Auszüge aus Ruediger Dahlke's
"Lebenskrisen als Entwicklungs-Chancen"

Zeiten des Umbruchs und ihre Krankheitsbilder

Das Buch
Geburt, Pubertät, Abnabelung vom Elternhaus, Midlifecrisis und Tod sind für jeden Menschen bedeutsame und aufwühlende Einschnitte. Die meisten von uns haben heute das Bewußtsein für diese natürlichen Phänomene verloren und können besser mit dem technischen Fortschritt als mit unserer eigenen Entwicklung umgehen. Diese Umbruchphasen werden negativ erlebt und als Krisen angesehen, was in seelischen und körperlichen Beschwerden zum Ausdruck kommt. Ruediger Dahlke weist mit seinem Buch den Weg aus dieser Sackgasse, indem er moderne Rituale des Übergangs entwirft, die helfen, Umbruchkrisen zu meistern und sie als eine Chance zu begreifen. Mit hilfreichen Anregungen für jede Station der Lebensreise webt der Autor ein Netz, das uns in jedem Alter trägt.
Der Autor
Dr. Ruediger Dahlke ist Mediziner und ausgebildeter Arzt für Naturheilwesen sowie Psychotherapeut. Er praktiziert als Arzt und Therapeut an dem von ihm und seiner Frau gegründeten "Heilkunde-Zentrum Johanneskirchen", leitet Seminare über Psychosomatische Medizin und gibt Fasten- und Meditationskurse.

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Einleitung: Be-Deutung und Macht der Übergänge

In dem Maße, wie wir immer besser lernen, mit technischen Problemen umzugehen, scheinen wir zunehmend die Fähigkeit zu verlieren, mit natürlichen Phänomenen zurechtzukommen. Insbesondere mit den Übergängen von einer Lebensphase zur nächsten werden wir kaum noch fertig. Wir hetzen durchs Leben, sparen Zeit, wo immer es möglich erscheint, und haben doch keine mehr, um uns den wesentlichen Stationen unserer eigenen Entwicklung zu widmen.

Das Phänomen der Entwicklungsbeschleunigung läßt sich auf den verschiedensten Ebenen verfolgen. Hat der Übergang von der Jagd- zur Agrargesellschaft noch tausende von Jahren in Anspruch genommen, verlief der Übergang zur Industriegesellschaft innerhalb eines Jahrhunderts sehr rasant. Und doch vollzog sich die industrielle Revolution wiederum langsam im Vergleich zum Übergang in die Informationsgesellschaft, der sich so schnell ereignete, daß ihn viele gar nicht registrierten und im gesellschaftlichen Zusammenhang zurückfielen. Der nächste Übergang zur Bewußtseinsgesellschaft verläuft in solch fliegendem Wechsel und so unbemerkt, daß die wenigsten dabei bewußt mitkommen.

Die Übergänge zwischen den Lebensphasen im individuellen Leben, die durch Empfängnis, Geburt, Pubertät, Abnabelung vom Elternhaus, Heirat, Krise der Lebensmitte und Tod markiert sind, erleben auch immer weniger Menschen ganz bewußt. Bei Empfängnis und Geburt wird dem Neuankömmling sowieso noch kein oder jedenfalls "kein richtiges" Bewußtsein zugestanden. Die Pubertät wird mehr oder weniger übergangen. Die Älteren hoffen, durch diese Jugendkrise wenig gestört und gefordert zu werden. Die endgültige Abnabelung von den Eltern mit Ende der Adoleszenz fällt nicht selten aus, oder man versucht, sie aus pragmatischen und anderen Gründen möglichst lange hinauszuschieben. Die Ehe wird zunehmend zu Gunsten des vermeintlich bequemeren Singledaseins verweigert oder gerät zur Fortsetzung einer problematischen Mutter- bzw. Vaterbeziehung. Der Beruf ist von der Berufung zum Job verkommen, der immer mehr Menschen immer weniger befriedigt, was sich unter anderem im häufigen Wechsel niederschlägt. Die Wechseljahre der Lebensmitte überspielt die weibliche Hälfte der Bevölkerung mit Hormongaben, die männliche ignoriert sie, so gut es geht. Nach so viel Verdrängen und Überspielen ist es wenig verwunderlich, wenn auch die letzte große Krise, der Tod, in einer Atmosphäre von Verdrängung und Mißachtung unter zumeist erbärmlichen Umständen stattfindet.

Als hätten wir nicht genug Schwierigkeiten mit diesen großen, klassischen Lebenskrisen, treten zudem dauernd neue Herausforderungen dazu, mit denen große Teile der Betroffenen nicht oder nicht befriedigend fertig werden und die ihre Wurzeln in den gescheiterten großen Krisen haben. Fast könnte man sagen, mit dem Ignorieren der großen Übergänge des Lebens handeln wir uns eine Fülle kleinerer Dauerkrisen ein. Wo die Linie fehlt, gerät Sand ins Getriebe des Lebens und läßt auch geringe Anlässe zu ansehnlichen Krisen heranwachsen. Statt das Krisenpotential in bestimmten Übergangszeiten konzentriert zu bewältigen, verdienen wir uns kollektiv einen krisenhaften Alltag.

Die Fülle von Verlustkrisen vom Partnerverlust bis zum Verlust eines geliebten Haustieres zeigt, daß wir mit dem Loslassen Probleme haben. Die Rentenkrise verrät, daß auch der große Feierabend nach einem harten Berufsleben nicht wesentlich besser verläuft als der alltägliche kleine nach einem anstrengenden Arbeitstag. Wo anderen Generationen offenbar zum Feiern zumute war, schaffen wir uns Elend. Das Leere-Nest-Syndrom beklagt überraschenderweise die von seelisch gesunden Menschen ersehnte Situation, daß die Jungen flügge geworden sind und die Alten wieder frei wären zu fliegen, wohin sie wollen. Viele "Alte" aber haben heutzutage offenbar das Fliegen verlernt oder keine Lust mehr dazu. Sie bleiben im leeren Nest hocken und versuchen, den Gang der Geschichte umzukehren und die "Jungen" wieder zurückzulocken. Oder sie werden, wo das scheitert, depressiv und selbst pflegebedürftig. Aber auch das Gegenteil wird heute gern krisenhaft in so genannten Anforderungskrisen durchlitten. Der Umzug in eine neue Umgebung kann hier ebenso als Auslöser dienen wie ein Arbeitsplatzwechsel. Im Grunde handelt es sich immer um ein Nicht-loslassen-Wollen des alten Vertrauten und dadurch bedingt um ein Nicht-akzeptieren-Können des Neuen. Das Muster dieser Krisen entspricht dem der großen Lebenskrisen. Ob man am alten Beruf festhält oder am alten Thema, zum Beispiel der Pflege und Versorgung der Familie – man ist nicht frei und offen für das anstehende Neue. So gut das alte Muster in der Vergangenheit funktioniert haben mag, in der neuen Situation ist es unangemessen und führt zu Leid.

Wir haben offenbar angefangen, uns so schnell zu entwickeln, daß wir selbst nicht mehr recht mitkommen. Für die Wechselfälle des Lebens fehlt uns zudem ein sicheres Netz von Ritualen, dem wir uns anvertrauen könnten. Daraus ergeben sich massive Probleme auf allen möglichen Ebenen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens. Diese Probleme und Krisen sollen hier auf dem Hintergrund der esoterischen Philosophie beleuchtet sowie die dabei auftretenden Probleme und Krankheitsbilder in entsprechender Weise gedeutet werden. Die Tatsache, daß der Finger mitunter schonungslos auf die Schwachstellen unseres gesellschaftlichen Umgangs mit Übergängen gelegt wird, besagt noch nicht, daß der Autor jeweils bessere Lösungen anzubieten hat, und der (Rück) Blick auf archaische Gesellschaften, die sich infolge ihrer Passageriten mit den Übergängen leichter taten, beinhaltet nicht den Rat, zu solchen Lebensformen zurückzukehren. Im Gegenteil geht es der esoterischen Philosophie immer um Entwicklung, allerdings in einem ganz anderen Sinn, als es unser moderner Fortschritt vermuten läßt.

Die Benutzung des Wortes "Esoterik" ist heute nicht mehr unproblematisch. Früher bezeichnete der auf Pythagoras zurückgehende Ausdruck "esoteros" den inneren Kreis in dessen Schule. "Exoteros" stand für den größeren äußeren Schülerkreis. Das Wissen des inneren Kreises stand traditionell nur einer kleinen Gruppe von Menschen offen, die es sorgsam hüteten, nicht um es den anderen vorzuenthalten, sondern weil es für rein weltlich gesinnte Menschen keine Vorteile, dafür aber eine Reihe von Gefahren barg. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Die Geheimhaltung geschah weniger durch Ausschluß anderer als durch die Tendenz dieses Wissens, sich selbst zu schützen. Es bewahrte sich vor der Profanisierung zum Beispiel durch absichtliche Profanisierung, etwa wenn das geheime ägyptische Tarotwissen auf ganz normalen Spielkarten zwar jedermann zugänglich gemacht wurde, aber dem großen Publikum dennoch unverständlich blieb. Ähnlich ist es mit dem Johannesevangelium. Indem es den allermeisten Menschen unverständlich ist, wird es schlicht ignoriert und ist so vor Mißbrauch geschützt. Auch Bücher über Astrophysik bleiben ohne großes Zutun geheim, weil ihre mathematischen Grundlagen zu anspruchsvoll für die Mehrheit der Menschheit sind.

Durch die Esoterikwelle der letzten beiden Jahrzehnte hat sich jedoch einiges grundlegend verändert. Um das Wissen vielen Menschen schmackhaft zu machen, ist es einerseits zum Teil auf grobe Weise vereinfacht und damit auch verfälscht worden. Andererseits wurde es – mehr oder weniger unbeabsichtigt – sogar ins Gegenteil verkehrt und auf lächerliche und häufig peinliche Weise angepriesen. In solchen vieltausendfach verbreiteten Büchern werden die Angstthemen unserer Gesellschaft mit einer Prise Esoterik versetzt und je nach Marktlage vertrieben. Geistige Überlegenheit im Berufs- und Partnerbereich wird ebenso versprochen wie materieller Reichtum durch richtiges Beten, ewige Jugend und Unbesiegbarkeit. Die Folge ist, daß sich Menschen mit ernsthaftem Anspruch an die Thematik zunehmend scheuen, den Begriff "Esoterik" weiter zu benutzen. Allerdings wäre bei dieser verständlichen Reaktion zu bedenken, daß weder die Esoterik für den Mißbrauch verantwortlich ist, dem sie momentan unterliegt, noch Medizin und Religion für all das anzuklagen sind, was in ihrem Namen verbrochen wurde und immer noch verbrochen wird. Deshalb sollen diese drei Begriffe hier in ihrer ursprünglichen Bedeutung weiterverwendet werden, so wie sie in dem Buch Krankheit als Sprache der Seele eingeführt sind, das in seinem allgemeinen Teil eine verlässliche Grundlage für den Umgang mit dem esoterischen Weltverständnis und seiner Deutung im Speziellen liefert.

Da Krankheitsbilder auch häufig zu Lebenskrisen werden oder diese begleiten und generell eine enge Beziehung zwischen beiden Themenkreisen besteht, ist in den Büchern Krankheit als Weg, Krankheit als Sprache der Seele und den entsprechenden Veröffentlichungen zu speziellen Krankheitsbildern generelle Vorarbeit geleistet worden. Umgekehrt bilden nicht bewältigte Lebenskrisen die Grundlage vieler Krankheitssymptome. Bei einigen wird es schon im Namen deutlich, so bei der Pubertätsakne und magersucht, der Involutionsdepression oder der Todesangst. Andere Gesundheitsstörungen lassen sich nur auf der Basis des Lebensmusters verstehen, wie die Alzheimerkrankheit, die Parkinsonsche Schüttellähmung und andere Krankheitsbilder des Alters.

Die Krise

Das griechische Wort "crisis" bedeutet neben Krise auch Entscheidung, Scheidung, Zwiespalt, Trennung, Urteil, Wahl und Erprobung. Das chinesische Schriftzeichen für Krise ist identisch mit dem für Gefahr und Chance. Wenn wir die Krise auf ihren negativen Aspekt begrenzen, wie es im deutschen Sprachgebrauch weitgehend geschieht, bleibt unsere Sicht des Geschehens beschränkt. Allerdings kennen wir in der Medizin den Begriff "Heilungskrise" und bezeichnen allgemein mit "Krisis" den Entscheidungspunkt im Krankheitsgeschehen. Von hier aus geht es im positiven Fall Richtung Genesung, und so ist die Krisis auch der Umkehrpunkt zur Besserung. Indem wir unter dem Begriff auch "Entscheidung" verstehen, wie es im Altgriechischen der Fall ist, haben wir einen Schlüssel zum Wesen aller Krisen. Mit der Anleihe aus dem Chinesischen und dem Einbezug des Begriffes "Chance" erhalten wir den Ausblick auf die Perspektiven. Die Definition von Karl Jaspers geht ebenfalls in diese Richtung:
Im Gang der Entwicklung heißt Krisis der Augenblick, in dem das Ganze einem Umschlag unterliegt, aus dem der Mensch als ein Verwandelter hervorgeht, sei es mit neuem Ursprung eines Entschlusses, sei es im Verfallensein.

Für unseren Zusammenhang wichtig fährt Jaspers fort:

Die Lebensgeschichte geht nicht zeitlich ihren gleichmäßigen Gang, sondern gliedert ihre Zeit qualitativ, treibt die Entwicklung des Erlebens auf die Spitze, an der entschieden werden muß. Nur im Sträuben gegen die Entwicklung kann der Mensch den vergeblichen Versuch machen, sich auf der Spitze der Entscheidung zu halten, ohne zu entscheiden. Dann wird über ihn entschieden durch den faktischen Fortgang des Lebens. Die Krisis hat ihre Zeit; man kann sie nicht vorwegnehmen und sie nicht überspringen. Sie muß wie alles im Leben reif werden. Sie braucht nicht als Katastrophe zu erscheinen, sondern kann, im stillen Gang äußerlich unauffällig, sich für immer entscheidend vollziehen.

Tatsächlich konfrontiert uns jede Krise zumindest mit der Wahlmöglichkeit, sie bewußt anzunehmen oder sich nach Kräften zu wehren. Hier entscheidet sich bereits, ob sie zur Gefahr oder Chance wird. Das alte chinesische Denken, das um die Polarität von Yin und Yang kreist, kann noch die Einheit hinter diesen beiden gegenläufigen Möglichkeiten sehen.

Dieselbe Entscheidung erzwingt auch jedes Krankheitsbild. Es wird entweder in seiner Botschaft angenommen und so in eine Chance verwandelt, oder es wird abgewehrt und damit zur Gefahr. Schon die Entstehung von Krankheitsbildern läuft über diesen Weg der Entscheidung. Sobald eine Herausforderung im Bewußtsein nicht angenommen wird, muß die Energie ins Unbewußte ausweichen. Häufig verkörpert sie sich später als Krankheitsbild. Die ursprüngliche Thematik wird dann von den einzelnen Symptomen symbolisch dargestellt. Wir entscheiden uns also ständig zwischen bewußter Auseinandersetzung oder Aufschub und späterer Bearbeitung unter erschwerten, weil verschlüsselten Bedingungen. Auch wenn wir diese Entscheidung kaum mehr bewußt registrieren, weil wir schon aus Gewohnheit den vermeintlich einfacheren Weg des Verdrängens wählen, werden sie doch ständig getroffen.

Sobald wir ein Thema aus dem Bewußtsein drängen und damit dem Körper allein überlassen, entsteht automatisch eine Kluft zwischen Körper und Seele. Wird diese unerträglich, weil sich beide zu weit voneinander entfernen, kommt es zu einem Selbsthilfeversuch des Organismus. Entweder der Mensch erkrankt, oder er gerät in eine anders geartete Krise mit der Chance einer neuen Entscheidung bezüglich des anstehenden Themas. Beides sind Versuche, über das verkörperte oder im sozialen Umfeld inszenierte Geschehen Körper und Seele wieder zusammenzubringen. Das aber geschieht am einfachsten durch bewußtes Verstehen des auf der Gesellschafts- oder Körperbühne aufgeführten Dramas. Aus der Nähe von körperlichen, seelischen und sozialen Krisen ergibt sich die Möglichkeit, alle drei unter denselben Gesichtspunkten ihrer Bedeutung auf dem Boden der esoterischen Philosophie zu betrachten. Um die Krisen im zeitlichen Zusammenhang einzuordnen – Jaspers sprach davon, daß jede Krisis ihre Zeit hat –, ist es notwendig, sich vorher mit dem Grundmuster des Lebens schlechthin, dem Mandala, zu beschäftigen.

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Ablenkungsmanöver

Von Außenstehenden, die diesen Übergang selbst noch nicht bewältigt haben, ist kaum Verständnis oder ein geeigneter Rat zu erwarten. Sie werden am ehesten im Sinne der Gesellschaft raten, noch eine Firma hochzubringen, noch ein Projekt vom alten Strickmuster durchzuziehen oder eine neue Herausforderung zu suchen. Das neue "Projekt" wird dann von der illusionären Vorstellung getragen, daß dieses Mal alles besser wird, und aus dem verzweifelten Wissen genährt, daß es die letzte Chance ist, Ungelebtes nachzuholen. In der Praxis wird meist alles beim Alten bleiben.

In seltenen Ausnahmen gelingt es, nachdem die Pflicht getan ist, nun die Kür zu leben und das wirkliche Herzensanliegen zu verwirklichen. Das aber nehmen typischerweise auch all jene für sich in Anspruch, die in ihrer Torschlußpanik draußen alles verändern, nur um sich selbst nicht wirklich umstellen zu müssen. Die Richtungsumkehr wäre die größte und einzig befriedigende Umstellung in dieser Situation. Alles andere kann die Probleme nicht lösen.

Der Kandidat der Midlifecrisis wird so lange niedergeschlagen bleiben und keinen Sinn im Leben finden, bis er sich in der anstehenden Richtung orientiert. Alle bequem und oberflächlich angelegten Versuche werden seine Seele nicht befriedigen. Eine für Außenstehende besonders leicht durchschaubare Variante dazu bieten jene mittelalterlichen Männer, die zwar den Zug der Zeit spüren, aber das "Wenn-ihr-nicht-umkehrt-und-wie-die-Kinder-werdet" sehr materialistisch und bequem interpretieren. Sich in der Boutique mit junger Mode einzukleiden, Sportcoupé zu fahren und sich eine junge Freundin anzuschaffen, das läßt einen nur kindisch erscheinen und verrät, was für ein Kindskopf auf den alternden Schultern sitzt. Es löst aber nicht das Problem. Daß ein entsprechendes (Miß-)Verhältnis überhaupt eine Zeit lang funktioniert, liegt an den jungen Mädchen mit Vaterkomplex, die auf der Suche nach einem Vater-Partner auf die Angebote der von der Krise der Lebensmitte gebeutelten, grau melierten Herren hereinfallen. Es ist eine Art Geschäft, das entwicklungsmäßig für beide nicht die Lösung sein, aber manchmal über eine Enttäuschung einen Schritt weiterbringen kann. Die Mädchen lassen sich von den Herren zumeist finanziell aushalten und müssen diese dafür seelisch in ihrem pseudojugendlichen Selbstbestätigungstrip aushalten. Hier fördern die ungelösten Probleme einer früheren Phase das Steckenbleiben in einer späteren.

Dieselbe Aufführung mit vertauschten Rollen kommt, wenn auch seltener, ebenso vor. Eine Frau, die dieses Thema noch nicht genügend ausgelebt hat, mag in der Bedrohung durch die heraufdämmernden Wechseljahre die Lösung in einem jungen Freund sehen. Er mag ihr die Illusion vermitteln, sie selbst wäre wieder jung und hätte noch alles vor sich. Im Zeitalter der "Gleichberechtigung" wird der junge Freund für manche Frauenbewegte fast zur Pflicht nach dem Motto: "Was Männer machen, können wir schon lange." Vorgelebt von einigen Hollywoodstars, die es sich nicht leisten können, in Würde alt zu werden, weil sie zu wenig Inhalt und zu viel Äußerlichkeiten aufgebaut haben, bekommt dieses Muster sogar so etwas wie öffentliche Bestätigung.

Natürlich können auch Beziehungen zu viel jüngeren Partnern lichte Seiten haben, soweit seelische Erfüllung dabei ist und beide Seiten wirkliche Liebe erfahren. Sie könnten sogar dazu beitragen, bestehende Defizite im Bereich der Sinnlichkeit noch vor dem endgültigen Wechsel der Lebensrichtung auszugleichen. Problematisch ist nur die Illusion, dadurch wieder jung in einem tieferen Sinn zu werden.

Durch die unwiderruflichen körperlichen Veränderungen im Wechsel kann die Torschlußpanik besonders intensiv auftreten und Illusion und Wirklichkeit verschwimmen lassen. Früher holten sich Könige in dieser Situation Jungfrauen ins Bett in der trügerischen Hoffnung, deren Jugend könnte abfärben. Der wahnsinnige rumänische Diktator Ceauşescu setzte auf Infusionen mit dem Blut von Neugeborenen. Das "Wie-die-Kinder-Werden" meint natürlich nicht kindisch werden, sondern ist in geistig-seelischer Hinsicht gemeint und bezieht sich auf den Rückweg der Seele.

Was aber sind die Kriterien dieser reifen Kindlichkeit, die auch all jene Menschen ersehnen, die sich auf die Suche nach ihrem inneren Kind machen? In der Mythologie wird das Goldkind erwähnt, das in jedem Menschen lebt, und auch wir kennen den Ausdruck "goldige Kinder" für die ganz Kleinen. Christus spricht das Kind als Ziel unseres Lebens an. Wie schon bei den Kriterien des gereiften Erwachsenen ist auch das verwirklichte innere Kind nicht an Einzeleigenschaften zu erkennen, sondern eher an seiner seelischen Gesamtbefindlichkeit, und trotzdem können wir uns ihm nur stückweise über einzelne Eigenschaften nähern. Was mit der Forderung von Christus gemeint sein könnte, läßt sich bei dem Gedanken an die Liebenswürdigkeit kleiner Kinder erahnen.

Eigenschaften und Besonderheiten erlöster Kindlichkeit bei Kleinen und Großen:

  •       ihre Fähigkeit, im Moment zu leben,
  •       ihre Spontaneität,
  •       ihre bedingungslose Offenheit, ihr offenes Herz,
  •       ihre Vertrauensseligkeit,
  •       ihr Mut,
  •       ihre ungekünstelte Ehrlichkeit,
  •       ihre Lebensfreude bei allen Dingen,
  •       ihr In-sich-Ruhen,
  •       das Fehlen von Bewertung, Beurteilung und Verurteilung,
  •       ihre Fähigkeit, sich nicht von Äußerlichkeiten beeindrucken zu lassen,
  •       ihre Bereitschaft, bedingungslos zu wachsen,
  •       ihre Fähigkeit, allem Bedeutung zu geben, alle und alles zu verzaubern,
  •       ihre Bereitschaft, aus Freude zu lernen, nicht aus Pflichtgefühl,
  •       ihre Einfachheit und Unkompliziertheit,
  •       ihre Freude an Bewegung und Fluß, die Sandburg wird gleich wieder zerstört,
  •       ihre lebendigen Emotionen: kurz, heftig, schnell wechselnd,
  •       die Bereitschaft zu vergeben, jederzeit wieder gut zu sein,
  •       ihr Einssein mit jedem Spiel, ohne zu vergessen, daß es ein Spiel ist,
  •       ihr natürliches Verhältnis von Aktivität und Ruhe,
  •       ihre natürliche Verbundenheit mit dem Numinosen.

Depression

Die häufig in der Krise der Lebensmitte auftretende Depression ist in rasanter Zunahme begriffen. Statistiker wollen wissen, daß das Risiko für nach 1955 Geborene dreimal so hoch ist wie noch für deren Großeltern. Das Wort "Depression" heißt Unterdrückung und bezieht sich auf die Lebensenergien. Vitale Energien lassen sich auf Dauer aber nicht unterdrücken, sondern kehren zurück als Druck. Was man lange unterdrückt, bedrückt, was man lange verdrängt, bedrängt. So spielt im Gesamtbild der Depression die Aggression eine bedeutende Rolle. Von außen ist kaum noch marsische Vitalkraft bei den Betroffenen zu spüren, was daran liegt, daß sie diese Energie nach innen gegen sich selbst richten. Der nahe liegende therapeutische Schritt wäre, sie zur Wiederentdeckung ihrer vitalen Marsenergie zu bewegen. Es ist bereits ein Fortschritt, allerdings ein potenziell gefährlicher, wenn sie in einem ersten Schritt anfangen, diese aggressiven Kräfte nach außen zu richten. Denn bereits mit der Lenkung der Energie gegen sich selbst bringen sie sich ja schon weitgehend ums Leben; richten sie diese Ladung nach außen, wird das für andere unangenehm und unter Umständen sogar bedrohlich. Zum Glück gibt es die Chance, solche Energien in konstruktive Kräfte umzuwandeln und für den Lebensweg verfügbar zu machen. Im Fall der Depression in der Lebensmitte hieße das, sie für die mutige Umkehr und den anstehenden Rückweg mit seinen Herausforderungen zu nutzen.

Sehr wörtlich genommen könnte man aus dem Wort "Depression" auch "weg vom Druck" lesen. Die Depression drückt wie alle Krankheitsbilder das Richtige aus, sie erzwingt Entspannung und Loslassen auf der körperlichen und damit problematischen Ebene. "Weg vom Druck" ließe sich auch als Hinweis verstehen, sich umzuwenden in Richtung Mandalamitte, dorthin, wo keine Spannung, sondern die vollkommene Ruhe der Mitte ist. Auf dem Höhepunkt des Lebens, in der Peripherie des Mandalas, ist die Spannung der Polarität maximal. Wer Schätze angehäuft hat, lebt mit der (an)spannenden Aussicht, sie jeden Tag verlieren zu können. Will er das verhindern, muß er sich um ihre Verwaltung sorgen und in der polaren Welt verwurzelt bleiben. Während die Spannung in der Peripherie des Mandalas, auf der Höhe der Lebensunitte, maximal ist, tendiert sie zum Mittelpunkt hin gegen null. In diese Ruhe, fern aller Spannung, zurückzukehren ist unsere Bestimmung. Der Depressive zielt zwar auf Entspannung, aber auf problematische Weise, indem er unbewußt alle viere von sich streckt und (sich) hängen läßt. Tatsächlich läßt seine körperliche und seelische Spannkraft so nach, daß er manchmal keinerlei Antrieb und Lebensenergie mehr verspürt. Beim Versuch, ihm für medizinische Zwecke Blut abzunehmen, hat man oft kaum Erfolg, weil die Spannung seiner Venen so gering ist. Der Fluß der Lebenskraft kommt im Konkreten wie im Übertragenen fast zum Erliegen. Depression ist eine Art, sich tot zu stellen, ein nicht konkret ausgeführter Selbstmordversuch.

Die häufig mit der Depression einhergehenden Gedanken an den Tod sind wie jedes Symptom angemessen und auf ihre Art stimmig. Es gilt tatsächlich, den Blick auf den Tod, die nächste große "Lebenskrise", zu richten. Das aber würde schon die Umkehr voraussetzen. Insofern zwingen Selbstmordgedanken in die richtige Richtung und zum nächsten großen Thema. Allerdings wäre die Auseinandersetzung mit dem Tod auch in erlösteren Formen möglich, wie sich bei der Bearbeitung dieser letzten Krise noch zeigen wird.

Bei der Therapie der Depression ist darauf zu achten, welches der beiden Themen im Vordergrund steht. Ist es die Aggressionsunterdrückung, wird die Therapie auf die Herausforderung einer Explosion hinauslaufen. Geht es vorrangig um das Loslassen der inneren Spannung auf der seelischen anstatt auf der körperlichen Ebene, wäre eher auf eine Implosion hinzuarbeiten, bei der sich die Energien nach innen wenden. In jedem Fall aber steht eine Auseinandersetzung mit den Saturnthemen Tod und Reduktion auf das Wesentliche an.

Die schulmedizinische Unterdrückung der Problematik mit Psychopharmaka geht den einfachen allopathischen Weg, der aber nichts zum Lebensweg beiträgt, sondern im Gegenteil diesen behindert und manchmal sogar verhindert. Daß dem Menschen von der Depression der Lebensmitte der Antrieb genommen wird, ist zunächst völlig in Ordnung. Er bewegt sich mit zu viel Schwung in die falsche Richtung und muß gebremst werden, um überhaupt die notwendige Ruhe zur Besinnung auf sein Thema und seine Aufgabe zu finden. Daß er keine Lust mehr auf Gesellschaft und die üblichen Ablenkungen hat, ist jetzt ganz in Ordnung, denn eine gewisse Einsamkeit ist an der Zeit und angemessen. Ihm chemische Antriebssteigerung in Tablettenform zu verschreiben ist nicht in Ordnung und bringt den Betroffenen auch nicht schneller in (die) Ordnung (zurück), von heil machen ganz zu schweigen. Es wird sogar die Situation verschlechtern, da der Antrieb weiter in die falsche Richtung geht. Lebensgefährlich wird diese "Therapie", wenn die Energie in die an sich richtige Richtung "Tod" fließt und der Patient den chemisch induzierten Antrieb nutzt, um sich umzubringen. Wer A sagt, muß daher auch B sagen und zusätzlich zu den antriebssteigernden noch stimmungsaufhellende Mittel nehmen. Das aber bringt die Betroffenen weg von der notwendigen Auseinandersetzung mit dem Thema ihrer Sterblichkeit und ihrem letztendlichen Alleinsein. Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht verwunderlich, wenn Depressive ihre Mittel über unendlich lange Zeiten einnehmen sollen. "Aufgeschoben ist nicht aufgehoben", weiß bereits der Volksmund aus Erfahrung. Solange das hinter der Depression lauernde Thema unbearbeitet bleibt, wird es drücken und niederdrücken.

Das soll aber nicht heißen, daß die Psychopharmaka in jedem Fall ungeeignet sind. Oft können sie Leben retten und jemanden, der sich und sein niederdrückendes Thema einfach nicht mehr ertragen kann, vor dem Selbstmord bewahren. Nur heilen können sie eine Depression natürlich nicht. Manchmal, wenn der Symptomdruck unerträglich ist, kann es sogar hilfreich sein, sich unter Medikamentenschutz den niederdrückenden Themen psychotherapeutisch zu nähern.

Wie jedes Krankheitsbild hat aber auch die Depression ihre guten Seiten und lehrt wesentliche Lebensthemen. Man könnte sie als seelische Notbremse verstehen, die uns bremst, wenn die Fahrt zu schnell und in die falsche Richtung geht, die den Rückzug aus unangemessen gewordenen Situationen erzwingt und das grundsätzliche Alleinsein aufzeigt, uns auf existenzielle Weise mit uns selbst konfrontiert und mit dem Ziel unseres Lebens, dem Tod.

Häufig schaffen es erst Depressionen, das eigene Leben wieder in den Mittelpunkt zu rücken, indem sie eine Lösung vom Gefallzwang bewirken, Raum für Traurigkeit und Trauerarbeit schaffen, einem Zeit für sich selbst geben, in der einfach einmal nichts passieren muß.

Schließlich ist auch nicht zu vergessen, daß es ohne Abgründe keine Gipfel gäbe. Nicht nur das Wetter besteht aus Hoch- und Tiefdruckgebieten. Ein immer währendes Hoch würde die Erde auszehren, ein immer währendes Tief sie ertränken. So erzwingt das Hoch das nächste Tief, und das Tief bereitet das Hoch vor. Ein besonders langes Tief läßt vermuten, daß es der Ausgleich für ein ebenso überzogenes Hoch ist. Das Ideal liegt in der Mitte. Ab der Mitte des Lebens ist es unsere vorrangige Aufgabe, die Mitte in jeder Hinsicht – auch stimmungsmäßig – zu finden.

Involutionsdepression

Eine spätere Art ist die vom Namen her schon deutliche Involutionsdepression. Involution ist die im Alter natürliche Rückbildung im körperlichen Bereich. Es handelt sich also um die Depression der Rückbildungszeit, die dem anstehenden Thema Tod auch zeitlich noch näher steht. In der Kindheit und Jugend geht es vorwiegend um körperliches Wachstum, wobei natürlich auch seelisches und geistiges Wachsen stattfindet. Von der Adoleszenz bis zur Lebensmitte ist seelisches Wachstum das vorrangige Lebensthema, körperlich findet es nur noch bei Schwangerschaften und ansonsten auf weniger erfreulichen Nebenschauplätzen statt, wenn Warzen oder andere ungebetene Gewächse auftreten. Nach dem Wechsel geht es vorwiegend um geistiges Wachstum, das körperliche hört ganz auf und entwickelt allmählich sogar eine negative Bilanz. Jede der großen Phasen des Lebens beginnt also mit einer Art Geburt. Die erste Geburt bezieht sich vor allem auf den Körper, die zweite, die Pubertät, vorrangig auf die Seele, während die dritte mit den Wechseljahren auf geistiges Wachstum zielt.

Wenn bei der Involution im Alter weniger Gewebe nachgebildet wird als abstirbt und die körperliche Bilanz sich negativ entwickelt, wird das im Idealfall durch die zunehmend positive Bilanz in geistiger Hinsicht mehr als aufgewogen. Das geistige Wachstum hin zu Weisheit und Reife macht die Rückbildung körperlicher Strukturen unbedeutend. Körperliche Leistungsfähigkeit ist jetzt unwichtig, weil sie nur noch sehr begrenzt nötig ist. Nicht benutzte Muskeln bilden sich natürlich zurück. Nur wenn geistig nicht viel vorangeht, ist die körperliche Rückentwicklung bedrohlich. Ist der Körper das Einzige, was man hat und woran man sich hält, kann sein Abbau als Katastrophe erlebt werden. Die Psychose ist oft ein Fluchtversuch, zumeist aus einer als unerträglich erlebten Realität. Wenn man sich keine Hoffnung mehr machen kann, mit seiner Vorstellung des Lebens durchzukommen, und keine weitere Perspektive hat, bietet sich hier ein Ausweg in eine andere, auf den ersten Blick für die Betroffenen angenehmere Ebene.

Wer zum Beispiel versucht, sich und seiner Umwelt mit sportlichen Leistungen zu demonstrieren, daß das Alter über ihn keine Macht hat, wird in dieser Phase ebenso leicht Schiffbruch erleiden wie ein Mensch, der an keinerlei Weiterexistieren nach dem Tod glaubt. Wird die Bedrohung durch den körperlichen Abbau für die Betroffenen existenziell und haben sie keinen anderen Halt, kann das zum Auslöser für die unbewußte Flucht in Depression oder Psychose werden. Der Verfall des Körpers ist für alle Menschen Symbol für den grundsätzlichen Verfall des Materiellen, das aber bedroht vor allem Materialisten. Sinn der Involutionsdepression ist es also, die Vergänglichkeit des Materiellen bzw. des Körpers zu erkennen und Halt auf einer beständigeren Ebene zu finden. Sie zielt letztlich noch intensiver als die Depression der Lebensmitte auf das saturnine Prinzip der Reduktion, das nur noch Wesentliches gelten läßt wie die unsterbliche Seele und den zeitlosen (Heiligen) Geist.

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