschen zur Sinnfindung in seinem Dasein zu verhelfen, ja überhaupt erst das in ihm schlummernde Verlangen nach einer Sinngebung zu wecken. Freilich: dazu bedürfte es eines anderen Menschenbildes als desjenigen, das den alten Schulen der Seelenheilkunde vorschwebte. Denn die Psychoanalyse hat uns kennengelehrt den Willen zur Lust, als welchen wir das Lustprinzip auffassen können, und die Individualpsychologie hat uns vertraut gemacht mit dem Willen zur Macht in Form des Geltungsstrebens; aber in Wahrheit ist der Mensch zutiefst durchwaltet von einem Willen zum Sinn. Und die Praxis – nicht nur in den Ordinationen und Ambulanzen, sondern in den äußersten "Grenzsituationen" der Bombentrichter und Bombenkeller, der Kriegsgefangenenlager und Konzentrationslager – diese Praxis, sie hat uns gezeigt, daß nur eines den Menschen instand setzt, das Ärgste zu tragen und das Letzte zu leisten, und dieses eine ist der Appell eben an den Willen zum Sinn und an das Wissen darum, daß der Mensch für die Erfüllung dieses seines Lebenssinns verantwortlich ist.

Die fatalistische Einstellung

Der zweite Vortrag über Psychotherapie, den ich im gleichen Rahmen gehalten habe, ist ausgeklungen in die Forderung nach Verantwortungsbewußtsein. Und ich habe zu zeigen versucht, daß alles seelenärztliche Tun letzten Endes darauf abzielen müßte, den Kranken zur Verantwortungsfreude zu erziehen. Was uns indessen an unseren neurotischen Patienten immer wieder auffällt, ist gerade das Gegenteil: nämlich Scheu vor der Verantwortung – Furcht vor der Verantwortung. Schon die Sprache belehrt uns darüber, daß der Mensch zur Verantwortung "gezogen" werden muß – es scheint also eine Kraft dazusein, die ihn vor der Verantwortung fliehen läßt. Was ist es nun, das dem Menschen diese "Fliehkraft" gibt? Es ist der Aberglaube an die Macht des Schicksals – des äußeren wie des inneren: an die Macht der äußeren Umstände und der inneren Zustände. Mit einem Wort, es ist der Fatalismus, von dem diese Menschen durchdrungen sind – diese seelisch kranken Menschen, aber nicht nur sie, sondern auch scheinbar gesunde Menschen, ja bis zu einem gewissen Grade die Menschen von heute überhaupt.

Gewiß: man könnte nun sagen, daß dies ein neurotischer Zug an der heutigen Menschheit ist. Und insofern könnte man mit Recht auch von einer Pathologie des Zeitgeistes sprechen – innerhalb deren Rahmen der Fatalismus, die Schicksalsgläubigkeit, eines der Symptome darstellen würde. Dennoch halte ich dafür, daß das heutige Gerede von einer "Zeitkrankheit" oder dergleichen eben bloßes Gerede ist – unverbindlich in seinen Voraussetzungen und irreführend in seinen Schlußfolgerungen. Mit einem Wort, dieses Gerede ist ebenso unwissenschaftlich wie gewissenlos.

Sollte die Zeitkrankheit gar identisch sein mit dem, worum sich alle Psychotherapie bemüht, mit der Neurose? Sollte die Zeit an Nervosität erkrankt sein? Tatsächlich gibt es ein Buch – der Autor heißt F. C. Weinke –, das den Titel führt: Der nervöse Zustand, das Siechthum unserer Zeit. Das Buch ist in Wien erschienen, und zwar bei J. G. Heubner im Jahre 53 – aber nicht 1953, sondern 1853. Siechtum wurde noch mit h geschrieben. Wir sehen, mit der Zeitgemäßheit der Neurose ist es nicht allzuweit her: nicht nur unsere Zeitgenossen sind nervös!

Nun, eine der trivialsten und banalsten unter solchen "Zeitdiagnosen" läuft auf die Behauptung hinaus, es sei das Tempo unserer Tage, das den Menschen so krank mache. So hat denn niemand Geringerer als der bekannte Soziologe Hendrik de Man erklärt:

Das Tempo läßt sich nicht ungestraft über eine gewisse Grenze hinaus beschleunigen.

Ist diese Behauptung wahr? Nun, daß der Mensch eine Steigerung des Tempos etwa seiner maschinellen Fortbewegung nicht vertragen würde, daß er somit dem technischen Fortschritt nicht gewachsen sei – das ist keine neue, dafür aber eine falsche Prophezeiung: als im vorigen Jahrhundert die ersten Eisenbahnen ausfuhren, haben es medizinische Kapazitäten für unmöglich gehalten, daß der Mensch die mit einer Eisenbahnfahrt verbundene Beschleunigung aushalten könne, ohne zu erkranken. Und bis vor wenigen Jahren noch hegte man Zweifel daran, ob es gesundheitlich möglich sei, im Flugzeug mit Überschallgeschwindigkeit zu fliegen. Wir sehen – das heißt: jetzt sehen wir es – jetzt, nachdem sich diese Prophezeiungen und Skeptizismen als falsch erwiesen haben –, jetzt sehen wir es, wie recht Dostojewski hatte, als er einmal den Menschen als jenes Wesen definierte, das sich an alles gewöhnt.

Als Ursache der "Zeitkrankheit", überhaupt als Krankheitsursache, kommt das zeitgenössische Tempo also keineswegs in Betracht. Ich möchte sogar zu behaupten wagen: das beschleunigte Tempo des Lebens von heute stellt eher einen Selbstheilungsversuch dar – wenn auch einen mißglückten Selbstheilungsversuch. Tatsächlich läßt sich das rasende Lebenstempo ohne weiteres verstehen, wenn wir es als einen Versuch der Selbstbetäubung auffassen: der Mensch ist auf der Flucht vor einer inneren Öde und Leere, und auf dieser Flucht stürzt er sich eben in einen Trubel. Der große französische Psychiater Janet hat bei jenen neurotischen Menschen, die er als Psychastheniker bezeichnet hat, ein von ihm so benanntes sentiment de vide beschrieben, will heißen ein Gefühl der Inhaltslosigkeit und Leere. Nun, dieses Leeregefühl gibt es auch in einem übertragenen Sinne, und zwar meine ich das Gefühl existentieller Leere, das Gefühl der Ziel- und Inhaltslosigkeit des Daseins.

Daß sich ein solches Gefühl heutzutage nicht weniger Menschen bemächtigt, ist klar, sobald wir uns bloß daran erinnern, was ich in meinem zweiten Vortrag über die Zeitbedingtheit der Psychoanalyse gesagt habe: ich erwähnte, damals, daß seinerzeit, zur Zeit von Sigmund Freud, die sexuelle Problematik im Vordergrund stand – während heute dem Menschen weniger das sexuelle Unbefriedigtsein zum Problem wird als vielmehr die existentielle Unerfülltheit oder, wenn ich mich des Ausdrucks der amerikanischen Psychiater bedienen darf, eine Frustration, und zwar eine Frustration dessen, was ich das letztemal den Willen zum Sinn genannt habe. Und jetzt verstehen wir: das Tempo dient dem Menschen von heute dazu, die Frustration, das Unbefriedigtsein, die Unerfülltheit seines Willens zum Sinn, zu betäuben. Denn der Mensch von heute erlebt vielfach das, was sich vielleicht am treffendsten durch ein paar Worte aus dem Egmont von Goethe kennzeichnen läßt. Kaum weiß er, woher er kam – geschweige denn, wohin es geht. Und man könnte hinzufügen: Je weniger er es weiß, je weniger er um so etwas wie einen Sinn des Daseins und ein Ziel seines Weges weiß – nur um so mehr beschleunigt er das Tempo, in dem er diesen Weg durcheilt.

Nun, außer der Anschuldigung, daß das Tempo die Ursache von geistigem Notstand sei, findet sich auch eine weitere Charakterisierung der vieldiagnostizierten "Zeitkrankheit": so spricht man etwa von unserem Jahrhundert als einem Jahrhundert der Furcht ("The Age of Anxiety"), oder es wird – um einen bekannten Buchtitel anzuführen – Die Angst als abendländische Krankheit hingestellt. Auch all dem muß entgegengetreten werden. Ich möchte nur darauf hinweisen, worauf zwei amerikanische Forscher im American Journal of Psychiatry aufmerksam gemacht haben: daß nämlich frühere Zeiten, beispielsweise die Zeitalter der Sklaverei, der Religionskriege, der Hexenverbrennungen, der Völkerwanderungen oder der großen Epidemien – daß all diese "guten alten Zeiten" wohl auch nicht angstfreier waren als unsere Zeit.

Mit Recht hat Joachim Bodamer, ein deutscher Psychiater, einmal gesagt: Sofern der Mensch von heute an Angst leidet, ist diese Angst eine Angst vor der Langeweile. Daß diese Langeweile tödlich sein kann, wissen wir ebenfalls: der Heidelberger Internist Professor Plügge hat gezeigt, daß den von ihm untersuchten Fällen, in denen ein Selbstmord versucht worden war, als Motiv keineswegs Krankheit oder wirtschaftliche Not, berufliche oder anderweitige Konflikte zugrunde lagen, vielmehr erstaunlicherweise eines: maßlose Langeweile – also die Unerfülltheit menschlicher Sehnsucht nach einem gültigen Lebensinhalt! Und so sehen wir denn auch, wie recht Karl Bednarik haben mag, wenn er einmal schreibt: Aus dem Problem des materiellen Elends der Massen ist das Problem des Wohlstandes geworden, das Problem der Muße. Im besonderen Zusammenhang mit dem Neurosenproblem jedoch hat der Wiener Nervenarzt Paul Polak schon vor Jahren darauf hingewiesen, daß man sich nicht der Illusion hingeben möge, mit der Lösung der sozialen Fragen würden sich auch die neurotischen Erkrankungen von selbst geben – das Gegenteil sei richtig: erst wenn die sozialen Fragen gelöst sind, werden die existentiellen nur um so mehr aufbrechen im Bewußtsein des Menschen – "die Lösung der sozialen Frage würde die geistige Problematik erst eigentlich frei machen, sie erst eigentlich mobilisieren; der Mensch würde erst frei werden, sich selbst so richtig in Angriff zu nehmen, und würde das Problematische an sich selber, seine eigene Daseinsproblematik, so richtig erst erkennen.

Die Neurosen haben nicht zugenommen, sondern sind, was ihre Häufigkeit anbelangt, Jahrzehnte hindurch gleich geblieben, und unter den Neurosen haben die Angstneurosen sogar abgenommen (J. Hirschmann). Das klinische Bild der Neurosen hat sich also gewandelt, die Symptomatologie ist eine andere geworden; aber, sofern dem so ist, tritt die Angst eher zurück. Ähnliches sehen wir ja auch bei den Psychosen (H. Kranz), also nicht nur bei den Neurosen. So hat sich gezeigt, daß die melancholisch erkrankten Menschen heutzutage seltener daran leiden, daß sie sich schuldig fühlen, im besonderen vor Gott schuldig, sondern im Vordergrund steht die Sorge um ihre leibliche Gesundheit, also ein hypochondrisches Syndrom, und die Sorge um den Arbeitsplatz und die Arbeitsfähigkeit: diese sind die Themen der heutigen Melancholie (A. v. Orelli) – vermutlich aber nur deshalb, weil sie – nicht Gott und Schuld, sondern Gesundheit und Arbeit – die Anliegen des heutigen Durchschnittsmenschen sind.

Es kann also gar nicht die Rede davon sein, daß die Häufigkeit neurotischer Erkrankungen heutzutage zugenommen habe; was allein zugenommen hat, ist vielmehr etwas anderes: das psychotherapeutische Bedürfnis, das heißt das Bedürfnis der Massen, sich in ihrer seelischen und geistigen Not an den Nervenarzt zu wenden. Aber hinter diesem psychotherapeutischen Bedürfnis steht wohl wieder etwas anderes, und zwar das alte und ewige metaphysische Bedürfnis des Menschen.

Von einer Zunahme der Neurosen im streng klinischen Wortsinn – nicht im weitesten, in einem übertragenen Sinne, nämlich in dem von kollektiven Neurosen, wie ich sie bezeichnen möchte, sondern wie gesagt von einer Zunahme der Neurosen im streng klinischen Wortsinn – kann aber nicht die Rede sein.

Der Prozentsatz der Psychosen bleibt sogar erstaunlich konstant. Was Schwankungen unterliegt, ist einzig und allein die Zahl der Anstaltsaufnahmen. Das hat aber auch seine guten Gründe. Wenn z.B. an der Wiener Anstalt am Steinhof im Jahre 1931 mit über 5000 Aufnahmen der Höchstzahl (in mehr als 40 Jahren) erreicht wurde, wohingegen im Jahre 1942 mit beiläufig 2000 Aufnahmen der tiefste Stand, so ist dies sehr leicht zu erklären: in den 30er Jahren, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, wurden die Patienten von ihren Angehörigen aus begreiflichen wirtschaftlichen Erwägungen heraus möglichst lange in der Anstalt belassen, ja die Patienten selber waren vielfach froh, dort ein Dach über dem Kopf und etwas Warmes im Magen zu haben. Anders unter Hitler: aus ebenso begreiflicher, begründeter Furcht vor dem Euthanasiertwerden wurden die Kranken möglichst bald nach Hause geholt bzw. möglichst früh entlassen – oder aber womöglich gar nicht erst in geschlossene Anstaltspflege abgegeben.

Nicht weniger falsch sind ähnliche Ansichten, die über Selbstmorde verbreitet sind. Es dürfte so manchen überraschen, aber es ist so: daß die Selbstmordkurve, soweit sie überhaupt Schwankungen zeigt, in Zeiten wirtschaftlichen Elends, aber auch zur Zeit politischer Krisen – abflaut. Diese Tatsache – auf welche etwa die Forscher Durkheim und Höffding hingewiesen haben – hat sich auch jüngst bestätigt: nicht nur, daß ausgerechnet jene Länder, die sich der längsten Friedenszeiten erfreuen durften, den europäischen Rekord an Selbstmordhäufigkeit aufweisen; sondern einer anderen Statistik, veröffentlicht durch Dr. Zigeuner, ist zu entnehmen, daß in Graz bzw. der Steiermark die Selbstmordkurve in den Jahren 1946-1947 einen Tiefstand aufwies – also just zu einer Zeit besonderer Senkung des Lebensstandards der Bevölkerung.
Wie ist das zu erklären? Meiner Ansicht nach wohl am besten durch ein Gleichnis: ich habe mir einmal sagen lassen, daß ein Gewölbe, das baufällig geworden ist, dadurch gestützt und gefestigt werden kann – paradoxerweise dadurch –, daß man es belastet. Nicht unähnlich ergeht es dem Menschen: mit den äußeren Schwierigkeiten wächst anscheinend seine innere Widerstandskraft.*

* Siehe auch H. Schulte, der von der "als Begleiterscheinung aller soziologischen Notstande ganz allgemein bekannten geringen Häufigkeit von Ehescheidungen, von Selbstmorden, Suchtleiden und behandlungsbedürftiger Neurosen" spricht (Gesundheit und Wohlfahrt, Jahrgang 1952, Seite 78); analoge Hinweise finden sich bei E. Menninger-Lerchenthal (Das europäische Selbstmordproblem, Wien 1947, Seite 37) hinsichtlich der Selbstmorde in politisch erregten Zeiten und bei J. Hirschmann.

Voraussetzung ist – darauf habe ich bereits das letzte Mal hingewiesen –, daß er "ein Warum zu leben hat": nur dann "erträgt er fast jedes Wie", um nochmals Nietzsche zu zitieren. Insofern müssen wir eine seelische Gefährdung des Menschen von heute in der ganzen Art und Weise erblicken, wie er zum Faktum der Atombombe Stellung nimmt. Gerade der Nervenarzt ist heute vielfach Zeuge, wie die Menschen in eine eigentümliche Lebenseinstellung hineinschlittern, die ich nicht anders bezeichnen kann denn als provisorische Daseinshaltung. Nur bedingt, nur auf Abruf leben solche Menschen; sie hören auf, auf weite Sicht zu planen, zielbewußt ihr Leben aufzubauen und einzurichten. Das tun sie nicht; sondern sie berufen sich darauf, daß ja die Atombombe kommt und dann doch ohnehin alles sinnlos ist. Sie sagen zwar nicht "après moi le déluge", nach mir die Sintflut, aber sie denken sich, nach mir die Atombombe – und sogleich ist ihnen alles gleichgültig. Es ist klar, wie verderblich sich eine solche unernste, eben provisorische Daseinshaltung auf die Dauer und in der Masse auswirken muß. Wissen wir doch das eine: wenn überhaupt etwas, so ist es ja gerade das Zielbewußtsein, ist es gerade das Gefühl, eine Aufgabe zu haben, das allein den Menschen in den Stand setzt, selbst unter schwierigsten Bedingungen und äußeren Umständen innerlich aufrecht zu bleiben. Und so jenen Mächten der Zeit zu trotzen, die nur dem Kleinmütigen so übermächtig und so schicksalhaft erscheinen.

Das provisorische Dasein

Das letzte Mal, in meinem dritten Vortrag über Psychotherapie, habe ich die Frage angeschnitten, ob überhaupt und, wenn ja, in welchem Sinne es berechtigt sein mag, von einer Pathologie des Zeitgeistes zu sprechen. Mehr als das: ich habe damals auch schon dem vorgegriffen, wovon heute die Rede sein soll, und zwar insofern, als ich ein Hauptsymptom der "Zeit-Geisteskrankheit" ausführlich besprochen habe, nämlich den Fatalismus, den Aberglauben an die Macht des Schicksals, während ich ein zweites Symptom nur angedeutet habe: die provisorische Daseinshaltung.

Erinnern wir uns nur daran, wie provisorisch der Mensch im Krieg gelebt hat, will heißen, wie sehr er in den Tag hinein gelebt hat oder von einem Tag auf den andern, und zwar schon deshalb, weil er niemals wissen konnte, ob er eben diesen "andern Tag" überhaupt noch erleben wird. Das stand ja keinesfalls fest, weder an der Front, im Bombentrichter noch im sogenannten Hinterland, also im Bombenkeller, noch im Feindesland, im Kriegsgefangenenlager, noch im Konzentrationslager; nirgends war man seines Lebens, war man des Weiterlebens, des Überlebens sicher. Und so schlitterte man denn in die provisorische Daseinshaltung hinein – lebte, wie gesagt, in den Tag hinein.

Der Mensch nun, der in den Tag hinein lebt, lebt immer auch aus dem Trieb heraus. So ist es denn auch zu verstehen, daß man etwa im Liebesleben ebenfalls darauf verzichtet hat, auf weite Sicht hin ein lebenswürdiges Leben, ein menschenwürdiges Liebesleben aufzubauen, sondern nur darauf bedacht war, den Augenblick auszukosten und sich nur ja nichts entgehen zu lassen. Viele später zerrüttete Ehen, eben typische Kriegsehen, wurden nur aus solcher Einstellung heraus geschlossen. Für die betreffenden Partner war das Geschlechtsleben genau das, was es nicht sein sollte: bloßes Mittel zum Zweck, und zwar zum Zweck des Lustgewinns – während es normalerweise – und idealerweise – ein Ausdrucksmittel sein soll, der Ausdruck jener Verbundenheit, die man Liebe nennt.

Nun, die provisorische Daseinshaltung sind wir noch nicht los; nach wie vor ist der Mensch von heute durch sie beherrscht, ja es bemächtigt sich seiner eine Art Atombombenphobie. Der Mensch von heute lebt anscheinend überhaupt nur noch im Hinblick, in ständigem Hinschielen auf die künftige Atombombe. Er erwartet sie ängstlich. Aber diese Erwartungsangst, wie wir Kliniker sie nennen, hindert ihn an einem zielbewußten Leben. Der Mensch beginnt eben provisorisch dahinzuleben, ohne zu merken, was er alles dabei versäumt – daß er dabei alles versäumt. Er vergißt, wie sehr Bismarck recht hatte, als er einmal sagte: Im Leben ergeht es einem so wie beim Zahnarzt: immer glaubt man, das Eigentliche kommt erst, und inzwischen ist es schon vorbei. Wie unrecht hat doch der Mensch, der solcherart eingestellt ist! Denn selbst wenn es zur planetarischen Katastrophe eines dritten Weltkrieges kommen sollte, selbst dann ist unser aller tägliches und stündliches Bemühen niemals vergeblich.
Im letzten Weltkrieg haben wir genug schwierige Situationen erlebt, und in ihnen Menschen stehend, die wohl kaum damit rechnen konnten, mit heiler Haut davonzukommen, und trotzdem: trotz diesem Bewußtsein, dem Tod gegenübergestellt zu sein – versuchten diese Menschen, das Ihrige zu leisten, ihre Aufgabe zu erfüllen. Nicht einmal die tödliche Bedrohung im Konzentrationslager – um nur diese eine Grenzsituation in die Debatte zu ziehen –, nicht einmal diese tödliche Bedrohung ließ die Menschen in ihrer Situation, im Lagerleben, nur ein Provisorium oder eine bloße Episode sehen: für sie war dieses Leben eher eine Bewährungsprobe, ja es wurde vielfach zum Höhepunkt ihres Daseins, nämlich zum Anlaß höchsten Aufschwunges. Denken wir doch bloß an ein Wort von Hebbel, das da lautet: Das Leben ist niemals etwas, sondern immer nur die Gelegenheit zu etwas. Haben wir aber die uns gestellte Aufgabe einmal erfüllt, so braucht uns nicht mehr bange zu sein; denn wenn wir Laotse glauben dürfen, dann heißt eine Aufgabe erfüllt haben – ewig sein.

Den Taten, die wir setzen, wird selten ein Denkmal gesetzt, und niemals bleibt ein Denkmal ewig stehen. Aber jede Tat ist ihr eigenes Denkmal! Und nicht nur was wir getan, sondern auch all das, was wir jemals erlebt haben, "kann keine Macht der Welt uns rauben", wie der Dichter sagt. Nichts läßt sich aus der Welt schaffen, was einmal geschehen ist; kommt nicht alles nur um so mehr darauf an, daß es in die Welt geschafft wird? Mag es auch noch so vergänglich sein – gerade in der Vergangenheit ist es aufbewahrt, ist es vor der Vergänglichkeit bewahrt und hinein gerettet ins Vergangensein. Im Vergangensein ist nämlich nichts unwiederbringlich verloren, vielmehr alles unverlierbar geborgen. Für gewöhnlich sieht der Mensch nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit; was er übersieht, sind die vollen Scheunen des Vergangenseins.
Die provisorische Daseinshaltung ist in keiner Situation gerechtfertigt. Nicht einmal angesichts des herannahenden Todes wird das Leben sinnlos. Selbst in diesem Falle ist dem Menschen eine Aufgabe gestellt, eine ganz konkrete, allerpersönlichste Aufgabe, und sei es nur, daß es darum ginge, das rechte, aufrechte Leiden echten Schicksals zu leisten. Anhand eines Beispiels möchte ich dies belegen: Eine äußerst fleißige Krankenschwester erkrankt an einem Krebs, der sich bei der versuchsweisen Operation als nicht entfernbar erweist. Kurze Zeit vor ihrem Tod besuche ich sie und finde sie im Zustand äußerster Verzweiflung vor. Sie leidet, mehr noch als an allem andern, darunter, daß sie jetzt ihren über alles geliebten Beruf nicht ausüben kann. Was hätte ich dieser nur allzu begreiflichen Verzweiflung gegenüber sagen sollen? War doch die Situation dieser Schwester einfach aussichtslos. Dennoch versuchte ich, ihr folgendes klarzumachen: Daß sie acht oder weiß Gott wieviel Stunden im Tag arbeitet, ist noch keine Kunst – das kann ihr bald jemand nachmachen; aber so arbeitswillig zu sein wie sie und dabei arbeitsunfähig und trotzdem nicht zu verzweifeln – das wäre eine Leistung, die ihr nicht so bald jemand nachmachen könnte. Und, so fragte ich sie, begehen Sie denn nicht ein Unrecht an all jenen Tausenden von Kranken, denen Sie als Krankenschwester doch Ihr Leben geweiht haben – begehen Sie kein Unrecht, wenn Sie jetzt so tun, als ob das Leben eines kranken oder siechen, also arbeitsunfähigen Menschen sinnlos wäre? Sobald Sie in Ihrer Situation verzweifeln, tun Sie so, als ob der Sinn eines Menschenlebens damit stünde und fiele, daß der Mensch soundso viele Stunden arbeitet. Damit aber würden Sie allen Kranken und Siechen jedes Lebensrecht und alle Daseinsberechtigung absprechen. In Wirklichkeit haben Sie aber gerade jetzt eine einmalige Chance: während Sie bisher all diesen Menschen gegenüber, die Ihnen anvertraut waren, nicht mehr leisten konnten als dienstlichen Beistand, haben Sie nunmehr die Chance, mehr zu sein: menschliches Vorbild.

In diesem Falle zeigt sich übrigens eines: wie sehr alle Verzweiflung letzten Endes in einer Vergötzung besteht, in der Verabsolutisierung eines einzigen Wertes, im alleinigen Geltenlassen einer einzigen Sinnmöglichkeit, im konkreten Falle: der Arbeitsfähigkeit, also eines gewiß relativen Wertes und keineswegs der einzigen Möglichkeit, dem Dasein einen Sinn zu verleihen.

Soviel zur Frage der provisorischen Daseinshaltung, darüber hinaus aber auch der Möglichkeit, unter allen Bedingungen und Umständen, in jeder Situation des Lebens, selbst noch in der äußersten Grenzsituation, eine Aufgabe und damit im Dasein einen Sinn zu sehen, und sei es auch nur darin, wie wir eine schwierige Situation auf uns nehmen. Sobald wir dessen eingedenk bleiben, daß das Leben niemals wirklich sinnlos werden kann, will heißen, daß zuletzt und zumindest das Leiden eine Sinnmöglichkeit in sich birgt – sobald wir dessen eingedenk bleiben, wird es uns unmöglich werden, uns dem Dasein gegenüber provisorisch einzustellen. Und auch die Atombombe wird uns nicht in lähmenden Schrecken versetzen, sondern nur um so mehr dazu anspornen, alles daran zu setzen, was in jedes einzelnen Kräften steht, um zu verhindern, daß sie jemals angewandt werde. Hierzu aber gehört vor allem eines. Ich sprach vorhin im klinischen Jargon von der Atombombenphobie als einer Erwartungsangstneurose. Vergessen wir nun nicht, daß es im Wesen der Erwartungsangst liegt, daß sie das, wovor sich einer ängstigt, überhaupt erst wahr macht. Wer sich beispielsweise vor dem Erröten fürchtet, wird gerade durch diese Furcht auch schon rot. So gilt es denn, aller Panikmache und jeder kollektiven Katastrophenangst möglichst entgegenzutreten. Dazu bedarf es aber auch des Wissens darum, wie es, psychologisch gesehen, überhaupt so weit kommen konnte, daß wir uns heute mit einer Erscheinung wie der Atombombenphobie befassen müssen. Unser nächster Vortrag, der sich mit einem weiteren sozusagen kollektivneurotischen Symptom zu beschäftigen hat, nämlich mit dem Fanatismus – dieser Vortrag soll über diese psychologische Frage Auskunft geben.

...

zurück zur Seite über Psychologie