Auszüge aus Rainer Roth's
"Nebensache Mensch"

Arbeitslosigkeit in Deutschland

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Vorwort

Im Februar 2003 waren 4,7 Millionen Menschen beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet. Für sie standen 390.000 offene Stellen bereit. Arbeitgeberverbände und Bundesregierung haben die Lösung:

  • Das Problem Arbeitslosigkeit muß durch die Senkung der Arbeitslosenunterstützungen angegangen werden. Dadurch sollen die 4,7 Millionen Arbeitslosen einen Anreiz bekommen, die 390.000 offenen Stellen zu besetzen.

  • Das Problem Arbeitslosigkeit muß ferner durch Lohnsenkungen angegangen werden. Dadurch sollen Unternehmen einen Anreiz bekommen, mehr Stellen anzubieten bzw. Arbeitslose einzustellen. Sind Löhne und Sozialleistungen nur niedrig genug, so die vorherrschende Meinung, kann die Arbeitslosigkeit beseitigt werden.

Die LohnarbeiterInnen, ob beschäftigt oder arbeitslos, wehren sich gegen die Senkung ihres Lebensstandards. Deshalb sehen die Manager aus Wirtschaft und Politik in ihnen die Ursache aller Probleme. Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland hat in den Augen der Herrschenden kläglich versagt. Der technische Fortschritt führt zu phantastischen Möglichkeiten, die Arbeitszeit zu verkürzen. Was sind die Gründe dafür, daß der technische Fortschritt wachsende Arbeitslosigkeit und Existenzunsicherheit hervorbringt? Der Reichtum, den die LohnarbeiterInnen erzeugen, wächst. Warum haben sie immer weniger davon? Wofür und für wen müssen sie Opfer bringen? Millionen LohnarbeiterInnen bringen täglich die Leistung, die von ihnen verlangt wird und noch mehr. Wieso kommt es dennoch zu gewaltigen Wirtschaftskrisen, in denen wieder abgebaut wird, was sie eben erst mit ihrer Energie und ihrer Kreativität aufgebaut haben.

Das Produkt vergangener Arbeit sind tausende Milliarden Euro an Kapital. Diejenigen, die das Kapital besitzen und/oder darüber verfügen, können unter Eid beschwören, daß sie mit dem Problem Arbeitslosigkeit nichts zu tun haben. Sie haben immer ein Alibi.

Sie klagen die LohnarbeiterInnen an, mit ihrer Anspruchsmentalität alle Probleme verursacht zu haben. Und insbesondere die Arbeitslosen selbst. Folglich sollen sie auch für das zahlen, was sie angerichtet haben.

Dieses Buch hat einen einzigen Zweck:

Es will nachweisen, daß nicht LohnarbeiterInnen und Arbeitslose für die Arbeitslosigkeit verantwortlich sind, sondern das Kapital. Und es will nachweisen, daß die Lösung des Problems nicht darin liegen kann, daß die LohnarbeiterInnen sich unter der Leitung von Gewerkschaftsfunktionären selbst bekämpfen.

Arbeitslosigkeit bedeutet eine ungeheuere Verschwendung menschlicher Energien. Die Wirtschaftsordnung, die solche Probleme erzeugt, steht selbst auf dem Prüfstand.

Die Zusammenhänge, in denen die Arbeitslosigkeit steht, sind hochkompliziert. Mit dem Buch versuche ich, ein Raster zu entwickeln, in das die ungeheuere Flut der Informationen eingeordnet werden kann.

Die Teile I bis III bauen zwar aufeinander auf. Dennoch ist jedes Kapitel wiederum in sich abgeschlossen. Sie können deshalb an jeder beliebigen Stelle, die Sie interessiert, anfangen zu lesen.

Über das Stichwortverzeichnis und das Inhaltsverzeichnis können Sie sich die Punkte heraussuchen, die Sie besonders interessieren.

Das Buch soll dazu beitragen, daß die LohnarbeiterInnen, ob beschäftigt oder arbeitslos, sich ein Bild machen können. Auf sie kommt es letztlich an. Das Buch soll dazu beitragen, Selbstbewußtsein und Selbstachtung zu behalten und Kraft zu gewinnen. Menschen sind keine Nebensache. Sie müssten im Mittelpunkt stehen.

...

Arbeitslose und LohnarbeiterInnen sind nicht das Problem

Jeder Dritte innerhalb eines Jahres arbeitslos

In allen entwickelten Industrieländern liegt die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit über dem Stand von 1970.

In Westdeutschland ist sie von 150.000 Personen im Jahre 1970 auf 2,5 Millionen im Jahre 2001 angewachsen, 17 mal so viel wie 30 Jahre vorher. In Gesamtdeutschland waren im Jahr 2001 rund 4 Millionen Menschen beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet.

4 Millionen Arbeitslose: Das ist nur eine statistische Durchschnittszahl. Sie bedeutet: In jedem Monat des Jahres 2001 waren durchschnittlich 4 Millionen Personen arbeitslos. Hinter der gleichen Durchschnittszahl verbergen sich ständig wechselnde Personen. Insgesamt waren im Laufe des Jahres 2001 9,5 Millionen verschiedene Personen bei den Arbeitsämtern arbeitslos gemeldet, etwa 2½ mal mehr als die offizielle Arbeitslosenzahl. Etwa jeder vierte Lohnabhängige war in diesem Jahr arbeitslos gemeldet.

Zahlreiche Menschen sind arbeitslos, ohne als solche gemeldet zu sein. Sie sind zu finden unter denjenigen, die

  • ohne Arbeitsamt Arbeit suchen oder die Suche zeitweise oder dauernd aufgegeben haben.
  • arbeitslos und z.Zt. wegen Krankheit arbeitsunfähig sind (rund 1,2 Millionen Personen),
  • in Umschulungen, Fortbildungen oder Beschäftigungsmaßnahmen stecken~ deren Arbeitslosigkeit also nur vorübergehend unterbrochen ist (0,7 Mio. Personen),
  • arbeitslos gemeldet waren, versäumt haben, sich erneut zu melden und deswegen aus der Liste gestrichen wurden (1 Mio. Menschen),
  • nur geringfügig beschäftigt sind d.h. weniger als 15 Stunden wöchentlich arbeiten,
  • nach Schule oder Studium eine Ausbildungsstelle suchen (ca. 740.000 BewerberInnen),
  • wegen Arbeitslosigkeit in den Vorruhestand oder in die Altersrente ab 60 abgedrängt worden sind,
  • in Haft sind oder
  • als Ausländer keine Arbeitserlaubnis erhalten.

Man nennt sie die "Stille Reserve". Die Stille Reserve wird teilweise ebenfalls erfaßt. Z. B. sind AusbildungsplatzbewerberInnen, kranke Arbeitslose, wegen Arbeitslosigkeit in Rente Geschickte usw. nicht in der offiziellen Stillen Reserve enthalten. Offiziell umfaßte die Stille Reserve im Jahr 2001 1,914 Mio. Personen.

Auch in der Stillen Reserve gibt es eine hohe Fluktuation. Die Hälfte aller Stellen, die in einem Jahr neu besetzt werden, wird nicht von registrierten Arbeitslosen eingenommen, sondern von nicht-registrierten Arbeitslosen aus der Stillen Reserve.

Wir können also davon ausgehen, daß diejenigen, die zur Stillen Reserve zählen, erheblich mehr sind als zwei Millionen.

Insgesamt dürften heute also etwa ein Drittel derjenigen, die als abhängig Beschäftigte arbeiten müssen, innerhalb eines Jahres über kürzere oder längere Zeit arbeitslos sein.

Wer ist dafür verantwortlich?

Hinter den dürren Arbeitslosenzahlen verbergen sich gescheiterte Pläne und enttäuschte Hoffnungen von Millionen Menschen.

Aber ob es Jugendliche sind, die den Einstieg ins Berufsleben nicht finden, Ältere, die plötzlich zum alten Eisen gehören, Frauen, die mit der Doppelbelastung Familie und Beruf kämpfen, ob es Einwanderer sind oder Berufstätige in der Mitte ihres Lebens: meistens hängen sie davon ab, daß ihre Arbeitskraft einen Käufer findet. Sie arbeiten gegen Lohn, sie sind LohnarbeiterInnen. Sie haben als Arbeitskräfte keinen Käufer mehr gefunden.

Die Käufer haben tausend Gründe, warum sie Arbeitskräfte nicht einstellen. Alle laufen sie auf eines hinaus: Arbeitskräfte, die sie nicht gekauft haben, haben Mängel, und sie strengen sich nicht genügend an, diese Mängel zu beheben. Faul, zu unqualifiziert, zu teuer, zu wenig mobil, zu alt, zu jung, zu unflexibel usw. Die LohnarbeiterInnen genügen den Ansprüchen des Kapitals nicht. Sie sind an ihrer Arbeitslosigkeit selbst schuld.

Doch die Anklage fällt auf das Kapital selbst zurück. Ob LohnarbeiterInnen einen Käufer für ihre Ware Arbeitskraft finden, hängt davon ab, ob sie genug Profit erarbeiten können.

Alle diejenigen, die nicht genug Profit abwerfen, stehen auf der Abschußliste. Aus diesen Gründen sind Jugendliche, Frauen, Ältere ab 50, Behinderte und Ungelernte überdurchschnittlich arbeitslos.

Aus diesen Gründen bedroht das Kapital Arbeitskräfte mit Arbeitslosigkeit, wenn sie einen Preis für ihre Ware Arbeitskraft, d.h. einen Lohn erzielen wollen, von dem sie halbwegs anständig leben können.

Die Ursache der Arbeitslosigkeit liegt letztlich darin, daß LohnarbeiterInnen nur beschäftigt werden, wenn sie dem Kapital genügend Profit einbringen. Menschen und ihre reichen Möglichkeiten sind Nebensache. Die Verwertung des Kapitals ist die Hauptsache. Das Kamel der menschlichen Arbeitskraft muß durch das Nadelöhr des privaten Profits getrieben werden – oder es bleibt hängen.

Damit beschäftigt sich der erste Teil des Buches.

Zu faul zu arbeiten?

"Viele Arbeitslose sind faul"

Das ist das Erste, was den Meisten zum Thema Arbeitslosigkeit einfällt. Zwei Drittel der Westdeutschen meinen das, so eine Meinungsumfrage des Allensbach-Instituts. Zwischen 1975 und 1981 meinten das erst gut die Hälfte der Befragten. Da angeblich jeder arbeiten kann, wenn er nur will, sind alle Arbeitslosen verdächtig, nicht arbeiten zu wollen.

Dafür, daß bei Arbeitslosigkeit zuerst an Faulheit gedacht wird, sorgen die Manager aus Wirtschaft und Politik sowie die Medien.

Heute haben wir einen riesigen Sockel an Arbeitslosengeld- und Sozialhilfeempfängern, die sich in der sozialen Hängematte ausruhen.

So der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) Ludwig Braun. Der DIHK ist die Dachorganisation der Industrie- und Handelskammern, in denen alle Unternehmen Zwangsmitglied sind. Die Meinung der jeweiligen Regierungsparteien stimmt auf wundersame Weise mit der Meinung der Arbeitgeberverbände überein. BILD fragte Kanzler Schröder:

Es gibt 4 Millionen Arbeitslose und fast 600.000 offene Stellen. Was stimmt da auf dem Arbeitsmarkt nicht?

Er antwortete:

Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.

Wenn sich also sieben Arbeitslose auf eine offene Stelle bewerben und sechs keine bekommen, leuchtet es ein, daß sich die sechs Übriggebliebenen der Faulheit verdächtig machen. Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie überhaupt arbeiten wollen.

Mächtige Medienkonzerne von Bertelsmann bis Springer verbreiten die Einheitsmeinung auf allen Kanälen. Sie schüren die Empörung über Faulenzer und verdienen damit Geld.

Man wundert sich

Arbeitsunwilligkeit ist das Hauptthema, wenn von Arbeitslosigkeit die Rede ist.

Das kann einen nur wundern, denn:

  • 50% der Arbeitslosen waren vorher gar nicht erwerbstätig. Sie melden sich also arbeitslos, weil sie arbeiten wollen.
  • Die andere Hälfte der Arbeitslosen war vorher erwerbstätig. Sie wurden nicht deshalb arbeitslos, weil sie keine Lust mehr hatten zu arbeiten, sondern weil das Kapital keine Lust mehr hatte, sie zu beschäftigen. 92% von ihnen sind entlassen worden, nur 8% haben selbst gekündigt.
  • Im Jahr 2001 beendeten rund 6,9 Millionen "faulenzende" Arbeitslose ihre Arbeitslosigkeit. Die Hälfte ging wieder arbeiten. Die anderen waren arbeitsunfähig, gingen in Rente oder zogen sich in die Nicht-Erwerbstätigkeit zurück.
  • 61% der Arbeitslosen waren im April 2001 nach 6 Monaten nicht mehr arbeitslos gemeldet.
  • Durchschnittlich bleiben Arbeitslose im Westen sieben und im Osten etwa neun Monate arbeitslos.
  • Diejenigen, die ausscheiden, weil sie eine Stelle finden, sind im Durchschnitt nur 5,7 Monate arbeitslos. Arbeitslose, die schwerbehindert sind, gesundheitliche Einschränkungen haben oder über 50 Jahre alt sind, bleiben doppelt so lange arbeitslos wie der Durchschnitt derer, die Arbeit finden.
  • 80% der Arbeitslosen finden nicht mit Hilfe des Arbeitsamts eine Stelle, sondern über Freunde/Bekannte oder über Stellenanzeigen. Arbeitslose, die sich selbst Arbeit suchen, finden im Durchschnitt nach 4,6 Monaten eine Stelle. Arbeitslose, die durch das Arbeitsamt vermittelt werden, nach 6,5 Monaten.
  • 2001 wurden den insgesamt 9,5 Millionen Menschen, die im Laufe dieses Jahres arbeitslos waren, von den Arbeitsämtern insgesamt 3,7 Millionen offene Stellen angeboten. Offene Stellen wurden im Durchschnitt nach 55 Tagen, d.h. acht Wochen besetzt.
  • Im Jahr 2001 gab es im Jahresdurchschnitt 500.000 offene Stellen, die bei Arbeitsämtern gemeldet waren. Unternehmen boten angeblich weitere 850.000 Stellen an, ohne das Arbeitsamt einzuschalten. Das kann niemand überprüfen. 2002 boten die Arbeitsämter noch 325.000 offene Stellen an, die Unternehmen nur noch weitere 450.000. (FTD 10.01.2003, 31)
  • Die Zahl der offenen Stellen war am höchsten, als die Arbeitslosigkeit am niedrigsten war, nämlich 1970. Mit steigender Arbeitslosigkeit nimmt relativ dazu die Zahl der offenen Stellen ab. (Datenreport 2002, Bonn 2002,97) Angesichts der ungeheuren Fluktuation, mit der Menschen arbeitslos werden und Arbeit finden, ist es eine schwere Beleidigung für Arbeitslose, sie allgemein als Faulenzer abzuwerten.

"Wer nicht oder nicht intensiv genug Arbeit sucht, ist faul"

Wie kann man überhaupt feststellen, ob jemand faul ist?

Ganz einfach. Man fragt ihn, ob er Arbeit sucht. Arbeitgeber und Medien sagen: Wer keine Arbeit sucht oder nur mit wenig Energie Arbeit sucht, ist nicht arbeitslos.

Der Stern rechnet nur 50% der Arbeitslosen zu den "echten Arbeitslosen". Quelle dafür ist eine repräsentative Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts infas, das 20.000 Arbeitslose befragte, die beim Arbeitsamt gemeldet sind oder waren. Nur 50% der befragten Arbeitslosen suchten mit hoher Aktivität. Die anderen suchten nicht oder kaum.

27 % der Arbeitslosen suchen keine Arbeit

Hochgerechnet auf 4 Millionen Arbeitslose sind das etwa 1,1 Millionen Faulenzer. Ganz schön viele.

Wer sind diese "Faulenzer"?

  • Es sind Ältere über 50 Jahre (15%). Sie sind überwiegend Männer, im Durchschnitt 57 Jahre alt. Sie sind meist nach jahrzehntelanger Erwerbstätigkeit zum ersten Mal arbeitslos geworden. Viele Betriebe kehren die Älteren in die Arbeitslosigkeit aus. Rund 225.000 Arbeitslose sind 58 Jahre und älter und brauchen gar keine Arbeit mehr zu suchen. Sie haben sich nämlich verpflichtet, in vorzeitige Rente ab 60 zu gehen, wenn sie dadurch keine Nachteile haben. Wieder andere sind von ihren Betrieben mit Abfindungen entlassen worden, die mit Arbeitslosengeld bis zum Beginn der Rente mit 60 Jahren aufgestockt werden.

Die Arbeitslosenrenten haben seit der Krise 1993 sprunghaft zugenommen. Allein im Jahr 2000 sind 320.000 Arbeitslose aus der Arbeitslosigkeit in Rente gegangen. Die Hälfte aller Rentenzugänge von Männern entfiel in diesem Jahr auf die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit. (einblick 10/02,5) Das Arbeitsleben aber war für viele von ihnen schon zu Ende, als sie noch arbeitslos waren. Was hat Warten auf die Rente mit Faulheit zu tun? Andere ältere Arbeitskräfte wiederum haben längere Zeit Arbeit gesucht. Keiner wollte sie. Altersgerechte Arbeitsplätze gibt es immer weniger. Sie haben die Suche aufgegeben, weil sie ihre Zeit nicht sinnlos verschwenden wollten.

  • Es sind Arbeitslose, die schon Arbeit haben. (5%), Arbeitslose, die eine Stelle gefunden haben, können sie oft nicht sofort antreten. Sie müssen aber die Zeit bis zum Arbeits- oder Ausbildungsbeginn irgendwie überbrücken. Was hat Warten auf den Arbeitsbeginn mit Faulheit zu tun?

  • Der Rest der "Faulenzer" (7%) entfällt auf

1.    Frauen, die Kinder erziehen. Sie suchen keine Stelle, weil sie Kinder erziehen, einen Familienangehörigen pflegen oder schwanger sind. Das haben sie allerdings dem Arbeitsamt nicht angegeben. Denn Frauen, die wegen Kindererziehung oder Pflege nicht arbeiten können, sind eigentlich nicht vermittlungsfähig und haben deshalb keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung. Wovon sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, wenn sie Kinder erziehen oder Angehörige pflegen, interessiert niemanden. Die Frauen aber wohl. Ihre Bedürfnisse werden von der Gesellschaft vernachlässigt. Sie existieren trotzdem und setzen sich in der verrückten Form der Arbeitslosenunterstützung für kinderziehende und pflegende Frauen durch.

2.    Jugendliche, die die Zeit zwischen Schule und Wehrdienst/Zivildienst (bzw. Ausbildung oder Studium) überbrücken. Sie wollen sich ihren Kindergeldanspruch erhalten. Für sie hat man den Begriff "Kindergeldarbeitslose" erfunden. Aber sie müssen sich auch arbeitslos melden, wenn sie ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld nach Beendigung des Wehr- oder Zivildienstes nicht verlieren wollen.

3.    Arbeitslose, die wegen Krankheit keine Stelle suchen. Ein Teil der Arbeitslosen ist gesundheitlich so angeschlagen, daß sie sich für arbeitsunfähig oder nur für beschränkt arbeitsfähig halten. Das zuzugeben, könnte aber zu einer Kürzung des Arbeitslosengeldes oder zu einer Beendigung des Anspruchs führen. Wer weder krankgeschrieben wird, noch als erwerbsunfähig in Rente gehen kann, sitzt zwischen Baum und Borke und muß sehen, wie er sich durchlaviert.

22 % der Arbeitslosen suchen nicht intensiv genug Arbeit

20% suchen nur mit mittlerer Aktivität. 2% suchen kaum. Sind hier die Faulenzer zu finden?

Forscher der Bundesanstalt für Arbeit über die, die wenig suchen:

Die Wahrscheinlichkeit, die Arbeitslosigkeit wieder in Richtung des ersten Arbeitsmarkts zu verlassen, hängt in hohem Maße vom Alter der Betroffenen ab. Im Zusammenwirken mit weiteren Faktoren wie Gesundheit und Bildungsniveau können schnell Konstellationen (Umstände) entstehen, die eine Eingliederung sehr schwierig machen. Dieses Manko (Nachteil) läßt sich auch durch ein hohes Engagement bei der Suche nach einer neuen Stelle oft nicht kompensieren (ausgleichen).

Auch hier ist also wieder das Alter entscheidend. Arbeitslosen Faulheit zu unterstellen, die von Unternehmen nicht mehr gebraucht werden, ist Menschenverachtung.

Wer suchet, der findet, heißt es. Aber wer nichts findet, warum soll der noch intensiv suchen?

Die Arbeitsmarktforscher meinen:

Die mangelnde Initiative bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz ist häufig auf die bereits länger andauernde Arbeitslosigkeitsphase zurückzuführen.

Ab einem Alter von 55 Jahren sind aber mehr als die Hälfte der Arbeitslosen schon länger als ein Jahr arbeitslos, bevor sie eine Stelle finden.

Die wachsende Dauer der Arbeitslosigkeit ist kein Zeichen für wachsende Faulheit, sondern für das wachsende Desinteresse des Kapitals nach solchen Arbeitskräften.

Zu den Arbeitslosen, die die Suche fast völlig aufgegeben haben oder nur pro forma suchen, gehören auch Personen, die dabei sind, sich selbständig zu machen, aber aus den Erträgen der Selbständigkeit ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können.

Es gehören Personen dazu, die aufgrund ihrer Erfahrungen in Betrieben keine Lohnarbeit mehr machen wollen, aber politisch oder gesellschaftlich aktiv sind.

Es gehören Personen dazu, die ihren Lebensunterhalt aus illegalen Quellen bestreiten (Kriminalität, Drogenhandel usw.), aber keine regelmäßigen Einnahmen daraus haben.
Oder ganz einfache solche, die keinen Bock darauf haben, für andere zu arbeiten, und sich irgendwie durchschlagen.

Auch Arbeitslose, die keine Arbeit suchen, sind arbeitslos

Bislang gilt in Deutschland als arbeitslos, wer beim Arbeitsamt gemeldet ist, weniger als 15 Stunden in der Woche arbeitet und der Vermittlung zur Verfügung steht. (Leitfaden für Arbeitslose, Frankfurt 2002, 77) In der Europäischen Union gelten aber wie in den USA nur die als arbeitslos, die gar kein Arbeitseinkommen haben und aktiv Arbeit suchen. (Statistisches Jahrbuch 2002, 98) Unabhängig davon, ob sie sich beim Arbeitsamt gemeldet haben oder nicht. Die Arbeitslosenzahl wird durch Hochrechnungen von repräsentativen Umfragen berechnet. Nach dieser neuen Berechnung gab es 2001 nur noch 3,1 Mio. Arbeitslose, statt 3,9 Millionen. (ebda., 120) Das sind wunderbare Siege im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.

Je mehr Arbeitslose es gibt, desto größer wird das Interesse, das Ausmaß der Arbeitslosigkeit unter den Teppich zu kehren. Man macht sie statistisch einfach von der Arbeitswilligkeit abhängig.

Entmutigung? Zählt nicht! Hoffnung verlieren? Gibt’s nicht! Warten auf Rente, Arbeit, Studium? Ist nicht! Alt werden? Angeschlagen sein? Macht nichts!

Muß es nicht Entmutigung und sinkende Hoffnungen geben, wenn es erheblich mehr Arbeitslose gibt als offene Stellen? Entmutigung beendet die Arbeitslosigkeit nicht. Arbeitslosigkeit existiert unabhängig davon, ob man Arbeit sucht oder nicht.

Wohnungslose, die alle Hoffnungen aufgegeben haben und keine Wohnung mehr suchen, sind trotzdem wohnungslos.

Menschen, die nicht mehr leben wollen, zählen trotzdem noch zu den Lebenden.

Wer eine offene Stelle nicht annimmt, ist faul?

Die meisten offenen Stellen gibt es im Westen. BILD fragte den Präsidenten des DIHK (Deutschen Industrie- und Handelskammertages), Ludwig Braun: "Herr Braun, sind Wessis fauler als Ossis?" Braun antwortete:

Wenn ein Arbeitsloser nicht jede zumutbare Arbeit annimmt, lebt er auf Kosten anderer – egal, ob er aus Ost- oder Westdeutschland kommt.

Wer also eine offene Stelle ablehnt, obwohl die Arbeit zumutbar war, ist ein fauler Schmarotzer. Warum aber nehmen Arbeitslose offene Stellen nicht an?

Arbeitslose wollen nicht für Löhne arbeiten, die unter dem Existenzminimum liegen

Ab einem halben Jahr Bezug ist ein Nettolohn in Höhe der Arbeitslosenunterstützung zumutbar, allerdings erst nach Abzug der Werbungskosten, d.h. vor allem der Fahrtkosten zur Arbeit. (§ 121 Absatz 3 Sozialgesetzbuch III) Im Jahr 2001 lag das durchschnittliche Arbeitslosengeld für einen unverheirateten Mann im Westen bei 1.412 DM, für eine unverheiratete Frau bei 1.247 DM. Die durchschnittliche Arbeitslosenhilfe für unverheiratete Männer bei 1.072 DM und unverheiratete Frauen bei 941 DM. Durchschnitt bedeutet: zahlreiche Arbeitslose hatten weniger.

Plus Fahrtkosten von rund 100 DM wären also im Durchschnitt Nettolöhne zwischen 1.000 und 1.350 DM für Frauen und 1.150 – 1.500 DM für Männer zumutbar. Das Sozialhilfe-Existenzminimum alleinstehender Erwerbstätiger lag nach Angaben der Bundesregierung aber im Jahr 2000 schon bei 1.705 DM netto. Millionen Arbeitslosen soll es zumutbar sein, zu Löhnen weit unterhalb des Existenzminimums zu arbeiten. Weil das eine Zumutung ist, halten sie ihre Arbeitskraft zurück. Sie wollen Arbeit nicht, die sie von Sozialhilfe abhängig macht. Oder die sie zwingt, immer länger zu arbeiten, damit sie über die Runden kommen können. Je niedriger die Löhne sind, desto mehr wird die "Arbeitsbereitschaft" sinken und die "Faulheit" steigen. Lohnsenkungen fördern also die "Faulheit".

Die größte und schwierigste Gruppe bleiben (...) Arbeitslose, die prinzipiell jeden Job annehmen müßten, für die nach der Definition der Arbeitsverwaltung selbst die stumpfsinnigste Tätigkeit "zumutbar" ist, vorausgesetzt, der Stundenlohn liegt bei 12,50 DM. Brutto.

Bei 37 Stunden wöchentlich macht das 2.000 DM brutto oder rund 1.500 DM netto.

Arbeitslose versuchen, sich der Arbeit für Armutslöhne solange wie möglich zu entziehen. Sie sträuben sich, verzögern, sagen zu und kommen nicht, lehnen Arbeitsangebote ab, lassen sich krankschreiben, kooperieren wenig usw. Rolf Winkel, ein Fachjournalist für Fragen der Arbeitslosigkeit, stellte deshalb fest, daß "Skepsis, Argwohn und Vorsicht (...) das Verhältnis vieler zum Arbeitsamt prägen". (einblick 15/01, 7)

Beispiel: Herr Joeres, Geschäftsführer der Personal- und Unternehmensberatung Media Forum, vermittelt für das Duisburger Arbeitsamt Langzeitarbeitslose. Er fragt Frau Heger, 34 Jahre, arbeitslose Verkäuferin:

"Bestückerinnen wurden doch gesucht, von einem Personalservice. Warum haben Sie den Arbeitsvertrag nicht unterschrieben ?"

"Weiß nicht. Ist wohl was schiefgelaufen bei denen."

"Mit wem haben Sie gesprochen? Den rufen wir gleich an. Gleich hier."

"Die haben gesagt: 13 DM die Stunde. Ich habe gesagt: nicht unter 14. Darunter nicht."

"Sie kennen doch den Plus-Lohn. Wir zahlen etwa fünf Mark brutto pro Stunde dazu." Er tippt Zahlen in den Taschenrechner. "Mit Plus-Lohn bekämen sie 2.250 Mark ausgezahlt." (Plus-Lohn wird in Duisburg für ein Jahr gezahlt.)

Karin Heger schüttelt den Kopf. "Vorher hatte ich mehr: 2.458."

"Das ist unser letzter Versuch. Sie müssen eine Stelle annehmen. Melden Sie sich übermorgen wieder."

Arbeitsämter (und Sozialämter) können Zahlungen einstellen, wenn sich Arbeitslose weigern, zu Armutslöhnen zu arbeiten.

Wie man von Armutslöhnen leben kann, interessiert weder die Behörden noch die Arbeitgeber. Diejenigen, die nichts haben, außer ihrer Arbeitskraft, müssen sich aber dafür interessieren. Und das tun sie auch. Zum Leidwesen der Unternehmer.

Arbeitslose wollen nicht unter ihrer Qualifikation arbeiten

"Jede Arbeit ist besser als keine", ist die Botschaft an die Arbeitslosen. (BILD 07.08.2001) Egal ob für zehn oder für vier Euro die Stunde und egal mit welcher Qualifikation. So reden die, die so reich sind, daß sie überhaupt nicht mehr arbeiten müssen. Für Arbeitslose gilt seit 1997:

Eine Beschäftigung ist nicht schon deshalb unzumutbar, weil sie (...) nicht zum Kreis der Beschäftigungen gehört, für die der Arbeitnehmer ausgebildet ist oder die er bisher ausgeübt hat. (§ 121 Abs. 5, Sozialgesetzbuch - SGB III)

Auf Deutsch: Arbeitslose, die vom Arbeitsamt Geld beziehen, müssen jede Arbeit annehmen, unabhängig davon, wie qualifiziert sie sind. Für Arbeitslose, die Sozialhilfe beziehen, hat noch nie etwas anderes gegolten.

Das erzeugt massive Probleme. Denn 62,1% der Langzeitarbeitslosen (Arbeitslose, die ohne Unterbrechung länger als ein Jahr arbeitslos sind) hatten Ende September 2001 eine abgeschlossene Berufsausbildung. Ebenfalls 52,5% der arbeitslosen SozialhilfebezieherInnen. Ende der 80er Jahre waren es erst 45%.

Je höher der Ausbildungsstand, desto zäher ist der Abwehrkampf der Arbeitslosen gegen ihre Abstufung.

Die Ablehnung eines Stellenangebots ist der Tendenz nach (...) kein Zeichen mangelnder Arbeitsbereitschaft, sondern Ausdruck eines gewissen Selbstbewußtseins der Arbeitslosen mit eher guten Beschäftigungschancen.

So das Ergebnis einer empirischen Studie, die feststellte, daß Arbeitslose, die Stellen abgelehnt hatten, in höherem Maße Beschäftigung aufnahmen, als solche, die nichts ablehnten.

Nicht unterhalb der Qualifikation arbeiten zu wollen, ist zugleich auch Widerstand gegen Lohnsenkungen. Denn qualifizierte Arbeit bringt mehr Geld. Auch im Fall einer erneuten Arbeitslosigkeit. Höhere Löhne bringen auch mehr Rente. Der Widerstand gegen unterqualifizierte Arbeit dient auch der privaten Vorsorge für’s Alter. Arbeit unterhalb der Qualifikation entwertet die Investitionen in die eigene Arbeitskraft. Neben der Lohnhöhe ist das Bedürfnis, die Qualifikation zu erhalten, der wichtigste Grund, Stellenangebote abzulehnen. Was hat das mit Faulheit zu tun?

Beispiel: Kai Bartels, 34 Jahre, seit vier Jahren arbeitslos, früher Möbelbauer, dann Umschulung zum Abfallentsorger.

"Geben Sie mir einen Job als Ver- und Entsorger, dann sehen Sie mich nie wieder."

"Herr Bartels, ich kann Ihnen keine Arbeit bei der Müllabfuhr vermitteln. Ich habe andere Angebote."

"Die haben mich verarscht beim Arbeitsamt. Zwei Jahre Umschulung, Quali für Sondermüll, Quali für Schadstoffe, jetzt kann ich mir mit den Qualis den Hintern abwischen."

"Wie wär’s mit Lagerhelfer?"

"Darf ich nicht. Hab ein Attest, keine Überkopfarbeit. Ich war früher Langstreckenläufer. Mein Rücken ist kaputt."

"Fischgroßhandel im Hafen?"

"Darf ich auch nicht. Wenn Sie mir aber was als Ver- und Entsorger beschaffen, versuche ich, das Attest zu kaschieren." Er redet hastig, doch geordnet und bestimmt.

"Herr Bartels, Sie sind zu lange arbeitslos, als daß Sie sich auf den Entsorger festlegen könnten."

Wenn Kai Bartels sich nicht im Fischgroßhandel betätigen will, lehnt er zumutbare Arbeit ab und gilt bei Arbeitgeber-Funktionären wie Ludwig Braun und natürlich auch bei Fischgroßhändlern als faul.

Wer unter dem Druck des Arbeitsamt nicht vermeiden konnte, sich zu Löhnen unter dem Existenzminimum und unter Qualifikation zu verkaufen, fängt widerwillig irgendwo an und nutzt die erstbeste Gelegenheit zum Absprung. Dann gilt man bei den Chefs natürlich erst recht als jemand, der keinen Bock auf Arbeit hat.

Ursächlich für die abnehmende Vermittlungsquote von Arbeitslosen ist nach Bekunden von Unternehmern deren häufig mangelnde Arbeitsmotivation sowie unzureichende Vermittelbarkeit. Vier Fünftel stuften fehlende Arbeitsmotivation der Arbeitslosen als wichtigstes Einstellungshemmnis ein. Dies zeige sich u.a. darin, daß Arbeitslose Arbeitsangebote ablehnten bzw. nach kurzer Zeit aus dem Arbeitsverhältnis wieder ausschieden.

Auf die Idee, daß die mangelnde Motivation mit den Unternehmen selbst zusammenhängt, können die Chefs nicht kommen. Sie können den Standpunkt der LohnarbeiterInnen, von deren Arbeit sie leben, weder verstehen noch billigen. Wer nicht bereit ist, zu den Bedingungen des Kapitals zu arbeiten, erscheint seinen Vertretern als faul oder ziviler ausgedrückt: Dem fehlt offensichtlich die Motivation zu arbeiten. Das Faulheitsgerede entsteht nicht an bierseligen, dumpfen Stammtischen, sondern in den kühlen Chefetagen. Es verbreitet sich von da aus über die Sprachrohre der Medienkonzerne und der führenden Politiker und gibt den Stammtischen Nahrung.

Spargelbauern und Gastronomen suchen verzweifelt Arbeitskräfte und finden sie nicht

Beide Bereiche sind typisch für niedrige Löhne und geringe Qualifikationsanforderungen. Und das alles bieten sie auch nur zeitweise. Die Begeisterung, solche Stellen anzunehmen, hält sich deswegen stark in Grenzen.

Jährlich werden "etwa eine Million Sondergenehmigungen für vorübergehend in Deutschland arbeitende Nicht-EU-Ausländer erteilt, weil für bestimmte Arbeitsplätze, z.B. in der Landwirtschaft oder der Gastronomie, keine Deutschen (...) zur Verfügung stehen. Nähmen Deutsche auch nur einen Teil dieser Arbeitsplätze ein, würde die Arbeitslosenquote weiter sinken." Viele Arbeitslose bräuchten also nicht arbeitslos zu sein, wenn sie nur nicht zu faul wären, Spargel zu stechen oder zu kellnern.

  • Saisonarbeiten wie Spargelernte, Erdbeerernte usw. In der Erntesaison brauchen Landwirte Zehntausende von Erntehelfern. Der Arbeitskräftebedarf wird überwiegend durch Saisonarbeitskräfte aus dem Ausland befriedigt, vor allem aus Polen.

Arbeitsminister Blüm (CDU) reduzierte 1998 die 200.000 Aufenthaltsgenehmigungen für ausländische SaisonarbeiterInnen um 20.000. Landwirte mußten 15% ihres Arbeitskräftebedarfs über die Einstellung von Arbeitslosen decken.

Nach einer Umfrage des Bauernverbandes erschienen von 3.200 Arbeitslosen, die zu einem Vorstellungsgespräch zwecks Saisonarbeit eingeladen worden waren, rund 2.000. Knapp unter 1.000 wurden als geeignet eingestellt. Davon traten 800 die Arbeit an. Von den 800 gaben 200 innerhalb einer Woche, ein weiteres Viertel innerhalb von zwei Wochen die Arbeit auf. Übrig blieben am Ende 292 für die Betriebe brauchbare Kräfte.

Woran hat es gelegen? "Vor allem an körperlicher Arbeit sind Arbeitssuchende wenig interessiert", schimpfen Wissenschaftler, die vor allem an geistiger Arbeit interessiert sind und am Spargelstechen gar nicht. Die befragten Bauern erkannten dagegen als einen Grund immerhin mangelnde körperliche Fitness bei den deutschen Arbeitslosen an.

Silke Wettach, eine toughe junge Dame von der Wirtschaftswoche, erregte sich heftig über die Arbeitsverweigerer: "Warum werden solche Fälle (...) nicht systematisch aufgedeckt?"

Decken wir ein bißchen auf. Bei der Spargelernte gibt es rund sechs Euro brutto. 13 Euro täglich gibt es vom Arbeitsamt dazu, weil das Amt ahnt, daß Hungerlöhne zum Leben nicht reichen. 13 Euro umgerechnet auf 10 Stunden macht 1,30 Euro pro Stunde mehr. Dafür muß man um 5.30 Uhr auf dem Feld stehen. Öffentliche Verkehrsmittel gibt es nicht. Die Felder sind zu abgelegen. Die Anfahrtswege sind lang. Da Spargel in praller Sonne nicht gestochen werden kann, wird ab 12 Uhr eine unbezahlte vierstündige Pause eingelegt. 14-Stunden-Tage sind keine Seltenheit.

Für sechs Euro brutto muß man sich ununterbrochen bücken, bis zu 700 mal am Tag, um an den verdammten Spargel heranzukommen.

Zum Erdbeerpflücken rücken die Pflücker schon um 4 Uhr an. Dann geht bei Kälte und Nässe das Bücken los. Bei starker Nachfrage wird bis 15 Uhr durchgearbeitet. Der Erdbeerkönig von Osnabrück, Heinz Böckmann, spricht von "erheblicher Belastung" durch schwere Arbeit.

Auf die Felder werden Chemielaboranten, Maurer, Informatiker, ältere Ingenieure, Russischlehrer usw. geschickt. Diese wollen nicht einsehen, daß sie sich ihren Rücken in kurzer Zeit für einen Hungerlohn kaputtmachen sollen. Sie wollen die Rückkehr in ihren Beruf nicht völlig vergessen.

Beispiel: Rudi Arbogast, arbeitsloser Maurer, gehörte zu den wenigen Arbeitslosen, die es bei der Spargelernte ausgehalten haben. Die Motive derer, die solche Arbeiten nicht antreten, sind auch bei ihm spürbar. "Ich hoffe, daß ich in meinem Beruf als Maurer wieder was finde. Aber zur Zeit sieht es wirklich miserabel aus." Arbogast hält irgendeine Arbeit für besser, als rumzusitzen und nicht zu wissen, "wie man die Zeit totschlagen soll." Dann schlägt er sie lieber mit der Spargelernte tot.

Aber: "Wenn ich das so sehe – mein 8-Stunden-Tag als Maurer und jetzt hier 14-Stunden-Tag. Das ist ein großer Unterschied. Man muß sich erst dran gewöhnen. Die Füße und das Kreuz spürt man. Der Maurer-Job ist jedenfalls leichter."

Rudi Arbogast hat den Faulheits-Test bestanden. Ob ihn auch die Antifaulenzer-Schreiberlinge bestehen würden?

Ulrich Becker von BILD Berlin hält den faulen Deutschen die fleißigen Polen vor. "Stattdessen wird lieber Stütze kassiert. Daheim, ganz bequem auf dem Sofa. Und auf den Feldern rackern sich Polen, Tschechen und Kroaten ab."

Aber: Die 600 Euro, die polnische SaisonarbeiterInnen im Durchschnitt in Deutschland verdienen, sind in Polen wesentlich mehr wert als in Deutschland. (FR 18.04.2002) Polen müssen nicht dieselben Mieten zahlen wie hier, und die Lebenshaltungskosten sind erheblich geringer. Der Lohn, der für Arbeitslose aus Deutschland unter dem Existenzminimum liegt, liegt für polnische Arbeitskräfte über dem Existenziminimum. Deshalb kommen polnische Saisonkräfte "freiwillig". Und deutsche Arbeitskräfte machen es überwiegend nur unter Zwang. Wenn die Lebenshaltungskosten in Polen genauso hoch wären, wie in Deutschland, wären auch die Polen "faul". Alles das weiß Becker, aber es interessiert ihn nicht.

Was treibt eigentlich polnische Näherinnen, Ingenieure, Lehrer, Bäuerinnen oder Polizisten dazu, vier Monate im Jahr in Behelfsunterkünften ohne Familie tausend Kilometer entfernt von der Heimat Spargel zu stechen? Becker hält es für ein vorbildliches Beispiel des Fleißes.

  • Gastronomie. 80.000 Arbeitskräfte fehlen derzeit, ließ der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) 2000 verlauten. (FR 19.04.2000) Eine "katastrophale Situation" nannte das ihr Chef. Am meisten würden Köche und Restaurantfachkräfte gesucht, aber auch Hilfs- und Servicekräfte. Allein für Köche waren 25.000 Stellen nicht besetzt. Aber es gab 35.260 arbeitslose Köche. "Deutsche sind sich zu fein, in der Küche zu arbeiten", wußte Dehoga-Geschäftsführerin Andrea Löhring als Hauptgrund. Zu fein = zu faul. Koch Harald Stubbe aus Bad Homburg antwortete empört mit einem Leserbrief:

Ich kann das Gejammer der Arbeitgeberin der Gastronomie nicht mehr hören. Gerade habe ich meine Stelle als Koch gekündigt, nachdem ich sonntags wieder einmal 15 Stunden in der Küche à la carte gekocht habe. Mein jugoslawischer Kollege, der seit Monaten keinen freien Tag hat, geht vor die Hunde. Würden vernünftige Löhne gezahlt, Überstunden abgebaut und Recht und Gesetz beachtet, gäbe es keinen Arbeitskräftemangel in der Gastronomie.

Der Wunsch, unter solchen Bedingungen zu arbeiten, hält sich in Grenzen. Da sie Arbeitsbedingungen und Löhne nicht verbessern wollen, regen sich Verbandsfunktionäre lieber über Faulheit auf.

Beispiel: Thomas Spahn, 40 Jahre alt, seit drei Jahren arbeitslos:

Ich habe damals mein Studium für den Kochberuf hingeschmissen. ... Der Berufsberater hat gesagt, das wäre das Dümmste, was er je gehört hat. Heute bin ich kaputt. Was ich an Alkohol- und Drogenkonsum gesehen habe, war nicht mehr schön. Auf Dauer hält man diesen Beruf nicht aus. Ich will umschulen, vielleicht Lebensmittelindustrie.

Arbeitgeber verlangen häufig Schwarzarbeit. Sie wollen nur einen Teil des Lohns dem Finanzamt und der Sozialversicherung angeben und den Rest schwarz zahlen. Im Alter und bei Arbeitslosigkeit sind Köche dann die Dummen. Wer das nicht will, bleibt arbeitslos.

Beispiel: Georg Lindner, 54 Jahre alt, ehemaliger Küchenchef. Er bekommt trotz Stellenanzeige und Vorstellungsgesprächen keine Stelle. "Zwei Gründe: Er will nicht schwarz arbeiten, und er ist 54 Jahe alt."

Arbeitslose treten Stellen aus gesundheitlichen Gründen nicht an

Kai Bartels (siehe oben) nennt seinen Rücken als Grund, um eine Stelle als Lagerhelfer abzulehnen. Eine Stelle als Ver- und Entsorger aber würde er trotz seines Rückens nehmen.

Silke Wettach von der Wirtschaftswoche hält es ausschließlich für einen "Trick", wenn Arbeitslose sich krankschreiben lassen, statt Spargel zu stechen.

Tatsächlich werden Krankheiten oder gesundheitliche Einschränkungen als Grund vorgeschoben, um Arbeiten abzulehnen. Das wird vom Arbeitsamt eher akzeptiert. Wenn jemand sagen würde, daß er nicht für einen Hungerlohn oder unter seiner Qualifikation arbeiten will, droht ihm, daß die Unterstützung gestrichen wird Von daher liegen Arbeitgeber nicht völlig falsch, wenn sie "Simulanten" ausmachen. "Simulanten" werden durch ein Unterstützungssystem produziert, das auf solche Kleinigkeiten wie Existenzminimum oder Qualifikation keine Rücksicht nimmt.

Tatsache ist aber auch, daß der Gesundheitszustand von Arbeitslosen erheblich schlechter ist als der von Beschäftigten. 41,2% der Arbeitslosen sind über 45 Jahre alt. 60% der Arbeitslosen, die "gesundheitliche Einschränkungen" haben oder schwerbehindert sind, sind über 45. In der Arbeitslosigkeit finden sich viele, deren Arbeitskraft von Unternehmen verschlissen wurde und die jetzt nur noch eingeschränkt leistungsfähig sind.

Beispiel: Christian Lorenz, 51 Jahre alt, Maurer und Zimmermann, zwei Bandscheibenvorfälle, Berufsunfähigkeitsrente, seit zwei Jahren arbeitslos. Ist nur noch für leichtere körperliche Tätigkeiten vermittelbar. Hat in zwei Jahren eine Stelle angeboten bekommen. Er bekam sie nicht.

Zwischen dem, was Arbeitslosen als zumutbar vom Arbeitsamt angeboten wird, und dem, was sie sich noch zutrauen, können Welten liegen.

Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor (...) setzen (...) häufig eine gewisse Fitneß und körperliche Einsatzfähigkeit voraus. (...) Für (...) ältere Arbeitslose mit oder ohne Qualifikation kann diese körperliche Einsatzfähigkeit jedoch häufig nicht mehr unterstellt werden. Arbeitsplätze mit ausschließlich oder überwiegend solchen Anforderungen können mit ihnen kaum besetzt werden.

So das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit.

Wenn Arbeitslose sich wegen ihres Gesundheitszustandes bei Einstellungsgesprächen so verhalten, daß sie abgelehnt werden, erscheint das den Personalchefs als Faulheit.

In welchem hohem Maß Arbeitslose tatsächlich arbeitsunfähig sind, wird offengelegt, wenn Arbeitslose offiziell als arbeitsunfähig aus der Arbeitslosigkeit ausscheiden. Im Jahre 2001 schied jeder sechste Arbeitslose wegen Arbeitsunfähigkeit aus der Arbeitslosenstatistik aus. Der Krankenstand war rund 18%. Arbeitslose gelten ab dem ersten Tag der Krankheit als arbeitsunfähig.

Arbeitslose in der Sozialhilfe. Besonders faul?

In der Sozialhilfe sammeln sich die untersten Schichten der erwerbsfähigen Bevölkerung. Ungefähr 800.000 SozialhilfebezieherInnen werden vom Deutschen Städtetag als arbeitsfähig und arbeitslos eingeschätzt. Für sie ist jede Arbeit zumutbar. Die Hälfte von ihnen verrichtete im Jahre 2000 sogenannte GZ-Arbeit (Gemeinnützige und Zusätzliche Arbeit). 200.000 als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Im Durchschnitt 9,5 Monate. 200.000 als Sozialhilfeempfänger plus ein Euro die Stunde als "Mehraufwandsentschädigung".

Sie müssen überwiegend für Kommunen oder Wohlfahrtsverbände arbeiten. Laubkehren im Park für Sozialhilfe plus ein Euro die Stunde ist ebenso zumutbar wie eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit für 750 Euro netto, bei der man Waschmaschinen auseinanderbaut. Meist sind die angebotenen Arbeiten nicht zusätzlich. Sie verdrängen tariflich beschäftigte ArbeitnehmerInnen. Erfahrungsgemäß lehnen 20-30% derjenigen, denen solche Stellen angeboten werden, ab und verlieren damit ihren Anspruch auf Sozialhilfe. Die Sozialämter verbuchen das stolz als "Bekämpfung des Mißbrauchs". Die hatten es wohl nicht nötig, heißt es.

Bisher gibt es keine Untersuchung über die Motive der Arbeitslosen, die GZ-Arbeit abgelehnt haben, und wie sie ohne Sozialhilfe leben. Die wichtigsten Gründe dürften aber ähnlich sein, wie bei Arbeitslosen, die ihr Geld vom Arbeitsamt bekommen.

  • Bei kommunalen Arbeiten für einen Euro zusätzlich kommt man nicht aus der Sozialhilfe heraus. Man bekommt überhaupt keinen Lohn, ist nicht sozialversichert und ist Lohnarbeiter vierter Klasse, schlimmer dran als Leiharbeiter. Solche Arbeiten werden überwiegend als entwürdigende Zwangsmaßnahme empfunden. Ob jemand bereit ist, für einen Euro die Stunde auf einem Friedhof Hecken zu schneiden, ist kein Test für Arbeitsbereitschaft. Wäre das einer, würden ihn die meisten nicht bestehen, die sich über die Faulheit von Sozialhilfeempfängern aufregen.
  • Bei der Ablehnung von Arbeiten in Beschäftigungsgesellschaften spielt die meist untertarifliche Lohnhöhe und der Zwang, unter Qualifikation zu arbeiten, eine wichtige Rolle.
  • Viele trauen sich auch angebotene Arbeiten nicht zu, vor allem die auf dem ersten Arbeitsmarkt.
    Arbeitslose, die von Sozialhilfe leben, sind im Durchschnitt länger arbeitslos. Je länger jemand arbeitslos ist und keinen Wiedereinstieg findet, desto geringer wird das Selbstvertrauen in die eigenen Kräfte. Vor allem ältere männliche Langzeitarbeitslose sind finanziell und sozial am Boden. Sie haben "die Arbeitssuche – was nicht zuletzt ihrem psychischen Selbstschutz diente – mittlerweile aufgegeben." Man entzieht sich Situationen, in denen man als Versager dastehen könnte.
  • Bei arbeitslosen SozialhilfebezieherInnen sind noch stärker als bei anderen Arbeitslosen körperlicher Verschleiß durch Arbeit, Alkoholismus, Drogensucht, psychische Erkrankungen, Verschuldung, Resignation, mangelnde Gesundheit usw. vertreten. Das erzeugt ein kompliziertes Geflecht aus niedrigem Selbstvertrauen, Angst vor Anforderungen und geringerer Belastbarkeit. All das kann zur Ablehnung einer Arbeitsaufnahme führen und wie Faulheit aussehen. Mit Ermahnungen, lieber fleißig statt faul zu sein, ist da nicht zu helfen.

"Wer Sozialhilfeempfänger als Faulenzer beschimpft, muß ihnen wenigstens die Chance geben, das Gegenteil zu beweisen", erklärte der hessische Ministerpräsident Koch. (FAZ 15.08.2001) Er persönlich will ihnen eine Chance auf "einfachen Arbeitsplätzen" geben. Der Anwalt Koch empfindet es als Skandal, daß Unternehmen gezwungen sind, Krabben zum Pulen nach Marokko (oder Polen) zu schicken, "weil es vor Ort die Löhne nicht bezahlen kann, für die deutsche Arbeitskräfte bereit sind, das Pulen zu übernehmen." (ebda.) Pulen für zwei bis drei Euro die Stunde – wer als arbeitsloser Sozialhilfebezieher das oder Vergleichbares nicht machen will, der muß sich von den schneidigen Kochs als Faulenzer beschimpfen lassen. Und wenn es das Pulen für drei Euro in Hessen nicht geben sollte, dann eben die Altenpflege für drei Euro.

Das Faulenzergeschrei dient Unternehmen und ihren politischen Helfern dazu, sich mit staatlichem Zwang billige und willige, d.h. eingeschüchterte Arbeitskräfte zutreiben zu lassen.

Arbeitslose sind nicht bereit, umzuziehen. Aus Faulheit?

Präsident Hundt von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA):

Ein Arbeitsloser, der nicht bereit ist, für einen neuen Job einen Umzug in Kauf zu nehmen, sollte zumindest nicht zeitlich unbegrenzt Sozialleistungen erhalten.

Man muß ihn also wegen Umzugsfaulheit bestrafen.

Seit Anfang 2003 haben die Hundts mit Hilfe der Bundesregierung durchgesetzt, daß Arbeitslosen ohne familiäre Bindungen nach drei Monaten Arbeitslosigkeit ein Umzug im ganzen Bundesgebiet zuzumuten ist. Oder es wird gekürzt und gestrichen.

Nach einer Schätzung des Familienministeriums dürften nahezu zehn Millionen Erwerbstätige in Deutschland aus Berufsgründen pendeln, reisen oder umziehen, sind also "mobil". 16% der Paare sind entweder umgezogen oder leben nur am Wochenende zusammen. Der Preis: spätere Gründung einer Familie bzw. Kinderlosigkeit. Drei Viertel sehen ihre Beziehung beeinträchtigt. (FTD 29.08.2001)

Arbeitslose ziehen heute wesentlich häufiger um als früher. 1995 wechselte jeder vierte Arbeitslose die Region, um eine Stelle anzutreten. 1982 war es erst jeder Fünfte. "Diese Entwicklung zeigt, daß ehemals Arbeitslose zunehmend bereit waren, bei der Jobsuche auch überregionale Angebote wahrzunehmen". Vor allem aus Ostdeutschland.

Die Umzugsbereitschaft wächst mit der Arbeitslosigkeit.

Problem ist aber, daß Menschen keine wurzellosen Einzelwesen sind, die man wie einen Koffer überall abstellen kann. Als soziale Wesen haben sie soziale Beziehungen, leben in Ehen oder eheähnlichen Gemeinschaften und haben meistens noch Kinder oder Eltern, die sie betreuen. Sie haben Häuser, Gewohnheiten, vertraute Umgebungen, eine bestimmte Sprache usw.

Beispiel: Max Rupprecht, ein hochspezialisierter Ingenieur in der Luft- und Raumfahrtindustrie, wird Ende 1993 entlassen. Seine Frau schreibt:

Mein Mann ist so erschüttert, als wäre er über eine unheilbare, todbringende Krankheit informiert Worden. (...) Die Verzweiflung, weil die Opfer und Mühen der letzten Jahre sich als vergeblich herausstellen. Vor weniger als einem Jahr waren wir wegen der Arbeitsstelle meines Mannes hierhergezogen, hatten eigenes Haus, meinen Arbeitsplatz, Freunde und Verwandte zurückgelassen, (...) und nun: aus. Vergeblich die Strapazen der stundenlangen Autofahrten, der Umzug, das Abschiednehmen, die Entwurzelungsdepression. (...) Im Januar kommt unser Ältester (elf Jahre alt) von der Schule nach Hause. "Ist das wahr? Wird Papas Werk geschlossen?" (...) Er schreit auf: "Umziehen? Mein ganzes Leben besteht nur aus Umziehen! Diesmal bleibe ich hier!"

In Bayern war die offizielle Arbeitslosenquote 2001 nur 5,3%, in Bremen dagegen 12,4%, in Berlin 16,1% und in Sachsen-Anhalt sogar 19,7%. "Die Kluft zwischen Regionen mit niedriger und hoher Arbeitslosigkeit (hat sich) im Laufe der Zeit vergrößert." Der Ruf nach Umzügen wird lauter.

Warum wird nicht da investiert, wo die Menschen wohnen? Das Kapital investiert nur da, wo es genug Profit erzielen kann. Manche Regionen rentieren sich mehr, manche weniger. Menschen sind Nebensache. Besonders in Ostdeutschland lohnt sich Investieren kaum. Die Regionen, aus denen viele Menschen wegziehen, bluten langsam aus. Am Ende bleiben die Alten zurück.

LohnarbeiterInnen müssen an sich zuerst denken

Stoiber-Berater Miegel kritisiert heftig: Viele Erwerbspersonen "denken nicht daran, selbst initiativ und zu Unternehmern ihrer eigenen Arbeitskraft zu werden." Zwei Hände, zwei Füße und Hirn zu besitzen, gelten als Grundausstattung, damit VerkäuferInnen und Lagerarbeiter in die besitzende Klasse aufsteigen. Ihr Kapital ist das "Humankapital" (= menschliches Kapital). So unsinnig das ist, so richtig ist trotzdem, daß LohnarbeiterInnen Verkäufer einer Ware sind, nämlich ihrer Arbeitskraft. Als Verkäufer dieser Ware haben sie wie alle Warenverkäufer das Interesse, einen möglichst hohen Preis dafür zu erzielen und das mit möglichst wenig Arbeitseinsatz. Wenn das nicht geht, halten sie ihre Ware zurück und suchen nach besseren Gelegenheiten.

Dadurch ziehen sie sich die geballte moralische Entrüstung des Kapitals zu, das ihnen als Käufer der Ware Arbeitskraft gegenüber steht. Wie kann es jemand wagen, mir seine Arbeitskraft vorzuenthalten?, empören sich arbeitsarme Handwerksmeister und smarte Personalchefs. Die Empörung beruht auf Berechnung. Die Käufer der Ware Arbeitskraft haben das Interesse, diese Ware möglichst billig, bedingungslos und schnell einzukaufen. Dadurch steigt ihr Gewinn.

Waren zurückzuhalten, wenn ihr Preis zu niedrig ist, ist für Besitzer von Kapital selbstverständlich. Wer Immobilien, Geld, Aktien oder andere Waren besitzt, verkauft sie nicht an den Erstbesten zu jeder Bedingung. Lieber eine Wohnung leerstehen lassen, als sie zu billig zu vermieten. Lieber Immobilien, Aktien usw. nicht verkaufen, als zu billig. Lieber Waren verrotten lassen oder wegwerfen, als sie unter Wert verschleudern. Lieber eine Firma stillegen, als zu ertragen, daß das investierte Kapital nicht genug abwirft oder Verluste macht.

Von LohnarbeiterInnen aber erwarten dieselben Leute, daß sie ihre Ware unter Wert verkaufen und mit Billigarbeit "Verluste" machen, daß sie ohne nachzudenken Investitionen in ihre Qualifikation abschreiben oder problemlos unterhalb des Existenzminimums leben. Die ganze Gleichgültigkeit des Kapitals an den lieben MitarbeiterInnen zeigt sich hier. Arbeitskräfte sollen "Unternehmer" sein, aber wehe, sie verhalten sich so. Die Marktwirtschaft gilt für alle, nur nicht für sie.

Wie die Arbeitslosen daherreden, das ist es, was Christiane Gollreiter immer wieder wundert. Daß es im Leben darum gehe, möglichst schnell viel Kohle mit wenig Arbeit zu machen. Dann weiß die 41-jährige Unternehmerin, daß auch dieser Kandidat kein Interesse hat, in ihrem Betrieb nahe Rosenheim einen ordentlichen Lohn für ordentliche Arbeit zu verdienen.

Möglichst viel Kohle mit möglichst wenig Arbeit bzw. Kapital zu machen: Ist das nicht Ziel aller UnternehmerInnen? Ihr Lebenszweck besteht doch darin, ihr privates Kapital zu vermehren und ihre egoistischen Interessen gegen die Gesellschaft durchzusetzen. Daß auch LohnarbeiterInnen Kohle machen wollen, stört sie dabei. Die Egoistenklasse des Kapitals bekämpft den Egoismus der LohnarbeiterInnen – aus Egoismus.

Das wütende Geheul des Kapitals über Faulenzer entspringt letztlich dem tiefen Schmerz, daß man sich an diesen Arbeitskräften nicht genug bereichern kann. Um mehr geht es nicht.

Die Wut trifft Arbeitslose und Arbeitende. In diesem Sinne beschimpfte Gerhard Schröder z.B. LehrerInnen als "faule Säcke", weil sie sich gegen Arbeitszeitverlängerung bei gleichem Lohn wehrten. Und sprach andererseits Arbeitslosen ein "Recht auf Faulheit" ab, das diese angeblich in Anspruch nehmen. Ein Recht auf Faulheit haben bekanntlich nur die Besitzer von Kapital, die genug Geld aus der Arbeit anderer ziehen.

Das Kapital erwartet Unterwerfung unter seinen Egoismus.

Die gewünschten LohnarbeiterInnen sollen sich nicht für ihren Lohn, ihre Qualifikation und ihre Gesundheit interessieren, sondern für den Profit des Kapitals. Sie sollen selbstlos sein, um die Selbstsucht des Kapitals zu befriedigen.

Warum sollen Arbeitslose nicht zuerst an sich denken?

Die gegenwärtigen Verhältnisse legen jedem nahe, zuerst an sich zu denken. Das gilt auch für Arbeitslose.

  • Ich bin gegen meinen Willen entlassen worden. Jetzt mache ich erst mal Pause. Kündigungen sind oft mit Enttäuschungen verbunden. "Jahrelang habe ich mich für die Firma angestrengt. Als Dank dann die Entlassung." Diese Enttäuschung wächst, je länger man im Betrieb war. Sie muß in der Arbeitslosigkeit verarbeitet werden.

  • Arbeitslosigkeit als Ausgleich für Arbeitsstreß. Arbeitslose empfinden oft die ersten ein bis drei Monate ihrer Arbeitslosigkeit als Erholung gegenüber Streß, Zeitmangel und Fremdbestimmung während der Arbeit. "Jetzt kann ich endlich mal was für mich tun und das erledigen, was liegengeblieben ist." Der Wunsch, sich auszuruhen, ist eine Reaktion auf die Überbeanspruchung der Arbeitskraft durch das Kapital.

  • Ich habe genug Versicherungsbeiträge und Steuern gezahlt. "Erst möchte ich mal das heraus haben, was ich seit 25 Jahren eingezahlt habe, dann sehen wir weiter." Die LohnarbeiterInnen als Gesamtheit bezahlen sich die Unterstützung im Fall der Arbeitslosigkeit selbst. Wer sich versichert, möchte auch etwas davon haben. Normalerweise kann man doch mit seinem Lohn machen, was man will? Arbeitslose haben zumeist in der Vergangenheit Steuern gezahlt. Auch daraus leiten sie ab, daß sie schon etwas für die Gesellschaft geleistet haben, die sie jetzt unterstützt.

  • Ich kann weder von Arbeitslosenunterstützung noch von den Löhnen leben, die man mir anbietet. Also lebe ich von Stütze und arbeite schwarz: Schwarzarbeit ist eine Möglichkeit, wenn man weder von legaler Lohnarbeit noch von Sozialunterstützung leben kann. Unternehmen, die sich lautstark darüber beklagen, beschäftigen sie in ihren Betrieben, weil es ein Konkurrenzvorteil ist. Politiker, die Schwarzarbeit verurteilen, nehmen sie in Kauf, um die Kosten z.B. beim Bau von Regierungsgebäuden, Polizeipräsidien, Rathäusern usw. zu senken. Nicht zuletzt lassen sich die Reichen in ihren privaten Haushalten von SchwarzarbeiterInnen bedienen. Schwarzarbeit ist ein Grund, angebote Arbeit abzulehnen. Aber wieso wird ein Arbeitsloser, der schwarz arbeitet, als Faulenzer beschimpft?

  • Ich will Spaß an der Arbeit haben. Mit Entsetzen stellte Kanzler-Beraterin Frau Noelle-Neumann 1986 fest: "Eine Arbeit anzunehmen, die keinen Spaß macht, ist mit das Letzte, das die Arbeitslosen sich selbst (...) zumuten wollen." Nur 27% von 3.000 Befragten wollten in Kauf nehmen, etwas machen zu müssen, das keinen Spaß macht. Mit dem Bildungsstand steigen die Ansprüche an Arbeitsverhältnisse. Vor allem Jugendliche erwarten, daß "die Arbeit Kreativität und persönliche Weiterentwicklung ermöglicht und auch die Selbstbestimmung bei der Arbeit". Menschen möchten sich entwickeln können und etwas vom Leben und von der Arbeit haben. Das gilt den Herrschenden als Beweis für Faulheit. Manager und Minister, die den Arbeitslosen predigen, daß jede Arbeit besser ist als keine, denken selber allerdings nicht im Traum daran, auf Spaß und Selbständigkeit in ihrer Arbeit zu verzichten.

  • Warum soll ich nicht meinen eigenen Vorteil suchen, wenn Politiker und Unternehmer es doch auch machen? Diejenigen, die gegen Arbeitslose zu Felde ziehen, die auf Kosten der Gesellschaft leben, leben selbst auf Kosten der Gesellschaft. Mit dem Unterschied, daß sie sich selbst bedienen können, Arbeitslose aber nicht. Politiker gewähren sich Arbeitslosengeld auf Lebenszeit, wenn sie als politische Beamte entlassen werden. Manager bewilligen sich millionenschwere Abfindungen und Übergangsgelder, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Das können auch schon mal 30 Millionen Euro sein, wie bei Mannesmann-Chef Esser. Unternehmer entnehmen ihren Betrieben, was das Zeug hält. Und für das Meiste haben sie nicht selbst gearbeitet.

  • Verantwortung für die Gemeinschaft wird nur den LohnarbeiterInnen und den Arbeitslosen gepredigt. Wenn die Reichen und Unternehmen massenhaft Steuern hinterziehen, Schwarzarbeit betreiben, Geschäfte schwarz abwickeln, sich mit Beziehungen zu gekauften Politikern Staatsknete beschaffen, wenn Selbständige und Manager ihre privaten Ausgaben von der Steuer absetzen können, warum soll dann jemand, der arbeitslos gemacht wurde, nicht ebenfalls zuerst an sich denken? Die da Oben fragen nicht, ob die Summen, um die sie den Staat erleichtern, nachher den wirklich Bedürftigen fehlen. Warum sollen die da Unten zuerst an Andere und nicht ebenfalls zuerst an sich denken?

Die Manager der Berliner Bankgesellschaft haben die Kassen der Bank zu Gunsten der Profitmacherei von reichen Anlegern geplündert. Milliardenschäden sind entstanden. Der Staat kommt dafür auf und kürzt zu diesem Zweck auch bei Arbeitslosen und SozialhilfeempfängerInnen. Warum sollen Arbeitslose bereit sein, für fünf Euro die Stunde zu arbeiten, nur um die Staatskasse zu entlasten, an der sich andere bedienen? Manager und Politiker predigen den Arbeitslosen Wasser und saufen selber Wein. Der Egoismus ist die Staatsreligion des Kapitals.

  • Recht auf Faulheit nur für Reiche? FDP-Chef Westerwelle klärt zwei Punker, die keinen Bock auf Arbeit haben, folgendermaßen auf: "Es ist Ihr gutes Recht zu sagen, daß Sie nicht arbeiten wollen, aber dann dürfen Sie nicht auf Kosten anderer leben." Das gute Recht, nicht arbeiten zu wollen, wird in den herrschenden Kreisen, die die FDP vertritt, von niemandem bezweifelt. Denn bekanntlich ist von eigener Arbeit noch niemand reich geworden. Man darf nur nicht in Form von Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe von der Arbeit anderer leben, wenn man keinen Bock auf Arbeit hat. Man muß von den Erträgen seines Kapitals, von Mieten, Zinsen, Dividenden, von Kurssteigerungen oder Wetten in den Spielcasinos der Banken leben.

Westerwelle meint, daß die reichen Faulenzer nicht auf Kosten anderer leben. Er bildet sich ein, daß Geld arbeitet. Er glaubt, daß auch ein Haus oder ein Gebäude für seinen Besitzer arbeitet und daß Kurssteigerungen eben aus der Arbeit der Aktien stammen. Was sich Kapitalbesitzer aneignen, stammt aber genauso aus der Arbeit anderer wie Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld. Es hat nur eine andere Form. Es gibt Hunderttausende von Menschen, die sich als Kapitalbesitzer der Lohnarbeit bzw. der Arbeit überhaupt entziehen, ohne diskriminiert zu werden. Im Gegenteil, sie verkaufen sich als Leistungsträger, nur weil sie besitzende Faulenzer sind.

  • Ich werde von der Gesellschaft finanziert. Aber dafür arbeite ich auch für die Gesellschaft. Arbeitslose liegen nicht nur auf dem Sofa, wie sich BILD das vorstellt, sondern sind oft aktive Menschen, die gesellschaftlich nützliche Dinge tun. Bezahlt von der Gesellschaft, kämpfen nicht wenige Arbeitslose dauerhaft für die Interessen von Arbeitslosen, versuchen Menschen gesellschaftlich sinnvolle Dinge zu tun, von denen sie aber nicht leben können, gehen Menschen ihren Interessen nach, für die sie sonst keine Zeit hätten usw.

    Die Lohnarbeit, an der sich das Kapital bereichert, ist zu eng, als daß sich menschliche Energien ausschließlich in ihrem Rahmen entfalten könnten. Das Bedürfnis nach einer Veränderung dieses Zustands zeigt sich u.a. auch in der beklagten "Faulheit".

Warum regen sich LohnarbeiterInnen über Faulenzer auf?

Der Faulheitsvorwurf richtet sich letztlich gegen die LohnarbeiterInnen. Warum teilen dennoch viele eine Meinung, die sich gegen sie richtet?

Alle diejenigen, die nicht arbeiten, werden letztlich durch die ernährt, die arbeiten.

Eltern haben kein Interesse, daß ihre Kinder arbeitslos herumhängen und sich nicht genügend anstrengen, selbständig zu werden. Sie müssen dafür aufkommen.

Frauen haben kein Interesse, von ihrem Einkommen auch noch einen arbeitslosen Mann oder Freund durchzufüttern, wenn der sich hängenläßt. Sie müssen nämlich für ihn aufkommen.

Nicht nur, wenn Eltern oder Geschwister bereits finanzielle Unterstützung leisten, sondern auch dann, wenn sie befürchten, sie in Zukunft leisten zu müssen, drängen sie die Arbeitslosen dazu, alles zu tun, um wieder Arbeit zu finden, bzw. unterstellen ihnen, sich nicht rege genug um Arbeit zu bemühen.

Arbeitslosigkeit kann aber tatsächlich dazu führen, daß man sich hängenläßt. Arbeitslose leben vor allem aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung bzw. aus Steuermitteln, die von den arbeitenden LohnarbeiterInnen aufgebracht werden. LohnarbeiterInnen haben das berechtigte Interesse, nicht nur in ihren Privathaushalten, sondern auch allgemein die Kosten der Arbeitslosigkeit möglichst gering zu halten.

Die Frage, warum Ausgaben im Einzelfall nötig sind, ist legitim. Faulheit zu unterstellen, ist die einfachste oberflächliche Erklärung für eine mißlungene Arbeitssuche.

Familienangehorige bzw. FreundInnen, die jemanden "durchfüttern" müssen, versuchen Aktivität anzuregen, durch Schimpfen, durch Druck, durch Verständnis, durch Appelle usw. Und mit der Faulheitskeule. Deshalb haben sie auch ein gewisses Verständnis dafür, wenn Politiker bzw. Arbeitsämter mehr Anstrengungen von Arbeitslosen verlangen.

Daß so häufig Faulheit vermutet wird, zeigt ein unentwickeltes Bewußtsein der eigenen Lage und der ökonomischen Verhältnisse. Arbeitslosigkeit wird persönlich genommen: Der und der schafft nichts, lebt auf meine Kosten. Und schont steigt der Adrenalinspiegel.

Je mehr Arbeitslose aber mit Hilfe der beschäftigten LohnarbeiterInnen zur Lohnarbeit um jeden Preis gezwungen werden, desto größer wird der Druck, daß auch die Beschäftigten zu schlechteren Bedingungen arbeiten. Das Kapital nutzt die Konkurrenz aus.

Nicht die Faulheit der Arbeitslosen sei das Problem, sondern der Mangel an Arbeitsplätzen, wird von manchen geäußert. Tatsächlich: Wenn Arbeitslose Plätze finden könnten, an denen sie arbeiten, wären sie nicht mehr arbeitslos.

Es ist für das Kapital kein Problem, sich dieser Meinung anzuschließen. Denn Arbeitsplätze wären ja von seinem Standpunkt aus genug vorhanden, wenn die Arbeitslosen nur nicht ... zu faul, zu träge, zu egoistisch usw. wären.

Faulenzerpropaganda – besonders stark in Krisen

Faulheitsfeldzüge werden von Arbeitgebern, Regierungen und Medien bevorzugt in Krisenzeiten organisiert. Sie bereiten damit Kürzungen bei Arbeitslosen und Lohnsenkungen vor. Sie hetzen beschäftigte gegen arbeitslose LohnarbeiterInnen auf und wollen sie dafür gewinnen, sich ebenfalls für Kürzungen bei den Arbeitslosen einzusetzen.

In Krisenzeiten wird klarer, daß das Kapital selbst die Ursache der Arbeitslosigkeit ist. Umso größer wird das Interesse des Kapitals, das Ganze den Arbeitslosen in die Schuhe zu schieben. In allen bisherigen Krisen erreichte die Meinung Spitzenwerte, daß viele Arbeitslose nicht arbeiten wollten.

Das Kapital nutzt die Krisen, um Schritte zurück in die Vergangenheit zu machen. Vor hundert Jahren gab es noch keine Arbeitslosenversicherung bzw. Sozialhilfe für arbeitsfähige Personen. Jeder Arbeitslose war gezwungen, sofort jede Arbeit anzunehmen. Sonst drohten ihm und seiner Familie Hunger bzw. Obdachlosigkeit. Arbeitslose konnten sich keine "Faulheit" leisten.

Daß arbeitslose LohnarbeiterInnen faule Müßiggänger sind, ist die herrschende Meinung des Bürgertums seit dem 15. Jahrhundert. "Die Bürger der Städte sind davon überzeugt, daß Armut vor allem dem Fehlverhalten der Armen zuzuschreiben sei." Deshalb wurden seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts (mit Unterbrechungen) arbeitsfähige Arme, also Arbeitslose, von der Fürsorge ausgeschlossen. Das war typisch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. In den USA gilt es noch heute. Der Rechtsanspruch von Arbeitslosen auf Sozialhilfe ist in Deutschland erst 40 Jahre alt. Die Abschaffung der Sozialhilfe für Arbeitslose und die weitgehende Abschaffung der Arbeitslosenversicherung ist das grundlegende Interesse des Kapitals. Wenn Arbeitslose Faulenzer sind, dann haben sie es auch nicht verdient, etwas zu bekommen.

Lohnarbeit erzeugt "Faulheit"

Wenn LohnarbeiterInnen ihre Arbeitskraft zurückhalten, beweist das in der Regel nicht, daß sie faul sind, sondern daß die Verhältnisse nichts taugen, die ihnen das nahelegen.

Es stimmt, daß viele Arbeitslose nicht zu den jämmerlichen Bedingungen arbeiten wollen, die ihnen geboten werden und sich nicht ausreichend dabei anstrengen. Der "Faulheit" der Arbeitslosen entspricht die innere Kündigung vieler beschäftigter LohnarbeiterInnen. Die verbreitete "Arbeitsverweigerung" zeigt, daß mit der Lohnarbeit etwas faul ist. Sie scheint eine ungünstige Bedingung für die Entfaltung menschlicher Produktivkräfte zu sein.

Die Unternehmer produzieren die "Faulheit" selbst, die sie erbittert bekämpfen. Das Interesse des Kapitals, sich an der Lohnarbeit ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der LohnarbeiterInnen zu bereichern, ist die wichtigste Ursache der Zurückhaltung der Arbeitskraft. Der Egoismus des Kapitals steht der Entfaltung des "Fleißes" der Menschen im Wege.

Die pauschalen Anklagen des Kapitals zurückzuweisen, ist Voraussetzung dafür, sich zu behaupten. Man kann kein selbstbewußter Mensch sein, wenn man von sich selbst nichts hält. Wer sich selbst mit Vorwürfen und Zweifeln übergießt, ist der wahre Verlierer.

Der Faulheitsvorwurf hat einen realen Kern, auch wenn er von den falschen Leuten erhoben wird. Es kommt nicht darauf an, reale Erscheinungen zu leugnen, sondern sie auf die Verhältnisse zurückzuführen, die sie erzeugen. Mit den Verhältnissen ist etwas faul, die "Faulheit" provozieren.

Und im übrigen ist es auch schön, faul zu sein.

Arbeitslose leiden unter Arbeitslosigkeit

Wenn Arbeitslosigkeit die Verwirklichung des Bedürfnisses nach Faulheit ist, wieso leiden Arbeitslose dann so sehr unter dem, was sie eigentlich glücklich machen müßte? Selbstbewußtsein und Lebensfreude werden bei vielen Arbeitslosen geschwächt. Sie lassen sich im Laufe der Zeit eher hängen. Die durch Arbeitslosigkeit geförderte Antriebslosigkeit erscheint als Faulheit. Und diese "Faulheit" erscheint dann wieder als eigentliche Ursache der Arbeitslosigkeit.

Sich nutzlos und überflüssig vorkommen

Arbeitslosigkeit bedeutet, daß Arbeitskräfte für das Kapital zeitweise oder dauerhaft nutzlos sind.

Dadurch kann sich bei Arbeitslosen das Gefühl bilden, auch als Menschen nutzlos zu sein. Eine Befragung von mehreren Tausend Arbeitslosen ergab: Im ersten Monat der Arbeitslosigkeit kamen sich etwa 40% der Arbeitslosen überflüssig vor. Nach 24 Monaten Arbeitslosigkeit waren es 66%. Ein 50-jähriger Arbeitsloser, nennen wir ihn Heinz Müller:

Ich war immer ein Arbeitstier, ich habe viel gearbeitet. Mir macht das auch nichts aus, zu arbeiten, ich bin belastbar. (...) Ich habe regelrecht Angst, daß ich keine Arbeit mehr kriege. (...) Es ist nicht die finanzielle Sache, man fühlt sich irgendwie als kein Mensch mehr.

Heinz Müller akzeptiert sich nur als Mensch, wenn er ein Arbeitstier sein darf. Das Kapital reduziert Menschen auf ihre nutzbare Arbeitskraft. Wenn Heinz Müller das akzeptiert, gibt er sich als Mensch auf. Er muß dann von sich annehmen, daß er tatsächlich nutzlos ist, wenn das Kapital ihn nicht nutzen kann. Je mehr sich jemand mit seiner Firma identifiziert, desto tiefer ist der Sturz, wenn er als wertlos abserviert wird. Distanz dient dem Selbstschutz.

Mit der Arbeitskraft, die das Kapital nicht mehr braucht, scheint auch der Mensch selbst überflüssig geworden zu sein. Bei Menschen, die sich überflüssig vorkommen, sinken Selbstwertgefühl und Lebensmut. Das kann sogar dazu führen, daß sie ihrem Leben ein Ende setzen.

Ich war vor einigen Tagen auf der Beerdigung von einem, der war 35 und hat nicht mehr weitergewußt. Der hat keine Chance mehr gesehen. Und der war sowas von intelligent und konnte so vieles. (...) Der konnte nicht mehr aufstehen.

Arbeitslose versuchen 20 mal häufiger, sich selbst zu töten, als Menschen vergleichbarer Gruppen von Erwachsenen – so die Nationale Armutskonferenz. Wenn Heinz Müller sich nicht mehr als Mensch fühlt, kann ihm sein Leben gleichgültig werden. Das kann Voraussetzung dafür sein, daß er sich hängen läßt und ihm egal wird, was aus ihm wird. Um sich als Mensch zu fühlen, darf einem das eigene Schicksal nicht gleichgültig sein. Selbstbewußtsein könnte Heinz Müller daraus ziehen, wenn er gegen die Bedingungen kämpft, die ihn überflüssig machen und denen er gleichgültig ist. Wem nutzt eine Wirtschaftsordnung, die so vielen Menschen das Gefühl gibt, überflüssig zu sein?

Konkurrenz mindert das Selbstwertgefühl

"Ich habe mich oft gefragt, warum bin gerade ich arbeitslos geworden", erklären fast 70% derjenigen Arbeitslosen, die "ernsthafte (...) Beeinträchtigungen ihres Selbstwertgefühls aufweisen." "Was habe ich falsch gemacht", ist dann die bohrende Frage. In der Konkurrenz zu unterliegen ist Grundlage dafür, an sich selbst zu zweifeln und sich für "weniger wert" zu halten. Auch Heinz Müller fragt sich, wieso ausgerechnet er arbeitslos wurde, obwohl er doch ein "Arbeitstier" ist. Er ist aber nicht entlassen worden, weil er selbst zu "schlecht" war, sondern weil auf das in seinem Unternehmen investierte Kapital zu wenig Profit erzielt wurde, weil also die Rendite zu "schlecht" war. Und er wird nicht eingestellt, weil es anderen Unternehmen ebenfalls zu "schlecht" geht, als daß sie ihn brauchen könnten.

Auch wenn die Betroffenen sich schuldlos an ihrer Arbeitslosigkeit fühlen, weil sie wissen, daß sie z.B. aufgrund einer Betriebsschließung entlassen wurden, und sie ihr Schicksal mit vielen teilen, erhöhen sich mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit die Selbstzweifel.

Nämlich dann, wenn immer mehr Bewerbungen erfolglos sind, wenn andere einem vorgezogen werden. "Manchmal bin ich da ganz tief unten. (...) Wenn ich wieder mal eine Absage kriege oder sowas", könnte Heinz Müller dann sagen.

Das Kapital sucht sich diejenigen heraus, die ihm am Besten passen, und zeigt dem Rest die kalte Schulter. Heinz Müller scheint als abgelehnter Bewerber selbst schuld zu sein, weil er eben für die Zwecke eines Unternehmens nicht gut genug war.

Wenn er das übernimmt, macht er sich selbst fertig. "Kann es verwundern, wenn jemand nach langer Arbeitslosigkeit und dutzenden, wenn nicht hunderten erfolglosen Bewerbungen das Gefühl entwickelt, ein Versager zu sein?"

Die Arbeitsfähigkeit von Arbeitslosen wird mit der Dauer der Arbeitslosigkeit entwertet. Wenn es für 80 Bratwürste 100 BewerberInnen gibt, bekommen 20 Personen keine Bratwurst. Warum sollen sich die 20, die leer ausgehen, deswegen für Versager halten? Wenn es 100 Kindergartenplätze für 200 Familien gibt, die sich bewerben, warum sollen sich die hundert, die leer ausgehen, für Versager halten?

Und wenn es für 44,6 Millionen erwerbsfähige Personen nur 34,7 Millionen Arbeitsplätze als ArbeitnehmerInnen gibt und 4 Millionen Arbeitsplätze als Selbständige und ihre Familienangehörigen, warum sollen sich dann die übriggebliebenen 6 Millionen für Versager halten?

Mal ganz zu schweigen davon, was das für Arbeitsplätze sind und ob man überhaupt davon leben kann.

Hat nicht eher ein Wirtschaftssystem versagt, das trotz eines nie dagewesenen Reichtums soviele Menschen für überflüssig erklärt, ohne daß diese persönlich versagt hätten?

Je mehr Arbeitslose sich selbst für Versager halten, desto weniger ändert sich an dem System, das versagt. Nur wenn die Opfer die Spielregeln akzeptieren, unter denen sie verlieren, halten sie sich für Versager.

Nur 20% der Arbeitslosen leben alleine. 80% leben mit (überwiegend erwerbstätigen) PartnerInnen zusammen.

Heinz Müller ist verheiratet. Seine Frau kann ihm ebenfalls das Gefühl geben, ein Versager zu sein.

Obwohl Frauen in der Regel ihrem Mann nicht die Schuld für die Arbeitslosigkeit geben, ändert sich die Situation oftmals dann, wenn den Männern eine neue Arbeitsaufnahme mißlingt und sich Arbeitslosigkeit zu einem Dauerzustand entwickelt. Die Ursache für den Verbleib in der Arbeitslosigkeit wird dann häufig mit dem Verhalten der Männer begründet und als deren persönliches Versagen gewertet.

Auch Nachbarn und Freunde könnten so reagieren. Die Zweifel an Heinz nehmen bei seinem Umfeld zu und damit wiederum auch bei ihm selbst.

Auch Eltern neigen dazu, die Ursachen für erfolglose Bewerbungen ihrer arbeitslosen Kinder bei ihnen selbst zu suchen.

Jeder einzelne arbeitslose Mensch ist in dem Versuch, sich zu erklären, wie ihm oder ihr das nun passiert ist, sich selbst überlassen. Und das führt häufig dazu, daß die individuelle Schuldzuweisung, die von der Gesellschaft (...) den Arbeitslosen entgegengebracht wird, in hohem Umfang von den Arbeitslosen übernommen wird. Um dem entgegenzusteuern ist es wichtig, daß möglichst viele Menschen wissen, daß Arbeitslosigkeit nicht von den Arbeitslosen, sondern vom Kapital erzeugt wird.

Wenn Arbeitslose lernen, sich selbst zu verteidigen und das Wirtschaftssystem zu verstehen, das sie zu "Versagern" macht, können sie eher ihr Selbstwertgefühl stärken.

Der Arbeitsmarkt, der Arbeitslose ausgliedert, erklärt gar nichts. Auf diesem Marktplatz fällen die Käufer der Ware Arbeitskraft das Urteil unbrauchbar oder brauchbar, meist ohne Urteilsbegründung. Erst wenn man die gleichgültigen Urteile des "Marktes" bzw. des Kapitals an sich selbst vollstreckt, wird Arbeitslosigkeit zu einem niederdrückenden persönlichen Problem.

Aber selbst wenn man schlechter ist als MitbewerberInnen: warum wird man dann dafür mit Arbeitslosigkeit und Verarmung bestraft? Gibt es keine andere Lösung?

Arbeitslose, die sich für Versager in der Konkurrenz halten, versuchen, ihre Arbeitslosigkeit zu verbergen. Im Extremfall sogar gegenüber den PartnerInnen. Dann geht jemand jeden Morgen zur gewohnten Zeit aus dem Haus, zu einer Arbeit, die er gar nicht mehr hat. Das Versteckspiel drückt das Selbstwertgefühl weiter nach unten.

Unterstützung – das halbierte Leben

Stoiber-Berater Meinhard Miegel behauptet, daß "bis heute ein Arbeitslosengeld gezahlt (wird), mit dem der gewohnte Lebensstandard geraume Zeit aufrecht erhalten werden kann".

Das durchschnittliche Arbeitslosengeld eines unverheirateten Mannes in Westdeutschland lag im Jahr 2001 bei 1.412 DM, einer unverheirateten Frau bei 1.247 DM. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit gibt es Arbeitslosenhilfe. Sie betrug für unverheiratete Männer im Durchschnitt 1.072 DM, für unverheiratete Frauen 941 DM.

"Langzeitarbeitslose verfügen durchschnittlich über 45% des vor der Arbeitslosigkeit erzielten Nettogehalts an finanziellen Mitteln." Das bedeutet: ihr Leben ist halbiert. Die Arbeitslosenhilfe sinkt seit 1997 auch noch jährlich um drei Prozent.

Miegel behauptet, daß man mit der Hälfte seines Nettogehalts seinen gewohnten Lebensstandard aufrechterhalten kann. Wenn z.B. jemand von einem Nettoeinkommen von 2.300 DM für Miete und Nebenkosten 850 DM ausgegeben hat, dürfte es doch wirklich kein Problem sein, die 850 DM wie gewohnt auch von 1.412 DM und später von 1.200 DM oder weniger zu bezahlen. Die Einnahmen der Arbeitslosen werden schlagartig halbiert, obwohl sie ihre Ausgaben nicht schlagartig halbieren können.

Miegel wundert sich, wieso Langzeitarbeitslose ihre Lage so falsch einschätzen. Denn obwohl sie ihren gewohnten Lebensstandard fortsetzen können, macht sich mehr als die Hälfte der Langzeitarbeitslosen große Sorgen um ihre wirtschaftliche Situation, im Gegensatz zu nur 14% der abhängig Beschäftigten. Sie scheinen entweder nicht wirtschaften zu können oder maßlose Ansprüche zu haben.

Man fragt sich auch, wieso jeder sechste bis siebte Arbeitslose nach zweijähriger Arbeitslosigkeit mit Mietzahlungen in Verzug kommt, jeder Vierte Schulden macht und 80% ihre persönlichen Ausgaben eingeschränkt haben? Das war das Ergebnis einer repräsentativen Befragung von Arbeitslosen in den 70er Jahren. Heute dürften aufgrund zahlreicher Kürzungen die Schwierigkeiten erheblich höher sein.

Wenn sich die Einnahmen eines Unternehmens schlagartig halbieren, kann das die Betriebsstillegung bedeuten. Bei Arbeitslosen findet im Laufe der Zeit oft zumindest eine teilweise "Betriebs"-Stillegung statt. Ihr Leben wird "halbiert", um es in den Rahmen der halbierten Einnahmen zu zwängen.

Daß Arbeitslose "weniger wert" sind, wird ihnen mit der Höhe der Unterstützung unmißverständlich klargemacht. Das zählt mehr als alle schönen Worte und Rechte. Arbeitslose werden als Menschen mit Lebensbedürfnissen noch weniger akzeptiert als Arbeitende.

Die Halbierung des Lebens durch Arbeitslosenunterstützung wirkt wie eine Bestrafung (Geldstrafe) für das "Verbrechen", arbeitslos zu sein. Eine Bestrafung für was? Für das "Verbrechen", dem Kapital keinen Profit einzubringen! Da das Kapital an ihnen nichts verdienen kann, sind sie für das Kapital "nichts wert".

Die Höhe der Unterstützung fördert bei Arbeitslosen Demotivierung und Angst, aber auch Empörung und Verbitterung über die, die ihnen das antun. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber einer Gesellschaft, die sie so behandelt, steigt. Und diese Gesellschaft wird durch Behörden repräsentiert und Gesetze, auf die diese sich berufen.

Die Halbierung der Einkünfte wird noch bedrückender, wenn Lohnabhängige sich angewöhnt haben, ihr persönliches Glück und das Glück in ihrer Familie über Waren zu erkaufen, das neue Auto, das neue Handy, das neue Spielzeug, die teure Reise usw. Arbeitslose können auch dadurch etwas zur Hebung ihres Selbstwertgefühls tun, daß sie ihre Kraft nicht in erster Linie aus dem Kauf und dem Besitz von Waren schöpfen, sondern aus solidarischen Beziehungen zu anderen Menschen und aus der Verfolgung ihrer sozialen Interessen.

Psychisches Wohlbefinden bzw. psychische Entlastung wurden (...) bei Arbeitslosen gefunden, die ihre Freizeit durch sinnvolle Aktivitäten mit anderen Menschen zu gestalten in der Lage sind.

In den Augen des Kapitals ist es positiv, daß Arbeitslose mit dem Geld nicht bis zum Ende des Monats auskommen können. Das soll den Anreiz bilden, sich beliebig ausbeuten zu lassen.

Wenn man auf legalem Wege nicht bis zum Ende des Monats leben darf, wenn Verzichten und Schuldenmachen nicht mehr helfen, setzt sich das Überleben oft "illegal" durch. "Lebbe geht weide", wußte schon Stepanovic, der ehemalige Trainer von Eintracht Frankfurt (Hochdeutsch: Das Leben geht weiter). Unerhört, daß Arbeitslose es wagen, bis zum Ende des Monats überleben zu wollen!

Der zähe Überlebenswille von Arbeitslosen wird als hemmungsloser Egoismus und als Mißbrauch von Sozialleistungen betrachtet. "Mißbrauch" drückt im Wesentlichen nur aus, daß Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu niedrig sind. Das Kapital aber betrachtet ihn als Beweis, daß sie zu hoch sind.

Wenn das Kapital jedoch Steuern hinterzieht, beweist das in seinen Augen immer, daß die Steuern zu hoch sind und gesenkt werden müssen. Was den Reichen recht ist, sollte Arbeitslosen billig sein. Weil es "Mißbrauch" gibt, muß die Arbeitslosenunterstützung erhöht werden.

Arbeitslose können sich nicht in der letzten Woche des Monats stillegen. Arbeitslose, die sich für eine deutliche Erhöhung der Unterstützung einsetzen, kämpfen damit auch gegen den weitverbreiteten "Mißbrauch". Und gegen die zerstörerische Wirkung, die die Arbeitslosigkeit hat. Und sie tun etwas zur Hebung ihres Selbstwertgefühls.

Halbiertes Leben – soziale Isolation

Das aber wird durch die Arbeitslosigkeit selbst erschwert. Mit wachsender Dauer der Arbeitslosigkeit ziehen sich Arbeitslose von Freunden und Bekannten zurück. Ursache ist häufig, daß man finanziell nicht mehr mithalten kann.

Essen gehen, zum Essen einladen, Fahrten zu bzw. Telefonate mit entfernter lebenden Freundinnen und Freunden, Gaststättenbesuche etc. sind Aktivitäten, an denen sie sparen, bis hin zum gänzlichen Verzicht. (...) Nicht zuletzt deshalb findet meistens ein Selektionsprozeß (Auswahlprozeß) im Freundes- und Bekanntenkreis statt. Kontakt wird überwiegend zu denen gesucht, die sich in einer ähnlichen finanziellen Situation befinden.

Die minimale Unterstützung führt zur Verarmung von Kontakten. Das wiederum kann den Lebensmut und das Selbstwertgefühl weiter herunterziehen. Der Münsteraner Psychologe Alfred Gebert: "Solche Kontakte stellen einen enormen Gesundheitsfaktor dar." (FR 20.02.2000) "Die Einsamkeit wird immer größer, je weniger sie machen können, und das ist das Tragische", sagt eine Arbeitslose.

Konflikte in Familien – Halbierung der Familien

Die Hälfte der Arbeitslosen gab an, daß Gereiztheit und Konflikte in Familie und Partnerschaft zunehmen – so eine repräsentative Umfrage. Arbeitslose Männer können sich als Versager fühlen, wenn sie ihrer Frau bzw. den Kindem nicht mehr so viel bieten können. Wenn die Kinder unter der Situation leiden, belastet das auch die Arbeitslosen. Besonders wenn in Familien eine traditionelle Rollenverteilung herrscht, sind Krisen vorprogrammiert. Die Abwertung des Mannes stört das bisherige Gleichgewicht.

Männliche Arbeitslose können sich als minderwertig fühlen, wenn die Rolle des "Familienernährers" auf die Frau übergeht. Konflikte nehmen zu, wenn sie dennoch zeigen wollen, wer der Herr im Hause ist. Frauen können sich in ihrer Rollenverteilung gestört fühlen, wenn der Mann sich in die Haushaltsarbeit einmischt. Arbeitslosigkeit ist leichter zu ertragen, wenn es partnerschaftliche Beziehungen innerhalb von Lebensgemeinschaften gibt.

Konflikte innerhalb der Familie nagen ebenfalls am Selbstbewußtsein und fördern die Tendenz zur Vereinsamung. Die Gedanken an Scheidung nehmen zu, wenn es nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit zu beenden. Etwa 30% der Langzeitarbeitslosen, aber nur 8,4% der abhängig Beschäftigten sind geschieden oder leben in Trennung.

Arbeitslosigkeit ist leichter zu überstehen, wenn sie in Familien "akzeptiert" wird, ohne mit Selbstvorwürfen oder Vorwürfen darauf zu reagieren. Das Kapital aber schafft genau das entgegengesetzte Klima, fördert damit das Auseinanderbrechen von Beziehungen. Das wird zu einer weiteren Quelle der Resignation.

Ohnmacht durch Schulden

Haushalte, die mit ihrem Lohneinkommen auf oder unter dem Sozialhilfeniveau liegen, haben die höchsten Schulden. Mit steigendem Einkommen fällt der Umfang der Schulden und die Höhe der Ratenzahlungen. Verschuldung zeigt im Wesentlichen, daß das Lohnniveau zu niedrig ist. Schulden gleichen vor allem aus, daß Löhne zu niedrig sind, um Anschaffungen von Möbeln und Autos zu finanzieren.

Schulden sind vor allem ein Problem der unteren Schichten. Nach einer Untersuchung bei Schuldnerberatungsstellen sind zwei Drittel der Ratsuchenden Arbeiter. Der Anteil der Ungelernten ist überdurchschnittlich hoch. Etwa zwei Drittel der überschuldeten Haushalte verfügte 1999 monatlich über weniger als 2500 DM Haushaltsnettoeinkommen (bei den Haushalten insgesamt sind es nur ein Drittel).

Verschuldung kann dazu führen, daß Haushalte ihre Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllen können, selbst wenn sie sich einschränken. Überschuldete Haushalte können Zinsen nicht mehr zahlen bzw. die Kredite nicht mehr tilgen (abbezahlen). Das nennt man Überschuldung.

In Westdeutschland gab es 1989 1,2 Millionen Haushalte, die das nicht mehr konnten. 1999 waren es schon 1,9 Millionen.

Etwa die Hälfte dieser Haushalte bezieht Lohneinkommen. Bei rund 40% war der Auslöser der Verschuldung die Arbeitslosigkeit. Jeder fünfte Haushalt von Arbeitslosen macht während der Arbeitslosigkeit Schulden, um finanzielle Engpässe zu bewältigen. Das können Miet-, Energie- und Telefonschulden sein, aber auch private Schulden bei Freunden, Familienmitgliedern und Bekannten.

Der Armutsbericht der Bundesregierung sieht die Lage von Verschuldeten so:

Haushalte geraten vorübergehend oder anhaltend in Problemlagen, wenn sie sich veränderten Lebensbedingungen nicht rasch genug anpassen können.

Eine solche veränderte Lebensbedingung ist die Arbeitslosigkeit. Die Ursache für Überschuldung ist also nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die mangelnde Anpassungsfähigkeit an sie.

Daß sich die Einnahmen eines Lohnempfängers mit der Arbeitslosigkeit halbieren und Zinsen und Tilgung nicht mehr wie gewohnt bezahlt werden können, ist nicht das Problem. Problem ist, daß es doch tatsächlich Menschen gibt, die die Höhe ihrer Schulden nicht augenblicklich daran anpassen können. Problem ist, daß es bei den Arbeiterhaushalten an "Rationalität der Haushaltsführung" mangelt. Wenn ArbeiterInnen mit sinkenden Einkommen nicht zurechtkommen, kann es nur an ihnen liegen.

In einem ganz anderen Sinne hat Überschuldung tatsächlich etwas mit mangelnder Anpassungsfähigkeit zu tun, nämlich dann, wenn

  • im Vertrauen auf eine angeblich gesicherte wirtschaftliche Zukunft Kredite aufgenommen wurden.
  • Kaufen als Trostspender für Unbefriedigtsein in der Lohnarbeit herhalten muß.
  • man sich lieber verschuldet, als für höhere Löhne zu kämpfen bzw. Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen.
  • man Kreditinstituten vertraut und sich von leeren Versprechungen über den Tisch ziehen läßt.
  • man seine Schulden weiterhin "bedient" bzw. zurückzahlt, statt ganz einfach jede Zahlung einzustellen. Überschuldung kann zu viel Vertrauen in das Kapital und zu wenig Vertrauen in die eigene Kraft ausdrücken. Das zeigt mangelnde Anpassungsfähigkeit an seine Lage als LohnarbeiterIn. In diesem Sinne hat Dr. Korczak, der Autor des Verschuldungskapitels im Armutsbericht, recht.

Verschuldung kann so starke Ohnmachtsgefühle und Angst erzeugen, daß man sein Leben nicht mehr im Griff hat.

Ich weiß von Leuten, die haben Bauchschmerzen bei dem Gedanken nach Hause zu gehen, weil sie an den Briefkasten denken, weil das nur auf sie einstürzt, und irgendwann machen sie gar nichts mehr. Die Leute sind nicht mehr Herr ihrer Lage.

So ein Experte über verschuldete Arbeitslose.

Nicht mehr Herr seiner Lage zu sein lähmt Energien. Man kann das Gefühl bekommen, daß alle weiteren Anstrengungen sinnlos sind und läßt alles nur noch über sich ergehen. Damit vermindert sich auch die Arbeitsfähigkeit. Menschen, die die Kontrolle über ihr Leben verlieren, sind in der Gefahr, auch die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Die Bereitschaft, Alkohol als "Problemlöser" zu sich zu nehmen, wächst, wenn sie sowieso schon vorhanden ist.

Im Ergebnis einer erfolgreichen Schuldnerberatung steigt in der Hälfte der Fälle das Selbstwertgefühl wieder und die psychische Lage stabilisiert sich. Die Verschuldung als Folge dessen, daß Löhne und Unterstützung die Lebenshaltungskosten nicht decken, wird selbst zu einem bedeutenden Hindernis, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen.
Arbeitgeber stellen ungern verschuldete LohnarbeiterInnen ein, weil sie die Kosten von Lohnpfändungen scheuen. Verschuldete Arbeitslose arbeiten ungern legal, weil ihnen nach der Pfändung nur noch wenig bleibt.

Die Bundesregierung rät, doch die Hilfe der Schuldnerberatungsstellen als selbstverständlich in Anspruch zu nehmen. Auf 2.150 überschuldete Haushalte kommt in Deutschland aber nur ein (!) Schuldnerberater. Die Gläubiger haben wenig Interesse an Entschuldung, der Staat auch nicht.

Arbeitslos – gesundheitlicher Abbau

Nach einer Untersuchung der Gmünder Ersatzkasse (1,4 Millionen Versicherte) stieg die Sterblichkeit von Arbeitslosen mit der Dauer der Arbeitslosigkeit. Arbeitslosen unter 50 Jahren, die länger als zwei Jahre arbeitslos waren, starben 1998 dreimal häufiger als Beschäftigte unter 50.

60% der abhängig Beschäftigten bezeichneten ihren Gesundheitszustand als sehr gut oder gut, aber nur 25% der Langzeitarbeitslosen. Jeder fünfte Langzeitarbeitslose beurteilte seinen Gesundheitszustand als schlecht, aber nur 1,5% der abhängig Beschäftigten. Gesundheitliche Beeinträchtigungen nehmen durch die Arbeitslosigkeit zu.
Andererseits: "Der hohe Anteil gesundheitlich Beeinträchtigter (unter Arbeitslosen) dürfte (...) hauptsächlich auf personalpolitische Strategien von Arbeitgebern zurückzuführen sein." Eine "Strategie" der Personalpolitik besteht darin, Kranke und Leistungsschwächere in die Arbeitslosigkeit abzudrängen (und in die Rente). Ein bedeutender Teil der Kündigungen erfolgt aus Krankheitsgründen. Das Arbeitsamt wird dank der Massenabschiebung von "Minderleistern" zum Sammelbecken von angeschlagenen Kolleginnen und Kollegen. Im September 2001 hatten 60% aller über 45-jährigen Arbeitslosen in Westdeutschland gesundheitliche Einschränkungen. Bei den Arbeitslosen zwischen 25 und 45 Jahren war es "nur" ein Drittel.

"Gesundheitliche Einschränkungen" sind ein Vermittlungshemmnis. Sie sind auch ein Motiv, angebotene Arbeiten abzulehnen, weil man sich nicht zutraut, den Anforderungen zu genügen. Das erscheint dann als Faulheit.

Psychischer Abbau

An die 90% der Arbeitslosen haben Angst vor ihrer Zukunft. Arbeitslosigkeit fördert psychische Erkrankungen.

Wenn LohnarbeiterInnen ihre Arbeit verlieren und Arbeit suchen, sind sie Entscheidungen ausgeliefert, die andere über sie fällen. Sie sind einem unberechenbaren "Arbeitsmarkt" ausgeliefert. Man ist noch abhängiger, als wenn man arbeitet. Unter diesen Bedingungen kann sich ein Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit einstellen.
Die Menschen werden ja in aller Regel nicht gefragt, ob sie arbeitslos werden möchten, sondern es wird über sie entschieden. Und diese Fremdbestimmung, dieses Ausgeliefert-Sein an das Wohl und Wehe von Interessen, die so genau nicht sichtbar werden für den einzelnen arbeitenden Menschen, dieses Ausgeliefert-Sein ist fatal.

Es besteht die Gefahr, daß man die Kontrolle über sein Leben verliert, weil unbekannte Andere verhindern, daß man wieder auf die Beine kommt.

Der drohende Verlust an Kontrolle der Lebenssituation wird mehrheitlich als gravierendes (schwerwiegendes) Problem beschrieben.

Ohnmachtsgefühle können eine Quelle für Depressionen und psychische Erkrankungen sein. Nach Angaben der Gmünder Ersatzkasse verbringen arbeitslose Männer achtmal so viele Tage in der Psychiatrie wie Nicht-Arbeitslose, arbeitslose Frauen etwa viermal so viele Tage. Bei arbeitslosen Männern entfallen fast 40% der Tage stationärer Unterbringung auf psychiatrische Erkrankungen.

Viele Arbeitslose, die psychisch krank sind, dürften aber schon während des Arbeitslebens krank geworden sein. Psychische Erkrankungen sind genauso wie gesundheitliche Einschränkungen Ursachen für krankheits- bzw. verhaltensbedingte Kündigungen.

Alkoholabhängigkeit

Unter Arbeitslosen zwischen 18 und 29 Jahren war 1987 der Anteil derjenigen, die alkoholgefährdet sind, mit 12-13% etwa doppelt so hoch wie unter Berufstätigen gleichen Alters – so das Ergebnis einer repräsentativen Untersuchung von Infratest. Wenn der Anteil der Alkoholkranken – d.h. der behandlungsbedürftigen Alkoholabhängigen – unter Arbeitslosen ebenfalls doppelt so hoch ist wie unter Berufstätigen, wären etwa 10% der Arbeitslosen offen alkoholabhängig. Bezogen auf Westdeutschland wären das heute etwa 250.000 Arbeitslose.

Jährlich werden in Westdeutschland etwa 50.000 alkoholabhängige Arbeitslose in psychiatrischen Krankenhäusern und Fachkliniken für Suchtkranke aufgenommen. Arbeitslose stellen etwa die Hälfte aller alkoholabhängigen PatientInnen (in Ostdeutschland sind es über 70%). In Suchtberatungsstellen und Entwöhnungsbehandlungen machen Arbeitslose etwa ein Drittel der KlientInnen aus, in Ostdeutschland weit mehr als die Hälfte.

Arbeitslosigkeit fördert den Alkoholkonsum, besonders dann, wenn die Bereitschaft, mit Alkohol "Probleme zu lösen", schon vor der Arbeitslosigkeit vorhanden war. Zahlreiche Studien haben nachgewiesen, daß die Zahl der Arbeitslosen, die ihren Alkoholkonsum während der Arbeitslosigkeit erhöhen, deutlich größer ist als die Zahl derer, die ihn reduzieren. Insbesondere bei Arbeitslosen, deren Selbstwertgefühl am stärksten erschüttert ist, nimmt der Alkoholkonsum mit der Dauer der Arbeitslosigkeit zu.
Arbeitslose, die während der Arbeitslosigkeit eine Therapie beginnen, bleiben zu über 90% auch nach dem Abschluß der Therapie arbeitslos. Arbeitslose werden nach Abschluß einer Therapie doppelt so häufig rückfällig wie Berufstätige. Arbeitslosigkeit hat unter allen Faktoren die größte Bedeutung für Rückfälligkeit.

Alkohol ist ein Mittel, um finanzielle Sorgen zu vergessen und um über Einsamkeit und familiäre Konflikte hinwegzukommen. Alkohol ist ein Mittel, die Langeweile des Arbeitslosendaseins zu ertränken. Alkohol und andere Drogen lösen zeitweise die inneren Spannungen und schaffen ein Glücksgefühl, auch wenn man keinen Grund hat, glücklich zu sein. Auseinandersetzungen, um die eigene Lage zu verändern, werden eher vermieden. Konflikte werden dadurch nach innen verlagert. An der Situation ändert sich nichts.

Alkohol und Drogen schaffen ein Gefühl, man hätte etwas im Griff, obwohl man nichts im Griff hat. In Alkoholabhängigkeit äußert sich ein gewisser Verlust an Kontrolle über die eigene Lage. Man fühlt sich gezwungen zu trinken, um andere Zwänge ertragen zu können z.B. die Abhängigkeit von Entscheidungen Anderer, Konkurrenz, rücksichtslose Anforderungen, moralische Verurteilungen usw. Eine Gesellschaft, die nicht die Kontrolle über sich hat, produziert auch Menschen, die die Kontrolle über sich verlieren.

Alkohol und andere Drogen können wiederum zu "gesundheitlichen Einschränkungen" führen. Alkoholismus wird häufig nicht offengelegt, ist aber ein bedeutsamer Grund dafür, daß Arbeitskräfte weniger belastbar sind, weniger Selbstvertrauen haben und sich deshalb Arbeitsverhältnissen entziehen wollen.

Beispiel:

Ein Teilnehmer, der lange "trocken" war und ein Praktikum mit Aussicht auf eine Stelle antreten soll, die nach eigener Aussage genau seinen Bedürfnissen entspricht, macht sich zwar auf den Weg dorthin, kommt aber nicht an, weil er unterwegs rückfällig wird.

Alkoholismus selbst ist ja schon ein Zeichen dafür, daß man Hilfsmittel braucht, um fehlendes Selbstwußtsein auszugleichen.

Daß Alkoholkranke unter Arbeitslosen häufiger vertreten sind, liegt auch daran, daß Alkoholkranke genauso wie Ältere, gesundheitlich Angeschlagene usw. verstärkt wegen Minderleistung aus den Betrieben aussortiert werden. Alkoholkranke können dem wachsenden Leistungsdruck weniger standhalten. Suchtprobleme können letzte Ursache von Fehlzeiten und Krankmeldungen sein und schließlich auch von krankheits- oder verhaltensbedingten Kündigungen. In einer Befragung nannten z.B. 8 von 80 Langzeitarbeitslosen Sucht als Kündigungsursache. Andererseits werden mit Massenentlassungen (betriebsbedingten Kündigungen) auch Alkoholkranke freigesetzt. Alkoholkranke verbleiben in stärkerem Maße in der Arbeitslosigkeit als andere.

Sucht erscheint als individuelles Problem, als Problem mangelnder Willensstärke. Die millionenfache Verbreitung spiegelt aber wieder, daß Millionen Menschen Glücksgefühle und Entspannung aus Betäubungsmitteln ziehen, weil sie aus dem Verkauf einer Ware namens Arbeitskraft oder ihren sozialen Beziehungen insgesamt zu wenig Befriedigung ziehen können. Lohnabhängigkeit produziert auch andere Arten von Abhängigkeit.

In Westdeutschland sollen Anfang der 80er Jahre rund 2-5% der Bevölkerung über 16 Jahren deutlich erkennbar alkoholabhängig gewesen sein. Das wären heute etwa 1 bis 3 Millionen Menschen. Herbert Ziegler, ehemaliger Geschäftsführer der deutschen Hauptstelle gegen Suchtgefahren:

Am Arbeitsplatz ist mit etwa 5-7% behandlungsbedürftigen Abhängigen von Alkohol und Medikamenten zu rechnen. Wenn Sie in einer Abteilung mit 50 Beschäftigten arbeiten, können das zwei bis vier Kolleginnen und Kollegen sein.

Auch das wären insgesamt um die 2 Millionen behandlungsbedürftige LohnarbeiterInnen.

Der Suchtforscher Joachim Körkel nimmt an, daß insgesamt fast zehn Millionen Deutsche ihren Alkoholkonsum nicht im Griff haben. Doch nur jeder Zwanzigste von ihnen (500.000) sucht professionelle Hilfe. (FR 21.04.2002)

Sich hängen lassen

Mit der Dauer der Arbeitslosigkeit gilt: "Man läßt sich immer mehr hängen." Die durchschnittlich schlechtere gesundheitliche und psychische Verfassung von Arbeitslosen, die geringe Unterstützung, die stärkere Verbreitung von Alkoholismus, Überschuldung, Einsamkeit und geringerem Selbstwertgefühl tragen dazu bei, daß zahlreiche Arbeitslose an Antriebsschwäche leiden. Ihre Willenskraft ist mehr oder weniger stark eingeschränkt.

Noch leiden Arbeitslose im allgemeinen mehr unter der Arbeitslosigkeit, als sich offensiv zu verteidigen.

Das Institut für angewandte Sozialwissenschaften (infas) befragte im Jahre 1988 206 arbeitslose Männer und ihre Frauen, wie sie und ihre Kinder die Arbeitslosigkeit des Mannes verarbeiten. Sie waren im Durchschnitt drei Jahre arbeitslos.

Insbesondere bei un- und angelernten Arbeitern, Sozialhilfebeziehern, bei Menschen ohne Ausbildungsabschluß bzw. mit Hauptschulabschluß erzeugt länger andauernde Arbeitslosigkeit in hohem Maße Resignation, geringeres Selbstwertgefühl und deprimierte Stimmungen.

Wer sich matt und hilflos fühlt, wer dank tätiger Mithilfe der herrschenden Klasse nicht mehr viel von sich hält, der traut sich unter Umständen auch nicht einmal mehr zu, eine Stelle anzunehmen. Der kann reale Angst davor entwickeln, den Anforderungen nicht zu genügen. Wer vereinsamt ist, der traut sich unter Umständen auch nicht mehr unter Menschen, auch nicht unter zukünftige Arbeitskollegen. Wer keine Hoffnung mehr hat, der regelt unter Umständen auch Dinge nicht, die er regeln könnte z.B. beim Sozialamt einen Antrag auf die Übernahme von Mietrückständen zu stellen. Das stößt dann auf völliges Unverständnis.

Arbeitslosigkeit entfaltet ihre zerstörerischen Wirkungen auf die psychische und physische Gesundheit der Arbeitslosen nicht automatisch. Wie sie wirkt, hängt ab von der Höhe der Arbeitslosenunterstützung, von den Aussichten, wieder eine Stelle zu finden, von der Qualifikation, vom Bildungsstand, der gesundheitlichen Verfassung, dem Familienstand, den familiären Beziehungen, der Verantwortung für Kinder, der Einstellung zu den Ursachen seiner Arbeitslosigkeit, von der Einstellung zur Lohnarbeit, von der Gesamtheit der Interessen und der Ziele, die man sich setzt. Sie hängt auch davon ab, ob man sich der Rücksichtslosigkeit des Kapitals geistig und praktisch unterwirft oder sich von ihr distanzieren kann.

Es gibt keinerlei Automatismus, daß Arbeitslosigkeit in jedem Fall persönlich unüberwindbar ist und eine ausweglose Situation mit Alkoholismus, psychischen Erkrankungen usw. erzeugt.

Arbeitslosigkeit ist aber eine objektive Grundlage dafür, daß alle oben beschriebenen Erscheinungen im allgemeinen verhältnismäßig zunehmen müssen.
Persönliche Widerstandsfähigkeit zu entwickeln ist deshalb wichtig, um nicht unterzugehen. Wenn man seine Meinung über sich von der Meinung des Kapitals abhängig macht und keinen eigenen, selbständigen Standpunkt als LohnarbeiterIn entwickelt, zerbricht man eher.

Insbesondere "die Zuschreibung von Ursachen der Langzeitarbeitslosigkeit auf die eigene Person wirkt problemverstärkend."

Dem Kapital, das die Arbeitslosigkeit verursacht, "die Schuld" zuschreiben zu können, wirkt also "problemlösend".

Es ist notwendig zu lernen, sich gegen die Umstände zur Wehr zu setzen, die einen niederdrücken und sich da zu kratzen, wo es einen juckt. Auf dieser Basis wäre es möglich, Selbstbewußtsein immer wieder neu aufzubauen, das durch die Verhältnisse immer wieder abgebaut wird. Konflikte nach außen zu tragen statt nach innen zu verlagern und sie mit sich selbst auszumachen, hilft die Arbeitslosigkeit positiv zu verarbeiten.

Wachsende Schicht von Überflüssigen

Auf dem Grunde des Meers an Arbeitslosen lagern sich diejenigen ab, die abgesunken sind, diejenigen, die zu krank, zu alt oder zu behindert sind. Es lagern sich diejenigen ab, die mit ihrer Qualifikation untergegangen sind, die Süchtigen, psychisch Gestörten, die Resignierten und Verzweifelten.

Sie sammeln sich unter den Arbeitslosen, weil sie ausgemustert sind und weil das Interesse des Kapitals an einer weiteren Verwertung ihrer Arbeitskraft gegen Null geht.
Meinhard Miegel erklärt, daß diese Gruppe von Arbeitslosen 15% ausmacht, also rund 600.000 Menschen, und daß ihre Eingliederung "auf dem derzeitigen Arbeitsmarkt auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten" stößt. Das Kapital hat sie abgeschrieben. Für sie sei eher die Sozialpolitik zuständig als die Beschäftigungspolitik, sagt deshalb Miegel.

Die "unterste Schicht der Arbeitslosen" nimmt mit den Schwierigkeiten der Kapitalverwertung zu. Die zunehmende Dauer der Arbeitslosigkeit drückt die sinkende Nachfrage des Kapitals nach Arbeitskraft aus. 1973 waren nur 8,5% der Arbeitslosen in Westdeutschland länger als ein Jahr ununterbrochen ohne Arbeit, also langzeitarbeitslos. 2001 waren es schon viermal so viele, nämlich 36,8%. Die Zahlen sind erheblich zu gering ausgewiesen. Diejenigen, die mehrfach hintereinander arbeitslos werden, werden nicht als langzeitarbeitslos gerechnet. Kurzfristige Unterbrechungen der Arbeitslosigkeit führen nämlich seit 1985 statistisch zu ihrer Beendigung. Wenn jemand mit einer Unterbrechung von einem Monat insgesamt zwei mal neun Monate arbeitslos war, gilt er nicht als langzeitarbeitslos. Die Forscher des Instituts für Arbeit und Technik schätzen, daß der Anteil der Langzeitarbeitslosen bei knapp 50% der Arbeitslosen liegen dürfte.

Die Arbeitslosigkeit schwächt mit zunehmender Dauer die Leistungsfähigkeit der großen Masse der Arbeitslosen, auch derjenigen, die nicht wegen "Leistungsschwäche" aussortiert worden sind. Je länger jemand arbeitslos ist, desto mehr werden im Durchschnitt Selbstbewußtsein, Gesundheit und Arbeitsfähigkeit untergraben. Die schlechtere physische und psychische Verfassung von Arbeitslosen steht ihrer Wiedereingliederung entgegen. Die Antriebslosigkeit des Kapitals, Menschen zu beschäftigen, deren Arbeitskraft nicht genug einbringt, erzeugt die Antriebslosigkeit von überflüssig Gemachten, ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen.

Arbeitslose – moralisch verurteilt

Mit der Keule Faulheit versucht das Kapital, alle Arbeitslosen niederzuschlagen, die sich dagegen wehren, daß Unternehmen ihnen das Fell mit niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen über die Ohren ziehen. Damit wird versucht, Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl der Arbeitslosen zu brechen.
Mit der Keule Faulheit werden erst recht diejenigen bearbeitet, die bis zum Ende des Monats überleben wollen und sich die dazu notwendigen Einnahmen beschaffen, ohne sie den Behörden anzugeben.

Mit der Keule Faulheit werden auch diejenigen geprügelt, deren Selbstwertgefühl so am Boden liegt, daß sie ihre Antriebskraft weitgehend verloren haben und sich hängen lassen.

Der Faulheitsvorwurf, der ständige Verdacht des Mißbrauchs setzt Arbeitslose erheblich unter Druck. "Ich will arbeiten, kriege aber keine Chance und muß mir dann noch Faulheit und Sozialschmarotzertum vorwerfen lassen", sagte ein Arbeitsloser.

Der Faulheitsverdacht fördert die soziale Isolation.

Er untergräbt auch die Beziehungen zwischen beschäftigten und unbeschäftigten LohnarbeiterInnen und hetzt sie gegeneinander auf. Wenn sich Arbeitslose von allen alleingelassen fühlen, zieht das noch mehr runter. Dann werden sie noch "fauler".

Helmut Maucher, Chef von Nestle, hat schonungslos ausgesprochen, was Manager denken.

Wir haben mittlerweile, provozierend gesagt, einen gewissen Prozentsatz an Wohlstandsmüll in unserer Gesellschaft. Leute, die entweder keinen Antrieb haben zu arbeiten, halb krank oder müde sind, die das System einfach ausnutzen. (Stern 21.11.1997)

Das Kapital hat wie immer damit nichts zu tun. Die moralische Verurteilung der Arbeitslosen verstärkt alle niederdrückende Folgen der Arbeitslosigkeit.

Aber nur dann, wenn man sich den Schuh anzieht, den einem das Kapital hinstellt. Tut man es nicht, erzeugt die moralische Verurteilung der Arbeitslosen die Empörung, die sie verdient.

Der Faulheitsverdacht kann dann dazu beitragen, daß Arbeitslose Kraft gewinnen, ihre Menschenwürde gegen diejenigen zu verteidigen, die sie niedertreten.

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