Hannah Arendt

 

Hannah Arendt: Wahrheit und Lüge in der Politik

Überlegungen zu den Pentagon-Papieren

Es ist kein schöner Anblick,
wie die größte Supermacht der Welt
bei dem Versuch, eine winzige rückständige Nation
wegen einer heftig umstrittenen Sache
in die Knie zu zwingen,
wöchentlich tausend Nichtkombattanten
tötet oder schwer verwundet.
Robert S. McNamara

Wie so vieles in der Geschichte haben auch die Pentagon-Papiere verschiedenen Lesern Unterschiedliches zu sagen und verschiedene Lehren zu erteilen. Manche behaupten, sie hätten erst jetzt begriffen, daß Vietnam die logische Folge des Kalten Krieges oder des ideologischen Antikommunismus sei; andere sehen darin eine einzigartige Gelegenheit, etwas darüber zu erfahren, auf welche Weise eine Regierung ihre Entscheidungen trifft. Inzwischen sind sich aber die meisten einig, daß das fundamentale Problem, mit dem uns diese Papiere konfrontieren, das der Täuschung ist. Offensichtlich hat dieses Problem vor allem auch jene beschäftigt, welche die Pentagon-Papiere für die New York Times zusammengestellt haben. Auch ist es zumindest wahrscheinlich, daß dieses Problem für das Autoren-Team, das die siebenundvierzig Bände der ursprünglichen Studie geschrieben hat, von entscheidender Bedeutung gewesen ist. Die berühmte »Glaubwürdigkeitslücke « (credibility gap), die uns seit sechs Jahren vertraut ist, hat sich plötzlich in einen Abgrund verwandelt. Der Flugsand unwahrer Behauptungen aller Art, von Täuschungen und Selbsttäuschungen, benimmt dem Leser den Atem. Atemlos realisiert er, daß er es mit der Infrastruktur der amerikanischen Außen- und Innenpolitik während fast eines Jahrzehnts zu tun hat.

Weil man sich in den obersten Rängen der Regierung so ausschweifend der politischen Unwahrhaftigkeit ergeben hatte, und weil man infolgedessen zuließ, daß sich die Lüge in gleicher Weise überall im militärischen und zivilen staatlichen Apparat breit machte – die frisierten Zahlen der mit »Suchen und Vernichten« beauftragten Einheiten; die zurechtgemachten Erfolgs- und Verlustmeldungen der Luftwaffe; die »Fortschritte«, die Untergebene von der Front nach Washington meldeten, wohl wissend, daß ihre Leistungen nach ihren eigenen Berichten beurteilt würden –, gerät man leicht in die Versuchung, zu übertreiben und den geschichtlichen Hintergrund zu vergessen. Vor diesem Hintergrund jedoch, der ja auch nicht gerade einen makellosen Anblick bietet, muß man diese neueste Episode betrachten und beurteilen.

Geheimhaltung nämlich und Täuschung – was die Diplomaten Diskretion oder auch die arcana imperii, die Staatsgeheimnisse, nennen –, gezielte Irreführungen und blanke Lügen als legitime Mittel zur Erreichung politischer Zwecke kennen wir seit den Anfängen der überlieferten Geschichte. Wahrhaftigkeit zählte niemals zu den politischen Tugenden, und die Lüge galt immer als ein erlaubtes Mittel in der Politik. Wer über diesen Sachverhalt nachdenkt, kann sich nur wundern, wie wenig Aufmerksamkeit man ihm im Laufe unseres philosophischen und politischen Denkens gewidmet hat: einerseits im Hinblick auf das Wesen des Handelns und andererseits im Hinblick auf unsere Fähigkeit, in Gedanken und Worten Tatsachen abzuleugnen. Diese unsere aktive, aggressive Fähigkeit zu lügen unterscheidet sich auffallend von unserer passiven Anfälligkeit für Irrtümer, Illusionen, Gedächtnisfehler und all dem, was man dem Versagen unserer Sinnes- und Denkorgane anlasten kann.

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