Auszüge aus Heribert Prantl's
"Kein schöner Land"

Die Zerstörung der sozialen GerechtigkeitWird der Sozialstaat zum Kapitalstaat?

Heribert Prantl sagt, wer ein Interesse daran hat, der sozialen Marktwirtschaft das Soziale auszutreiben. Und er beschreibt, welche Schritte wirklich nötig sind, um uns aus der Sackgasse zu führen. Der Sozialstaat ist Heimat. Beschimpfen kann ihn nur der, der keine Heimat braucht. Und den Abriß wird nur der verlangen, der in seiner eigenen Villa wohnt. Ob er sich dort sehr lange wohlfühlen würde, ist aber fraglich. Jahrelang haben die Propheten des Untergangs den Menschen eingeredet, der Sozialstaat sei schuld an der Krise. Ihr Programm für den Aufschwung sieht so aus: Der Kündigungsschutz wird eingeschränkt, das Arbeitslosengeld gekürzt, das soziale Netz durchlöchert. Die Spitzensteuern werden gesenkt, die Verbrauchssteuern erhöht, die Sozialpolitiker nach Hause geschickt. Gegen die Arbeitslosigkeit hat es nicht geholfen.

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Im Gefolge des Wandels der Daseinsbedingungen haben sich unversehens Vorstellungen in die menschliche Gesellschaft eingeschlichen, wonach der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an den Produktionsmitteln ein absolutes Recht, ohne Schranken, ohne entsprechende Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber, darstellt ... Man kann diesen Mißbrauch nicht scharf genug verurteilen. Noch einmal sei feierlich daran erinnert, daß die Wirtschaft im Dienst des Menschen steht ... ( Papst Paul VI.: Enzyklika Populorum Progressio, 1967)

Ist es wirklich nur Neid, wenn eine Familie mit drei Kindern sich wundert, wie dieselben Leute, die guten Gewissens Millionengehälter einstreichen, bei den Löhnen ihrer Mitarbeiter um Promille feilschen? Ist es wirklich nur Unverstand, wenn die Menschen sich darüber empören, daß eine Deutsche Bank Milliardengewinne verkündet und zugleich Massenentlassungen ankündigt? Entscheidet nur der Markt, was gerecht ist, frei nach der Devise "The winner takes it all"? Jedem also das Seine: Dem gescheiterten Wirtschaftsboß eine Abfindung, von deren Zinsen er ein halbes Dutzend Bundeskanzler bezahlen könnte – für den Arbeitslosen Hartz IV?

Formal gilt noch das Grundgesetz mit seiner Forderung "Eigentum verpflichtet", faktisch aber ändert Deutschland seine Verfassung. Es findet eine Verbetriebswirtschaftlichung des Gemeinwesens statt, die soziale Marktwirtschaft zerbröselt. Man nennt das Reform. Weil solche Reformen bisher keine Arbeitsplätze geschaffen haben, fordern die Spitzen von Wirtschaft und Politik noch mehr Reformen. Unter dem Einfluß einer mächtigen Kampagne ist die Öffentlichkeit bereit, dabei mitzumachen und auf der Flucht vor der Krise fast alles wegzuwerfen, was beim Laufen hindern könnte: auch den sozialen Frieden und die soziale Gerechtigkeit.

In einer selten gewordenen Klarheit führt Heribert Prantl uns diese Situation und die Ursachen dafür vor Augen. Er übersetzt die Sprüche, mit denen wir von der Notwendigkeit des Abschieds vom Sozialstaat überzeugt werden sollen, in klares, unmißverständliches Deutsch – und er sagt, was statt dessen getan werden muß. Prantl zeigt, daß die Massenarbeitslosigkeit ein Anschlag ist auf die Demokratie, weil sie die Menschen unmündig macht. Er zeigt aber auch, wie eine neue Arbeitsgesellschaft aussehen könnte und wie neue Arbeit für Millionen finanziert werden kann. Er fordert den starken Staat, einen Staat, der mit aller Kraft für Chancengleichheit sorgt, als zweiten Teil eines großen Projekts, das einst Willy Brandt begonnen hat: Mehr Demokratie wagen.

Vorwort

Zehn Jahre lang hat die Politik Deutschland zum bloßen Standort kleingeredet. Die "deutsche Leitkultur" bestand in der Ökonomisierung aller Lebensbereiche sowie im Um- und Abbau des Sozialstaats. Die Wertedebatte beschränkte sich darauf, den Wert von niedrigeren Steuern und sinkenden Lohnnebenkosten zu beschwören. Als neues Grundrecht etablierte sich eines auf ungestörte Investitionsausübung. Und während die Steuern sanken, kroch in den Schulen und Kindergärten der Schimmel die Wände hoch. Bildung wurde zum Fremdwort, Integration blieb ein Fremdwort, und die dritte Ausländergeneration in Deutschland fand ihre Heimat nicht hier, sondern in einem Niemandsland.

Dann auf einmal, nach der PISA-Studie und nach dem Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh in den Niederlanden, entdeckte die deutsche Politik, daß man den Dax nicht streicheln und einen kalten Standort nicht lieben kann. CDU/CSU wie SPD unternehmen seither allerlei gespreizte Versuche, einen neuen Patriotismus auszurufen und damit die Defizite vieler Jahre auszugleichen. Aber so einfach ist das nicht. Parteien, die ihre eigenen Mitglieder und Wähler nicht mehr zusammenhalten können, tun sich schwer, darüber zu reden, was die Gesellschaft zusammenhält. Wer seinen Anhängern keine Heimat mehr bieten kann, ist nicht recht glaubwürdig, wenn er über den Wert von Heimat redet. Auch Parteien könnten – wie Familie, Schule, Gemeinde, Arbeitswelt – zu dem gehören, was Heimat schafft; das Land, das Vaterland, ist ja nur der äußere Ring vieler Lebenskreise.

Es gibt Politiker, die sagen, daß Ausländer, die die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, einen "Eid" auf das Grundgesetz ablegen sollen. Dagegen ist gar nicht unbedingt etwas zu sagen. Das setzt aber voraus, daß sich derjenige, der den Ausländern das Grundgesetz hinhält, selber daran hält. Er darf also nicht vergessen, daß das Sozialstaatsprinzip zu den Grundprinzipien des Grundgesetzes gehört. Er darf nicht verdrängen, daß im Grundgesetz der Satz "Eigentum verpflichtet" steht. Er muß daran denken, daß Massenarbeitslosigkeit Massenwürdelosigkeit ist. Er muß darauf achten, daß Demokratie eine Gemeinschaft ist, die ihre Zukunft miteinander gestaltet – miteinander! Das verträgt sich nicht damit, daß immer mehr Menschen ausgegrenzt werden – sozial Schwache, Neubürger, Arbeitslose. Demokratie und Sozialstaat gehören zusammen. Die Bürger in einer Demokratie brauchen Ausbildung und Auskommen, sie brauchen eine leidlich gesicherte Existenz, sie müssen frei sein von Angst um ihre eigenen Lebensverhältnisse.

Ein Patriot ist der, der dafür sorgt, daß Deutschland Heimat bleibt für alle Altbürger und Heimat wird für alle Neubürger. Das nennt man Integration, und es ist das Gegenteil von Ausgrenzung. Integration ist, auch für den Standort, gewinnbringender als ein Abbau des Kündigungsschutzes.

Der Midas-Kult der Ökonomie – vom Sinn des Sozialstaats

Wenn ein Krieg zu Ende ist, braucht man kein Feldlazarett mehr. Das Verbandszeug wird eingepackt, die Medizin in Kisten verstaut, die Sanitäter ziehen ab. So ergeht es heute der Sozialpolitik. Sie war das Feldlazarett hinter den Fronten des Industriezeitalters; die Postmoderne braucht es nicht mehr. Seitdem die Arbeit keine Kraft mehr hat und ihren Wert verliert, seitdem immer weniger Menschen zur Herstellung eines Produkts benötigt werden, seitdem daher der große historische Kampf der Giganten, also der Kampf zwischen Arbeit und Kapital, zu Ende geht, seitdem wird das Lazarett abgebaut: Der Kündigungsschutz wird eingeschränkt, das Arbeitslosengeld gekürzt, das Arbeitsrecht verdünnt, die Sozialpolitiker werden nach Hause geschickt.

In Deutschland zerbröselt die soziale Marktwirtschaft, die ein Resultat war des Ringens der Nachkriegsgewerkschaften mit dem Kapital. Das Kapital hat gesiegt. Um nun noch reicher zu werden, braucht es die Arbeit immer weniger. Die Arbeit, die es noch braucht, will es sich auf der ganzen Welt preiswert aussuchen, weil es überflüssig gewordene Arbeitnehmer fast überall im Überfluß gibt. Arbeitskraft ist heute nicht mehr nur lokal, sondern global austauschbar. Das Kapital mag daher die Rücksichten nicht mehr nehmen, die es bisher genommen hatte – weil es diese Rücksichtnahme zur Erhaltung oder Förderung des Wirtschaftssystems und des Profits nicht mehr braucht; das System funktioniert ja auch so, es funktioniert ohne solche Rücksichtnahmen, genannt Sozialpolitik, vermeintlich sogar noch besser.

So also ist die Lage aus der Sicht des Kapitals: Der Sozialstaat verwandelt sich in den Kapitalstaat. Sozialpolitik war der Tribut, den das Kapital im Interesse möglichst reibungslosen Wirtschaftens über hundert Jahre lang nolens volens zu entrichten bereit war. Weil heute der Gegner keine Kraft mehr hat, ist es damit vorbei. Es heißt jetzt "Eigenverantwortung", wenn die Schwächeren sich selbst überlassen bleiben. Ausbeutung war gestern; Entlassung ist heute. So mancher Entlassene wäre lieber ausgebeutet.
Sozialpolitik rentiere sich nicht mehr, heißt es, mache nur unnötige Kosten, sei überflüssiger Ballast. Das alles ist zwar keine neue Argumentation; so hat die Wirtschaft schon immer argumentiert, um sich gegen zuviel Sozialpolitik zu wehren, aber noch nie stieß sie damit auf so wenig Widerspruch wie heute. Das Kapital hat gesiegt. Hat es aber damit automatisch auch recht?

Die Massenarbeitslosigkeit macht die Menschen kleinlaut und unsicher. Sie nimmt ihnen den Stolz. Wenn heute der in alten Liedern besungene "Mann der Arbeit aufgewacht" ist, erkennt er nicht mehr seine Macht, sondern seine Ohnmacht – und es beschleicht ihn das Gefühl, daß seine Emanzipationsgeschichte nun Geschichte wird. Sie handelt davon, daß der arbeitende Mensch, der einst nur Sache war, dann zur Person aufstieg und durch das Arbeitsrecht zum Menschen wurde, diesen Status nicht mehr halten kann.

Das Kapital dagegen hat, von Grenzen befreit, seine eigenen Märkte gefunden, setzt auf Gewinne durch Spekulation, auf Handel mit sich selbst, auf Reduzierung der Lohnkosten, auf das Gegeneinander-Ausspielen von Standorten und auf Entlassungen. Die Deutsche Bank verkündet einen Jahresgewinn von 2,456 Milliarden Euro im Jahr 2004 und kündigt im gleichen Atemzug den Abbau von sechstausendvierhundert Arbeitsplätzen an. So sollen die Eigenkapitalrenditen weiter steigen und die "Shareholder" begeistert werden. "The winner takes it all" – alles für den Sieger. Dabei nimmt das Kapital auf den unternehmerischen Mittelstand so wenig Rücksicht wie auf die Arbeitnehmer. Die Tragik des unternehmerischen Mittelstands liegt darin, daß sich dieser auf der Seite derer wähnt, die auch ihn kaputtmachen.

Es ist eigentlich nichts Neues: Seit ihrem Bestehen, seitdem Lorenz von Stein im Jahr 1854 zum ersten Mal von einem sozialen Staat gesprochen hat, stehen die sozialen Aufwendungen bei der Wirtschaft im Verdacht, zu teuer zu sein. Deshalb klingt beispielsweise eine Analyse aus dem Jahr 1929 fast so, als wäre sie von heute: Der Vortrag, den Major a. D. Adolf von Bülow damals bei der Tagung der Gesellschaft für Sozialreform gehalten hat, könnte noch heute beim Bundesverband der Industrie fast genauso gehalten werden:

Die sozialen Aufwendungen sind jetzt auf einer Höhe angelangt, die die Wirtschaft auf Dauer in diesem Umfang nicht tragen kann. Aller Voraussicht nach werden die Leistungsanforderungen ständig weiter wachsen, während die Einnahmen einen Stillstand, teilweise ein Absinken zeigen. Grundlegende Reformen sind daher nötig. Die Lage der Finanzen der öffentlichen Haushalte dürfte eher einen erheblichen Abbau der von diesen bisher bezahlten Zuschüsse erfordern als eine weitere Erhöhung oder Vermehrung gestatten. Will man die Sozialversicherung im weitesten Sinn auf die Dauer für ihren wahren Zweck erhalten, muß man sich entschließen, schnell mit kräftiger Hand an eine durchgehende Reform der Leistungen zu gehen, mit dem Ziele, den wirklich Bedürftigen und Notleidenden auch weiterhin in ausreichendem Maße zu helfen. Dagegen darf man sich nicht scheuen, alles nicht unbedingt Erforderliche, selbst wenn es wünschenswert sein mag, rücksichtslos zu streichen.

Soziales streichen: Noch nie hat es die Wirtschaft damit so leicht gehabt wie heute. Kapital und Markt kennen immer weniger Barrieren und Beißhemmungen: Der Kapitalismus, so sagt Oskar Negt, funktioniert zum ersten Mal in seiner Geschichte so, wie Marx es in seinem Kapital beschrieben hat. Die Gesellschaft wird zum Anhängsel des Marktes. Das Soziale zählt zu den Kosten, die zwar volkswirtschaftlich einiges, betriebswirtschaftlich aber nichts nutzen. Weil die Ratio des Neoliberalismus in der Verbetriebswirtschaftlichung des Gemeinwesens besteht, wird das Soziale getilgt. Der unternehmerische Erfolg wird allein an der Wertentwicklung der Aktien bemessen, eine ständisch privilegierte Managerklasse erbringt die für den Shareholder-Value notwendigen Dienste und interessiert sich in erster Linie für ihre Gewinnbeteiligung.
Betriebswirtschaftliche Rationalität ist an die Stelle der Ratio, an die Stelle der Vernunft der Aufklärung, getreten. Man nennt das Rationalisierung. Sie ist die Rückbeförderung des arbeitenden Menschen in die Unmündigkeit. Zu diesem Zweck bedienen sich die Unternehmen sogenannter Unternehmensberatungen, die das, was auch jeder Pförtner weiß, in die Sprache der Banken übersetzen: daß man sich das Geld für tausend Leute spart, wenn man tausend Leute "freisetzt". Eine Massenentlassung gilt als unternehmerische Leistung. Die eingesparten Kosten fallen in letzter Instanz auf das Gemeinwesen, auf den Steuerzahler. Dergestalt rationalisiert werden nicht nur Wirtschaftsbetriebe, sondern auch Universitäten, Kinderläden, Schwimmbäder und Bibliotheken. Der Neoliberalismus glaubt, er könne auch noch aus einem Gefängnis ein Profit-Center machen. Er glaubt, daß die Summe der rationalisierten Betriebe sich zu einem wunderbaren Standort und zum Wohlstand des Gemeinwesens fügt. Es ist dies ein Midas-Glaube.

Midas ist das Urbild der Rationalisierer. Der Neoliberalismus ist der Midas-Kult der Moderne. Midas, der König von Phrygien, wollte bekanntlich alles zu Gold machen, und wäre daran fast zugrunde gegangen: Er hatte sich, so geht die Sage, von Dionysos gewünscht, daß alles, was er berühre, zu Gold werde. Als Midas auf dem Heimweg einen Zweig streifte, einen Stein in die Hand nahm, Ähren pflückte, wurden Zweig, Stein und Ähren zu reinem Gold. Das gleiche geschah mit dem Brot, wenn er sich an den gedeckten Tisch setzte. Auch die Getränke und das mit Wein vermischte Wasser, das er sich in den Hals goß, wurde zu Gold. Midas lief Gefahr, vor Hunger und Durst zu sterben, so daß er schließlich Dionysos bat, ihn von dieser verhängnisvollen Gabe zu befreien. Der Gott befreite Midas durch ein Bad in einer Quelle, die seither Goldsand führt. Ein solches befreiendes Bad für den Neoliberalismus steht noch aus. Er berauscht sich noch immer daran, alles zu Gold zu machen; er privatisiert die Wasserversorgung, er privatisiert das Schul- und Bildungswesen, er vermarktet die Gene von Pflanzen, Tieren und Menschen. Ihm fehlt die Erkenntnis, die Midas gerade noch rechtzeitig hatte. Diese Erkenntnis lautet: Man kann am eigenen Erfolg auch krepieren.

Der Unterschied zwischen Midas und dem Neoliberalismus ist allerdings der, daß an der Sucht des letzteren erst einmal die anderen krepieren – die Freigesetzten, die Entlassenen, die nutzlos Gemachten. Arbeitslosigkeit ist wie eine gefährliche Mißhandlung, sie ist schwere Körperverletzung, sie ist Vergiftung von Leib und Seele. Sie ist schwerer Diebstahl. Sie raubt dem Menschen die Fähigkeiten und Eigenschaften, die er in Familie, Schule und Ausbildung gewonnen hat; sie läßt ihn verkümmern und verkommen, sie macht ihn kaputt. Massenarbeitslosigkeit ist nicht nur ein mathematisches Problem für die Volkswirtschaft, weil sie die Kaufkraft schwächt und den Staatshaushalt auslaugt. Sie eliminiert Qualifikationen und Leistungspotentiale. Sie forciert den Ausschluß von immer mehr Menschen aus der Gesellschaft. Sie ist die Pest der Moderne. Sie zerstört die Gesellschaft.

Zwanzig Millionen Arbeitslose gibt es derzeit in der Europäischen Union, Tendenz steigend. Und in Deutschland startete die größte Arbeitsmarktreform seit Bestehen der Bundesrepublik mit einem Rekord: 5.037.000 Menschen waren im Januar 2005 arbeitslos, das ist beinahe die Zahl aller Arbeitnehmer in Ostdeutschland – und sie liegt trotzdem noch unter der Realität. Die monatliche Statistik der jetzigen Bundesagentur, der früheren Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, war seit je ein Politikum. Die bundesdeutschen Regierungen aller Couleur haben immer wieder viel Einfallsreichtum entwickelt, um die Zahlen zu manipulieren. 2004 änderte die Regierung Schröder die Statistik so, daß Teilnehmer von Trainingsmaßnahmen nicht mehr als Erwerbslose zählten; das senkte die Zahl der Arbeitslosen auf einen Schlag um achtzigtausend.

Während die politischen Bemühungen bisher dahin gegangen sind, die Zahlen nach unten zu drücken, brachte die sogenannte Hartz-IV-Reform vom 1. Januar 2005 einen Schwenk in die andere Richtung und machte die Statistik tatsächlich ein Stück ehrlicher. Nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe werden nun auch Sozialhilfeempfänger, die als erwerbsfähig gelten, in Nürnberg registriert. Durch diesen statistischen Effekt stieg die Arbeitslosenzahl mit einem Mal um zweihunderttausend. Wer sich allerdings gar nicht erst arbeitslos meldet, weil er nicht auf staatliche Hilfe rechnen kann, oder wer in einer Personalservice-Agentur darauf wartet, in einen Job vermittelt zu werden, der taucht in der Statistik nicht auf. Würden all diese Menschen in der Rechnung berücksichtigt, läge die Arbeitslosenzahl in Deutschland bei sechs bis sieben Millionen.

Arbeitslosigkeit ist mehr als nur Einkommenslosigkeit. Die ist nur eine Folge unter vielen: Der Arbeitslose verliert mit seiner Arbeit das Korsett aus Pflichten und Routine; die Zäsuren zwischen Arbeit und Pause, Arbeitstag und Freizeit, zwischen Arbeit und Urlaub entfallen, die bisherigen sozialen Strukturen zerbrechen, das Ego versinkt in Selbstzweifeln. Arbeit ist also nicht nur ein ökonomisches, sondern ein lebensethisch wichtiges Gut, eine Autonomiechance. Massenarbeitslosigkeit macht aus der Gesellschaft ein Marienthal. Marienthal ist ein Provinznest in Österreich. Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld haben dort, in der Nähe von Wien, im Jahr 1930 eine Studie gemacht, die heute noch viel über den Charakter von Arbeitslosigkeit aussagt.

Marienthal: Neunzig Jahre lang hatte dort eine Textilfabrik floriert, von der das ganze Dorf lebte. Diese Fabrik, Pulsader des Dorfes, wurde 1929 geschlossen, die gesamte Bevölkerung wurde arbeitslos. Vor der totalen Arbeitslosigkeit war Marienthal ein lebhaftes, politisch aktives Dorf gewesen. Die Marienthaler Arbeiter hatten sich einen großen, gut gepflegten Park angelegt. Seit der Arbeitslosigkeit verwilderte er völlig, niemand kümmerte sich darum, obwohl alle viel Zeit für seine Pflege gehabt hätten. Dasselbe in der Bibliothek: Die Ausleihen, obwohl gratis, sanken um die Hälfte. Die Arbeiterzeitung mußte einen Schwund der Abonnenten um 60 Prozent hinnehmen. Ein vorher sehr aktiver Lokalpolitiker sagte den Sozialforschern:

Früher habe ich die Arbeiterzeitung auswendig können, jetzt schau ich sie nur ein bißl an und werf sie dann weg, trotzdem ich viel mehr Zeit hab.

Die Forscher sprachen vom "Einschrumpfen der Lebensäußerungen". Aus dem Dorf wurde "eine als Ganzes resignierte Gemeinschaft, die zwar die Ordnung der Gegenwart aufrechterhält, aber die Beziehung zur Zukunft verloren hat". Aus ihrem Rhythmus gerissen, hatten die Menschen kein Gefühl mehr für die Zeit. Die Forscher maßen die Gehgeschwindigkeit: Über die Hälfte der Männer bewegte sich nur mit drei Stundenkilometern; die normale Gehgeschwindigkeit liegt bei über fünf Stundenkilometern. Nur zwölf von hundert Männern trugen eine Uhr bei sich ...

Die Arbeit war eine zentrale Achse im Leben der Marienthaler gewesen, um die herum sich die anderen Aktivitäten gruppierten. Als diese Achse ausfiel, drehte sich auch keines der Räder mehr.

Die Forscher von Marienthal fanden eine Gleichung heraus, von der kein Politiker redet: Verschlechtert sich das Einkommen massiv, dann ändert sich parallel zum schwindenden Geld die seelische Verfassung der Menschen. Die Arbeitslosenunterstützung betrug damals in Österreich durchschnittlich ein Viertel des Gehalts, und sie wurde maximal dreißig Wochen bezahlt. Mit dem Geld verschwand die Gesundheit der Kinder, sie resignierten mit ihren Eltern, sie hatten Angst vor der Zukunft. Es ergab sich ein direkter Zusammenhang zwischen der Höhe der Arbeitslosenunterstützung und dem psychischen Zustand der Familien: Zwischen der Kategorie "ungebrochen", also optimistisch, Pläne für die Zukunft schmiedend, und "apathisch", also verwahrlost, teilnahmslos, lagen damals gerade 15 Schilling.

Die Erlösung von der Arbeit ist ja eigentlich ein uralter Menschheitstraum. In Zeiten der Massenarbeitslosigkeit ist daraus ein Alptraum geworden. In der biblischen Schöpfungsgeschichte wurde Arbeit als Fluch über die Menschheit verhängt. In der Antike und im Mittelalter gehörte es zum Vorrecht der Oberschicht, von der Arbeit ausgenommen zu sein und sich "freien" Tätigkeiten wie der Politik, der Muße und dem Kriegshandwerk zu widmen. Schon Aristoteles träumte von der Abschaffung der Arbeit durch Automatisierung. Erst im Zug der Reformation gewann das Wort Arbeit an Status. Daß Arbeit zum Wesen des Menschen gehört, behaupten heute Marxisten, Christen, Liberale und Konservative gleichermaßen. Die Neuzeit begann damit, daß dem müßigen Adel die Existenzberechtigung entzogen wurde: Es adelte nicht mehr der Adel. Es hieß nun: Arbeit adelt, und Müßiggang ist aller Laster Anfang. Arbeit wurde so sehr zum Inbegriff menschlicher Aktivität, daß wir heute sogar von Trauer- und Liebesarbeit sprechen und damit zugleich meinen, Trauer und Liebe dadurch erst ihre wahre Würde zu geben.

Nun ist Marienthal nicht ganz Europa und 2005 nicht 1930. Aber: Jede Caritasstation und jedes Büro der Inneren Mission hierzulande kennt die Marienthal-Gleichung und die neuen Beispiele dafür. Mit der Arbeitsmarktreform Hartz IV erhalten seit Jahresbeginn 2005 2,6 Millionen Menschen und ihre Familien nicht mehr Arbeitslosenhilfe und damit nicht mehr die Hälfte des letzten Einkommens; sie sind nun in die Sozialhilfe gefallen. Es gibt jetzt in Deutschland 4,5 Millionen neue Sozialhilfeempfänger (wenn man die mitversorgten Familienmitglieder einbezieht), zusätzlich zu den 2,8 Millionen, die es schon vorher gab.

In den Menschen von Marienthal spiegeln sich die Langzeitarbeitslosen und die Sozialhilfeempfänger von heute: Sie resignieren, werden aggressiv oder lethargisch, sie verlieren ihre Fähigkeiten und Interessen, auch an der Politik, sie verlieren ihre Gesundheit. Demotivation und Resignation gipfeln nicht selten in hochgradiger Depression und in Versuchen, sich in einen neuen Zustand zu begeben – mit Drogen, Alkohol und Selbstmordversuchen. Jeder Sozialarbeiter weiß, daß sich Armut vererbt, daß es viel Mühe und noch mehr Geld kostet, dies zu verhindern. "Generation kann nix" werden Jugendliche genannt, die versagen, die unfähig sind. Doch Einrichtungen für Arme verschwinden, Jugendhilfe, Suchtprävention, psychiatrische Dienste, Jugend- und Frauenhäuser fallen Sparprogrammen zum Opfer.

Jeder ist seines Glückes Schmied, hieß es früher. Ist das wirklich so? Die alten Lebensweisheiten sind verbraucht, weil es seit der Massenarbeitslosigkeit das Fundament nicht mehr gibt, auf dem diese gewachsen sind. Junge Menschen, die in soziale Randlagen geworfen sind, die keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz haben, können nichts schmieden. Es ist daher ebenso kostspielig wie sinnlos, wenn das Strafrecht versucht, den Jugendlichen den Satz vom "Glückes Schmied" mit repressiven Mitteln einzubleuen. Der Anstieg der Jugendgewalt geht Hand in Hand mit der sozialen Desintegration.

Wer meint, er könne das soziale Netz zerschneiden und durch Gefängnisgitter ersetzen, möge sich in den Vereinigten Staaten von Amerika umschauen: Dort ist, auch aus diesem Grund, die Inhaftierungsquote innerhalb von zwanzig Jahren um 500 Prozent gestiegen. 2,2 Millionen Menschen saßen Ende 2003 in amerikanischen Gefängnissen. Insgesamt sind 6,9 Millionen Menschen in Haft oder stehen unter Bewährungsaufsicht (so meldete es die New York Times unter Berufung auf eine Statistik des Justizministeriums im Juli 2004). Jeder 109. Amerikaner sitzt ein. Es sitzen mehr Schwarze als Weiße hinter Gittern: Erstere machen nur 12 Prozent der Bevölkerung, aber 52,3 Prozent der Gefängnisinsassen aus. Fast 11 Prozent aller schwarzen Männer im Alter von fünfundzwanzig bis neunundzwanzig Jahren waren 2003 eingesperrt. Vor allem die Bundesgefängnisse sind überfüllt: Dort sind 39 Prozent mehr Gefangene untergebracht als nach den Kapazitätsplänen eigentlich vorgesehen.

Die USA, so analysiert Loïc Wacquant, Soziologieprofessor in Berkeley, betreiben eine Politik, die die Folgen ihres eigenen Versagens kriminalisiert. Es wächst dort freilich auch neue Erkenntnis, weil die Hysterie des Einsperrens nicht finanzierbar ist: An die 40 Milliarden Dollar kostet das Einsperren jedes Jahr. Soziale Ausgrenzung kann man nicht mit Polizei und Gefängnis beenden. Wenn man das macht, produziert man nicht nur ein strafrechtliches, sondern auch ein ökonomisches Desaster. Das Strafrecht ist kein Mittel zur Bewältigung gesellschaftlicher Großprobleme, sondern ein Instrument zur Feststellung und Bestrafung von individueller Schuld. Wer auf soziale Desintegration mit dem Strafrecht antwortet, verschärft die Spaltung der Gesellschaft.

Der Sozialstaat ist kein Feldlazarett. Wäre er nur dieses, könnte er in der Tat einpacken, wenn der Kampf zwischen Kapital und Arbeit zu Ende geht. Sozialpolitik dient nicht nur der Befriedung des Klassenantagonismus und der Optimierung der kapitalistischen Ökonomie. Diente sie nur dazu, wäre sie am Ende, wenn es dieser Ökonomie ohne Sozialpolitik optimal geht. Sozialpolitik ist auch sehr viel mehr als eine gesellschaftliche Verpflichtung gegenüber den Armen, sehr viel mehr als eine Fortsetzung von Notstandsküchen, Obdachlosenhilfe und Armenfürsorge, sie ist sehr viel mehr als eine Frage der Nächstenliebe – erschöpft sich aber schnell, wenn sie sich dem Ziel einer Lebensstandardsicherung verpflichtet. Sozialpolitik ist die Basispolitik der Demokratie. Eine moderne Sozialpolitik sorgt dafür, daß der Mensch Bürger sein kann. Sie gibt ihm Grundsicherung und Grundsicherheit. Seine Freiheitsrechte, seine politischen Rechte brauchen ein Fundament, auf dem sie sich entfalten können. Eine Demokratie, die auf Sozialpolitik verzichtet, gibt sich auf.

Es ist ziemlich in Vergessenheit geraten, daß "Social Security", Grundsicherheit, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht. Artikel 22 besagt:

Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft ein Recht auf soziale Sicherheit, er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuß der für seine Würde und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.

Sozialstaat und Demokratie gehören zusammen, sie bilden eine Einheit. Wer den Sozialstaat beerdigen will, der muß also ein Doppelgrab bestellen.

Ein moderner Sozialstaat ist allerdings keine Unternehmung, die nur auf den Versicherungsfall wartet und dann helfend eingreift. Seine Leistungsstärke zeigt sich also nicht nur am Niveau der Versorgung, wenn dieser Fall eintritt und er dann die Kalamitäten möglichst gut ausgleicht. Die Leistungsstärke des modernen Sozialstaats zeigt sich auch an der Kreativität, mit der er es seinen Bürgern ermöglicht, selbstbestimmt zu leben. Der moderne Sozialstaat ist ein Sozialstaat, der ins Soziale investiert, in die Bildung der Kinder der neuen Unterschichten, der die Schwächen der "Generation Migration" in Stärken verwandelt, der die sprachlichen Kompetenzen und den interkulturellen Reichtum dieser Generation fördert. Solche Sozialpolitik wächst über ihre industriegesellschaftliche Herkunft hinaus. Sie sorgt für annähernd vergleichbare Lebenschancen.

Die Bürger einer Demokratie brauchen Ausbildung und Auskommen, sie brauchen eine leidlich gesicherte ökonomische Existenz, sie müssen frei sein von Angst um die eigenen Lebensverhältnisse. Deshalb sind Reformen, die Langzeitarbeitslose auf eine Rutsche in die Armut setzen, undemokratisch.

Die gewaltigen gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse, die epochalen Umwälzungen der Arbeitsgesellschaft lassen sich nicht entwickeln mit Bürgern, die um ihre Existenz Angst haben müssen. Sie lassen sich auch nicht entwickeln auf der Basis einer Illusion: der Illusion, daß es, Globalisierung und Massenarbeitslosigkeit hin oder her, eigentlich genügend Arbeitsplätze gebe – die jedoch erstens nicht gefunden werden, so daß der Staat mit seinen Arbeitsagenturen nachhelfen muß, und die zweitens nicht besetzt werden können, weil die Arbeitskräfte zu teuer oder die Arbeitslosen zu bequem seien. Eine Demokratie, die auf der Basis solcher Illusionen eine Agenda entwickelt, die nicht nur soziale Leistungen einschränkt (was ja nicht a priori ungerecht ist), sondern die sie begründenden sozialen Rechte abbaut, um auf diese Weise angeblich Arbeitsplätze zu schaffen, baut Demokratie ab.

Demokratie ist eine Gemeinschaft, die ihre Zukunft miteinander gestaltet – miteinander! Exklusion, also einen Teil der Menschen von dieser Gemeinschaft auszuschließen, verträgt sich nicht mit einer solchen Gemeinschaftsaufgabe. Soziale Rechte sind Rechte auf Teilhabe, sie sollen den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft wahren und sie vor Verwahrlosung bewahren. Um Visionen zu entwerfen, wie eine Arbeitsgesellschaft der Zukunft aussehen könnte, braucht man ein vitales Gemeinwesen, braucht man eine Gesellschaft, aus der nicht ein Drittel ausgeschlossen wird. Nur eine vitale Gemeinschaft hat die Kraft, das alte betriebswirtschaftliche Weltbild zu durchstoßen und eine kopernikanische Wende der Arbeitswelt einzuleiten, in der nicht mehr allein Kapital und Markt definieren, was als Arbeit zu verstehen ist.

Düster sieht die Zukunft der Arbeit nämlich nur dann aus, wenn man darunter vor allem Tätigkeiten versteht, die auf die Herstellung von Gütern ausgerichtet sind. Dann lehrt ein Blick in eine moderne Fabrik tatsächlich, daß der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht – weil dort, wo früher tausend Leute standen, nur noch fünfzig stehen, die ein Vielfaches dessen produzieren, was früher die tausend produziert haben. Ein Blick in die Kindergärten, Altersheime, Krankenhäuser und Schulen lehrt anderes: Dort gibt es Arbeit in Hülle und Fülle. Heute ist die Arbeit am Menschen, die Arbeit in Pflege und Betreuung, in Bildung und Kultur notleidend. Und wenn der ökologische Umbau der Gesellschaft richtig angepackt wird, angefangen bei der Verlagerung des Lastwagenverkehrs auf die Schiene, entfaltet sich ein Beschäftigungswunder.

Es gibt unendlich viel Arbeit, die Gemeinschaft stiftet, die für inneren Frieden sorgt; es gibt Arbeit, die unter den Mantel kriecht, den die Politik über die neuen Armen dieser Gesellschaft ausgebreitet hat; es gibt die Arbeit, die auf die Natur Obacht gibt. Das alles ist Gemeinwesenarbeit, die chronisch unterbezahlt ist oder von der man erwartet, daß sie ehrenamtlich, also umsonst, erledigt wird. Der alte, enge Begriff von Arbeit muß also gesprengt, der Arbeitsbegriff vervielfältigt werden – die Arbeit für die Gemeinschaft muß den Rang bekommen, der ihr gebührt. Hier ist das neue Feld der neuen Arbeitsgesellschaft. Und dann kann ein neuer Friedrich Engels dessen Traktat vom Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen fortschreiben und den "Anteil der neuen Arbeit an der Menschwerdung des Menschen" beschreiben. Das ist die Chance der Krise. Auch wenn das Wort "Chance" angesichts der Massenarbeitslosigkeit frivol klingen mag: Diese Frivolität ist Notwendigkeit.

Man hört freilich nicht nur die Finanzminister lachen bei der Frage, wer diese Arbeit denn bezahlen soll. Wer? Es gibt einen überquellenden Reichtum in dieser Gesellschaft; verantwortungsbewußte Sozial- und Gesellschaftspolitik muß diesen Reichtum abschöpfen. Nicht die freie Entfaltung des Kapitals ist das Anliegen der bürgerlichen Freiheitsrechte, sondern die freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes einzelnen. Eine Umverteilung von oben nach unten zum Zweck der sozialen Grundsicherung aller Bürgerinnen und Bürger und zur Herstellung annähernd gleicher Lebenschancen ist kein sozialistischer Restposten, kein Sozialklimbim, kein Gedöns, sondern demokratisches Gebot. Es geht darum, die Menschen in die Lage zu versetzen, Bürger zu sein. Der moderne Sozialstaat befreit den Menschen nicht nur vom Status negativus, also vom Leben in Not, sondern ermöglicht ihm den Status positivus.

Mit der inneren Sicherheit des Menschen verhält es sich so wie mit der inneren Sicherheit des Staates: Sie wird nicht nur mit repressiven Mitteln hergestellt, sondern auch und vor allem mit den Mitteln der Prävention. Vorbeugen ist besser. So verstanden ist präventive Sozialpolitik keine Verengung der Sozialpolitik und der Sozialarbeit, sondern ihre Erweiterung. Es geht dabei auch darum, den Kapitalismus so zu zähmen, daß er die Demokratie nicht frißt. Es wird dies der zweite Teil des großen Projekts "Mehr Demokratie wagen", das einst Bundeskanzler Willy Brandt begonnen hat.

Reichtum verpflichtet – wie man den Sozialstaat bezahlen kann

Die Marktwirtschaft produziert soziale Ungleichheiten, weil der Erfolgreiche ja etwas von seinem Erfolg haben will und haben soll. Die sozialen Ungleichheiten verfestigen sich durch die Garantie von Eigentum und Erbrecht. Das liegt in der Natur der Sache, und das ist so in Ordnung. Der Staat muß freilich diese Ungleichheiten in gewissem Umfang ausgleichen, sonst läuft, wie im ersten Kapitel dargelegt, für einen Teil der Menschen die Freiheit leer – weil ihnen die sozialen Voraussetzungen zur Realisierung ihrer rechtlichen Freiheiten fehlen.

Ungleichheiten ausgleichen – das Grundgesetz ist an dieser Stelle von erhabener Kargheit: "Eigentum verpflichtet" steht im Artikel 14 Absatz 2. Und es schiebt noch die knappe Ergänzung hinterher: "Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Die Politik in Deutschland macht von diesem Satz immer weniger Gebrauch.

Kein anderer Artikel aus dem Grundrechtskatalog ist beim Gesetzgeber so in Vergessenheit geraten wie dieser Artikel 14 Absatz 2. Gelegentlich haben Politiker gefordert, Altbundeskanzler Helmut Schmidt zuvorderst, die Grund- und Menschenrechte um Grund- und Menschenpflichten zu ergänzen. Daß in der Verfassung schon eine Grundpflicht steht, davon will man offensichtlich nicht mehr Notiz nehmen. Wie gesagt: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."

Dieser Artikel 14 Absatz 2 erzeugt in der herrschenden Politik seit je seltsame Verlegenheit, als handele es sich um eine Jugendsünde der Bundesrepublik. Auch das Bundesverfassungsgericht, sonst glanzvoller Architekt und Großmeister beim Bau von dogmatischen Gebäuden, hat zwar des öfteren auf die Gemeinwohlbindung des Eigentums hingewiesen, ihr aber letztlich nur ein rechtfertigendes Gewicht bei Eigentumsbeschränkungen zugestanden – den mit ihr erteilten Verfassungsauftrag hat es kaum erwähnt. So kommt nicht von ungefähr, daß sich kaum noch jemand an Entscheidungen erinnert, in denen das Gericht vom Gebot einer sozial gerechten Eigentumsordnung gesprochen oder die besondere Verantwortlichkeit des Kapitals gegenüber dem Gemeinwohl und der Arbeitnehmerschaft hervorgehoben hat. Diese Entscheidungen sind höchst nachlesenswert, zumal für eine Politik, die vom Sozialstaat nur noch in Verbindung mit dem Adjektiv "unbezahlbar" spricht.

Über Konzerne liest man in einem Urteil vom 7. August 1962 sehr Bemerkenswertes:

Die in der Größe der Betriebe und in der Höhe der eingesetzten Kapitalien verkörperte Zusammenballung wirtschaftlicher Einfluß- und Entscheidungsmöglichkeiten hat zur Folge, daß das unternehmerische Verhalten der Konzernleitungen über das Schicksal des einzelnen Unternehmens hinaus auf die gesamte Volkswirtschaft und die Konjunktur einwirkt, selbst auf Arbeitsmarkt-, Preis- und Währungspolitik. Dennoch hat sich der Gesetzgeber für die unternehmerische Freiheit auch des Konzerns entschieden. Dabei gilt aber die insbesondere in Art. 14 Abs. 2 GG statuierte Verantwortlichkeit gegenüber dem Gemeinwohl erst recht für die Konzernleitung.

Die Verantwortlichkeit gegenüber dem Gemeinwohl gilt erst recht für die Konzernleitung! Und was ist daraus geworden? Verglichen mit den juristischen Bauten, die über den anderen Grundrechtsartikeln errichtet wurden, steht über dem Artikel 14 Absatz 2 nur eine Hundehütte. Deshalb haben die ökonomische Lehre des sogenannten Neoklassizismus und eine um sich greifende wirtschaftliche Praxis die zwei Wörter des Grundgesetzes stillschweigend so ergänzt: Eigentum verpflichtet – zu nichts, außer zur Eigentumsvermehrung und Gewinnmaximierung.

In welchem Geist die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Grundpflicht des Eigentümers formuliert haben, wird dem deutlich, der die Landesverfassungen liest. Zum Beispiel die Bayerische Verfassung, Artikel 168 Absatz 2:

Arbeitsloses Einkommen arbeitsfähiger Personen wird nach Maßgabe der Gesetze mit Sondersteuern belegt.

Oder Artikel 123 Absatz 2 und 3 der Bayerischen Verfassung:

Verbrauchssteuern und Besitzsteuern müssen zueinander in einem angemessenen Verhältnis stehen. Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern.

Oder Artikel 161 Absatz 2 der Bayerischen Verfassung:

Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen.

Die Hessische Verfassung ist nicht minder deutlich. Artikel 39 Absatz 1:

Jeder Mißbrauch der wirtschaftlichen Freiheit – insbesondere zu monopolistischer Machtzusammenballung und zu politischer Macht – ist untersagt.

Artikel 47 der Hessischen Verfassung formuliert Besteuerungsgrundsätze:

1. Das Vermögen und das Einkommen werden progressiv nach sozialen Gesichtspunkten und unter besonderer Berücksichtigung der familiären Lasten besteuert.

2. Bei der Besteuerung ist auf erarbeitetes Vermögen und Einkommen besondere Rücksicht zu nehmen.

In der deutschen Realität ist mit diesen Verfassungssätzen freilich in etwa so umgegangen worden, wie die Menschen landläufig mit dem achten Gebot umgehen. Dort steht bekanntlich: Du sollst kein falsches Zeugnis geben. Die politische Realität in Deutschland straft die Verfassungssätze Lügen. Und die Steuersenkungsdiskussion, die seit Jahren anhält, will die genannten Verfassungsgrundsätze immer tiefer vergraben. Sie will die zahlreichen Ausnahmetatbestände im deutschen Steuersystem, die der wahre Grund für dessen geringe Ertragskraft sind, beibehalten und zugleich die nominalen Steuersätze weiter senken. Es sei zwar richtig, daß das deutsche Abgabensystem im internationalen Wettbewerb gravierende Nachteile hat, "welche der ... Steuersenkungsdiskussion eine scheinbare Legitimität verschafft haben", so Fritz W. Scharpf, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, in einem Aufsatz für die Frankfurter Hefte: Sie betreffen aber nicht das Niveau, sondern die Struktur der Abgabenbelastung.

Die Steuerquote ist in Deutschland sehr niedrig; sie ist seit 1965 nicht mehr gestiegen; dafür aber ist die Sozialabgabenquote sehr hoch, sie hat sich seit 1965 fast verdoppelt. "Beschäftigungspolitisch notwendig wäre", so Scharpf, "eine radikale Senkung der Sozialbeiträge." Dies sei nicht durch Kürzungen bei den Sozialleistungen zu erreichen, sondern durch eine Verlagerung der Finanzierungslast auf das Steuersystem – und dort vor allem auf die Einkommensteuer. Statt dessen fordert die deutsche Steuerdiskussion die Fortsetzung der Politik massiver Steuersenkungen. Der Gesetzgeber betreibt staatliche Reichtumspflege – in der vergeblichen Hoffnung darauf, daß Steuerentlastungen positive Beschäftigungseffekte erzeugen.

Erzeugt worden ist statt dessen etwas anderes: ein allgemeines Bewußtsein, daß die Unternehmenssteuern immer weiter herunter müssen. Der Gesetzgeber selbst hat durch sein eigenes Verhalten den Eindruck genährt, der Staat – der Sozialstaat, der Umweltschutzstaat, der Steuerstaat zumal – sei ein Störenfried. Er hat sich so verhalten, als habe er dies nun erkannt und akzeptiert. Indes: Mit keinem Lohnverzicht, keinem Verzicht auf Arbeits-, Kündigungs- oder Umweltschutz, mit keinem Sozial- und Demokratieabbau, mit keinen noch so aggressiven Exportstrategien und auch mit orgiastischen Steuersenkungen auf 1 Promille sind oder wären die in der westlichen Welt verschwundenen Arbeitsplätze in der Industrie zurückzuholen – ebensowenig wie die Millionen von Stellen, dies es früher in der Landwirtschaft gab.

Der Gesetzgeber hat den Staat in einen Lohnsteuerstaat verwandelt, in einen Staat also, den die auf das normale Arbeitseinkommen erhobenen Steuern finanzieren müssen.
Innerhalb des Steueraufkommens verringerte sich der Beitrag der Gewinn- und Kapitaleinkünfte deutlich, während die Lohnsteuer immer mehr Gewicht gewann.

So beschreibt ein Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin vom Juli 2002 die Entwicklung des deutschen Steueraufkommens seit den fünfziger Jahren. Der Faktor Arbeit wurde immer stärker belastet, die abhängig Beschäftigten wurden immer mehr zur Kasse gebeten. Demgegenüber ...

... verringerte sich die Belastung der Gewinn- und Kapitaleinkünfte in Relation zu den Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen von 34 Prozent Anfang der achtziger Jahre auf gegenwärtig unter 20 Prozent ... Im Trend der vergangenen zwanzig Jahre ist in Deutschland eine deutliche Verschiebung zu Lasten der Arbeitseinkommen und zu Gunsten der Gewinn- und Vermögenseinkünfte zu beobachten ... Im internationalen Vergleich liegt das Aufkommen der deutschen Vermögensbesteuerung in Relation zum Bruttosozialprodukt sehr niedrig.

1980 erreichten die Ertragssteuern auf Unternehmens- und Vermögenseinkommen noch 94 Prozent des Lohnsteueraufkommens; 1990 waren es noch 80 Prozent, 1999 73 Prozent und 2003 nur noch 54 Prozent. Von 2000 bis 2003 stiegen die Gewinne der Unternehmen um 24 Milliarden Euro, doch deren Steuerlast ging um 33 Milliarden Euro und damit um ein Drittel zurück (so die Berechnung von Gustav Obermair und Lorenz Jarass, Mitglieder der Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung und des Wissenschaftlichen Beirats der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen). Zum Vergleich: Der Etat des Bundesministeriums für Bildung und Forschung lag 2004 bei 8,2 Milliarden Euro.

Zu Beginn der Ära Kohl im Jahr 1983 hatten die Unternehmenssteuern (also die Besteuerung der Kapitalgesellschaften durch Körperschaftsteuer und die der Personengesellschaften beziehungsweise Familienbetriebe durch die Einkommensteuer) zusammen einen Anteil von 14,3 Prozent am Gesamtsteueraufkommen. Beim Regierungsantritt von Rot-Grün im Jahr 1998 hatten beide Steuern noch einen Anteil von 6,7 Prozent. Im Jahr 2001, nach drei Jahren rot-grüner Regierung, betrug der Anteil zusammen noch 1,8 Prozent. Die Einnahmen aus der Einkommensteuer fielen binnen drei Jahren von 12,2 auf 4,6 Milliarden Euro. Im Jahr 2001 hat der Staat der Wirtschaft gar 426 Millionen Euro mehr an Körperschaftsteuern zurückerstattet als eingenommen. Das Handelsblatt stellte im August 2001 denn auch fest:
Die "Steuerlast", über die die Wirtschaft immer noch klagt, ist eher ein Phantomschmerz.

Das Kapital jedoch ist mit dieser Entwicklung immer noch nicht zufrieden.

Ein zugleich wettbewerbsfähiges und ergiebiges Abgabensystem ließe sich, so Fritz W. Scharpf, durch den Übergang zu einer "dualen Einkommensteuer" erreichen, wie sie in den skandinavischen Ländern praktiziert wird: Dort wurde (bei gleichzeitiger Beseitigung fast aller Steuervergünstigungen) zwar der Steuersatz für Unternehmensgewinne und die Erträge international mobiler Kapitalanlagen auf ein international noch konkurrenzfähiges Niveau von 25 bis 30 Prozent gesenkt, für alle anderen Einkommensarten gelten dagegen auch weiterhin wesentlich höhere Steuersätze. Das Aufkommen aus der Einkommen- und Körperschaftsteuer ist in Schweden doppelt und in Dänemark fast dreimal so hoch wie in Deutschland. Damit liegt die Gesamtabgabequote in diesen Ländern weit höher als bei uns, und es stehen ihnen mehr Mittel zur Verfügung, ihren Bürgern soziale Sicherheiten zu geben. Es ließe sich freilich auch ein Steuersystem denken, das solche Unternehmensgewinne privilegiert, die in Arbeitsplätze reinvestiert werden, jene aber höher besteuert, mit denen Geld sich selbst vermehren soll.

Mit Klagen über den Mißbrauch des Sozialstaats hat die herrschende Politik davon abgelenkt, daß es in Deutschland ein Armuts- und ein Reichtumsproblem gibt. Deutschland ist kein armes Land, aber es gibt immer mehr Armut in Deutschland. Armut kehrt nicht einfach zurück; sie bekommt eine neue Qualität. Es ist dies eine andere Armut als die im neunzehnten Jahrhundert. Es gibt keine arme Klasse, kein Proletariat mehr, das sich kämpferisch zusammenschließen könnte. Armut hat heute viele Gesichter: der arbeitslose Akademiker; die ältere Sekretärin, die ihren Job verloren hat; die Alleinerziehende, die den Sprung ins Berufsleben nicht mehr schafft; der Langzeitarbeitslose, der Dutzende, oft Hunderte von vergeblichen Bewerbungen hinter sich hat; Ausländer, Pflegebedürftige, Hartz-IV-Geschädigte; Familien, in denen Mann und Frau arbeiten, und trotzdem kaum die horrende Miete und die Schulutensilien für die Kinder zahlen können.

Die Halbierung der Geburtenzahlen seit 1965 ging einher mit einem Anstieg des Anteils der Kinder in der Sozialhilfe – und das, obwohl sehr viel mehr Mütter arbeiten gehen: Die sogenannte Müttererwerbsquote hat seit 1960 um mehr als 50 Prozent zugenommen. Trotzdem leben mehr als eine Million Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren im Sozialhilfebezug, die Hälfte davon in Haushalten mit alleinerziehenden Frauen. Im Jahr 2002 machten Kinder 37 Prozent aller Sozialhilfeempfänger aus. Seit 1980 ist die Sozialhilfequote der Kinder insgesamt von 2,1 auf 6,6 Prozent gestiegen, die der unter Siebenjährigen von 2 auf 8,6 Prozent.

All die relativ Armen haben wenig gemein. Armut ist nicht mehr milieubildend – deshalb hat sie sich auch in der Bundesrepublik nicht in eine politische Bewegung übersetzt. Auch die Straßenproteste gegen Hartz IV, also gegen die Arbeitsmarktreformen, haben das nicht geschafft. Sicher: Nicht jeder Empfänger von Sozialhilfe ist ein Armer, vielleicht verschafft er sich mit Schwarzarbeit eine Nebeneinkunft. Die Armen in Deutschland verhungern normalerweise auch nicht; nur im Winter liest man gelegentlich Meldungen über Menschen, die "an der Kälte" erfrieren. Das stimmt aber nicht. Sie sterben an der Armut, irgendwo in einem Hauseingang oder auf einer Parkbank.

Die Armen in Deutschland sind arm, weil sie ausgeschlossen sind aus einer Welt, die sich nur den einigermaßen Situierten entfaltet. Verglichen mit dem Elend in Kalkutta sind die deutschen Armen komfortabel ausgestattet. Aber daraus ergibt sich auch das besonders Bittere für die Bedürftigen in Deutschland: Sie haben die Anerkennung ihrer Bedürftigkeit verloren.

Deshalb kann ein Politiker am Rande einer "Spendengala" für die Opfer der Tsunami-Katastrophe sagen, er könne, angesichts des Elends in Thailand und Malaysia, das Gejammer der angeblich Armen in Deutschland nicht mehr hören. Deshalb kann so rigoros ins soziale Netz geschnitten werden. Deshalb kann denen, die wenig haben, genommen werden, um es denen zu geben, die schon haben. Deshalb kann die Politik den Spitzensteuersatz senken und dafür die Verbrauchssteuern erhöhen. Deshalb können Arbeitgebervertreter so tun, als seien Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger allesamt kleine Könige, die jetzt in einer Art Umerziehungsmaßnahme wieder an das Brot der frühen Jahre gewöhnt werden müßten. Deshalb ist es so, daß die "einschneidenden Maßnahmen", die die Politik propagiert und praktiziert, vor allem die kleinen Leute treffen, die kleinen Arbeitnehmer, die Familien, die Arbeitslosen, die Wohnungssuchenden, die Pflegebedürftigen – nach dem Motto: Kleinvieh macht auch Mist. Wer also den Gürtel ohnehin schon eng schnallen muß, der soll ihn noch enger schnallen, auf daß es nach dieser einschneidenden Maßnahme der Allgemeinheit bessergehe.

Offizielle Zahlen zum Reichtum in Deutschland gibt es nicht. Die Grunddaten: Die untere Hälfte der privaten Haushalte verfügt über 2,5 Prozent, die obersten 10 Prozent der Haushalte hingegen verfügen über die Hälfte des gesamten Privatvermögens. Dieser Reichtum an der Spitze nimmt durch Erbschaften in sehr großem Maß zu; weil immer mehr Deutsche keine Kinder haben, erbt man nicht nur von oben, also von Vater und Mutter, sondern trichterförmig von allen Seiten. Schätzungsweise 200 Milliarden Euro werden derzeit jährlich vererbt; das Aufkommen an Erbschaftsteuer betrug 2002 rund 3 Milliarden Euro, also 1,5 Prozent der Erbmasse – das heißt, sie ist eher eine Bagatellsteuer.

Die Diskrepanz zwischen öffentlicher Armut und privatem Reichtum wird krasser, mit allen Gefahren, die für den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft daraus erwachsen. Ein Münchner Bürger hat in einem Brief an den Münchner Oberbürgermeister geschrieben:

Arm zu sein unter Armen, das kann man ertragen. Arm zu sein unter protzenhaftem Reichtum – das ist unerträglich.

Deutschland hat im internationalen Vergleich die niedrigsten Besteuerungsquoten in bezug auf Vermögensbestände. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung fand im Jahr 2002 im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung heraus: Faßt man Grundsteuern, Erbschaft- und Schenkungsteuer, Grunderwerbsteuer und Vermögensteuer zusammen, so ergibt sich für das Jahr 1999, daß Großbritannien mit einem Anteil von 3,9 Prozent am Bruttoinlandsprodukt Spitzenreiter war, gefolgt von den USA mit 3,4 Prozent, Frankreich mit 3,2 Prozent und Japan mit 2,9 Prozent. Die fünfzehn Staaten der Europäischen Union brachten es auf einen Durchschnitt von 2 Prozent, und die OECD-Staaten auf 1,9 Prozent. Deutschland wies lediglich einen Anteil von 0,9 Prozent auf.

Seit Jahren wird jegliche Diskussion über die Einführung einer Reichtumssteuer in Deutschland sofort gestoppt mit dem Hinweis, das ginge nicht, weil das Bundesverfassungsgericht die Vermögensteuer für verfassungswidrig erklärt habe. Das ist falsch. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 1995 nicht über jedwede Vermögensbesteuerung entschieden, es hat auch nicht die Vermögensteuer für verfassungswidrig erklärt, es hat lediglich erklärt, daß diese Steuer aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht als Substanzsteuer, sondern lediglich als Sollertragssteuer ausgestaltet werden könne, sie dürfe also nur an die möglichen Vermögenserträge anknüpfen. Das Gericht wies darauf hin, daß ansonsten Steuerpflichtige mit Geldvermögen gegenüber Grundeigentümern benachteiligt würden, weil Immobilien nicht mit dem Verkehrswert, sondern mit dem viel niedrigeren Einheitswert veranlagt werden – und setzte dem Gesetzgeber eine Änderungsfrist zur Behebung dieser Ungleichheiten bis Ende 1996. Der jedoch setzte die Erhebung der Vermögensteuer einfach aus.

In eines der zahllosen Steuergesetze wurde damals, unter der Regierung Helmut Kohl, der Passus eingefügt, die Vermögensteuer werde von 1997 an "nicht mehr erhoben". Und dabei ist es bis zum heutigen Tag geblieben. Die Grundsteuer berechnet der Staat noch immer nach völlig veralteten Einheitswerten, die, wenn es hoch kommt, bei 20 Prozent der Verkehrswerte liegen. Und die Schere zwischen Armut und Reichtum in Deutschland ist seitdem immer weiter auseinandergegangen.

Das könnte auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe beeindrucken und zu einer Korrektur seiner damals von Richter Paul Kirchhof geprägten Auffassung veranlassen, daß die Vermögensteuer nur aus dem Vermögensertrag geschöpft werden dürfe. Traditionell ist die Vermögensteuer überwiegend als Substanzsteuer verstanden worden. Mit Recht: Schließlich, darauf hat der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hingewiesen, wird ja das Vermögen durch den Staat und die Rechtsordnung gesichert, und ein großes Vermögen begründet auch eine eigene steuerliche Leistungsfähigkeit. Eine Vermögensbesteuerung darf allerdings auch nicht als Weg in die Konfiskation [Enteignung] von Vermögen mißbraucht werden.

An dieser Stelle eine Gedenkminute für die rasanteste Wertsteigerung, die jemals ein Flecken deutscher Boden erfahren haben dürfte: Es geschah am Abend des 20. Juni 1991. Der Bundestag stimmte nach einer fulminanten Debatte mit 338 gegen 320 Stimmen für den Umzug "in die alte Reichshauptstadt" Berlin – der Berliner Boden verteuerte sich daraufhin um rund 100 Milliarden Mark. "Creatio ex nihilo", (Wert)-Schöpfung aus dem Nichts, hat das der Berliner Journalist Christian Bommarius genannt. Der Staat hat den zugeflogenen Reichtum nicht einmal teilweise abgeschöpft, er hat sich, wenn die exorbitanten Wertsteigerungen durch Verkäufe realisiert wurden, keinen Wertausgleich zahlen lassen. Reich wurden andere.

Nichts liegt näher, als unverdiente Wertsteigerungen abzuschöpfen. Seit hundertzwanzig Jahren wird in Deutschland diese Forderung erhoben, von Konservativen und Sozialisten, von Christsozialen und Sozialdemokraten; erst in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren wurde sie leiser. Offenbar hat man sich in der Zeit, bevor der Neue Markt zusammenbrach, in der Zeit, als Aktienspekulationen dort noch ungeheure Gewinne abwarfen, daran gewöhnt, daß "ex nihilo" und für nichts ungeheuer viel Geld verdient werden darf.

Im Jahr 1960, als das Bundesbaugesetz erlassen wurde, formulierte die Regierung des Bundeskanzlers Konrad Adenauer die Hauptaufgabe dieses Gesetzes so: Es solle sicherstellen, "daß dem Bodenwucher wirksam entgegengetreten wird und ein Baulandmarkt entsteht, der Bauland zu gerechten Preisen anbietet". Einer von Bundesregierung und Landesregierungen eingesetzten Expertenkommission war ein probates Mittel eingefallen, wie dieses Ziel zu erreichen sei – nämlich durch Abschöpfung der Planungsgewinne, durch Planungswertausgleich. Den Vorschlag übernahmen die Fraktionen von CDU und SPD in einem Initiativantrag zum geplanten Bundesbaugesetz – er verschwand jedoch in der Versenkung, das Gesetz wählte einen anderen Weg.

Wohin dieser Weg führte, wurde spätestens 1970 klar, als der damalige bayerische SPD-Landtagsabgeordnete Georg Kronawitter vom nächtlichen Treiben auf den Äckern des Münchner Multimillionärs August von Finck berichtete, zwanzig Millionen Quadratmetern Bauerwartungsland vor den Toren der Landeshauptstadt. Das Gebiet hatte 1970 eine durchschnittliche Wertsteigerung von 20 Mark je Quadratmeter erfahren.

Der Abgeordnete, der bald darauf Münchner Oberbürgermeister wurde, prangerte das in fast jeder seiner Veranstaltungen an:

Jeden Morgen, wenn Herr von Finck wach wird, ist er um eine Million reicher geworden – auf ganz legale Weise, ohne Arbeit, ohne Leistung, ohne eigenes Zutun.

In Wahrheit, so Christian Bommarius, hatte der Baron nur die Lehre des John Stuart Mill befolgt:

Die Grundbesitzer haben ein Recht, im Schlaf reich zu werden.

Natürlich war der Fall des Barons von Finck kein Einzelfall. Von 1950 bis 1960 stiegen die Baulandpreise in der Bundesrepublik auf 310 Prozent, bis 1965 auf 935 Prozent und bis 1970 auf 1200 Prozent. Für die Ballungsräume lag die Steigerungsrate allein von 1959 bis 1969 bei über 2000 Prozent.

Das große Geschäft macht meist nicht die Kommune; typisch ist der Fall des Großbauern, der den Quadratmeter Ackerland plötzlich für 180 statt für 4 Euro verkaufen kann, sobald der Grund baureif wird. Die Immobilienspekulation hat sich wie ein Krebsgeschwür vom Zentrum der Städte über die Innenstadtgebiete auf die gesamte Region ausgebreitet. Nur kurzzeitig sanken im Jahr 2001 die Baulandpreise, beispielsweise einiger Sonderentwicklungen in Berlin wegen, weil viele Berliner ins Umland zogen.
Der durchschnittliche Kaufwert für Bauland stieg in den alten Bundesgebieten von 1990 bis 1998 von 11,54 auf 110,42 Mark pro Quadratmeter, in den neuen Bundesländern von 1992 bis 1998 von 19,92 auf 60,37 Mark pro Quadratmeter. Für den Erwerb eines fünfhundert Quadratmeter großen Baugrundstücks in einer großen westdeutschen Kernstadt muß ein Erwerber, statistisch gesehen, derzeit 41,4 Monatseinkommen aufwenden, in einer kleinen Kernstadt 26,9, in den Umlandgemeinden 17,1 und in ländlichen Gebieten 9,3 Monatseinkommen.

Mehr als dreiunddreißig Millionen Bausparverträge harren ihrer Zuteilung. Standen im Jahr 1950 auf knapp 7 Prozent der Gesamtfläche der Bundesrepublik Häuser und Straßen, so hat sich die versiegelte Fläche heute fast verdoppelt. An jedem Tag wird in Deutschland durchschnittlich eine Fläche von hundertneunundzwanzig Hektar bebaut – auf dieser Fläche hätten zweihundert Fußballfelder Platz. Im Jahr 1999 gerieten vierhunderteinundsiebzig Quadratkilometer unter Stein und Asphalt: ein Gebiet größer als München, Köln oder das Bundesland Bremen. Die Zersiedelung der Landschaft ist zu einem Problem geworden: Das Umweltbundesamt klagt über den Verlust an Artenvielfalt, erschwerte Neubildung des Grundwassers, irreversible Bodenbegradigungen. Dazu kommen gewaltige Ströme von Pendlern.

Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen.

Im März 1976 schien endlich die Stunde für diesen Artikel 161 Absatz 2 der Bayerischen Verfassung zu schlagen: Der Bundestag verabschiedete eine Novelle zum Bundesbaugesetz. Danach sollten zwar nicht, wie von der SPD ursprünglich vorgeschlagen, sämtliche Planungsgewinne, aber doch immerhin 50 Prozent von den Grundeigentümern abgeführt werden. Diesmal hatten fast alle dafür gestimmt, unter anderem auch der CSU-Parteitag von 1973 in München. Der Münchner Stadtrat forderte fast einstimmig eine stärkere Abschöpfung der leistungslosen Bodengewinne. Ebenso die CDU-Bodenrechtskommission im Mai 1973, die FDP, der 49. Deutsche Juristentag in Düsseldorf 1972, der Deutsche Städtetag, der Deutsche Mieterbund, der Bund privater Wohnungsunternehmen, der Deutsche Bauernverband, der Deutsche Siedlerbund, der Zentralverband des Deutschen Handwerks und die Gesellschaft für Wohnungs- und Siedlungswesen.

Indes: Die CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat lehnte den Planungswertausgleich ab, der Vermittlungsausschuß wurde angerufen, und der "abgabenrechtliche Teil" der Novelle zum Bundesbaugesetz verschwand in der Versenkung. Dort ruht er bis heute. Hans-Jochen Vogel, der ehemalige SPD-Vorsitzende, der 1974 als Bundesbauminister im Bundeskabinett immerhin die fünfzigprozentige Abgabe auf planungsbedingte Wertsteigerungen hatte durchsetzen können, kann es sich nicht so recht erklären, warum es "dafür gegenwärtig keine Voraussetzungen" gibt:

Ich könnte es mir einfach machen und Brecht zitieren – die Verhältnisse sind nicht so! Andere Sorgen erscheinen offenbar dringender; Arbeitslosigkeit, die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, leere Staatskassen.

Das Bundesverfassungsgericht hat zwar 1967 dem Gesetzgeber einen großen Wegweiser aufgestellt – aber der hat ihn nicht beachtet:

Die Tatsache, daß der Grund und Boden unvermehrbar und unentbehrlich ist, verbietet es, seine Nutzung dem unübersehbaren Spiel der Kräfte und dem Belieben des einzelnen vollständig zu überlassen; eine gerechte Rechts- und Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, die Interessen der Allgemeinheit beim Boden in weit stärkerem Maße zur Geltung zu bringen als bei anderen Vermögenswerten ... Das Gebot sozialgerechter Nutzung ist aber nicht nur eine Anweisung für das konkrete Verhalten des Eigentümers, sondern in erster Linie eine Richtschnur für den Gesetzgeber, bei der Regelung des Eigentumsinhalts das Wohl der Allgemeinheit zu beachten. Es liegt hierin die Absage an eine Eigentumsordnung, in der das Individualinteresse den unbedingten Vorrang vor den Interessen der Gemeinschaft hat.

Es war in den Wind geschrieben. Der Staat versuchte statt dessen, die Wohnungsnot mit dem – inzwischen verkümmerten und seiner Gemeinnützigkeit entbundenen – sozialen Wohnungsbau und Wohnungsbauförderungsprogrammen zu lösen. Heute merkt er, chronisch unterfinanziert wie er ist, daß er nicht einmal mehr die Eigenheimzulage zahlen kann.

Ein Land, das sich primär als Industriestandort definiert, braucht Menschen, die funktionieren. Funktionieren sie nicht so, wie der Markt es gerade für notwendig hält, sind sie Mißbraucher: Die ersten Mißbraucher in Deutschland waren daher die sogenannten Asylmißbraucher und die Gastarbeiter. Die Asylmißbraucher waren Mißbraucher, weil sie kamen, und die Gastarbeiter waren Mißbraucher, weil sie nicht mehr gingen. Es folgten die sogenannten Sozialmißbraucher. Gegen sie wurden Paragraphen in Stellung gebracht. Der echte Mißbrauch aber, der Mißbrauch von Grund und Boden durch Spekulanten und Terraingesellschaften, wurde und wird akzeptiert.

Das deutsche Bodenrecht ist asozial. Der Gesetzgeber leugnet Buchstaben und Geist der Verfassung. Dabei gilt für den Grund und Boden das Argument ersichtlich nicht, das sonst für Entlastungsmaßnahmen herhalten muß: Das Kapital sei wie ein scheues Reh. Immobilien heißen nämlich so, weil sie immobil sind. Niemand kann sie, wie Fabriken und Arbeitsplätze, ins Ausland verlagern. In den deutschen Reformdebatten heißt es gern, es gäbe kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Wie wahr.

Erwerbsfreiheit und Eigentumsgarantie setzen aus sich heraus notwendigerweise immer wieder soziale Ungleichheit. "Diese Ungleichheit darf aber ein gewisses Maß nicht überschreiten, sonst geht sie über in Unfreiheit", sagt der Rechtsdenker Ernst-Wolfgang Böckenförde. Und er setzt hinzu: "Marx wird zunehmend wieder aktueller." Böckenförde war es auch, der 1995 in sein Verfassungsgerichtsvotum zur Vermögensteuer den Satz geschrieben hat, die Sicherung unbegrenzter Eigentumsakkumulation sei nicht der Inhalt der Eigentumsgarantie.

Wenn also der Gesetzgeber sich zum Akkumulationsgehilfen macht, wenn er nicht versucht, Ungleichheit auszugleichen, wenn er sich vor der Pflicht drückt, dem Satz "Eigentum verpflichtet" zu einer guten Geltung zu verhelfen, wenn er also seine Gemeinwohlverantwortung leugnet – dann ist Deutschland nicht der Staat, den Grundgesetz und Landesverfassungen konstituieren wollten.

Lieber Schweine als Kinder – wie die Reprivatisierung der Sozialpolitik ausgerechnet die Menschen besonders belastet, die solidarisch leben

Wer Schweine erzieht, ist ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft.

Friedrich List schleuderte diese berühmt gewordene Invektive im Jahr 1841 der liberalen Nationalökonomie entgegen. Friedrich List war der Mitbegründer des Deutschen Handels- und Gewerbevereins, Professor für Staatswirtschaft und Staatspraxis in Tübingen und Verfechter der zollpolitischen Einigung Deutschlands. So alt und so böse sein Wort auch ist, es trifft – trotz Kinder- und Erziehungsgeld, trotz der Steuerfreibeträge für Kinder – noch immer und auf neue Weise.

Die Leistungen der Familie gehen bis heute nicht in die Berechnungen des Volkseinkommens ein. Die Familien tragen die Lasten des sozialen Systems und ernten dafür – Nachteile. Wer im privaten Leben Solidarität lebt, wird im staatlichen Solidarverband bestraft. Er muß sich darauf verweisen lassen, erst einmal vom Geld anderer – vom Partner, von Kindern, von Eltern – zu zehren, bevor er selbst Anspruch auf staatliches Geld hat. So ist es beim Arbeitslosengeld 2, so ist es bei Hartz IV. Zwar nimmt die Gesellschaft gern all die Leistungen kostenlos entgegen, welche Familien bei der Betreuung und Erziehung von Kindern, ihrer Ausbildung oder bei der Pflege alter Menschen erbringen. Zum Dank dafür werden sie jedoch zusätzlich belastet. Die partielle Reprivatisierung des Sozialen trifft die sogenannte Keimzelle des Staates besonders, die – auch deshalb – immer weniger keimt.

Mehr denn je ist es so, daß kinderlose Menschen von den Leistungen der Familie profitieren und der Staat für keinen ausreichenden Ausgleich sorgt. Kinderlosigkeit ist epidemisch. Frauen, die zu Kriegsende geboren wurden, blieben zu 13 Prozent ohne Kinder, beim Geburtsjahrgang 1955 waren es schon 19,5 Prozent. Und bei den Frauen, die 1965 geboren wurden, wird die Anzahl derer, die endgültig kinderlos bleiben, auf 31,2 Prozent geschätzt. Die Zahl der Menschen, die mit Kindern familiär zusammenleben, sinkt dramatisch: 1972 waren das noch 68,5 Prozent der Bevölkerung, im Jahr 2000 nur noch 54 Prozent. Aber nur Familien sorgen für kostenlosen Nachschub von Beitragszahlern für die sozialen Systeme; die Kinderlosen sorgen derweil für ihren eigenen Erwerb und für ihr eigenes Fortkommen. Ein Ausgleich findet nicht statt.

Das führt so lange nicht zu größeren Benachteiligungen, solange die Regel des "Dreigenerationenvertrags" noch generell gilt, daß diejenigen, die mit Arbeit Geld verdienen, mit ihren Versicherungsbeiträgen die Alten ernähren und zugleich mit eigenem Nachwuchs dafür Sorge tragen, daß auch sie später im Alter von den nachfolgenden Generationen versorgt werden. Spielt jedoch die Hälfte der Bevölkerung bei diesem Spiel der wechselseitigen Verantwortung nicht mehr mit, dann stehen die Familien als die Verlierer da. So ist das deutsche Rentenversicherungssystem ein ... System zur Prämierung von Kinderlosigkeit geworden.

Der Kinderlose bricht den Generationenvertrag durch einseitige Kündigung und profitiert später, im Alter, trotzdem von ihm. So werden erstens die künftigen Beitragszahler geschädigt, weil der Kinderunwillige nicht für neue Beitragszahler gesorgt hat. Und so werden Familien benachteiligt, die die Kosten der Kindererziehung tragen – derweil der Kinderlose Karriere macht und Rentenanwartschaften aufbaut, verzichten die kindererziehende Mutter oder der kindererziehende Vater womöglich auf eine Karriere.
Der Unterhalt der alten Generation ist zweifach gesichert: Die Rente ist zu 100 Prozent kollektiviert, und wenn diese fürs Leben und Pflegen nicht reicht, kommen Ansprüche gegen die Kinder dazu. Dagegen findet der Unterhalt der nachwachsenden Generation nur zu etwa 25 Prozent kollektive Unterstützung, den Rest der Zeche zahlen die Eltern.

"Kinder", so sagt der Bielefelder Soziologe Franz-Xaver Kaufmann, "sind zu einer Art Kollektivgut geworden wie die natürliche Umwelt: Alle haben ein Interesse an Nachwuchs oder Umwelt, aber keine ökonomischen Anreize, etwas dafür zu tun." Wer nichts dafür tut, ja selbst der, der dem Kollektivgut Schaden zufügt, profitiert von ihm in gleicher Weise wie die anderen.

Es gibt eine Altenkasse, aus der per Umlage die Renten bezahlt werden; es gibt aber keine Kinderkasse, aus der per Umlage die Kosten der Kindererziehung bezahlt werden. Der Unterhalt der Nicht-mehr-Erwerbstätigen wird im solidarischen Verband der Arbeitnehmer gewährleistet; der Unterhalt der Noch-nicht-Erwerbstätigen dagegen nicht. Kinder kriegen die Leute immer – so soll Konrad Adenauer gesagt haben, als ihm vorgeschlagen worden war, auch die Kostenlasten der Erziehung in die Sozialversicherung einzubeziehen und auf diese Weise von allen tragen zu lassen.

Kinder kriegen die Leute immer? Adenauer hat sich getäuscht, der demographische Wandel stellt die Alterspyramide auf den Kopf und führt zum Konkurs der Rentenkasse. Diese Rentenkasse wurde von Adenauer 1957 neu eingerichtet, als die von den Rentnern in der Vorkriegszeit in Reichsmark bezahlten Beiträge durch Krieg und Börsencrash untergegangen waren und viel zu kleine Renten begründeten, so daß die verarmenden Rentner dem Wirtschaftswunder zuschauen mußten. Also ersetzte Adenauer das bisherige Kapitaldeckungsprinzip durch das Umlageprinzip: Die Renten wurden von da nicht mehr aus den fiktiv angesparten Beiträgen des Rentners, sondern aus den derzeit laufend entrichteten Beiträgen der aktiven Arbeitnehmer gezahlt. Das war die Geburt des Generationenvertrags – die arbeitende Generation arbeitet auch für die nicht mehr arbeitende Generation, um von der nachfolgenden Generation Gleiches zu erfahren, und so fort. Das Prinzip dieses Generationenvertrags ist also die generationenverschobene Identität von Beitragszahlern und Leistungsnehmern.

Dieses System gerät nun immer mehr ins Trudeln, weil zum einen immer mehr Menschen immer länger Rentner sind, denen zum anderen immer weniger aktive Beitragszahler gegenüberstehen (wenn man die gegenwärtige Entwicklung fortschreibt, wird zwischen 2030 und 2050 auf einen Erwerbstätigen ein Rentner kommen) – und weil zum dritten immer weniger Kinder da sind, um künftig die Umlage zu finanzieren. So nutzt das Umverteilungssystem Alterskasse Familien als Lastesel mit doppelter Last, weil es ein Umverteilungssystem Kinderkasse, welche die Kostenlast für Kinder mittragen könnte, nicht gibt. Kinderunwillige Paare, so sagt es der Kieler Philosoph Wolfgang Kersting, seien "rentenpolitische free rider"; sie befreien sich selbst von den Kosten, neue Beitragszahler heranzuziehen, die dann, wenn sie das Rentenalter erreicht haben, an ihrer Statt die Beitragszahlung fortführen könnten.

Die neuere Geschichte der Familie ist die Geschichte ihrer steten Verkleinerung – von der Großfamilie zur Klein- und Kleinstfamilie hin zu deren Auflösung in Einzelteile, in Singles und Singles plus X. Der Sozialstaat hat die Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie begleitet, und das, was die Kleinfamilie objektiv nicht mehr bewältigen konnte, wurde ausgelagert: Kranke in Krankenhäuser, Alte in Altenheime, Kinder in Kindergärten, Sterbende in Sterbekliniken, Behinderte in Behindertenheime und Behindertenwerkstätten. Die Sozialleistungen wurden sozusagen entpersönlicht, sie wurden aus dem Solidarverband Familie herausgenommen und monetarisiert, sie wurden in Großstrukturen institutionalisiert und verrechtlicht. Aus sozialethischen Beziehungen wurden Rechtsbeziehungen, an die Stelle familiärer Handreichung trat der zuteilende Verwaltungsakt. In dem Maß, in dem zur Finanzierung all dessen das Geld fehlt, werden Reformgesetze versuchen wollen, soziale Risiken zu refamiliarisieren – aber die Familie, die das leisten könnte, ist, mangels Förderung, nicht mehr vorhanden.

Die Gesellschaft zerfällt: Familien hier, kinderlose Lebensformen dort; mit 35 Prozent Einpersonenhaushalten ist die Bundesrepublik Spitzenreiter in der Europäischen Union. Das Bundesverfassungsgericht hat versucht, den Gesetzgeber zu verstärkter Förderung der Familien zu zwingen, zu Familienausgleich und zum Ausbau der sozialen Sicherung der Mütter. So hat es in seiner "Trümmerfrauen"-Entscheidung darauf hingewiesen, daß das bestehende Alterssicherungssystem zu einer Benachteiligung von Eltern gegenüber Kinderlosen führt, die auch innerhalb des Systems ausgeglichen werden muß. Und es hat zur Pflegeversicherung ausgeführt:

Versicherten ohne Kinder erwächst im Versicherungsfall ein Vorteil aus der Erziehungsleistung anderer beitragspflichtiger Versicherter, die wegen der Erziehung zu ihrem Nachteil auf Konsum und Vermögensbildung verzichten ... Wenn ein soziales Leistungssystem ... so gestaltet ist, daß seine Finanzierung im wesentlichen nur durch das Vorhandensein nachwachsender Generationen funktioniert, dann ist für ein solches System nicht nur der Beitrag, sondern auch die Kindererziehungsleistung konstitutiv.

Seit Anfang 2005 müssen kinderlose Beitragszahler 0,25 Prozent mehr zur Pflegeversicherung bezahlen. Das ist nur ein winziger Schritt in die richtige Richtung. Die Nichtberücksichtigung der Leistung Kindererziehung hat das Verfassungsgericht als eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes und des verfassungsrechtlichen Schutzauftrags gegenüber den Familien betrachtet; und das Gericht hat den Gesetzgeber verpflichtet, hier für Abhilfe zu sorgen.

Die Ansätze dazu werden indes von Gesetzen wie Hartz IV und der Einführung des Arbeitslosengeldes 2 konterkariert: Sie belasten, wieder einmal, in besonderem Maße die Familien. Dem familiären Unterhaltsverband droht erheblicher Einkommensverlust. Er ist eh schon im Waffeleisen eingeklemmt: Unten die Unterhaltsverpflichtung gegenüber den Kindern und oben die Unterhaltsverpflichtung gegenüber den alten Eltern, zu deren Pflegekosten er herangezogen wird. Jetzt kommt auch noch Druck von links und rechts dazu. Wird ein Familienernährer längere Zeit arbeitslos, dann fallen die Leistungen für ihn wie für jeden anderen Langzeitarbeitslosen auf Sozialhilfeniveau – aber dieses Arbeitslosengeld 2 wird ihm erst dann bezahlt, wenn vorher das Ersparte aus der Haushaltskasse verbraucht wurde, dort also nichts mehr in der Kasse klingelt und für alle Familienangehörigen Bedürftigkeit gemeldet werden kann. Erst dann erwächst der Anspruch auf Arbeitslosengeld 2 und sichert ein Familienleben auf Sozialhilfeniveau.

Einem Single passiert das nicht. Ein Single hat auch kaum Schwierigkeiten mit der Flexibilität, die das neue Arbeitslosenrecht ihm abverlangt. Danach muß ein Arbeitsloser jede zumutbare Arbeit annehmen, gleich, wo sie angeboten wird – ansonsten erhält er kein Arbeitslosengeld. Was soll aber ein Elternteil machen, wenn ihm Arbeit an einem ganz anderen Ort angeboten wird und der Lohn für häufigere Heimreisen nicht reicht? Wenn beliebige zeitliche und örtliche Verfügbarkeit der Arbeitskraft verlangt wird, sind Kinder hinderlich.

Das Recht weiß im übrigen nicht, was es eigentlich will, es zerrt diejenigen, die Kinder erziehen, hin und her. So zerrt das Recht hin: Das Unterhaltsrecht gibt einem alleinerziehenden Elternteil einen Anspruch gegen den anderen Elternteil auf Zahlung eines Betreuungsunterhalts, bis das Kind acht Jahre alt ist. Und so zerrt das Recht her: Das Arbeitslosenrecht dagegen verlangt von diesem alleinerziehenden Elternteil, jede ihm angebotene Arbeit ab dem dritten Lebensjahr des Kindes anzunehmen, weil er ansonsten die staatlichen Sozialleistungen verliert. Kann es da wundern, daß der Rückzug aus den Familien auf breiten Pfaden stattfindet, daß dauerhaftes Zusammenleben immer weniger Paaren gelingt und daß junge Frauen immer mehr zögern, ihren Kinderwunsch auch in die Tat umzusetzen? Was als die eigensüchtige Selbstverwirklichung insbesondere der Jungakademikerinnen gerügt wird, die sich inzwischen in großem Umfang gegen Kinder entscheiden, ist nur die rationale Konsequenz des Leitbilds vom flexiblen Menschen und der Benachteiligung von Familien.

Statt der Arbeitswelt kinderfreundliche Züge zu geben, wird ihr Gesicht immer kinderfeindlicher. Kinder sind aus dem Arbeitsleben ausradiert, als gäbe es sie nicht, und sie sind dort ein Handicap für die, die sie haben. Erst als ausgebildete Arbeitskräfte richtet sich das Interesse auf sie – allerdings nur, wenn sie den Wünschen und Anforderungen des Arbeitsmarkts entsprechen. Die Diskussion um die Reduzierung der täglichen Arbeitszeit ist einer Debatte über ihre Anhebung gewichen. Teilzeitarbeit ist mütterlich und hindert nach wie vor am beruflichen Fortkommen. Und mit einer Lockerung des Kündigungsschutzes und der damit gewünschten noch größeren Flexibilität von Arbeitnehmern könnten sich Kinder für die Eltern noch mehr als Klotz am Bein erweisen.

Familien sind in unserer Gesellschaft nicht gut positioniert. Es ergeht ihnen wie dem Hasen beim Wettlauf von Hase und Igel: Trotz aller Anstrengungen der Familien, mit Hilfe der Politik ein größeres Stück vom gesellschaftlichen Reichtum abzubekommen, können diejenigen, die Kinder zwar für ihre künftige Alterssicherung brauchen, aber selber keine haben, stets aufs neue vermelden: Wir sind längst da.

Politik wird offensichtlich für Agenda-Menschen gemacht. Friedhelm Hengsbach, Jesuit und Professor für Wirtschaftsethik in Frankfurt am Main, bezeichnet damit diejenigen Menschen, die sich den Spielregeln des Marktes unterwerfen, Marktrisiken abschätzen können, mit ihrem Einkommen und dem Einkommen ihres Partners einen jedenfalls durchschnittlichen Lebensstandard pflegen, die geltenden Steuern und Abgaben als eigentlich unzulässige Eingriffe des Staates in ihre Eigentumsrechte empfinden und denen zuzumuten ist, familiäre und heimatliche Bindungen abzustreifen, wenn diese den Arbeitseinsatz behindern. Agenda-Menschen sind flexibel, mobil, selbstorganisiert und risikobereit. Sie sind die Athleten des freien Marktes. Der Agenda-Mensch ist der neue Mensch, derjenige, dem der alte Adam ausgetrieben ist, der ihn – wider alle ökonomische Vernunft – an seinem Herkunftsort, an seiner Familie, an seinen Gewohnheiten und Traditionen festhält.

Erfolgreich, das ist die Botschaft des Neoliberalismus, ist am Ende nur der, der sein Leben ganz der ökonomischen Rationalität unterwirft, der Rücksichten abwirft und sich selbst zu einem Funktionselement des Marktes macht. Wenn so ein Agenda-Mensch dann doch einmal die Hilfe des Sozialstaats in Anspruch nehmen muß, dann kann man ihn mit Druck und Leistungsanreizen wieder dazu bewegen, sich auf seine eigene Stärke und Selbstverantwortung zu besinnen.

Wer nicht bereit ist, eine Arbeit zweihundert oder fünfhundert Kilometer von seinem Wohnort, seiner Familie entfernt aufzunehmen, wer es für unzumutbar hält, rund um die Uhr abrufbereit zu sein, weil er sein Leben planen, weil er sich um seine Kinder kümmern möchte, der kann leicht arbeitslos werden und muß sich womöglich nachsagen lassen, er mache es sich im sozialen Netz bequem. Das ist das Menschenbild, das mittlerweile die Programmpapiere von fast allen politischen Parteien beherrscht. Im Zentrum steht die Verwertung der Arbeitskraft um jeden Preis, und also zu immer schlechteren Preisen. Wer nicht produziert, ist draußen.

In Deutschland steht dieser Agenda-Mensch seit 1982, seit dem Papier des Grafen Lambsdorff, das die SPD/FDP-Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt beendete, für das Menschenbild aller Bundesregierungen. Im Schröder/Blair-Papier, das der deutsche Bundeskanzler und der britische Premierminister im Sommer 1999 unter dem Titel "Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten" veröffentlichten, wird die Arbeitskraft als Ware unter anderen behandelt: "Die Produkt-, Kapital- und Arbeitsmärkte", so heißt es da, "müssen allesamt flexibel sein: wir dürfen nicht Rigidität in einem Teil des Wirtschaftssystems mit Offenheit und Dynamik in einem anderen verbinden." Das "Humankapital" – so wird die Arbeitskraft von der Versicherungsbranche und von den Militärs schon immer und von der Wachstumstheorie seit einiger Zeit genannt – soll so mobil sein wie das Kapital.

Also machen die Parteien Politik nach dem Paternosterprinzip. Der Paternoster, dieser Aufzug mit den offenen Fahrkörben, ist zwar als Personenaufzug generell nicht mehr zugelassen, sein Prinzip gilt aber jetzt in der Wirtschafts- und Sozialpolitik: Der gesunde, gewandte und leistungsfähige Mensch kann aus den Fahrkörben jederzeit ein- und aussteigen. Die anderen, die mit Kinderwagen, die mit Krücken, die Alten und die Schwachen, die müssen draußen bleiben, die werden nicht befördert. Es hat sich in den Köpfen der Menschen ein Fortschrittsfatalismus eingenistet, der dies nolens volens akzeptiert: Das ist nun mal der Fortschritt, die sind selbst schuld daran, wenn sie nicht so wendig sind – und deshalb ist es auch recht, sie dafür zu bestrafen. Das ist Paternosterlogik.

Die Devise lautet: Freie Fahrt für kinder- und lastenfreie Bürger. Und so steht mittlerweile quer über dem Plan zum Umbau des Sozialversicherungssystems in Deutschland in großen Lettern das Wort Privatisierung. Ein Teil der Kosten und Risiken, die bisher staatlich abgesichert waren, soll zurück in die Privatheit transportiert werden. Es geht um teilweise Re-Privatisierung der Absicherung von Lebensrisiken. Kranke müssen sich stärker an den Kosten von Medikamenten und Behandlung beteiligen. Die Alten müssen beizeiten für sich selber gesorgt haben, weil die Altersrenten gesenkt worden sind. Jeder dieser Schritte läßt aber immer mehr Menschen, nun allein auf sich gestellt, auf dem Weg in die neue Welt zurück. Sie werden abgehängt und abgestellt, weil ihre Mittel nicht reichen mitzuhalten. So produziert man neue Armut.

Schon mit der Riester-Rente sind die Jungen mit wenig Einkommen überfordert. Wie sollen Familien mit geringem Einkommen private Vorsorge betreiben? Wenn die privaten Mittel dafür nicht ausreichen, ist das Loblied auf die Eigenvorsorge schnell zu Ende. Und was ist mit den Alten, die ihr Leben lang ihren Teil am Generationenvertrag erfüllt haben? Bei unter 1000 Euro liegt die Durchschnittsrente in Deutschland, Frauen haben durchschnittlich sogar unter 500 Euro, was nicht gerade für ein Luxusdasein spricht. Viele haben bislang nicht gegen Abstriche protestiert, viele tun sich aber schon schwer, alle geplanten Zuzahlungen zu leisten. Es sind – trotz aller, wenn auch widerstrebend, in die Gesetze aufgenommenen Kinderkomponenten – vor allem die Mütter, die im Alter arm sein werden. Eine Frau, die im Jahr 2025 in Rente geht, muß elf Kinder aufgezogen haben, um Rentenbezüge auf Sozialhilfeniveau zu erhalten; das hat die Caritas ausgerechnet.

Aber nicht nur in der Sozialversicherung, sondern auch in vielen anderen Bereichen schreitet die Privatisierung voran, und die Familien trifft es dabei am härtesten. Das beginnt schon bei den Einnahmequellen, die sich der Staat schafft. Statt Vermögen zu besteuern, mehren sich die Verbrauchssteuern. Wo aber viele Mäuler zu stopfen sind, wo mehr Familienmitglieder mehr Energie verbrauchen, fallen so auch mehr Steuern an. Das ist nicht Familienlastenausgleich, sondern Familienbelastungsausgleich. Dazu kommt die Privatisierung weiter Bereiche, in denen bisher der Staat Infrastrukturen vorhielt und Leistungen erbrachte. Die Mutation von Post und Bahn in Wirtschaftsunternehmen hat nicht nur aus ehemals Staatsbediensteten Manager werden lassen, sondern auch deren Blickrichtung verändert. Es geht nicht mehr um die Bereitstellung von Beförderungsdiensten, sondern um "profits". Die erwirtschaftet man nicht mit Regionalzügen und Postagenturen, die leicht erreichbar sind, nicht mit niedrigen Preisen und gutem Service auch für die, die nicht so viel dafür bezahlen können.

Schließlich hat der Staat Kosten für Leistungen privatisiert, die er früher Familien unentgeltlich anbot. Die Schulbeförderung von Kindern muß meist von den Eltern bezahlt werden. Die Lehrmittelfreiheit ist abgeschafft oder steht nur noch auf dem Papier, weil den Schulen das Geld fehlt, in ausreichendem Umfang Schulbücher anzuschaffen. Auch hier müssen die Eltern herhalten. Nun soll auch der Weg zu den Universitäten nur mit Eintrittsgeldern, genannt Studiengebühren, eröffnet werden – nach dem Motto: Wer schon Kindergartengebühren bezahlen mußte, der kann erst recht beim Studium Geld berappen.

Die Verfechter der Studiengebühren berufen sich auf Gerechtigkeit, weil ein Studium bessere Einkommenschancen vermittle und deshalb nicht auf Kosten derer finanziert werden solle, die diese Chancen nicht hätten. Diese Logik übersieht, daß es zuvörderst die Eltern sein werden, die hier ein weiteres Mal zur Kasse gebeten werden. Sie übersieht auch, daß schon heute viel zu viele Studierende zu wenig Zeit finden zu studieren, weil sie ihren Unterhalt während des Studiums durch Arbeit finanzieren müssen. Sie verkennt, daß die Arbeitsmarktchancen für Akademiker gar nicht mehr so rosig sind und ihre Verdienste nicht so sehr weit über anderen liegen. Sie läßt unberücksichtigt, daß nur, wer es sich leisten kann, zu Beginn seines Berufslebens schuldenfrei dasteht. Wer die Studiengebühren selbst finanzieren muß, der beginnt sein Berufsleben mit einem Schuldenberg. Da bleibt womöglich wenig übrig, um noch eine Familie zu gründen und Kinder zu erziehen.

Der Staat, der bisher mittels Steuern, die von allen nach ihrer Leistungsfähigkeit erbracht wurden, das bereitstellte, was zum Dasein und Fortkommen nötig ist, verwandelt sich in einen Abgaben- und Gebührenstaat, der für alle Leistungen abkassiert, und dabei die am härtesten trifft, die auf diese Leistungen angewiesen sind, sie aber nicht oder nur schwer bezahlen können. Das ist Familienabschreckungspolitik.

"Eigeninitiative" und "Selbstverantwortung", so heißt es in den offiziellen Erklärungen über die Privatisierung des Sozialen, sollen wieder gestärkt werden – exakt die Eigeninitiative also, die in den Familien längst praktiziert, aber immer weniger honoriert wird. Im Bereich des Betreuungsrechts – also der Pflege alter, behinderter, psychisch kranker oder sonst sehr hilfsbedürftiger Menschen – werden schon heute 80 Prozent aller Fälle ehrenamtlich geführt, überwiegend von Angehörigen, die meist nicht einmal die ihnen zustehende Aufwandsentschädigung in Anspruch nehmen – Wert: 1,3 Milliarden Euro pro Jahr.

Die Familie soll als großes starkes Auffangnetz für das soziale Sicherungssystem reaktiviert werden. Es ist dies eine Illusion: Die Familien sind schon heute großenteils überfordert und an den Sozialhilferand der Gesellschaft gedrückt. Die Gesellschaft feiert Mutter- und Vatertage, läßt aber Eltern im Stich, wenn sie Beruf und Familie miteinander in Einklang bringen wollen. Gute Vorschläge für familien- und gesellschaftsfördernde Maßnahmen liegen auf dem Tisch. James W. Vaupel, der Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für demographische Forschung in Rostock, plädiert eindringlich für eine Neuverteilung von Arbeit:

Zukünftige Generationen werden unsere Lebensläufe einmal als irrational bezeichnen. Wir komprimieren unser Arbeitsleben in die Zeit, in der wir Kinder bekommen und großziehen könnten. Wenn wir knapp sechzig Jahre alt sind, gehen wir in Rente und genießen Jahrzehnte, die zumeist aus den Sozialabgaben jüngerer Eltern, die gleichzeitig für ihre eigenen Kinder aufkommen müssen, finanziert werden. Wir verschieben die Freizeit unseres Lebens auf jene Jahre, in denen wir keine Kinder mehr zeugen können und die eigenen Kinder unsere Zeit und Kraft kaum noch benötigen.

Vaupel kommt so zu der Frage, warum wir die Arbeit nicht neu verteilen – so nämlich, daß jüngere Menschen mehr Zeit für Kinder und deren Erziehung haben und ältere Menschen ihnen dabei helfen, indem sie länger im produktiven Arbeitsleben bleiben. Eine gute Frage.

Die große Ermöglichung – eine ganz kleine Geschichte der Sozialpolitik

Das Leben beginnt ungerecht, und es endet ungerecht, und dazwischen ist es nicht viel besser. Der eine wird mit dem silbernen Löffel im Mund geboren, der andere in der Gosse. Der eine zieht bei der Lotterie der Natur das große Los, der andere die Niete. Der eine erbt Talent und Durchsetzungskraft, der andere Aids und Antriebsschwäche. Die Natur ist ein Gerechtigkeitsrisiko. Der eine hat eine Mutter, die ihn liebt, der andere einen Vater, der ihn haßt. Der eine kriegt einen klugen Kopf, der andere ein schwaches Herz. Bei der einen folgt einer behüteten Kindheit eine erfolgreiche Karriere. Den anderen führt sein Weg aus dem Glasscherbenviertel direkt ins Gefängnis. Die eine wächst auf mit Büchern, der andere mit Drogen. Der eine kommt in eine Schule, die ihn stark, der andere in eine, die ihn kaputtmacht. Der eine ist gescheit, aber es fördert ihn keiner; der andere ist doof, aber man trichtert ihm das Wissen ein. Der eine hat Lebenszeit für vier Ehen und fünfzig Urlaubsreisen, der andere stirbt vor der ersten. Der eine müht sich und kommt keinen Schritt voran, der andere müht sich nicht und ist ihm hundert voraus.

Die besseren Gene hat sich niemand erarbeitet, die bessere Familie auch nicht. Das Schicksal hat sie ihm zugeteilt. Es hält sich nicht an die Nikomachische Ethik, an die Sittenlehre also, die Aristoteles nach seinem Sohn Nikomachos benannt hat. Es teilt ungerecht aus, und es gleicht die Ungerechtigkeiten nicht immer aus. Die Verteilungsgerechtigkeit oder "iustitia distributiva", die das Verhältnis der Gemeinschaft zu ihren einzelnen Mitgliedern betrifft, findet man bei Aristoteles und bei Thomas von Aquin, ebenso die Tauschgerechtigkeit oder "iustitia communitativa", die das Verhältnis der einzelnen Menschen untereinander meint. Bei der Verteilung des Natur- und des Sozialschicksals aber obwalten Zufall und Willkür, und die Gemeinwohlgerechtigkeit, die "iustitia generalis", die eine zuträgliche Ordnung gemeinsamen Zusammenlebens gewährleisten soll, kommt dort nicht zum Zuge.

Die eine trifft einen Mann, der sie liebt, die andere gerät an einen Hornochsen. Die eine ist mit Schönheit gesegnet, der andere mit dem Aussehen des Buckelwals. Ist das gerecht in einer Gesellschaft, in der Schönheit eine soziale Macht ist? Der britische Schriftsteller Leslie Poles Hartley hat in seinem 1960 erschienenen Buch Facial Justice das Zukunftsbild eines Staates entworfen, dessen Bewohner die Überlebenden des Dritten Weltkriegs sind. Dort hat man den Gerechtigkeitsskandal der Schönheit, den ungerechten Wettbewerbsvorteil von angenehm geschnittenen Zügen, erkannt. Wer verdient ein schönes Aussehen? Wer verdient Häßlichkeit? Im Staat von Leslie Poles Hartley gibt es eine "Antlitz-Gleichmachungsbehörde", die für Gesichtsgerechtigkeit sorgt. Sie hat ein optisches Egalisierungsprogramm auf der Basis einer risikolosen und unaufwendigen Gesichtschirurgie entwickelt. Die blinde natürliche Verteilung ästhetischer Eigenschaften wird durch Gesichtsplastiken der ausgleichenden Gerechtigkeit korrigiert. Daher existieren im Staat von Facial Justice nur noch Durchschnittsgesichter. Die optische Individualität hat eine sehr überschaubare Bandbreite.

Würde Leslie Poles Hartley seinen Roman heute schreiben, könnte der angesichts der biotechnologischen Entwicklungen von der "genetischen Gerechtigkeit" handeln und schildern, wie die "Gen-Gleichmachungsbehörde" dafür sorgt, daß alle Bürger des Staates Durchschnittsgene zugeteilt bekommen, innerhalb einer gewissen überschaubaren Bandbreite, ohne Ausreißer nach oben und unten, damit für gleiche karrierepolitische Voraussetzungen gesorgt ist.

So eine Geschichte wäre Wasser auf die Mühlen eines Friedrich Nietzsche, der gefordert hat, "Ungleiches niemals gleichzumachen", der Kultur nur auf der Basis einer ausgebeuteten, selber von Kultur ausgeschlossenen Masse für möglich hielt und im sozialen Fortschritt eine Bedrohung der Kunst erblickte.

Und einem Neoliberalen wie Friedrich August von Hayek diente diese Geschichte als ein Exempel dafür, wohin der "Atavismus" der sozialen Gerechtigkeit vermeintlich letztendlich führt. Für Hayek ist soziale Gerechtigkeit nichts anderes als in philosophische Attribute gekleidete Anmaßung auf umfassende Korrektur der Verteilungsergebnisse des Marktes. So also, würde er sagen, so wie in Facial Justice sieht der Staat der sozialen Gerechtigkeit in Vollendung aus: totalitär. Wer so denkt, verwechselt freilich soziale Gerechtigkeit mit absurder Gleichmacherei. Das Übel, daß manche Leute ein schlechtes Leben führen, bestehe – so sagt es der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt – nicht darin, daß andere Leute ein besseres Leben führen; das Übel liege vor allem darin, daß schlechte Leben schlecht sind. Und das Gute ist, daß – auch mittels derer, die ein besseres Leben führen – denjenigen geholfen werden kann, deren Leben schlecht ist. Würde die Hilfspflicht für die Schwachen nur mit der Gleichheitsforderung begründet, so liefe die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit auf das Postulat einer allgemeinen Entschädigung für unverdientes Pech hinaus. Dann müßte der Staat einem Karl Valentin, wenn der gern ein athletischer Typ wäre, das Hanteltraining im Fitneßstudio bezahlen.

Welches Leben steht dem Menschen zu, was ist "das Seine"? Im "Corpus juris civilis", dem großen europäischen Rechtsbuch des oströmischen Kaisers Justinian aus dem sechsten nachchristlichen Jahrhundert, heißt es: "Iustitia est constans ac perpetua voluntas ius suum tribuens" – Gerechtigkeit sei der unwandelbare und dauerhafte Wille, jedem das Seine zuzuwenden. Dieser "Corpus juris" ist die folgenreichste Kodifikation der Weltgeschichte, die Regelungen wurden in ganz Europa rezipiert, sie galten in Deutschland als gemeines Recht bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Jahr 1900, sie beeinflußten das Recht der ganzen Welt. Der Satz "Jedem das Seine" wurde zur Gerechtigkeitsformel schlechthin:

Das Recht ist die Kunst des Guten und Gerechten. Gerechtigkeit ist der unwandelbare und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zu gewähren. Die Regeln des Rechts sind die folgenden: ehrbar leben, andere nicht verletzen, jedem das Seine zubilligen.

So steht es also im ersten Buch der Institutionen des "Corpus juris civilis". Aber was ist "das Seine", was steht jedem zu? Die Formel bietet kein Kriterium dafür an, was einem jeden als das Seine zusteht. Wenn man, was einleuchtet, keinen Anspruch auf ein schönes Gesicht hat – hat man nicht doch ein Anrecht auf Unterstützung, wenn man sich die entstehende Hasenscharte operieren lassen will? Und wenn der Staat schon nicht dafür sorgen kann, daß alle Kinder in geordneten Verhältnissen geboren werden – muß er dann nicht wenigstens dafür sorgen, daß sie sodann die Förderung erfahren, die sie brauchen?

"Suum cuique!" Kaiser Justinian hat das abgeschrieben beim großen römischen Juristen Ulpian, und der hat es von Cicero, und der von Seneca. Und diese hatten es von Aristoteles, der die Gerechtigkeit als eine Tugend definierte, durch die jeder das Seine erhält. Und auch Platon ließ aus dem Munde des Sokrates behaupten, das Gerechtsein bestehe darin, daß man einem jeden das erstattet, was ihm gebührt. Gottfried Wilhelm Leibniz zählte das "Suum cuique" zu den drei ewigen Gerechtigkeitsprinzipien, der Preußenkönig Friedrich I. ließ es als Devise auf den Schwarzen Adlerorden prägen. Thomas von Aquin hat damit in der Summa Theologica die Rechtmäßigkeit von Leibeigenschaft und Sklaverei begründet. Und die Nazibarbaren haben dieses Motto in das Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald schmieden lassen, um ihre Opfer auch noch zu verhöhnen. Durch dieses Tor wurden von 1937 bis 1945 240.000 Menschen aus zweiunddreißig Nationen verschleppt, von denen 56.000 den Terror nicht überlebten, darunter der Kommunist Ernst Thälmann, der Sozialdemokrat Rudolf Breitscheid und der Pfarrer Paul Schneider. Für den deutschen Rechtsphilosophen Arthur Kaufmann war die Benutzung von "Jedem das Seine" durch die Nazis ein Beweis für deren Frivolität, mit der sie Recht und Gerechtigkeit verhöhnten. Der österreichische Holocaust-Relativierer Ernst Topitsch meinte, daß gegen diese Inschrift "vom rein logischen Standpunkt nichts einzuwenden" sei.

Der Philosoph Ernst Bloch hat dem "Suum cuique" den von den Saint-Simonisten und Karl Marx geprägten Satz entgegengesetzt: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen." Damit läßt sich gut vertreten, woran auch kaum je ein Arbeiter gerüttelt hat: daß seine Betriebs- oder Konzernvorstände das Zwanzigfache verdienen. Müssen die Arbeiter es auch hinnehmen, daß die Manager das Zwei- und Dreihundertfache verdienen? Oder dürfen sie sich dann fragen, ob das noch deren Fähigkeiten entspricht, ob das also noch gerecht ist?

Seit je sind solche Fragen als Ausdruck von Neid abgetan worden. Aber ist es wirklich nur Neid, so fragt der Sozialdemokrat Erhard Eppler, "wenn eine Arbeiterin mit drei heranwachsenden Kindern sich darüber wundert, wie dieselben Leute, die guten Gewissens Millionengelder einstreichen, um Promille feilschen, wo es um Löhne geht"? Eine Million für den Boß, das könnten auch tausendmal tausend Euro für die Kleinen sein. Ist es einfach das Übliche, oder ist es kriminell, wenn ein gescheiterter Wirtschaftsboß eine Abfindung erhält, von deren Zinsen er ein halbes Dutzend Bundeskanzler besolden könnte? Jedem das Seine, mir das meiste, sagt der fröhliche Zyniker.

Jedem das Seine: Das sagen heute die Ausbeuter in Indien, wenn sie Kinder an die Webstühle schicken. Und so sagten es einst die Merkantilisten und Kapitalisten auch in Deutschland. Daß der Staat die Kinderarbeit damals einschränkte, geschah nicht deswegen, weil er einzusehen begann, daß – jedem das Seine – zum Kind wenigstens ein wenig Kindsein gehört; sondern weil elementare Staatsinteressen berührt waren, nämlich die des Militärs. Das hatte ein Interesse daran, unverkrüppelte Wehrpflichtige zu erhalten. Jedem das Seine – in diesem Fall dem Militär. Also entschloß sich der Staat zur Intervention, er verbot die Fabrikarbeit von Kindern unter neun Jahren und begrenzte die tägliche Arbeitszeit der Kinder auf zehn Stunden.

Mit dem "Suum cuique" allein ist also wenig anzufangen, weil es keine Maßstäbe hat, weil es jedweder Argumentation, jedweder Lehre und Irrlehre dienlich ist. Man interpretiert die Maßstäbe hinein, die man dann wieder herausholt. Die Formel ist tautologisch. Jedem das Seine läßt jeden alleine.

Soziale Ungleichheit, so sagten und sagen daher die Sozialdarwinisten, sei nichts anderes als die Widerspiegelung der biologischen Ungleichheit von Menschen – deshalb lehnen sie jede Sozialpolitik und Umverteilungspolitik ab, weil so der natürliche Ausleseprozeß unterbunden würde, der allein gesellschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritt schaffe. Jedem das Seine – das ist hier das, was jeder hat. Der Staat sei, so propagieren das die Wirtschaftsliberalen bis zum heutigen Tag und zuletzt in immer neuen Glücksverheißungen, nur als Minimalstaat gerechtfertigt, er habe sich zumal aus den sozialen Dingen herauszuhalten und sich auf einige eng umgrenzte Funktionen zu beschränken: Schutz gegen Gewalt, Diebstahl, Betrug und für die Durchsetzung von Verträgen; alles darüber hinaus sei von Übel. Gerechtigkeit wird an den Markt delegiert. Der Markt ist sozusagen die Fortsetzung der Natur. Was er macht, ist hinzunehmen wie das Schicksal. Der Markt versagt aber bei der Versorgung derjenigen, die nichts anzubieten haben und die nicht nachgefragt werden.

Das war und ist die säkularisierte Pervertierung der mittelalterlichen Vorstellung, welche die soziale Ungleichheit nicht als gesellschaftliches oder ökonomisches Problem sah, sondern als Ausfluß einer vorbestimmten göttlichen Welt- und Heilsordnung. Reichtum und Armut waren demzufolge im göttlichen Heilsplan korrespondierende Kategorien – der Arme, der näher bei Gott war als der Reiche, war auf den Reichen angewiesen, um seine irdische Existenz zu fristen, und der Reiche war auf den Armen angewiesen, weil er nur dadurch zu Gott kam, also nur durch karitative Tätigkeit sein Seelenheil erlangen konnte. Arm und reich – das war ein heilsgeschichtliches Geschäft auf Gegenseitigkeit. Der individuelle Reichtum war aber hier nicht Selbstzweck, sondern kollektiven Zwecken zu dienen bestimmt. Spätestens beim Ableben kauften sich Fürsten, Bankiers und Spekulanten von der Sünde der "Geldmacherei und Krämerei" frei – weil bekanntlich eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als daß ein Reicher in das Reich Gottes kommt; so steht es bei Lukas 18, 25. Auf dieser Basis gediehen immerhin eine gewisse Caritas und eine Reihe von Spitälern. Und auf dieser Basis fußt die christliche Sozialkritik noch heute.

Als sich der moderne Kapitalismus entfaltete, funktionierte die Mahnung Jesu aus dem Mund des Evangelisten Lukas nicht mehr so richtig. Individueller Reichtum wurde als Motor gesellschaftlicher Reichtumssteigerung betrachtet. Die ausbeutende Dynamik des Kapitalismus zerlegte die alte Gesellschaftsordnung, schleuderte Millionen ins Elend, rief die Revolution auf den Plan – und aus Furcht vor Marx, vor der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften knüpfte Reichskanzler Bismarck 1878 an alte karitative Traditionen an, um die Arbeiter durch sichtbare Sozialleistungen an den Staat zu binden und zu Staatsrentnern zu machen. Dahinter standen ein christlicher Paternalismus und eine konservative Variante des Staatssozialismus, welche der deutschen Gesellschaft recht gut bekamen.

Was Bismarck für den Staat tat, nämlich die Arbeiter, das Proletariat, an den Staat heranzuführen, den vierten Stand also dort zu inkorporieren, das taten der Kölner Gesellenvater Adolf Kolping und der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler für die Kirche. Diese habe die Pflicht, durch Aufbau kooperativer Gesellschaften, christlicher Gewerkschaften und gemeinnütziger Erholungseinrichtungen die arbeitende Klasse gegen die demoralisierenden Auswirkungen des Kapitalismus zu wappnen. Der Lohn, so meinten Kolping wie Ketteler, dem Kalkül Bismarcks durchaus verwandt, werde in der Rückkehr der Arbeiter zum katholischen Glauben bestehen.

Die sozialen Ideen und Gedanken Kolpings und Kettelers beeinflußten Papst Leo XIII., wurden 1891 zur Grundlage seiner Enzyklika Rerum novarum und begründeten in Deutschland eine Tradition des sozialen Katholizismus, die zu einem tragenden Element im Programm der Zentrumspartei wurde, noch die CDU der frühen Jahrzehnte prägte, in Oswald von Nell-Breuning ihre Personifizierung fand, heute jedoch nur noch wenige um sich schart. Die sozialen Aktivitäten der evangelischen Kirche waren dagegen, wie Gordon A. Craig in seiner Deutschen Geschichte von 1866 bis 1945 resümiert, lange Zeit weniger eindrucksvoll; deren Kirchenrat ermahnte 1878 die Pfarrer, es sei nicht ihre Pflicht, im Namen des Evangeliums und mit dem Gewicht seiner Autorität soziale Forderungen an die Regierung zu stellen.

Das hat sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr geändert. Beide großen Kirchen verlangen die gerechte Verteilung des Reichtums und der Arbeit. Und sie knüpfen bei ihrem Plädoyer für den gerechten Sozialstaat an das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter an. Sie sehen ihre Aufgabe nicht mehr allein darin, den unter die Räuber Gefallenen zu pflegen. Sie wollen auch die Straßen so gesichert wissen, daß immer weniger Menschen unter die Räuber fallen. Leistungsfähiger Wettbewerb und sozialer Ausgleich – sie gehören demnach zusammen: Wer diesen Zusammenhang aufsprengt, der versündige sich am Gemeinwesen.

Die Arbeiter wandten sich zwar daraufhin nicht unbedingt Kirche und Glauben zu, waren aber in ihrem Ruf nach Gerechtigkeit gestärkt. Im Parlament der Paulskirche von 1848 war es noch vornehmlich um die Freiheitsrechte und den Rechtsstaat gegangen, das von Stephan Born gegründete Zentralkomitee für Arbeiter hatte aber schon am 10. Juni 1848 im Blatt Das Volk Gerechtigkeit für die Arbeiter gefordert – durch Bestimmungen zum Schutz der Arbeit, durch Kommissionen von Arbeitern und Arbeitgebern, Arbeiterverbindungen zur Lohnfestsetzung, unentgeltlichen Unterricht und unentgeltliche Volksbibliotheken. Die Überlegung war simpel, wichtig und richtig: Das Elend der Arbeiter und die Abhängigkeit des einzelnen Arbeiters vom Gutdünken der Arbeitgeber könne nur überwunden werden, wenn sie sich zusammenschlossen und darum kämpften, mit den eigenen Interessen Beachtung zu finden. So wurde der Ruf nach Gerechtigkeit ins Soziale gewendet und dafür ein Sprachrohr, die Gewerkschaften, geschaffen. Das war auch die Geburtsstunde der Sozialdemokratie. Es ging ihr um Schutz vor Unterdrückung und Ausbeutung, um Sicherheit vor Gefahren und Risiken, um Rechte, nicht um Almosen, und um Mitsprache.

Erst einmal versuchten die Arbeiter, sich das selbst zu organisieren, dann gewannen sie dafür auch den Staat. In der Weimarer Verfassung erhielten ihre Forderungen einen eigenen Abschnitt, mit dem die Arbeitskraft unter den besonderen Schutz des Staates gestellt, die Koalitionsfreiheit gewährleistet, ein umfassendes Sozialversicherungswesen garantiert und betriebliche wie überbetriebliche Organe der Interessenvertretung für Arbeitnehmer vorgesehen wurden. Die soziale Gerechtigkeit hatte nun Fasson, das "Suum cuique" einen Maßstab, eine Grundorientierung.

Das Grundgesetz hat diese Orientierung ausgebaut. Es hat die Bundesrepublik als Sozialstaat gegründet – als eine Art Schutzengel für jeden einzelnen. In den Kinderzimmern der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hing oft das Bild mit den Kindern auf der schmalen Brücke über der Klamm mit dem rauschenden Wildbach, daneben flog der Schutzengel.

So ähnlich hat das Grundgesetz den Sozialstaat konzipiert, als Schutz vor Notfällen und als Hilfe in Notfällen. Der Sozialstaat kümmerte sich dann in dem Maß, in dem der Wohlstand im Lande wuchs, nicht nur um das blanke Überleben seiner Bürger, sondern um ihre Lebensqualität. "Teilhabe" nannte man das in den siebziger Jahren. Nicht die Polizei und nicht die Justiz waren jahrzehntelang Garant des inneren Friedens; nicht Strafrechtsparagraphen und Sicherheitspakete haben für innere Sicherheit gesorgt. Der Sozialstaat war das Fundament der Prosperität, die Geschäftsgrundlage für gute Geschäfte, er verband politische Moral und ökonomischen Erfolg. Das Grundgesetz hat das Fundament für die soziale Gerechtigkeit stark gemacht.

"Suum cuique" – das bedeutet im Staat dieses Grundgesetzes, jedem ein Leben in Würde zu ermöglichen; dazu gehört, daß jeder ein ausreichendes Stück vom Ganzen erhält. Es geht dem Sozialstaat des Grundgesetzes nicht um Herstellung von Facial Justice, um gleiche Gesichter, gleiche Schönheit, gleiche Geldbeutel, gleiche Bankkonten, gleich große Wohnungen und gleich große Autos – es geht ihm um die Förderung der Kräfte und Talente, die in jedem stecken, und es geht diesem Sozialstaat um so viel – auch finanzielle – Hilfe für jeden einzelnen, daß der nicht gebückt durchs Leben gehen muß. Demokratie braucht den aufrechten Bürger. Deshalb braucht die Demokratie den Sozialstaat.

Ein Sozialstaat ist ein Staat, der gesellschaftliche Risiken, für die der einzelne nicht verantwortlich ist, nicht bei diesem ablädt. Er verteilt, weil es nicht immer Manna regnet, auch Belastungen. Aber dabei gilt, daß der, der schon belastet ist, nicht auch noch das Gros der Belastungen tragen kann. Ein Sozialstaat gibt nicht dem, der schon hat; und er nimmt nicht dem, der ohnehin wenig hat. Er schafft es, daß die Menschen trotz Unterschieden in Rang, Talenten und Geldbeutel sich auf gleicher Augenhöhe begegnen können.

Der Sozialstaat ist der große Ermöglicher. Er ist mehr als ein liberaler Rechtsstaat, er ist der Handausstrecker für die, die eine helfende Hand brauchen. Er ist der Staat, der es nicht bei formal-rechtlicher Gleichbehandlung beläßt, nicht dabei also, daß das Gesetz es in seiner majestätischen Erhabenheit Armen und Reichen gleichermaßen verbietet, unter den Brücken zu schlafen, wie der französische Schriftsteller Anatole France das so schön gesagt hat. Der Sozialstaat gibt den Armen nicht nur Bett und Dach, sondern ein Fortkommen aus der Armut. Der Sozialstaat ist mehr als nur eine Sozialversicherung; die ist nur eines seiner Instrumente. Manchmal ist der Sozialstaat ein Tisch, unter den man seine Füße strecken kann. Das bedeutet aber, daß die Politik bei sozialstaatlichen Reformen sich nicht benehmen kann wie ein täppischer Handwerker bei der Reparatur eines wackligen Tisches, der erst vom einen Tischbein und dann von einem anderen ein Stück absägt, bis die Sägerei reihum kein Ende mehr nimmt. Der Tisch bleibt wacklig, aber seine Beine werden so kurz, daß er als Tisch nicht mehr taugt.

So richtig es ist, mehr Risikovorsorge und mehr soziale Selbstverantwortung zu proklamieren, so notwendig ist es nach wie vor, daß der Sozialstaat Schutz vor und Hilfe bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit bietet; die großen Lebensrisiken können nur wenige allein meistern, ohne in Not zu fallen. Da hilft auch keine Privatversicherung, wenn ihre Prämien nicht bezahlt werden können, da hilft nur der Sozialstaat, der Solidarität einfordert, je nach Einkommen und Vermögen nimmt und damit auch denen geben kann, die sich selbst nicht zu helfen vermögen. Die Freiheit von Soziallasten verleiht nämlich nur dem Flügel, so sagt es die Bundesverfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt, "der in der Lage ist sowie die Mittel hat zu fliegen und über ausreichend Polster verfügt, die ihn immer wieder weich landen lassen. Allen anderen bringt sie nur vermeintlich Entlastung, die zum Abheben nicht ausreicht, aber trotzdem den Absturz bedeuten kann."

Ein Sozialstaat sorgt dafür, daß der Mensch reale, nicht nur formale Chancen hat. Es genügt ihm also nicht, daß der Staat Vorschulen, Schulen und Hochschulen bereitstellt mit formal gleichen Zugangschancen für Vermögende und Nichtvermögende; der Sozialstaat sorgt auch für die materiellen Voraussetzungen, die den Nichtvermögenden in die Lage versetzen, die formale Chance tatsächlich zu nutzen.

Ein Sozialstaat akzeptiert keinen Vorrang des Produktionsfaktors Kapital gegenüber dem Faktor Arbeit, er wehrt sich gegen die Trennung und Entgegensetzung von Arbeit und Kapital als zwei anonymen Produktionsfaktoren, weil hinter der sogenannten Antinomie zwischen Arbeit und Kapital lebendige Menschen stehen. Die müssen nicht nur in die Lage versetzt werden, ihr eigenes Leben zu leben; sie müssen sich auch geschützt und sicher fühlen. Anthony Giddens, der frühere Direktor der renommierten London School of Economics und Berater des britischen Premierministers Tony Blair, nennt das "embedded market". Diese Einbettung fehlt den deutschen Reformen noch. Ein Sozialstaat fördert das Bewußtsein, daß Unternehmer nicht nur ihren Kapitalgebern, sondern auch ihren Arbeitnehmern gegenüber Verantwortung tragen und daß nur intakte Gewerkschaften ihnen auf Dauer gute Standorte bieten können – die sich nicht allein durch erträgliche Arbeitskosten, sondern durch hohe Arbeitsqualität auszeichnen.
Ein Sozialstaat entwickelt eine emanzipatorische Gerechtigkeitspolitik, also eine Politik, die Chancenungleichheiten ausgleicht. Er ist daher, mit Maß und Ziel, Schicksalskorrektor. Ein Sozialstaat nimmt zu diesem Zweck den Reichen und gibt damit erstens den Armen und versucht damit zweitens, die Voraussetzungen für die Teilhabe und Teilnahme aller am gesellschaftlichen und politischen Verkehr zu schaffen. Der Sozialstaat erschöpft sich also nicht in der Fürsorge für Benachteiligte, sondern zielt auf den Abbau der strukturellen Ursachen für diese Benachteiligungen. Madame de Meuron, die 1980 gestorbene "letzte Patrizierin" von Bern, sagte einem Bauern, der sich in der Kirche auf ihren Stuhl verirrt hatte: "Im Himmel sind wir dann alle gleich, aber hier unten muß Ordnung herrschen." Die Ordnung, die sich der Sozialstaat vorstellt, ist das nicht.

Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit – das sind die Schlüsselwörter des Sozialstaats; sie sperren Türen auf und sie sperren Türen zu. Gelegentlich ist letzteres notwendig: dann, wenn Ökonomen ex cathedra reden und agieren. Man könnte in den letzten Jahren den Eindruck gewinnen, das Unfehlbarkeitsdogma sei vom Papst auf den Bundesverband der deutschen Industrie, die Wirtschaftsweisen und auf das Münchner Ifo-Institut übergegangen. Mehr Selbstbescheidung täte aber nicht nur der deutschen Gesellschaft insgesamt, sondern den Ökonomen im besonderen ganz gut. Die Zunft hat, anders als die Juristerei, noch nicht akzeptiert, was sie ist: eine Hilfswissenschaft.

Erhard Eppler, der nachdenkliche alte Sozialdemokrat, hat sich gefragt, warum auch seine Partei so anfällig ist für ökonomische Apologetik; seine Antwort:
Sozialdemokratische Programmdebatten waren nie besonders vergnüglich. Vor hundert Jahren nicht, weil die Debattierer sehr viel Theoretisches gelesen hatten, das Gelesene oft mit der Wirklichkeit verwechselten und weil sie sehr viel zitierten, vor allem die Autoritäten. Heute nicht, weil die Debattierer sehr wenig gelesen haben, oft nicht einmal das gültige Programm, noch weniger zitieren und weil sie die Neigung haben, ihre speziellen praktischen Sorgen ins Grundsätzliche zu überhöhen.

Das Lied vom Tod des Sozialstaats wird heute gern gesungen. Die erste der gängigen Strophen lautet so: Vor langer Zeit, als es den Menschen noch schlecht ging, habe es sicher ein Bedürfnis dafür gegeben, daß der Staat half, wo sich der einzelne nicht helfen konnte. Inzwischen habe sich aber die Welt verändert, die Menschen führten ein besseres Leben und bräuchten die gängelnde Hand des Staates nicht mehr. Die zweite Strophe handelt vom großen Fressen des Sozialstaats, der zwar einst zart und schlank gewesen sei, aber dann ein Vielfraß wurde, der immer dicker und unbeweglicher geworden und schließlich an der eigenen Maßlosigkeit geplatzt sei. Strophe drei besingt die große Freiheit nach dem Ende des Sozialstaats.

Christine Hohmann-Dennhardt hat auf einer Veranstaltung des Adolf-Arndt-Kreises in Frankfurt im Februar 2005 Gegenstrophen gedichtet. Strophe eins: Die Lebens- und Arbeitsbedingungen haben sich zwar extrem gewandelt, der alte, von Bismarck geschneiderte Mantel paßt daher nicht mehr richtig. Aber kalt ist es trotzdem, und ein Mantel tut not. Strophe zwei: Zwar macht das Sozialbudget inzwischen ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus. Aber der Sozialstaat frißt ja dieses Budget nicht auf, sondern teilt es aus, gibt Arbeit und Einkommen, mit dem gekauft werden kann, was Unternehmen feilbieten. Strophe drei: Eine große Freiheit, eine Freiheit ohne Schranken zerstört sich selbst.

Solche Gegenlieder haben auch Hunderttausende von Demonstranten in ganz Europa gesummt, die im April 2004 auf die Straße gingen. Vordergründig war und ist diese Protestbewegung gegen Sozialabbau eine negative Bewegung, weil sie nur abzulehnen scheint. Doch durch dieses "Nein" schimmert mehr: die Suche nach anderen Leitlinien der Politik. Die europaweiten Proteste fordern von ihren Regierungen, in einer globalisierten Welt für ein gewisses Maß an ökonomischem Anstand zu sorgen. Das ist nicht unbillig, das gehört zum inneren Frieden, und die Sorge darum gehört zu den Grundaufgaben der Europäischen Union.

In Westeuropa wächst der Reichtum und zugleich mit ihm die Armut. Das spricht nicht gegen, sondern für eine Reaktivierung des Sozialstaats.

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