Auszüge aus John Perkins's
"Bekenntnisse eines Economic Hit Man"

Unterwegs im Dienst der Wirtschaftsmafia

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Vorwort

Economic Hit Men (EHM) sind hochbezahlte Experten, die Länder auf der ganzen Welt um Billionen Dollar betrügen. Sie schleusen Geld von der Weltbank, der US Agency for International Development (USAID) und anderen ausländischen "Hilfsorganisationen" auf die Konten großer Konzerne und in die Taschen weniger reicher Familien, die die natürlichen Rohstoffe unseres Planeten kontrollieren. Die Mittel der Economic Hit Men sind betrügerische Finanzanalysen, Wahlmanipulationen, Bestechung, Erpressung, Sex und Mord. Ihr Spiel ist so alt wie die Macht, doch heute, im Zeitalter der Globalisierung, hat es neue und erschreckende Dimensionen angenommen.
Ich weiß das, ich war ein EHM.

Das schrieb ich 1982 als Einleitung für ein Buch mit dem Arbeitstitel Gewissen eines Economic Hit Man. Das Buch war den Präsidenten von zwei Ländern gewidmet, zwei Männern, die meine Klienten gewesen waren, die ich respektiert und als Gleichgesinnte betrachtet hatte: Jaime Roldós, der Präsident von Ecuador, und Omar Torrijos, der Präsident von Panama. Beide waren damals gerade eines gewaltsamen Todes gestorben, aber ihr Tod war kein Unfall. Sie wurden ermordet, weil sie gegen diese Verschwörung von Wirtschaftsbossen, Regierungen und Banken kämpften, deren Ziel die Weltherrschaft ist. Wir EHM schafften es nicht, Roldós und Torrijos mit unseren Mitteln zu überzeugen, daher griffen die anderen Hit Men ein: die mit Billigung der CIA arbeitenden Schakale, die immer im Hintergrund lauerten.

Ich wurde gedrängt oder genötigt, nicht weiter an meinem Buch zu schreiben. In den folgenden zwanzig Jahren fing ich noch viermal damit an. Jedes Mal ging meine Entscheidung, noch einmal einen Anfang zu wagen, direkt auf aktuelle politische Ereignisse zurück: der Einmarsch amerikanischer Truppen in Panama 1989, der erste Golfkrieg, Somalia, der Aufstieg Osama bin Ladens. Doch Drohungen oder Bestechungsgelder überzeugten mich jedes Mal, die Arbeit wieder beiseite zu legen.

2003 las der Leiter eines großen Verlags, der zu einem mächtigen internationalen Konzern gehört, das Exposé zu meinem Buch, das mittlerweile Bekenntnisse eines Economic Hit Man hieß. Er bezeichnete es als "eine fesselnde Geschichte, die erzählt werden muß". Dann lächelte er traurig, schüttelte den Kopf und sagte mir, die Konzernleitung sei wahrscheinlich gegen das Buch, deshalb könne er eine Veröffentlichung nicht riskieren. Er riet mir, die Geschichte zu einem Roman umzuschreiben. "Wir könnten Sie als Thrillerautor im Stil von John Le Carré oder Graham Greene vermarkten."

Aber das hier ist kein Roman. Es ist die wahre Geschichte meines Lebens. Ein mutiger Verleger, der nicht zu einem internationalen Konzern gehört, erklärte sich bereit, mir zu helfen, damit ich meine Geschichte veröffentlichen kann.

Diese Geschichte muß erzählt werden. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs und der Krisen, die uns aber auch eine ungeheure Chance bietet. Meine Karriere als Economic Hit Man zeigt, wie es so weit gekommen ist und warum wir uns derzeit in einer Krise befinden, die unüberwindlich scheint. Diese Geschichte muß erzählt werden, denn nur wenn wir unsere Fehler in der Vergangenheit verstehen, können wir zukünftige Chancen nutzen. Sie muß erzählt werden, weil es zu den Anschlägen am 11. September und damit auch zum zweiten Irakkrieg kam, weil zusätzlich zu den 3000 Menschen, die am 11. September 2001 durch die Hand von Terroristen starben, weitere 34.000 durch Hunger und Krankheiten umkamen. Jeden Tag sterben 34.000 Menschen, weil sie keine Lebensmittel bekommen. Und vor allem muß diese Geschichte erzählt werden, weil heute zum ersten Mal in der Geschichte ein Staat die Möglichkeit, das Geld und die Macht hat, das alles zu ändern. Es ist das Land, in dem ich geboren wurde und dem ich als EHM diente: die Vereinigten Staaten von Amerika.

Was hat mich schließlich davon überzeugt, die Drohungen zu ignorieren und die Bestechungsgelder auszuschlagen?

Kurz gesagt lautet die Antwort, daß mein einziges Kind, meine Tochter Jessica, ihren Abschluss am College machte und ein eigenes Leben zu führen begann. Als ich ihr vor kurzem erzählte, daß ich mit dem Gedanken spiele, dieses Buch zu veröffentlichen, aber Angst habe, sagte sie: "Mach dir keine Sorgen, Dad. Wenn sie dich kriegen, mache ich für dich weiter. Wir müssen das wagen, allein schon für die Enkelkinder, die du hoffentlich eines Tages haben wirst!" Das ist die kurze Antwort.

Die präzisere Begründung der Antwort hängt mit dem Land zusammen, in dem ich aufwuchs, mit meiner Liebe zu den Idealen unserer Gründerväter, mit dem tiefen Pflichtgefühl, das ich gegenüber der amerikanischen Republik empfinde, die heute allen Menschen überall "Leben, Freiheit und das Streben nach Glück" verspricht, und mit meinem Vorsatz, nach dem 11. September nicht mehr länger tatenlos zuzusehen, wie die EHM diese Republik in ein weltweites Imperium verwandeln. Das ist die Kurzversion der langen Antwort, die Einzelheiten werden in den folgenden Kapiteln dargestellt.

Das ist eine wahre Geschichte. Ich habe jede Minute davon erlebt. Die Situationen, die Menschen, die Gespräche und Gefühle, die ich beschreibe, waren alle Teil meines Lebens. Es ist meine persönliche Geschichte, aber sie spielt im Kontext von Ereignissen, die unsere Vergangenheit geprägt haben. Sie haben uns dorthin gebracht, wo wir uns heute befinden, und bilden damit die Grundlage für die Zukunft unserer Kinder. Ich habe mich bemüht, die Erfahrungen, Menschen und Gespräche so genau wie möglich wiederzugeben. Dabei habe ich verschiedene Hilfsmittel benutzt: veröffentlichte Dokumente, persönliche Aufzeichnungen und Notizen, Erinnerungen (meine eigenen und die anderer Beteiligter), die fünf Manuskripte, die ich zu schreiben begonnen hatte, und historische Darstellungen anderer Autoren, vor allem vor kurzem veröffentlichte, die Informationen enthalten, die früher der Geheimhaltung unterlagen oder aus anderen Gründen nicht zugänglich waren. Quellenangaben werden in den Anmerkungen genannt, damit interessierte Leser sich zu einem Thema weiter informieren können.

Mein Verleger fragte, ob wir uns selbst wirklich Economic Hit Men nannten. Ich versicherte ihm, daß wir das taten, allerdings gebrauchten wir normalerweise nur die Anfangsbuchstaben. An jenem Tag im Jahr 1979, als ich mit meiner Ausbilderin Claudine zu arbeiten begann, erklärte sie mir: "Ich habe die Aufgabe, aus Ihnen einen Economic Hit Man zu machen. Niemand darf etwas von Ihrer Arbeit wissen, nicht einmal Ihre Frau." Dann wurde sie ernst: "Wenn man einmal dabei ist, bleibt man es sein Leben lang." Danach verwendete sie selten die volle Bezeichnung, wir waren einfach die EHM.

Claudines Rolle ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie in meiner Branche gearbeitet und vor allem manipuliert wird. Claudine war schön und intelligent und obendrein sehr effizient; sie durchschaute meine Schwächen und nutzte sie zu ihrem größten Vorteil. Ihre Arbeitsmethoden veranschaulichen die Raffinesse der Menschen hinter dem System.

Claudine nahm kein Blatt vor den Mund, als sie mir beschrieb, was ich in Zukunft tun würde. Meine Arbeit, sagte sie, solle "Staats- und Regierungschefs dafür gewinnen, Teile eines ausgedehnten Netzwerks zu werden, das den wirtschaftlichen Interessen der USA dient. Am Ende haben sich die Staatschefs in einem Netz von Schulden verstrickt, und das garantiert uns ihre Loyalität. Wir können auf sie zurückgreifen, wann immer wir wollen – um unsere politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Bedürfnisse zu befriedigen. Umgekehrt sichern die Politiker ihre Position ab, indem sie Fabriken, Kraftwerke und Flughäfen bauen lassen. Und die Besitzer von amerikanischen Ingenieurbüros und Bauunternehmen werden sagenhaft reich."

Heute erleben wir, wie das System Amok läuft. Die Chefs der angesehensten Unternehmen lassen Mitarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen in asiatischen Sweatshops für einen Hungerlohn schuften. Ölgesellschaften pumpen mutwillig Gift in die Flüsse von Regenwäldern und nehmen bewußt den Tod von Menschen, Tieren und Pflanzen in Kauf. Sie begehen Völkermord an Ureinwohnern. Die Pharmaindustrie enthält Millionen von HIV-Infizierten in Afrika lebensrettende Medikamente vor. Selbst in unserem eigenen Land sieht es nicht besser aus. Zwölf Millionen Familien in den USA wissen nicht, woher sie ihre nächste Mahlzeit nehmen sollen. Im Energiesektor sind Skandale wie die Enron-Pleite an der Tagesordnung. Und Wirtschaftsprüfer wie Andersen sehen lange tatenlos zu. Die Einkommensschere zwischen dem einen Fünftel der Weltbevölkerung in den reichsten Ländern und dem einen Fünftel der ärmsten Länder klafft immer weiter auseinander, 1960 betrug das Verhältnis noch 30 zu 1, 1995 lag es bei 74 zu 1. Die USA geben über 87 Milliarden Dollar für den Krieg im Irak aus, während die Vereinten Nationen schätzen, daß für weniger als die Hälfte dieser Summe sauberes Wasser, ausreichende Ernährung, sanitäre Anlagen und Grundkenntnisse in Lesen und Schreiben für jeden Menschen auf der Welt bereitgestellt werden könnten.

Und wir wundern uns, daß Terroristen uns angreifen?

Manche halten eine organisierte Verschwörung für die Ursache unserer derzeitigen Probleme. Ich wünschte, es wäre so einfach. Die Mitglieder einer Verschwörung können aufgespürt und der Gerechtigkeit zugeführt werden. Dieses System ist jedoch eine weit größere Gefahr als eine terroristische Verschwörung. Es wird nicht von einer kleinen Gruppe Männer getragen, sondern von einem Konzept, das als Prinzip allgemein akzeptiert wird: die Idee, daß wirtschaftliches Wachstum der Menschheit immer nützt. Je größer das Wachstum, desto größer der Nutzen. Von dieser Ansicht leitet sich ein weiterer Grundsatz ab: Wer das Feuer wirtschaftlichen Wachstums schürt, wird erhöht und belohnt, wer dagegen in den Randgebieten des wirtschaftlichen Wachstums geboren ist, darf ausgebeutet werden.

Das Konzept ist natürlich unsinnig. Wir wissen, daß in vielen Ländern nur ein kleiner Teil der Bevölkerung vom Wirtschaftswachstum profitiert, für die Mehrheit können sich die Bedingungen durch Wachstum sogar erheblich verschlechtern. Dieser Effekt wird verstärkt durch die vorherrschende Meinung, daß die Wirtschaftsbosse, die dieses System steuern, einen besonderen Status genießen sollten. Hier liegt die Ursache vieler unserer aktuellen Probleme und vielleicht auch der Grund dafür, warum es so viele Verschwörungstheorien gibt. Wenn der Mensch für seine Gier belohnt wird, wird Gier zum korrumpierenden Motiv. Wenn wir die Verschwendung unserer Ressourcen quasi heilig sprechen, wenn wir unseren Kindern beibringen, Menschen nachzueifern, die ein rastloses Leben führen, und wenn wir große Teile der Bevölkerung als Untergebene einer Elite definieren, werden vor allem die Probleme stetig wachsen.

In ihrem Streben nach der Weltherrschaft nutzen Konzerne, Banken und Regierungen (ich verwende für diesen Komplex den Begriff Korporatokratie) ihren finanziellen und politischen Einfluß und sorgen so dafür, daß unsere Schulen, Unternehmen und Medien das unsinnige Konzept und seine Konsequenzen predigen und preisen. Sie haben uns an einen Punkt gebracht, an dem unsere globale Kultur eine monströse Maschine ist, die immer größere Mengen an Treibstoff und Wartungsarbeiten benötigt, und zwar so viel, daß diese Maschine zuletzt alles in ihrer Umgebung verschlungen hat und ihr nichts anderes mehr übrig bleibt, als sich selbst zu fressen.

Die Korporatokratie ist keine Verschwörung, doch ihre Mitglieder haben gemeinsame Werte und Ziele. Eine der wichtigsten Funktionen der Korporatokratie ist es, sich zu erhalten, kontinuierlich zu erweitern und das System zu stärken. Das Leben derjenigen, die "es geschafft haben", und ihre Errungenschaften – die Villen, Jachten und Privatflugzeuge – werden uns allen als verlockende Beispiele des Wohllebens vorgehalten, damit wir konsumieren, konsumieren und konsumieren. Bei jeder Gelegenheit wird uns eingebläut, daß Einkaufen oberste Bürgerpflicht ist. Der Raubbau an der Erde ist gut für die Wirtschaft und dient daher höheren Interessen. Leute wie ich bekommen ungeheuer viel Geld, damit sie tun, was das System befiehlt. Wenn wir zögern, übernimmt eine bösartigere Form der Hit Men die Vertretung und Gestaltung dieser Interessen: die "Schakale". Und wenn der Schakal scheitert, greift das Militär ein.

Dieses Buch ist das Geständnis eines Mannes, der als EHM noch zu einer relativ kleinen Gruppe gehörte. Heute gibt es viel mehr Personen, die ähnliche Funktionen ausüben. Sie haben euphemistischere Bezeichnungen und tummeln sich in den Führungsetagen von Monsanto, General Electric, Nike, General Motors, Wal-Mart und fast jedem anderen großen Konzern der Welt. In einem sehr realen Sinn ist Bekenntnisse eines Economic Hit Man ebenso ihre Geschichte wie meine.

Und es ist Ihre Geschichte, lieber Leser, die Schilderung Ihrer und meiner Welt, dem ersten echten Weltreich. Die Geschichte lehrt uns, daß solche Reiche immer scheitern, es sei denn, wir ändern etwas daran. Weltreiche haben keinen Bestand. Im Streben nach mehr Dominanz zerstört ein Reich viele Kulturen, aber irgendwann geht es selbst zugrunde. Kein Land und kein Verband von Ländern kann lange Zeit von der Ausbeutung anderer leben.

Dieses Buch soll auf diese Entwicklung aufmerksam machen. Noch haben wir die Möglichkeit, die Geschichte umzuschreiben. Ich bin mir sicher, wenn genügend Menschen erkennen, daß wir von einem Wirtschaftsmotor ausgebeutet werden, der eine unersättliche Gier nach den Ressourcen der Welt hat und die Menschen versklavt, werden wir dieses System nicht mehr länger tolerieren. Wir werden unsere Rolle in einer Welt, in der einige wenige im Geld schwimmen und die Mehrheit in Armut, Umweltverschmutzung und Gewalt versinkt, neu überdenken. Wir werden uns engagieren und einen Kurs zu Mitleid, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit für alle ansteuern.

Ein Problem einzugestehen ist der erste Schritt zur Lösung. Die Beichte einer Sünde ist der Beginn der Errettung. Mein Buch soll der Anfang unserer Rettung sein. Es soll uns zu neuer Hingabe inspirieren und uns unseren Traum von einer sozial ausgewogenen und gerechten Gesellschaft erkennen lassen.

Ohne die vielen Menschen, an deren Leben ich teilhatte und die auf den folgenden Seiten beschrieben werden, wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Ich bin ihnen dankbar für die Erfahrungen und Lektionen.

Darüber hinaus danke ich den Menschen, die mir Mut machten, ganz allein den ersten Schritt zu machen und meine Geschichte zu erzählen: Stephan Rechtschaffen, Bill und Lynne Twist, Anne Kemp, Art Roffey und so viele Menschen, die an den Reisen und Workshops von Dream Change teilnahmen, vor allem meine Mitbegründer Eve Bruce, Lyn Robert-Herrick und Mary Tendall. Außerdem danke ich Winifred, meiner unglaublichen Frau und Partnerin seit 25 Jahren, und unserer Tochter Jessica.

Ich danke den vielen Menschen, die mir Informationen und Erkenntnisse über die multinationalen Banken, internationalen Konzerne und verborgenen politischen Zusammenhänge in verschiedenen Ländern verschafften. Mein besonderer Dank gilt Michael Ben-Eli, Sabrina Bologni, Juan Gabriel Carrasco, Jamie Grant, Paul Shaw und mehreren anderen, die anonym bleiben möchten, aber wissen, daß sie gemeint sind.

Nachdem das Manuskript geschrieben war, hatte Steven Piersanti, der Verlagsgründer von Berrett-Koehler, nicht nur den Mut, meine Geschichte anzunehmen, sondern verbrachte als hervorragender Lektor auch viel Zeit damit, mir zu helfen und das Buch zu strukturieren und zu redigieren. Ich bin Steven zu großem Dank verpflichtet, ebenso Richard Perl, der mich ihm vorstellte, und Nova Brown, Randi Fiat, Allen Jones, Chris Lee, Jennifer Liss, Laune Pellouchoud und Jenny Williams, die das Manuskript lasen und kritisierten. Mein Dank geht auch an David Korten, der mein Buch nicht nur las, sondern nahezu Unmögliches von mir verlangte, damit ich seinen hohen Ansprüchen genügte, außerdem an meinen Agenten Paul Fedorko, an Valerie Brewster für die Gestaltung des Buchs, und an meinen Mitherausgeber Todd Manza, einen außergewöhnlichen Wortschmied und Philosophen.

Ein besonderes Wort des Dankes gebührt Jeevan Sivasubramanian, Managing Editor bei Berrett-Koehler, und Ken Lupoff, Rick Wilson, María Jesús Aguiló, Pat Anderson, Marina Cook, Michael Crowley, Robin Donovan, Kristen Frantz, Tiffany Lee, Catherine Lengronne, Dianne Platner – allen Mitarbeitern von BK, die wissen, wie wichtig es ist, kritisches Bewußtsein zu wecken. Sie alle arbeiten unermüdlich für eine bessere Welt.

Ich muß allen Männern und Frauen danken, die mit mir bei MAIN gearbeitet haben und die nicht wußten, welche Rolle sie dabei spielten. Ich danke vor allem denjenigen, die für mich arbeiteten und mit denen ich in ferne Länder reiste und viele unvergeßliche Erlebnisse teilte. Auch Ehud Sperling und seinen Mitarbeitern beim Verlag Inner Traditions International möchte ich danken, denn dort erschienen meine früheren Bücher über indigene Völker und Schamanismus. Sie sind gute Freunde, die meine ersten Versuche als Schriftsteller unterstützten.

Ich bin den Männern und Frauen unendlich dankbar, die mich im Dschungel, in der Wüste und in den Bergen bei sich aufnahmen, in den Kartonhütten an den Kanälen von Jakarta und in den Slums unzähliger Städte der Welt, die mit mir ihr Essen und ihr Leben teilten und meine größte Quelle der Inspiration waren.

Prolog

Quito, die Hauptstadt Ecuadors, liegt in einem Vulkantal hoch in den Anden auf einer Höhe von 2850 Metern. Auf den Gipfeln, die das Tal umgeben, liegt Schnee. Die Bewohner der Stadt, die lange vor Kolumbus’ Ankunft gegründet wurde, sind an den Anblick gewöhnt, obwohl sie nur wenige Kilometer südlich des Äquators leben. Fast 2600 Meter tiefer liegt mitten im gerodeten Regenwald die Shell-Stadt, ein Militärstützpunkt und Vorposten der Zivilisation in der Wildnis. Die Stadt dient der gleichnamigen Ölgesellschaft und wird vorwiegend von Soldaten und Ölarbeitern bewohnt. Zudem leben Indianerinnen und Indianer der Shuar- und Kichwa-Stämme in der Stadt, sie arbeiten als Prostituierte und Hilfsarbeiter.

Die Fahrt von einer Stadt zur anderen ist zugleich mühevoll und atemberaubend schön. Die Einheimischen sagen, daß man an einem einzigen Tag alle vier Jahreszeiten erlebt.

Obwohl ich die Strecke oft gefahren bin, werde ich nie müde, die atemberaubende Landschaft zu bestaunen. Auf der einen Seite erheben sich steile Felsen, hier und da gesprenkelt von einem Wasserfall und Bromelien. Auf der anderen Seite geht es fast senkrecht hinab in eine tiefe Schlucht, in der sich der Pastaza, ein Quellfluß des Amazonas, durch die Anden schlängelt. Der Pastaza führt Wasser von den Gletschern am Cotopaxi, einem der höchsten aktiven Vulkane der Welt, der vom Atlantischen Ozean über 4800 Kilometer entfernt ist. Zu Zeiten der Inka wurde der Vulkan als Gottheit verehrt.

2003 verließ ich Quito in einem Subaru Outback und fuhr nach Shell. Ich hatte einen Auftrag, der völlig anders war als die Aufträge, die ich bisher angenommen hatte. Ich hoffte, einen Krieg zu beenden, zu dessen Entstehung ich beigetragen hatte. Wie bei vielem, für das wir EHM verantwortlich sind, ist das ein Krieg, der außerhalb des Landes kaum wahrgenommen wird. Ich war auf dem Weg zu einem Treffen mit den Shuars, den Kichwas und ihren Nachbarn, den Achuars, Zaparos und den Shiwiars – alles Stämme, die entschlossen waren, die Ölgesellschaften davon abzuhalten, ihre Häuser, Familien und ihr Land zu zerstören, selbst wenn das bedeutete, daß sie dafür sterben mußten. Für sie geht es in diesem Krieg um das Überleben ihrer Kinder und ihrer Kultur, für uns hingegen geht es um Macht, Geld und Rohstoffe. Dieser Krieg ist ein Teil des Kampfes um die Weltherrschaft und Ausdruck des Traumes einiger weniger gieriger Männer von einem Weltreich.

Das ist die eigentliche Kompetenz der EMH: Wir bauen ein Weltreich auf. Wir sind eine Elite aus Frauen und Männern, die internationale Finanzorganisationen dazu benutzen, jene Bedingungen zu schaffen, mit denen andere Länder der Korporatokratie unterworfen werden sollen. Und diese Korporatokratie beherrscht unsere größten Konzerne, unsere Regierung und unsere Banken. Wie unsere Pendants in der Mafia bieten wir EHM einen Dienst oder eine Gefälligkeit an. Das kann zum Beispiel ein Kredit zur Entwicklung der Infrastruktur sein: Stromkraftwerke, Schnellstraßen, Häfen, Flughäfen oder Gewerbeparks. An den Kredit ist die Bedingung geknüpft, daß Ingenieurfirmen und Bauunternehmer aus unserem Land all diese Projekte bauen. Im Prinzip verläßt ein Großteil des Geldes nie die USA, es wird einfach von Banken in Washington an Ingenieurbüros in New York, Houston oder San Francisco überwiesen.

Obwohl das Geld also fast umgehend an Unternehmen zurückfließt, die zur Korporatokratie (dem Geldgeber) gehören, muß das Empfängerland alles zurückzahlen, die Schuldsumme plus Zinsen. Wenn ein EHM richtig erfolgreich ist, dann sind die Kredite so hoch, daß der Schuldner nach einigen Jahren seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann. Dann verlangen wir wie die Mafia unseren Anteil. Dazu gehören vor allem: die Kontrolle über die Stimmen in der UNO, die Errichtung von Militärstützpunkten oder der Zugang zu wichtigen Ressourcen wie Öl oder die Kontrolle über den Panamakanal. Natürlich erlassen wir dem Schuldner dafür nicht die Schulden – und haben uns so wieder ein Land dauerhaft unterworfen.

Auf der Fahrt von Quito nach Shell an diesem sonnigen Tag im Jahr 2003 dachte ich an die Zeit vor 35 Jahren zurück, als ich zum ersten Mal in diesen Teil der Welt kam. Ich hatte gelesen, daß Ecuador zwar nur etwa so groß wie Nevada ist, aber über 30 aktive Vulkane hat, daß dort über 15% der Vogelarten der Erde leben und es Tausende, noch gar nicht klassifizierte Pflanzen gibt. Im Land leben viele verschiedene Kulturen, Indio-Sprachen werden fast so häufig wie Spanisch gesprochen. Ich fand das alles faszinierend und sehr exotisch; doch die Wörter, die mir immer wieder einfielen, waren rein, unberührt und unschuldig.

In 35 Jahren hat sich vieles verändert.

Bei meinem ersten Besuch 1968 hatte Texaco gerade erst Öl in der Amazonasregion von Ecuador entdeckt. Heute macht Öl fast die Hälfte der Exporte von Ecuador aus. Eine Pipeline über die Anden, die kurz nach meinem ersten Besuch gebaut wurde, hat seitdem über eine halbe Million Barrel Öl durch Lecks abgegeben und den empfindlichen Regenwald verschmutzt – das ist mehr als doppelt so viel wie die Menge, die beim Tankerunglück der Exxon Valdez auslief. Heute verspricht eine neue, 1,3 Milliarden Dollar teure und 480 Kilometer lange Pipeline, die von einem von EHM organisierten Konsortium gebaut wird, Ecuador zu einem der zehn größten Öllieferanten der USA zu machen. Riesige Regenwaldflächen wurden gerodet, Aras und Jaguare sind fast verschwunden, drei ecuadorianische Indiokulturen stehen kurz vor dem Zerfall und jungfräuliche Flüsse wurden in Abwasserkanäle voll ätzender Brühe verwandelt.

Doch die Indios begannen sich zu wehren. So verklagte zum Beispiel am 7. Mai 2003 eine Gruppe amerikanischer Anwälte, die über 30.000 ecuadorianische Indios vertreten, Chevron Texaco auf eine Milliarde Dollar. Die Kläger behaupten, daß der Ölmulti zwischen 1971 und 1992 jeden Tag über 18 Millionen Liter giftige Abwässer, die mit Öl, Schwermetallen und krebserregenden Stoffen belastet waren, in offene Löcher und Flüsse gepumpt habe. Das Unternehmen hinterließ fast 350 offene Deponien, durch die weiterhin Menschen und Tiere zu Tode kommen.

Durch die Windschutzscheibe sah ich, wie große Nebelschwaden aus den Wäldern rollten und die Canyons des Pastaza hinaufstiegen. Mein Hemd war schweißnaß, und mein Magen rebellierte, was aber nicht nur an der ungeheuren tropischen Hitze und den Serpentinen der Straße lag. Ich wußte, welche Rolle ich bei der Zerstörung dieses schönen Landes gespielt hatte, und das forderte seinen Tribut. Wegen meiner EHM-Kollegen und mir ist Ecuador heute in einer viel schlechteren Verfassung als früher, bevor wir dem Land die Wunder der modernen Wirtschaftslehre, der Banken und der Ingenieurskunst beschert haben. Seit 1970, einer Zeit, die euphemistisch als Ölboom bezeichnet wird, stieg die offizielle Armutsgrenze von 50% auf 70%, die Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung kletterte von 15% auf 70% und die öffentliche Verschuldung von 240 Millionen Dollar auf 16 Milliarden Dollar. Der Anteil, den die ärmsten Schichten der Bevölkerung an den nationalen Ressourcen besitzen, ging von 20% auf 6% zurück.

Leider ist Ecuador keine Ausnahme. Fast jedes Land, das wir EHM unter die Kontrolle des globalen Imperiums gebracht haben, erlitt ein ähnliches Schicksal. Die Verschuldung der Dritten Welt ist auf über 2,5 Billionen Dollar angewachsen, und die Kosten, die Kreditgeber zu bedienen (2004 waren das über 375 Milliarden Dollar pro Jahr) sind höher als der Betrag, den alle Drittweltländer zusammen für Gesundheit und Bildung ausgeben, und zwanzigmal höher als die Summe, die Entwicklungsländer jedes Jahr an ausländischer Hilfe erhalten. Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt von weniger als 2 Dollar am Tag, was ungefähr der Summe entspricht, die sie Anfang der siebziger Jahre erhielten. Mittlerweile hält das oberste 1% der Haushalte in Drittweltländern 70 bis 90% des privaten Vermögens und der Immobilien in ihrem Land, die genaue Prozentzahl hängt vom jeweiligen Land ab.

Der Subaru wurde langsamer und schlängelte sich durch die Straßen des Urlaubsortes Baños, der berühmt für seine heißen Bäder in unterirdischen vulkanischen Flüssen ist, die vom sehr aktiven Tungurahua gespeist werden. Dann ließen wir Baños hinter uns. Die spektakulären Ausblicke endeten jäh, denn nun ließ der Subaru das Paradies hinter sich und näherte sich einer modernen Version von Dantes Inferno.

Aus dem Fluß ragte ein gigantisches Monstrum, eine mammutgraue Wand. Der tropfende Beton wirkte hier völlig fehl am Platz, war unnatürlich und paßte nicht zur Landschaft. Eigentlich kam der Anblick nicht überraschend. Ich wußte schon die ganze Zeit, daß diese Mauer mich hier erwartete. Ich hatte sie schon oft gesehen und sie früher als ein Symbol für die Leistungen der EHM gerühmt. Trotzdem bekam ich eine Gänsehaut.

Die scheußliche Mauer ist ein Staudamm, der den rauschenden Pastaza aufstaut und das Wasser durch riesige Tunnel leitet, die durch den Berg gebohrt wurden und in denen mit Wasserkraft Elektrizität erzeugt wird: das 156 Megawatt-Wasserkraftwerk von Agoyan. Es versorgt die Industrien mit Strom, die eine Hand voll ecuadorianischer Familien reich machen. Für die Bauern und Indios, die am Fluß leben, ist das Kraftwerk eine Quelle unsäglichen Leids. Und dies ist nur eines von vielen Projekten, die aufgrund meiner Arbeit und der anderer EHM verwirklicht wurden. Solche Projekte sind der Grund dafür, warum Ecuador heute zum globalen Imperium gehört, und dafür, warum die Shuar und Kichwa und ihre Nachbarn den Ölgesellschaften mit Krieg drohen.

Wegen der EHM-Projekte ist Ecuador im Ausland hochverschuldet und muß einen unverhältnismäßig hohen Anteil seines nationalen Haushalts für Zinsen und Tilgung aufwenden, statt das Geld für die Millionen Bürger zu verwenden, die offiziell unterhalb der Armutsgrenze leben. Ecuador kann seinen Auslandsverpflichtungen nur nachkommen, indem es Regenwald an die Ölgesellschaften verkauft. Öl war natürlich einer der Gründe, warum die EHM Ecuador ins Visier nahmen. Man schätzt, daß die Ölvorkommen unter der Amazonasregion von Ecuador mit den Ölfeldern im Mittleren Osten zu vefgleichen ist. Das globale Imperium fordert seinen Anteil in Form von Bohrgenehmigungen.

Die Forderungen wurden nach dem 11. September 2001 besonders dringend, denn damals fürchtete Washington, die Ölversorgung aus dem Mittleren Osten könnte versiegen. Dazu kam noch, daß in Venezuela, dem drittgrößten Öllieferanten der USA, vor kurzem ein vor allem bei den unteren und mittleren Bevölkerungsschichten beliebter Präsident gewählt worden war. Hugo Chávez vertrat gegen den amerikanischen Imperialismus, wie er es nannte, eine harte Haltung und drohte, den Ölverkauf an die USA einzustellen. Die EHM waren im Irak und in Venezuela gescheitert, hatten aber in Ecuador Erfolg gehabt, nun wollten wir das Land in aller Ruhe zu Tode melken.
Ecuador ist ein typisches Beispiel für Länder auf der ganzen Erde, die EHM unter ihre Kontrolle gebracht haben. Von 100 Dollar für Rohöl, das im ecuadorianischen Regenwald gewonnen wird, erhalten die Ölgesellschaften 75 Dollar. Von den verbleibenden 25 Dollar müssen drei Viertel zur Tilgung der Auslandsschulden verwendet werden. Der Rest wird größtenteils fürs Militär und andere Staatsausgaben gebraucht – damit bleiben 2,50 Dollar für Gesundheit, Bildung und Programme zur Unterstützung der Armen. So gehen von 100 Dollar, die mit Öl aus dem Amazonasgebiet verdient werden, nicht einmal 3 Dollar an die Menschen, die das Geld am nötigsten brauchen, deren Leben durch die Staudämme, die Bohrungen und die Pipelines beeinträchtigt wird und die sterben, weil sie keine gesunden Lebensmittel und kein Trinkwasser haben.

All diese Menschen – Millionen in Ecuador, Milliarden auf der ganzen Welt – sind potentielle Terroristen. Nicht weil sie an den Kommunismus oder Anarchismus glauben oder von Natur aus böse sind, sondern ganz einfach, weil sie verzweifelt sind. Ich betrachtete den Damm und fragte mich wie schon so oft, wann diese Menschen aufbegehren würden, so wie sich die Amerikaner 1773 gegen die Briten erhoben oder Anfang des 19. Jahrhunderts die Menschen in Lateinamerika gegen die Spanier.

Die Raffinesse, mit dem dieses moderne Reich aufgebaut wird, stellt die römischen Zenturionen, die spanischen Konquistadoren und die europäischen Kolonialmächte des 18. und 19. Jahrhunderts bei weitem in den Schatten. Wir EHM sind schlau, wir haben aus der Geschichte gelernt. Wir tragen keine Schwerter mehr. Wir tragen keine Rüstung oder Kleidung, die uns verraten könnte. In Ländern wie Ecuador, Nigeria oder Indonesien kleiden wir uns wie Schullehrer und Ladenbesitzer. In Washington und Paris sehen wir wie Regierungsbeamte oder Banker aus. Wir wirken bescheiden und normal. Wir besuchen Projekte und schlendern durch verarmte Dörfer. Wir bekunden Altruismus und sprechen mit den Lokalzeitungen über die wunderbaren humanitären Leistungen, die wir vollbringen. Wir bedecken die Konferenztische von Regierungsausschüssen mit Tabellen und finanziellen Hochrechungen und halten an der Harvard Business School Vorlesungen über die Wunder der Makroökonomie. Wir sind stets präsent und agieren ganz offen. Oder zumindest stellen wir uns so dar und werden so akzeptiert. So funktioniert das System. Wir greifen selten zu illegalen Mitteln, weil das System auf Täuschung basiert, und das System ist von der Definition her legal.

Aber (und das ist ein sehr starkes "Aber") wenn wir scheitern, greift eine ganz besonders finstere Truppe ein, die wir EHM als Schakale bezeichnen – Männer, die die direkten Erben dieser frühen Weltreiche sind. Die Schakale sind immer da, sie lauern im Schatten. Wenn sie auftauchen, werden Staatschefs gestürzt oder sterben bei "Unfällen". Und wenn die Schakale versagen sollten, wie zum Beispiel in Afghanistan oder im Irak, dann muß doch wieder das alte Modell herhalten. Dann werden junge Amerikaner in den Krieg geschickt, um zu töten und zu sterben.

Als ich an dem Monstrum vorbeifuhr, der riesigen massiven Mauer aus grauem Beton, die sich aus dem Fluß erhob, spürte ich deutlich meine schweißnassen Kleider. Mein Magen zog sich zusammen. Ich war unterwegs in den Dschungel, um mich mit Indios zu treffen, die entschlossen waren, bis zum letzten Mann zu kämpfen und dieses Imperium aufzuhalten, das ich miterschaffen hatte. Ich wurde von Schuldgefühlen gepeinigt.

Wie, fragte ich mich, schliddert ein netter Junge aus dem ländlichen New Hampshire in so schmutzige Geschäfte hinein?

Ein Economic Hit Man wird geboren

Alles begann ganz harmlos.

Ich war ein Einzelkind und wurde 1945 in eine Familie der Mittelschicht hineingeboren. Meine Eltern stammten beide aus Yankee-Familien, die seit drei Jahrhunderten in Neuengland lebten; ihre strenge Moral und aufrecht republikanische Haltung war seit Generationen durch die puritanischen Vorfahren geprägt. Sie waren die Ersten in ihrer Familie, die aufs College gingen – mit Hilfe von Stipendien. Meine Mutter wurde Lateinlehrerin an der High School. Mein Vater ging im Zweiten Weltkrieg zur Marine und führte als Leutnant die bewaffnete Mannschaft an Bord eines Tankers der Handelsmarine im Atlantik, die das Schiff vor deutschen Angriffen schützen sollte. Als ich in Hanover, New Hampshire geboren wurde, kurierte er gerade seine gebrochene Hüfte in einem Militärkrankenhaus in Texas. Er sah mich das erste Mal, als ich ein Jahr alt war.

Er bekam eine Stelle als Sprachenlehrer an der Tilton School, einem Jungeninternat im ländlichen New Hampshire. Der Campus lag hoch auf einer Anhöhe, stolz (manche würden sagen arrogant) überragte das Schulgebäude die Stadt gleichen Namens. Die exklusive Schule beschränkte die Schülerzahl auf 50 Schüler in jeder Klassenstufe, von der 9. bis zur 12. Klasse. Die Schüler waren meist die Abkömmlinge reicher Familien aus Buenos Aires, Caracas, Boston und New York.

In meiner Familie war Geld knapp, dennoch betrachteten wir uns keineswegs als arm. Die Lehrer verdienten sehr wenig, aber alles, was wir zum Leben brauchten, wurde kostenlos gestellt: Lebensmittel, Unterkunft, Heizung, Wasser und die Arbeiter, die unseren Rasen mähten und den Schnee schippten. Ab meinem vierten Geburtstag aß ich im Speisesaal der Schule, sammelte die übers Feld hinausgeschossenen Bälle für die Fußballmannschaft wieder ein, die mein Vater trainierte, und verteilte im Umkleideraum die Handtücher.

Daß die Lehrer und ihre Frauen sich den Einheimischen bloß überlegen fühlten, wäre eine Untertreibung. Meine Eltern scherzten gerne, sie seien die Gutsherren im Herrenhaus und würden über die niedrigen Landarbeiter – die Bewohner im Städtchen – herrschen. Ich wußte, daß dies nicht nur scherzhaft gemeint war.

Meine Freunde in der Grund- und Mittelschule gehörten zu diesen "niederen Arbeitern", sie waren sehr arm. Ihre Eltern waren Kleinbauern, Holzfäller oder arbeiteten im Sägewerk. Sie verabscheuten die "Snobs auf dem Hügel". Umgekehrt versuchten meine Eltern zu verhindern, daß ich allzu viel Kontakt mit den Mädchen aus der Stadt hatte, die sie als "Flittchen" und "Schlampen" bezeichneten. Ich hatte mit diesen Mädchen seit der ersten Klasse Buntstifte und Schulbücher geteilt und verliebte mich im Lauf der Jahre in drei von ihnen: Ann, Priscilla und Judy. Es war schwer für mich, die Haltung meiner Eltern zu verstehen, trotzdem fügte ich mich ihren Wünschen.

Jedes Jahr verbrachten wir die dreimonatigen Sommerferien meines Vaters in einem Häuschen am See, das mein Großvater 1921 gebaut hatte. Es lag mitten in den Wäldern, nachts hörten wir die Rufe von Eulen und das Gebrüll von Berglöwen. Wir hatten keine Nachbarn, ich war das einzige Kind weit und breit. In den ersten Jahren stellte ich mir immer vor, daß die Bäume die Ritter der Tafelrunde waren, und die Burgfräulein in Gefahr nannte ich (je nach Jahr) Ann, Priscilla oder Judy. Meine Leidenschaft war, da hatte ich keine Zweifel, so groß wie die von Lancelot für Guinevere – und ich mußte sie sogar noch sorgfältiger geheim halten.

Mit vierzehn erhielt ich kostenlos Unterricht an der Tilton School. Unter dem Einfluß meiner Eltern lehnte ich alles ab, was mit der Stadt zu tun hatte, und sah meine alten Freunde nie wieder. Wenn meine neuen Klassenkameraden in den Ferien nach Hause zu ihren Villen und Penthäusern fuhren, blieb ich allein auf dem Hügel zurück. Ihre Freundinnen waren Debütantinnen, ich hatte keine Freundinnen. Alle Mädchen, die ich kannte, waren "Schlampen"; ich hatte sie fallen gelassen, und sie hatten mich vergessen. Ich war allein – und schrecklich frustriert.

Meine Eltern waren Meister der Manipulation; sie versicherten mir immer wieder, was für ein Privileg es sei, eine solche Chance zu bekommen. Eines Tages würde ich dafür dankbar sein. Ich würde die perfekte Frau finden, eine, die unseren hohen moralischen Ansprüchen genügte. Innerlich schäumte ich vor Wut. Ich sehnte mich nach einer Freundin – nach Sex. Der Gedanke an eine Schlampe war sehr verführerisch.

Aber anstatt zu rebellieren, unterdrückte ich meine Wut. Meiner Frustration machte ich mit hervorragenden Leistungen Luft. Ich war ein Musterschüler, Kapitän von zwei Schulmannschaften und Chefredakteur der Schulzeitung. Ich war entschlossen, meine reichen Klassenkameraden weit in den Schatten zu stellen und Tilton für immer hinter mir zu lassen.

In meinem letzten Jahr erhielt ich ein Sportstipendium für die Brown University und ein akademisches Stipendium für Middlebury. Ich wollte auf die Brown University, vor allem, weil ich gern Sport trieb und weil die Universität in einer Stadt lag. – Meine Mutter hatte in Middlebury ihren Abschluß gemacht, und mein Vater hatte dort seinen Master gemacht, daher bevorzugten sie Middlebury, obwohl Brown zu den Ivy-League-Universitäten zählte.

"Was ist, wenn du dir ein Bein brichst?", fragte mein Vater. "Nimm lieber das akademische Stipendium." Ich fügte mich.

Middlebury war meiner Meinung nach nur ein aufgeblähter Abklatsch von Tilton – wenn auch im ländlichen Vermont anstatt im ländlichen New Hampshire gelegen. Gut, dort studierten Jungen und Mädchen, aber ich war arm, und fast alle anderen waren reich, außerdem war ich seit vier Jahren nicht mehr mit Mädchen zur Schule gegangen. Mir fehlte das Selbstvertrauen, ich fühlte mich als Außenseiter und war unglücklich. Ich bat meinen Vater, die Schule verlassen oder ein Jahr aussetzen zu dürfen. Ich wollte nach Boston ziehen, das Leben und die Frauen kennen lernen. Er wollte nichts davon hören. "Kann ich die Kinder anderer Leute fürs College vorbereiten, und dann will mein eigener Sohn nicht studieren?" fragte er.

Mittlerweile weiß ich, daß im Leben eine Reihe von Zufällen entscheidend ist. Entscheidend ist, wie wir darauf reagieren (was manche als Akte des freien Willens bezeichnen); die Entscheidungen, die wir innerhalb der Grenzen von Schicksalswendungen treffen, bestimmen auch, wer wir sind. In Middlebury kam ich an zwei Wendepunkte meines Lebens. Die eine Wendung trat in Gestalt eines Iraners auf, der Sohn eines Generals, der persönlicher Berater des Schahs war, die andere war eine schöne junge Frau, und sie hieß Ann wie der Schwarm meiner Kindheit.

Der Iraner, den ich hier Farhad nenne, war in Rom Profifußballer gewesen. Er hatte einen athletischen Körper, lockige schwarze Haare und sanfte, walnußbraune Augen. Seine Herkunft und sein Charisma machten ihn für Frauen unwiderstehlich. In vieler Hinsicht war er das genaue Gegenteil von mir. Ich bemühte mich sehr, seine Freundschaft zu erringen, und er brachte mir Dinge bei, die mir in den kommenden Jahren noch von Nutzen sein sollten. Außerdem kamen Ann und ich uns näher. Obwohl sie mit einem jungen Mann ernsthaft liiert war, der ein anderes College besuchte, nahm sie mich unter ihre Fittiche. Unsere platonische Beziehung war die erste wirklich liebevolle Beziehung meines jungen Lebens.

Farhad ermunterte mich zum Trinken und Feiern. Er bestärkte mich darin, mich von meinen Eltern zu lösen. Ich entschied mich bewußt dafür, nicht mehr zu studieren. Ich wollte mir mein akademisches Bein brechen und es so meinem Vater heimzahlen. Meine Noten sackten in den Keller; ich verlor mein Stipendium. Nachdem mein zweites Jahr am College zur Hälfte vorüber war, beschloß ich, das Studium zu schmeißen. Mein Vater drohte, mich zu verstoßen; Farhad stachelte mich weiter an. Ich stürmte in das Büro des Dekans und verließ die Schule. Das war ein entscheidender Wendepunkt in meinem Leben.

Farhad und ich feierten meinen letzten Abend in der Stadt zusammen in einer Kneipe. Ein betrunkener Farmer, ein wahrer Riese, beschuldigte mich, mit seiner Frau zu flirten, packte mich am Kragen und schleuderte mich gegen die Wand.

Farhad ging dazwischen, zog ein Messer und schlitzte dem Farmer die Wange auf. Dann schleppte er mich durch den Raum und schob mich durchs Fenster, auf ein Fensterbrett hoch über dem Otter Creek. Wir sprangen hinaus und gingen am Fluß entlang zurück zu unserem Wohnheim.

Am nächsten Morgen wurde ich von der Campus-Polizei verhört. Ich log und behauptete, ich wisse nichts von dem Vorfall. Trotzdem wurde Farhad vom College verwiesen. Wir zogen nach Boston und teilten uns ein Apartment. Ich bekam einen Job bei einer Zeitung und arbeitete für den Record American und Sunday Advertiser, die beide zum Hearst-Imperium gehörten. Ich war persönlicher Assistent des Chefredakteurs vom Sunday Advertiser.

Später im Jahr 1965 wurden einige meiner Freunde aus der Redaktion zum Militär eingezogen. Um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen, schrieb ich mich am College of Business Administration der Boston University als Student ein. Zu der Zeit hatte Ann mit ihrem alten Freund Schluß gemacht und besuchte mich oft in Boston. Ich genoß ihre Zuwendung sehr. Sie machte 1967 ihren Abschluß, ich dagegen hatte noch ein Jahr Studium vor mir. Sie weigerte sich hartnäckig, mit mir zusammenzuziehen, solange wir nicht verheiratet waren. Ich scherzte, das sei Erpressung, ich bezichtigte Ann der archaischen und prüden Moralvorstellungen meiner Eltern, doch ich genoß unsere gemeinsame Zeit und wollte mehr. Wir heirateten.

Anns Vater war ein hervorragender Ingenieur und hatte das Navigationssystem für einen wichtigen Raketentyp entwickelt. Für seine Arbeit wurde er mit einer hohen Position im Marineministerium belohnt. Sein bester Freund, ein Mann, den Ann Onkel Frank nannte (nicht sein richtiger Name), arbeitete in den höchsten Rängen der National Security Agency (NSA), dem am wenigsten bekannten (nach den meisten Darstellungen aber größten) US-Geheimdienst.

Kurz nach unserer Heirat mußte ich zur Musterung. Ich war tauglich und mußte nun damit rechnen, daß ich nach meinem Studium nach Vietnam kam. Die Vorstellung, in Südostasien zu kämpfen, zerriß mich innerlich. Krieg hat mich immer fasziniert. Ich wuchs mit Geschichten über meine Vorfahren in der Kolonialzeit auf (zu denen unter anderem auch der Publizist Thomas Paine und der Kriegsheld Ethan Allen gehörten) und hatte alle Schlachtfelder des Britisch-Französischen Kolonialkriegs und des Unabhängigkeitskriegs in Neuengland und im nördlichen Staat New York besucht. Ich las jeden historischen Roman, den ich in die Finger bekam. Als die ersten Spezialeinheiten in Südostasien landeten, wollte ich mich sogar freiwillig melden. Aber dann wurden in den Medien die Greueltaten und Widersprüche der amerikanischen Politik offengelegt, und ich änderte meine Meinung. Ich fragte mich, auf welcher Seite Tom Paine gestanden hätte. Ich war überzeugt, er hätte sich unseren Feinden, den Vietkong, angeschlossen.

Onkel Frank rettete mich. Er sagte mir, daß man mit einer Stelle bei der NSA nicht zum Militär eingezogen würde, und arrangierte für mich eine Reihe von Vorstellungsgesprächen, darunter eine eintägige zermürbende Befragung, bei der ich an einen Lügendetektor angeschlossen war. Mir wurde gesagt, mit diesen Tests werde untersucht, ob ich für eine Rekrutierung und Ausbildung durch die NSA geeignet sei. Man erhalte damit ein Profil meiner Stärken und Schwächen und könne meine weitere Laufbahn planen. In Anbetracht meiner Einstellung zum Vietnamkrieg war ich überzeugt, daß ich bei den Tests durchfallen würde.

Beim Verhör gestand ich, daß ich zwar Amerika gegenüber loyal sei, den Krieg jedoch ablehne. Ich war überrascht, daß meine Gesprächspartner das Thema nicht weiter verfolgten. Stattdessen konzentrierten sie sich auf meine Erziehung, meine Einstellung zu meinen Eltern, auf die Emotionen, die durch die Tatsache hervorgerufen wurden, daß ich als armer Puritaner unter vielen reichen, hedonistischen Snobs aufgewachsen war. Auch meine Frustration darüber, daß ich nicht genug Frauen, Sex und Geld in meinem Leben gehabt hatte, wurde unter die Lupe genommen. Ich war erstaunt, wie viel Aufmerksamkeit man meiner Freundschaft zu Farhad widmete und welches Interesse meine Bereitschaft hervorrief, die Campus-Polizei anzulügen, um meinen Freund zu schützen.

Zuerst nahm ich an, daß ich aufgrund dieser Biographie und dieser Taten, die mir so negativ erschienen, für die NSA nicht in Frage käme. Doch die Befragungen und Gespräche wurden fortgesetzt, und allmählich zeichnete sich ein anderes Ergebnis ab. Erst viele Jahre später erkannte ich, daß diese negativen Eigenschaften aus Sicht der NSA positiv waren. Ihr Urteil hatte weniger mit meiner Loyalität zu meinem Land zu tun als mit den Enttäuschungen in meinem Leben. Die Wut auf meine Eltern, meine Besessenheit, was Frauen anging, und mein Ehrgeiz, eines Tages ein Leben in Wohlstand zu führen, machten mich verführbar. Meine Entschlossenheit, in der Schule und beim Sport hervorragende Leistungen zu bringen, meine Rebellion gegen den Vater, meine Fähigkeit, mit Ausländern gut auszukommen, und meine Bereitschaft, die Polizei anzulügen, waren genau die Eigenschaften, die die NSA suchte. Ich entdeckte später auch, daß Farhads Vater für den amerikanischen Geheimdienst im Iran arbeitete; meine Freundschaft mit Farhad erwies sich als wichtiger Pluspunkt.

Einige Wochen nach den Tests der NSA wurde mir eine Ausbildung in der Kunst der Spionage angeboten, die ich einige Monate nach meinem Abschluß an der Universität beginnen konnte. Bevor ich offiziell zusagte, besuchte ich aus einer Laune heraus ein Seminar an der Boston University, bei dem Freiwillige für das Peace Corps rekrutiert wurden. Für das Peace Corps sprach, daß man wie bei der NSA vom Militärdienst befreit war.

Die Entscheidung, das Seminar zu besuchen, war einer dieser Zufälle, die im ersten Moment unbedeutend erscheinen, aber das Leben für immer verändern. Der Seminarleiter beschrieb verschiedene Regionen auf der Welt, für die Freiwillige besonders dringend gebraucht wurden. Eine davon war der tropische Regenwald im Amazonasgebiet, wo, wie er erzählte, die Indios ganz ähnlich wie die Ureinwohner Nordamerikas bis zur Ankunft der Europäer lebten.

Ich hatte schon immer davon geträumt, wie die Abnakis zu leben, die New Hampshire bewohnten, als meine Vorfahren sich dort als Siedler niederließen. Ich wußte, daß Abnaki-Blut in meinen Adern floß, und wollte das jahrhundertealte überlieferte Wissen der Indianer kennenlernen. Nach dem Seminar wandte ich mich an den Leiter und fragte ihn, ob es möglich sei, mit dem Peace Corps ins Amazonasgebiet zu gehen. Er antwortete, in der Region herrsche großer Bedarf an Freiwilligen, meine Chancen seien daher hervorragend. Ich rief Onkel Frank an.

Zu meiner Überraschung ermutigte mich Onkel Frank, zum Peace Corps zu gehen. Er vertraute mir an, daß nach dem Sieg in Vietnam (der damals von Männern in seiner Position als Gewißheit betrachtet wurde) das Amazonasgebiet der nächste Krisenherd sein werde.

"Massenhaft Öl", sagte er. "Wir werden dort gute Agenten brauchen – Leute, die die Einheimischen verstehen." Er versicherte mir, das Peace Corps sei ein ausgezeichnetes Übungsfeld, und drängte mich, Spanisch und die Sprachen der Indios zu lernen. "Vielleicht", kicherte er, "arbeitest du zu guter Letzt für ein privates Unternehmen anstatt für die Regierung."

Ich verstand damals nicht, was er meinte. Ich wurde vom Spion zum EHM befördert, obwohl ich die Bezeichnung noch nie gehört hatte und sie in den nächsten Jahren auch nicht hören sollte. Ich hatte keine Ahnung, daß Hunderte von Männern und Frauen auf der ganzen Welt für Unternehmensberatungen und andere private Unternehmen arbeiteten, Leute, die nie einen Cent von einer Regierungsorganisation bekamen und trotzdem den imperialen Ambitionen der USA dienten. Ebenso wenig konnte ich ahnen, daß ein neuer Typ mit eher euphemistischen Titeln gegen Ende des Jahrtausends zu Tausenden aktiv sein und ich eine wichtige Rolle bei der Ausbildung dieser neuen Armee spielen würde.

Ann und ich bewarben uns beim Peace Corps und baten um einen Einsatz im Amazonasgebiet. Als die Zusage kam, war ich zuerst enttäuscht. Im Brief stand, daß wir nach Ecuador geschickt werden würden.

Oh nein, dachte ich. Ich wollte doch ins Amazonasgebiet, nicht nach Afrika.

Ich holte mir einen Atlas und suchte Ecuador. Zu meiner Bestürzung konnte ich es nirgends auf dem afrikanischen Kontinent finden. Im Index stellte ich fest, daß Ecuador in Lateinamerika liegt. Auf der Karte sah ich, daß das Flußsystem, das von den Andengletschern gespeist wird, die Quellflüsse für den mächtigen Amazonas bildet. Bei der weiteren Lektüre erfuhr ich, daß der Regenwald von Ecuador zu den artenreichsten und eindrucksvollsten der Welt gehört und die Eingeborenen größtenteils noch so lebten, wie sie es seit Jahrtausenden getan hatten. Wir sagten zu.

Ann und ich absolvierten die Ausbildung für das Peace Corps in Südkalifornien und brachen im September 1968 nach Ecuador auf. Wir lebten im Amazonasgebiet mit Menschen, deren Lebensstil tatsächlich dem der nordamerikanischen Ureinwohner vor der Kolonialzeit ähnelte. In den Anden arbeiteten wir auch mit Nachfahren der Inka zusammen. Wir lernten eine Welt kennen, deren Existenz ich nicht in meinen kühnsten Träumen für möglich gehalten hätte. Die einzigen Südamerikaner, die ich bis dahin kennengelernt hatte, waren die reichen Snobs, die mein Vater unterrichtet hatte. Ich empfand große Sympathie für die Indios, die von der Jagd und der Landwirtschaft lebten. Ich fühlte mich ihnen merkwürdig verbunden. Irgendwie erinnerten sie mich an die Leute in meiner Heimatstadt, die ich stets gemieden hatte.

Eines Tages landete ein Mann im Anzug auf der Flugpiste unseres Dorfes. Er hieß Einar Greve und war Vizepräsident bei Chas. T. Main, Inc. (MAIN), einer internationalen Unternehmensberatung, die sich gern im Hintergrund hielt, aber großen Einfluß ausübte. MAIN führte Wirtschaftsanalysen durch, mit denen entschieden wurde, ob die Weltbank Ecuador und seinen Nachbarländern Milliarden Dollar zum Bau von Staudämmen und anderen Infrastrukturprojekten lieh. Einar war außerdem Oberst der Reserve der US Army.

Er sprach mit mir über die Vorteile, wenn man für ein Unternehmen wie MAIN arbeitete. Als ich erwähnte, daß ich vor meiner Anstellung beim Peace Corps von der NSA angenommen worden sei und mit dem Gedanken spiele, für diesen Geheimdienst zu arbeiten, sagte er mir, daß er manchmal als Verbindungsmann der NSA tätig sei. Der Blick, den er mir dabei zuwarf, weckte bei mir den Verdacht, daß er den Auftrag hatte, meine Fähigkeiten einzuschätzen. Heute glaube ich, daß er mein Profil aktualisierte und vor allem meine Fähigkeiten bewertete, in einer Umgebung zu überleben, in der die meisten Nordamerikaner sich nicht zurechtfinden würden.

Wir verbrachten einige Tage zusammen in Ecuador und hielten danach Briefkontakt. Er bat mich, ihm Berichte zu schicken, in denen ich die wirtschaftlichen Aussichten Ecuadors bewertete. Ich hatte eine kleine Reiseschreibmaschine, schrieb gerne und freute mich, seiner Bitte nachzukommen. Im Lauf von etwa einem Jahr schickte ich Einar mindestens fünfzehn lange Briefe. In diesen Briefen spekulierte ich über die wirtschaftliche und politische Zukunft Ecuadors. Ich berichtete über die wachsende Unzufriedenheit der Indiogemeinschaften und über ihren Kampf gegen Ölgesellschaften, internationale Entwicklungsagenturen und andere Versuche, sie gegen ihren Willen in die moderne Welt zu holen.

Als meine Zeit beim Peace Corps vorüber war, lud mich Einar zu einem Bewerbungsgespräch in die MAIN-Zentrale nach Boston ein. Bei einer privaten Unterhaltung betonte Einar, das Hauptgeschäft von MAIN sei die Entwicklung und Planung von Bauprojekten, aber der größte Kunde, die Weltbank, bestehe seit kurzer Zeit darauf, daß er auch Wirtschaftswissenschaftler beschäftige. Sie sollten kritische Wirtschaftsprognosen erstellen, mit deren Hilfe man die Machbarkeit und den Umfang der Projekte einschätzen könne. Er vertraute mir an, er habe vor kurzem drei hochqualifizierte Wirtschaftswissenschaftler mit makellosen Zeugnissen eingestellt – zwei mit einem Master und einen mit einem Doktortitel. Sie waren kläglich gescheitert.

"Keiner von ihnen", erklärte Einar, "war in der Lage, Wirtschaftsprognosen für Länder zu erstellen, in denen es keine verläßlichen Statistiken gibt." Er fuhr fort, alle wären außerstande gewesen, die Konditionen ihres Arbeitsvertrags zu erfüllen, zu denen auch Reisen in ferne Länder wie Ecuador, Indonesien, Iran und Agypten gehörten. Dort sollten sie mit lokalen Politikern sprechen und die Aussichten für die wirtschaftliche Entwicklung der Region persönlich beurteilen. Einer hatte in einem abgelegenen Dorf in Panama einen Nervenzusammenbruch erlitten, er wurde von der panamesischen Polizei zum Flughafen eskortiert, in ein Flugzeug gesetzt und zurück in die USA geschickt.
"Die Briefe, die Sie mir geschickt haben, zeigen, daß Sie sich vorwagen, selbst wenn es keine harten Fakten gibt. Und in Anbetracht Ihrer Lebensumstände in Ecuador bin ich mir sicher, daß Sie fast überall überleben können." Einar sagte mir, er habe bereits einen Wirtschaftsexperten entlassen und werde auch die beiden anderen feuern, wenn ich die Stelle annehmen sollte.

Im Januar 1971 wurde mir also eine Position als Wirtschaftswissenschaftler bei MAIN angeboten. Ich war gerade 26 geworden – das magische Alter, in dem mich die Einberufungsbehörde nicht mehr wollte. Ich beriet mich mit Anns Eltern, sie ermutigten mich, die Stelle anzunehmen. Ich nahm an, daß sie damit auch Onkel Franks Meinung zum Ausdruck brachten. Ich erinnerte mich, wie er gesagt hatte, daß ich womöglich eines Tages für ein privates Unternehmen arbeiten würde. Es wurde nie ausgesprochen, aber ich war mir sicher, daß meine Anstellung bei MAIN Teil jener Arrangements war, die Onkel Frank vor drei Jahren getroffen hatte. Dazu kamen natürlich noch meine Erfahrungen in Ecuador und meine Bereitschaft, über die politische und wirtschaftliche Situation des Landes zu berichten.

Das Angebot stieg mir zu Kopf, und ein paar Wochen lang trug ich die Nase sehr hoch. Ich hatte an der Boston University nur den Grad eines Bachelor erworben, was nicht gerade als Qualifikation für eine Stelle als Volkswirt bei einer renommierten Unternehmensberatung taugte. Ich wußte, daß viele meiner Kommilitonen an der BU, die untauglich gewesen waren und daher bis zum Master und anderen akademischen Graden weiterstudiert hatten, sich vor Neid verzehren würden. Ich sah mich selbst als schneidigen Geheimagenten, der in exotische Länder reiste und sich mit einem Martini in der Hand, umringt von schönen Bikinimädchen, lässig in einem Liegestuhl am hoteleigenen Swimmingpool herumlümmelte.

Das waren freilich Hirngespinste, doch ich sollte bald feststellen, daß meine tatsächlichen Aufgaben meine Phantasien weit übertrafen. Ich war James Bond näher, als ich es mir jemals hätte träumen lassen.

"Lebenslänglich"

Rechtlich betrachtet würde man MAIN als ein nicht börsennotiertes Unternehmen bezeichnen, dessen Anteile von wenigen Gesellschaftern gehalten wurden; konkret gesagt, MAIN gehörte etwa 5% der 2000 Mitarbeiter. Sie wurden Partner oder Teilhaber genannt, und ihre Position war sehr begehrt. Die Partner hatten nicht nur Macht über alle anderen, sondern verdienten auch das große Geld. Diskretion war ihr Markenzeichen; sie verhandelten mit Staatschefs und hochrangigen Managern, die von ihren Beratern ähnlich wie von ihren Rechtsanwälten und Psychotherapeuten absolute Diskretion erwarteten. Gespräche mit der Presse waren tabu. Dergleichen wurde einfach nicht toleriert. Folglich hatte außerhalb von MAIN kaum jemand je von uns gehört, allerdings kannten viele unsere Konkurrenten wie Arthur D. Little, Stone & Webster, Brown & Root, Halliburton und Bechtel.

Ich verwende den Begriff Konkurrenten im weiteren Sinn, weil MAIN in einer eigenen Liga spielte. Unsere Mitarbeiter waren größtenteils Ingenieure, allerdings besaßen wir keine Maschinen und hatten noch nie etwas gebaut, noch nicht einmal einen Lagerschuppen. Viele Mitarbeiter von MAIN waren früher beim Militär gewesen, allerdings arbeiteten wir nicht für das Verteidigungsministerium oder andere militärische Stellen. Unsere Arbeit war so völlig anders, daß selbst ich in den ersten Monaten nicht begriff, was wir eigentlich machten. Ich wußte nur, daß mich mein erster richtiger Auftrag nach Indonesien führen und ich Teil eines elfköpfigen Teams sein würde, das einen Masterplan für die Stromversorgung der Insel Java entwickeln sollte.

Ich merkte auch, daß Einar und andere, die mit mir über den Auftrag sprachen, mich unbedingt davon überzeugen wollten, daß die Wirtschaft Javas boomen würde. Wenn ich mich selbst durch gute Prognosen herausstellen (und damit auch für entsprechende Beförderungen empfehlen) wollte, sollten meine Analysen und Hochrechnungen diesen zu erwartenden Boom widerspiegeln.

"Von null auf hundert", sagte Einar gern. Er fuhr mit den Fingern durch die Luft und hob die Arme über den Kopf. "Eine Wirtschaft, die in die Höhe schießen wird wie eine Rakete!"

Einar verreiste häufig für zwei oder drei Tage. Niemand redete viel darüber, und anscheinend wußte niemand, wohin er reiste. Wenn er im Büro war, lud er mich oft zu einem Gespräch bei einer Tasse Kaffee ein. Er erkundigte sich nach Ann, nach unserer neuen Wohnung und nach der Katze, die wir aus Ecuador mitgebracht hatten. Nachdem ich ihn besser kennen gelernt hatte, wurde ich mutiger und versuchte, mehr über ihn und darüber zu erfahren, was man von mir und meiner Arbeit erwartete. Aber ich erhielt nie eine befriedigende Antwort, er war ein Meister darin, meinen Fragen auszuweichen. Einmal sah er mich merkwürdig an.

"Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen", sagte er. "Wir setzen große Erwartungen in Sie. Ich war vor kurzem in Washington ..." Seine Stimme verlor sich, und er lächelte geheimnisvoll. "Auf alle Fälle, Sie wissen ja, wir haben ein großes Projekt in Kuwait. Es dauert noch eine Weile, bis Sie nach Indonesien aufbrechen. Ich denke, Sie sollten die Zeit nutzen und sich über Kuwait informieren. Die Boston Public Library ist sehr gut ausgestattet, außerdem können wir Ihnen Ausweise für das MIT und die Bibliotheken von Harvard besorgen."

Danach verbrachte ich viele Stunden in Bibliotheken, vor allem in der Bostoner Stadtbibliothek, die nur wenige Straßen vom Büro entfernt und ganz in der Nähe meiner Wohnung am Back Bay lag. Ich informierte mich über Kuwait und las auch viele Bücher über Wirtschaftsstatistik, die von der UNO, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank herausgegeben wurden. Ich wußte, daß man von mir ökonometrische Modelle für Indonesien und Java erwartete, und beschloß, daß ich genauso gut gleich anfangen und ein Modell für Kuwait erstellen könnte.

Allerdings hatte ich bei meinem Studium der Betriebswirtschaft nichts über Ökonometrie gelernt, daher verbrachte ich viel Zeit mit der Frage, wie ich so ein Modell entwickeln könnte. Ich belegte sogar einige Seminare zu dem Thema. Dabei entdeckte ich, daß Statistiken manipuliert werden können. Sie lassen die unterschiedlichsten Schlußfolgerungen zu und untermauern in der Regel vor allem die bereits gefaßte Meinung des Analytikers.

MAIN war eine Macho-Firma. 1971 gab es dort nur vier Frauen in höheren Positionen. Allerdings gab es etwa 200 Frauen, die als Sekretärinnen den verschiedenen Abteilungen zugeteilt waren – jeder Vizepräsident und Abteilungsleiter hatte eine Sekretärin. Dann gab es noch das Sekretariat, das für den Rest der Truppe arbeitete. Ich hatte mich an diese Schieflage gewöhnt und war daher sehr erstaunt über die Begegnung, die mir eines Tages im Lesesaal der Boston Library zuteil wurde.

Eine attraktive brünette Frau kam vorbei und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. In ihrem dunkelgrünen Kostüm wirkte sie sehr elegant. Ich schätzte sie auf einige Jahre älter, versuchte aber so zu tun, als hätte ich sie nicht bemerkt. Nach ein paar Minuten schob sie wortlos ein aufgeschlagenes Buch in meine Richtung. Es enthielt eine Tabelle mit Informationen über Kuwait, nach der ich gesucht hatte – und eine Visitenkarte: Claudine Martin, Spezielle Beraterin für Chas. T. Martin, Inc. Ich blickte auf und sah in ihre sanften grünen Augen. Sie streckte die Hand aus.

"Ich wurde gebeten, Ihnen bei Ihrer Ausbildung zu helfen", sagte sie. Ich glaubte zu träumen.

Am nächsten Tag trafen wir uns in Claudines Wohnung in der Beacon Street, ein paar Straßen von der MAIN-Zentrale im Prudential Center entfernt. Während unserer ersten gemeinsamen Stunde erklärte mir Claudine, meine Position sei ungewöhnlich, daher müssten wir alles streng vertraulich behandeln. Sie sagte mir, daß niemand genauere Angaben zu meinem Job gemacht habe, weil niemand befügt sei – das sei nur sie. Dann teilte sie mir mit, ihre Aufgabe sei es, aus mir einen Economic Hit Man zu machen.

Allein das Wort weckte in mir alte Mantel-und-Degen-Vorstellungen. "Hit Man", das war ein Schläger, ein gedungener Schurke oder ein Berufskiller. Das nervöse Lachen, das ich ausstieß, war mir selbst peinlich. Sie lächelte und versicherte mir, einer der Gründe, warum die Bezeichnung verwendet werde, sei der humoristische Aspekt. "Wer würde so was schließlich ernst nehmen?", fragte sie.

Ich gestand, daß ich keine Ahnung von den Aufgaben eines Economic Hit Man hatte.

"Da sind Sie nicht der Einzige", lachte sie. "Wir sind eine seltene Spezies in einem schmutzigen Geschäft. Niemand darf etwas über Ihre Arbeit wissen – nicht einmal Ihre Frau." Dann wurde sie ernst. "Ich werde ganz offen zu Ihnen sein und Ihnen in den nächsten Wochen so viel wie möglich beibringen. Dann müssen Sie sich entscheiden. Ihre Entscheidung ist endgültig. Wenn man einmal dabei ist, dann ist man es lebenslänglich." Danach verwendete sie nur noch selten die volle Bezeichnung; wir waren einfach EHM.

Heute weiß ich, was ich damals nicht wußte. Claudine nutzte alle meine Schwächen, die mit dem NSA-Profil analysiert worden waren, rücksichtslos aus. Ich weiß nicht, woher sie diese Informationen hatte – von Einar, der NSA, der Personalabteilung von MAIN oder jemand anderem. Aber sie nutzte sie meisterhaft. Ihre Vorgehensweise, eine Kombination aus Verführung mit erotischen Mitteln und verbaler Manipulation, war perfekt auf mich zugeschnitten und paßte dennoch zu den üblichen Verfahren, die ich seitdem in verschiedenen Unternehmen kennengelernt habe. Wenn viel auf dem Spiel steht und der Druck, ein lukratives Geschäft zu machen, groß ist, ist jedes Mittel recht. Sie wußte von Anfang an, daß ich meine Ehe nicht aufs Spiel setzen und zu Hause unsere Heimlichkeiten beichten würde. Und sie war brutal offen, als sie mir die dunklen Seiten meiner Aufgabe erklärte.

Ich habe keine Ahnung, wer sie bezahlte, obwohl ich keinen Grund habe, einen anderen Geldgeber als MAIN anzunehmen, wie es auf ihrer Visitenkarte stand. Damals war ich zu naiv, zu schüchtern und zu geblendet, um die Fragen zu stellen, die mir heute so offensichtlich erscheinen.

Claudine sagte mir, meine Arbeit habe zwei Hauptziele. Erstens solle ich Argumente für die Vergabe hoher internationaler Kredite liefern. Das Geld werde dann mit Hilfe von Ingenieur- und Bauprojekten zurück zu MAIN und anderen amerikanischen Unternehmen (wie Bechtel, Halliburton, Stone & Webster und Brown & Root) geschleust. Zweitens solle ich daran arbeiten, die Länder in den Bankrott zu treiben, die die Kredite erhielten (natürlich erst, nachdem diese Länder MAIN und die anderen amerikanischen Firmen bezahlt hatten), damit sie für immer von ihren Geldgebern abhängig wurden und gefügig waren, wenn wir einen Gefallen brauchten, etwa einen Militärstützpunkt, Stimmen in der UNO oder Zugang zu Öl und anderen Rohstoffen.

Meine Aufgabe, erläuterte Claudine, war es, zu prognostizieren, welche Auswirkungen es hatte, wenn Milliarden Dollar in einem Land investiert wurden. Ich sollte vor allem Analysen anfertigen, in denen das wirtschaftliche Wachstum in den nächsten 20 oder 25 Jahren vorhergesagt und die Auswirkung verschiedener Projekte einbezogen wurden. Wenn zum Beispiel einem Land eine Milliarde Dollar geliehen werden sollte, um seine Regierung davon abzuhalten, sich mit der Sowjetunion zu verbünden, analysierte ich, ob das Geld in ein Kraftwerk, in ein neues landesweites Eisenbahnnetz oder in ein Telekommunikationssystem investiert wurde. Oder mir wurde gesagt, einem Land werde der Bau eines modernen Stromnetzes angeboten. Dann sollte ich belegen, daß das Netz ein ausreichendes Wirtschaftswachstum garantierte, mit dem sich der Kredit rechtfertigen ließ. Der kritische Faktor war stets das Bruttoinlandsprodukt. Das Projekt, das den höchsten jährlichen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts zur Folge hatte, gewann. Wenn nur ein Projekt in Erwägung gezogen wurde, mußte ich belegen, daß sich die Umsetzung vorteilhaft auf das BIP des Landes auswirken würde.
Unausgesprochen blieb bei all diesen Projekten, daß sie große Gewinne für die Auftragnehmer abwerfen sollten. In den Empfängerländern bekamen eine paar reiche und einflußreiche Familien den Geldsegen, gleichzeitig sorgte man dafür, daß das Land auf lange Zeit finanziell abhängig blieb. So sicherte man sich die politische Loyalität von Regierungen auf der ganzen Welt. Je höher der Kredit, desto besser. Daß die Schuldenlast, die man einem Land auferlegte, seine ärmsten Bürger für Jahrzehnte um Gesundheitsfürsorge, Bildung und andere staatliche Leistungen brachte, spielte keine Rolle.

Claudine und ich diskutierten offen über die zweifelhafte Aussagekraft des Bruttoinlandsprodukts. Das BIP wächst zum Beispiel auch, wenn nur ein Einzelner davon profitiert, etwa jemand, dem ein öffentlicher Versorgungsbetrieb gehört, selbst wenn die Mehrheit der Bevölkerung hochverschuldet ist. Die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer. Doch aus statistischer Sicht gilt auch das als wirtschaftlicher Fortschritt.

Wie die meisten amerikanischen Bürger glaubten auch die Mitarbeiter von MAIN, daß wir den Entwicklungsländern einen Dienst erwiesen, wenn wir Kraftwerke, Schnellstraßen und Häfen bauten. In der Schule und in den Medien werden all diese Maßnahmen als altruistisch gepriesen. Im Laufe der Jahre habe ich wiederholt Kommentare gehört wie: "Wenn die unsere amerikanische Flagge verbrennen und vor unserer Botschaft demonstrieren, warum ziehen wir uns dann nicht einfach aus dem verdammten Land zurück und überlassen sie ihrer Armut und ihrem Elend?"

Solche Ansichten äußern auch Leute mit Universitätsabschlüssen und einer guten Ausbildung. Sie haben keine Ahnung, daß wir Botschaften auf der ganzen Welt nur einrichten, um unsere eigenen Interessen durchzusetzen. Und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand dieses Interesse darin, aus der amerikanischen Republik ein globales Imperium zu machen. Trotz ihrer akademischen Titel sind diese Leute so unwissend wie die Siedler des 18. Jahrhunderts, die glaubten, daß die Indianer, die um ihr Land kämpften, Diener des Teufels wären.

In wenigen Monaten sollte ich nach Indonesien reisen, auf die Insel Java, die damals als das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt beschrieben wurde. Indonesien war obendrein ein muslimisches Land mit einem großen Ölvorkommen und eine Brutstätte kommunistischer Aktivitäten.

"Das ist der nächste Dominostein nach Vietnam", meinte Claudine. "Wir müssen die Indonesier auf unsere Seite ziehen. Wenn sie sich dem kommunistischen Block anschließen, dann ...". Sie zog den Finger über die Kehle und lächelte liebreizend. "Sagen wir einfach, Sie müssen eine sehr optimistische Wirtschaftsprognose vorlegen und beschreiben, wie das Land boomen wird, wenn erst einmal die neuen Kraftwerke und Stromleitungen gebaut sind. Damit können USAID und die internationalen Banken die Kredite rechtfertigen. Und Sie werden natürlich reich belohnt und können sich um andere Projekte in exotischen Ländern kümmern. Die Welt ist Ihr Einkaufswagen." Sie warnte mich, daß mein Auftrag schwierig sein würde. "Nach Ihnen sind die Experten der Banken an der Reihe. Ihre Aufgabe ist es, Lücken in Ihren Prognosen zu finden – dafür werden sie bezahlt. Diese Burschen wollen Sie in die Pfanne hauen, damit sie selbst gut dastehen."

Eines Tages erinnerte ich Claudine daran, daß das Team von MAIN, das nach Java geschickt wurde, noch aus zehn weiteren Mitarbeitern bestand. Ich fragte, ob sie alle die gleiche Ausbildung wie ich erhielten. Sie versicherte mir, daß dem nicht so sei.

"Das sind Ingenieure", sagte sie. "Sie konstruieren Kraftwerke, Übertragungs- und Verteilungsleitungen, außerdem Häfen und Straßen, um den Treibstoff heranzuschaffen. Sie sind der Einzige, der die Zukunft vorhersagt. Ihre Prognosen bestimmen die Größe und den Umfang ihrer Entwürfe – und die Höhe der Kredite. Wie Sie sehen, sind Sie die Schlüsselfigur." Wir kamen uns mitunter sehr nahe, zumindest glaubte ich das, aber wir siezten uns immer höflich.

Jedes Mal, wenn ich Claudines Wohnung verließ, fragte ich mich, ob ich das Richtige tat. Irgendwo in meinem Herzen regte sich der Verdacht, daß es falsch sein könnte. Aber die Enttäuschungen, die ich in meiner Kindheit und Jugend erlitten hatte, peinigten mich noch immer. MAIN schien alles zu bieten, was mir bisher in meinem Leben vorenthalten worden war, dennoch fragte ich mich immer wieder, ob Thomas Paine mein Verhalten gebilligt hätte. Am Ende überzeugte ich mich, daß ich, wenn ich mehr darüber erfuhr und Erfahrungen sammelte, später alles aufdecken konnte – die alte Beschwichtigung des eigenen Gewissens, man wolle das System "von innen her unterwandern".

Als ich Claudine diesen Gedanken mitteilte, sah sie mich verblüfft an. "Machen Sie sich nicht lächerlich. Wenn man einmal dabei ist, kommt man nie wieder raus. Sie müssen eine Entscheidung treffen, bevor Sie noch tiefer hineingeraten." Ich verstand. Was sie sagte, erschreckte mich. Nach unserem Gespräch schlenderte ich über die Commonwealth Avenue, bog in die Dartmouth Street ab und redete mir ein, ich sei die Ausnahme von der Regel.

Ein paar Monate später saßen Claudine und ich eines Nachmittags auf einer Couch am Fenster und sahen zu, wie der Schnee auf die Beacon Street fiel. "Wir sind ein kleiner, exklusiver Club", sagte sie. "Wir werden dafür bezahlt – und zwar sehr gut bezahlt, daß wir Länder auf der ganzen Welt um Milliarden Dollar betrügen. Ein Großteil Ihrer Aufträge besteht darin, Staats- und Regierungschefs dafür zu gewinnen, Teile eines ausgedehnten Netzwerks zu werden, das den wirtschaftlichen Interessen der USA dient. Am Ende haben sich die Staatschefs in einem Netz von Schulden verstrickt, und das garantiert uns ihre Loyalität. Wir können auf sie zurückgreifen, wann immer wir wollen – um unsere politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Bedürfnisse zu befriedigen. Umgekehrt sichern die Politiker ihre Position ab, indem sie Fabriken, Kraftwerke und Flughäfen bauen lassen. Und die Besitzer von amerikanischen Ingenieurbüros und Bauunternehmen werden sagenhaft reich."

An jenem Nachmittag in der idyllischen Wohnung von Claudine erfuhr ich, während wir am Fenster saßen und dem wirbelnden Schnee draußen zusahen, sehr viel über die Geschichte meines künftigen Berufs und Standes. Claudine beschrieb, wie Weltreiche in der Geschichte meist mit Hilfe von militärischer Gewalt oder ihrer Androhung entstanden waren. Aber mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dem Aufstieg der Sowjetunion und dem Schreckgespenst eines Atomkriegs wurde die militärische Option für den Aufbau von Macht zu riskant.

Der entscheidende Augenblick kam 1951, als die Menschen im Iran gegen eine britische Ölgesellschaft rebellierten, die die iranischen Rohstoffe und die Bevölkerung ausbeutete. Das Unternehmen war der Vorgänger von British Petroleum, bekannter als BP. Als Reaktion darauf verstaatlichte der sehr beliebte, demokratisch gewählte iranische Premierminister (und 1951 Mann des Jahres im Magazin Time) Mohammad Mossadegh die gesamten iranischen Ölvorkommen. Empört wandte sich England an die USA, seinen Verbündeten aus dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings fürchteten beide Länder, daß ein militärischer Vergeltungsschlag die Sowjetunion provozieren und veranlassen könnte, zur Unterstützung des Iran einzugreifen.

Washington schickte daher nicht die Marines, sondern den CIA-Agenten Kermit Roosevelt (Theodore Roosevelts Enkel) in den Iran. Er leistete hervorragende Arbeit und zog die Menschen mit Bestechungsgeldern und Drohungen auf seine Seite. Dann wurden in seinem Auftrag Unruhen und gewalttätige Demonstrationen organisiert, die den Eindruck erweckten, daß Mossadegh unbeliebt und unfähig wäre. Schließlich wurde Mossadegh gestürzt und verbrachte den Rest seines Lebens unter Hausarrest. Der proamerikanische Schah Mohammed Reza Pahlewi wurde der unumschränkte Herrscher des Iran. Kermit Roosevelt hatte das Modell für einen neuen Berufsstand geschaffen, dem ich nun beitreten sollte.

Roosevelts Schachzug veränderte die Geschichte des Nahen Ostens und machte die alten Strategien zur Errichtung eines Weltreichs überflüssig. Die neue Taktik ergab sich zeitgleich mit dem Beginn von Experimenten im Bereich "begrenzter nichtnuklearer Militäreinsätze", die schließlich zu den amerikanischen Niederlagen in Korea und Vietnam führten. 1968, in dem Jahr, in dem ich mein Bewerbungsgespräch bei der NSA hatte, war eines deutlich geworden: Wenn die USA ihren globalen Herrschaftsanspruch (wie er etwa den Präsidenten Johnson und Nixon vorschwebte) durchsetzen wollten, dann mußte sich die neue Strategie an Roosevelts Beispiel im Iran orientieren. Das war der einzige Weg, die Sowjetunion zu besiegen, ohne einen Atomkrieg zu provozieren.

Allerdings gab es da ein Problem. Kermit Roosevelt war ein Mitarbeiter der CIA. Hätte man ihn gefaßt, wären die Konsequenzen furchtbar gewesen. Er hatte die erste amerikanische Operation zum Sturz einer ausländischen Regierung geleitet, und wahrscheinlich würden noch viele weitere folgen. Nun war es wichtig, ein Vorgehen zu finden, bei dem Washington außen vor bleiben konnte.

Zum Glück für die Strategen vollzog sich in den sechziger Jahren noch eine weitere Revolution: der Machtzuwachs von internationalen Unternehmen und multinationalen Organisationen wie der Weltbank und des Währungsfonds. Der IWF wurde hauptsächlich von den USA und unseren Gefolgsleuten auf dem Weg zur Weltherrschaft, den Europäern, finanziert. Zwischen Regierungen, Unternehmen und multinationalen Organisationen entwickelte sich ein symbiotisches Verhältnis.

Als ich mein Studium an der Business School der Boston University begann, zeichnete sich bereits eine Lösung für das Problem mit den CIA-Agenten ab. Die amerikanischen Geheimdienste, darunter die NSA, machten potenzielle EHM aus, die dann von internationalen Unternehmen eingestellt werden konnten. Diese EHM wurden nie von der Regierung bezahlt, sondern bekamen ihr Gehalt von der Privatwirtschaft. Wenn ihre schmutzige Arbeit aufflog, dann waren das eben die Aktivitäten eines habgierigen und skrupellosen Unternehmens gewesen, die amerikanische Regierung jedoch konnte ihre Hände in Unschuld waschen.

Ein weiterer wichtiger Vorteil war, daß die Unternehmen, die die EHM beschäftigten, zwar von Regierungsagenturen und ihren Partnern im multinationalen Bankwesen (und damit vom Geld der Steuerzahler) bezahlt wurden, aber trotzdem der Kontrolle durch den Kongreß und die Öffentlichkeit entzogen waren. Sie wurden zusätzlich durch eine wachsende Zahl von Gesetzen abgeschirmt, etwa den Bestimmungen zum Urheberrecht, zum internationalen Handel und durch den Freedom of Information Act.

"Sie sehen also", schloß Claudine, "wir sind nur die nächste Generation und folgen einer stolzen Tradition, die ihren Anfang nahm, als Sie in der ersten Klasse waren."

Indonesien: Lektionen für einen EHM

Ich erfuhr nicht nur viel über meine neue Karriere, sondern las auch eifrig Bücher über Indonesien. "Je mehr Sie über ein Land wissen, bevor Sie dort hinreisen, desto einfacher ist Ihre Aufgabe", riet mir Claudine. Ich nahm mir ihre Worte zu Herzen.

Als Kolumbus 1492 in See stach, wollte er eigentlich die "Gewürzinseln", das heutige Indonesien, erreichen. Während der gesamten Kolonialzeit war man der Ansicht, das Land biete noch größere Schätze als die Reichtümer Amerikas. Java mit seinen prächtigen Stoffen, sagenhaften Gewürzen und reichen Fürstentümern war sowohl das Kronjuwel als auch der Schauplatz heftiger Konflikte zwischen spanischen, holländischen, portugiesischen und britischen Abenteurern. 1750 gingen die Niederlande aus den Auseinandersetzungen als Sieger hervor und errangen die Kontrolle über Java, allerdings brauchten sie noch über 150 Jahre, um die anderen Inseln zu unterwerfen.
Als die Japaner im Zweiten Weltkrieg in Indonesien einfielen, leisteten die holländischen Truppen kaum Widerstand. Die Indonesier, vor allem die Bewohner Javas, litten sehr unter der japanischen Besatzung. Nach der japanischen Kapitulation rief einer der Führer der Unabhängigkeitsbewegung, der charismatische Sukarno, die "Republik Indonesien" aus. Vier Jahre dauerten die Kämpfe an, dann holten die Niederlande am 27. Dezember 1949 ihre Flagge ein und entließen ein Land in die Unabhängigkeit, dessen Bewohner seit über 300 Jahren unter fortgesetzten Kämpfen und unter der Fremdherrschaft gelitten hatten. Sukarno wurde der erste Präsident der neuen Republik.
Indonesien zu regieren war jedoch eine schwierigere Aufgabe als der Kampf gegen die Holländer. Das Land war mit seinen 13.677 Inseln völlig inhomogen, ein brodelnder Kessel mit verschiedenen Stammesstrukturen, gegensätzlichen Kulturen, Dutzenden von Sprachen und Dialekten und ethnischen Gruppen, die jahrhundertealte Feindschaften hegten. Häufig kam es zu brutalen Konflikten, und Sukarno griff hart durch. 1960 löste er das Parlament auf und wurde 1963 zum Präsidenten auf Lebenszeit ernannt. Er knüpfte enge Allianzen mit kommunistischen Regierungen auf der ganzen Welt, im Gegenzug wurde das indonesische Militär ausgebildet und mit Waffen versorgt. Sukarno schickte von den Sowjets bewaffnete Truppen ins benachbarte Malaysia in dem Versuch, den Kommunismus in Südostasien zu verbreiten und sich damit das Wohlwollen der sozialistischen Staaten zu sichern.

Die Opposition wuchs, 1965 kam es zum Aufstand. Sukarno entkam seiner Ermordung nur dank dem wachen Verstand seiner Geliebten. Viele seiner ranghohen Offiziere und engsten Verbündeten hatten weniger Glück. Die Ereignisse erinnerten an die Vorfälle im Iran 1953. Schließlich wurde die kommunistische Partei verantwortlich gemacht – vor allem die Gruppierungen, die politisch auf der Linie Chinas lagen. Man schätzt, daß bei den anschließenden, von der Armee initiierten Massakern 300.000 bis 500.000 Menschen getötet wurden. Nach der Entmachtung Sukarnos wurde General Suharto 1968 Präsident.

Die USA wollten unbedingt verhindern, daß sich Indonesien dem Kommunismus anschloß. Diese Haltung wurde 1971 noch dadurch verstärkt, daß der Ausgang des Vietnamkriegs ungewiß war. Präsident Nixon hatte im Sommer 1969 eine Reihe von Truppen abgezogen, und die amerikanische Außenpolitik war nun wieder globaler ausgerichtet. Die Strategie bestand darin, einen Dominoeffekt zu verhindern, bei dem ein Land nach dem anderen unter kommunistische Herrschaft geriet. Die USA konzentrierten sich auf mehrere Länder, und Indonesien hatte eine Schüsselrolle. Das Elektrifizierungsprojekt von MAIN war Teil eines umfassenden Plans, mit dem die amerikanische Dominanz in Südostasien gesichert werden sollte.

Ziel der amerikanischen Außenpolitik war, daß Suharto Washington ähnlich dienen sollte wie der Schah von Persien. Außerdem hofften die USA, daß Indonesien als Beispiel für andere Länder in der Region dienen könnte. Washingtons Strategie basierte zum Teil auf der Annahme, daß Verbesserungen in Indonesien positive Auswirkungen in der ganzen islamischen Welt haben könnten, vor allem im explosiven Nahen Osten. Und wenn das noch nicht als Anreiz genügte, war da noch das Öl. Niemand kannte die Größe oder Qualität des indonesischen Ölvorkommens, aber die Seismologen der Ölgesellschaften schwärmten überschwänglich von den sich bietenden Chancen.

Während ich in der Bibliothek von Boston über Büchern brütete, wuchs meine Aufregung. Ich malte mir die Abenteuer aus, die mich erwarteten. Mit meiner Arbeit für MAIN tauschte ich den ärmlichen Lebensstil beim Peace Corps gegen ein wahrlich luxuriöses und glanzvolles Leben. Durch meine Zeit mit Claudine war bereits eine meiner Phantasien Wirklichkeit geworden; alles schien zu schön, um wahr zu sein. Ich fühlte mich zumindest ein bißchen dafür entschädigt, daß ich meine Jugend an einer reinen Jungenschule verbracht hatte.

In meinem Leben gab es noch eine andere Entwicklung: Ann und ich drifteten auseinander. Ich glaube, sie spürte, daß ich zwei Leben führte. Ich rechtfertigte unsere Eheprobleme vor mir damit, daß sie unsere Heirat quasi erzwungen hatte. Schon damals hatte ich nur widerstrebend eingewilligt. Obwohl Ann mich bei unserem Peace-Corps-Auftrag in Ecuador unterstützt und mir zur Seite gestanden hatte, sah ich in ihrem Verhalten eine Fortsetzung der Methoden, die bereits meine Eltern angewandt hatten, um mich ihren Launen zu unterwerfen. Wenn ich jetzt zurückblicke, bin ich mir sicher, daß meine Beziehung zu Claudine eine große Rolle spielte. Ich konnte Ann meine Eskapade nicht beichten, aber sie spürte, daß etwas im Busch war. Wir beschlossen, in getrennte Wohnungen zu ziehen.

Als ich 1971 eines Tages in Claudines Wohnung kam, es muß etwa eine Woche vor meiner geplanten Abreise nach Indonesien gewesen sein, war der kleine Eßzimmertisch mit einer Käseplatte und Brot gedeckt, daneben stand eine Flasche Beaujolais. Sie prostete mir zu.

"Sie haben es geschafft." Sie lächelte, aber irgendwie wirkte sie nicht aufrichtig. "Jetzt sind Sie einer von uns."

Wir plauderten etwa eine halbe Stunde. Dann, als wir den letzten Schluck Wein tranken, warf sie mir einen Blick zu, den ich noch nie an ihr gesehen hatte. "Erzählen Sie nie jemandem von unseren Treffen", sagte sie mit strenger Stimme. "Ich werde Ihnen nie verzeihen, wenn Sie es tun, und ich werde abstreiten, daß ich Sie je kennen gelernt habe." Sie musterte mich – wohl zum ersten Mal fühlte ich mich bedroht. Dann lachte sie kalt. "Wenn Sie über uns reden, könnte das für Sie lebensgefährlich werden."

Ich war sprachlos und zutiefst erschüttert. Aber als ich später allein zum Prudential Center zurückging, mußte ich doch einräumen, wie schlau der Plan gewesen war. Wenn wir zusammen waren, hatten wir uns immer in ihrer Wohnung aufgehalten. Es gab nicht die Spur eines Beweises für unsere Beziehung, und bei MAIN war auch niemand beteiligt. Ein Teil von mir wußte Claudines Ehrlichkeit zu schätzen; sie hatte mich nicht getäuscht, wie es meine Eltern mit Tilton und Middlebury getan hatten.

Ein Land soll vor dem Kommunismus bewahrt werden

Ich hatte romantische Vorstellungen von Indonesien, dem Land, in dem ich die nächsten drei Monate verbringen sollte. In einigen Büchern, die ich gelesen hatte, waren Fotos von Frauen in farbenprächtigen Sarongs abgebildet, exotische balinesische Tänzerinnen, feuerspeiende Schamanen und Krieger in Einbäumen, die auf smaragdgrünem Wasser am Fuße von rauchenden Vulkanen paddelten. Besonders faszinierend war eine Abhandlung über die prächtigen Schiffe der berüchtigten Bugi-Piraten mit ihren schwarzen Segeln, die immer noch in den Gewässern des Archipels ihr Unwesen trieben. Sie hatten die ersten europäischen Seeleute so erschreckt, daß sie daheim ihre Kinder warnten: "Seid brav, sonst holen euch die Bugi-Men." Im Englischen existiert die Redewendung noch heute mit leicht veränderter Schreibweise ("Bogeyman"). Oh, wie mich diese Bilder faszinierten und meine Phantasie anregten.

Die Geschichte und Legenden des Landes bieten ein Füllhorn an sagenhaften Gestalten: zornige Götter, Komodowarane, Stammesfürsten und uralte Geschichten, die lange vor Christi Geburt über die asiatischen Berge, durch persische Wüsten und über das Mittelmeer zu uns gelangt waren und sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingegraben haben. Allein die Namen dieser sagenhaften Inseln – Java, Sumatra, Borneo, Sulawesi – lassen die Gedanken schweifen. Ein Land der Mystik, der Mythen und exquisiter Erotik; ein unerreichbarer Schatz, den Kolumbus suchte, aber nie erreichte; eine Prinzessin, die von den Spaniern, Holländern, Portugiesen und Japanern umworben, aber nie richtig in Besitz genommen wurde; eine Phantasie und ein Traum.

Ich hatte große Erwartungen, sie ähnelten wahrscheinlich denen der großen Entdecker. Wie Kolumbus hätte ich allerdings meine Phantasie zügeln sollen. Vielleicht hätte ich erraten können, daß es im Leben oft ganz anders kommt, als man denkt. Indonesien bot Schätze, aber es war nicht das Land der Wunder, das ich erwartet hatte. Meine ersten Tage in Jakarta, der schwülen Hauptstadt Indonesiens, im Sommer 1971 waren ein Schock für mich.

Die Schönheit war durchaus vorhanden. Hinreißende Frauen trugen farbenprächtige Sarongs. In den üppigen Gärten erstrahlten tropische Blüten. Exotische balinesische Tänzerinnen, Fahrradrikschas mit üppigen, in allen Farben des Regenbogens glänzenden Gemälden an der Seite der Sitze, auf denen sich die Passagiere vor den strampelnden Fahrern gemütlich zurücklehnten, Häuser im holländischen Kolonialstil und Moscheen mit Türmchen und Minaretten. Aber die Stadt hatte auch eine häßliche und verstörende Seite. Leprakranke streckten den Passanten anstelle von Händen blutige Stümpfe entgegen. Junge Mädchen boten ihren Körper für ein paar Münzen an. Die einst prächtigen holländischen Kanäle hatten sich in Jauchegruben verwandelt. In Hütten aus Karton lebten ganze Familien an den müllgesäumten Ufern schwarzer Flüsse. Lärmende Hupen und erstickender Qualm. Das Schöne und Häßliche, das Elegante und Vulgäre, das Spirituelle und Profane. Das war Jakarta, wo der betörende Duft von Gewürznelken und Orchideenblüten mit dem Gestank der offenen Latrinen wetteiferte.

Ich hatte zuvor schon Armut gesehen. Einige meiner Schulkameraden in New Hampshire lebten in Hütten aus Teerpappe, in denen es nur kaltes Wasser gab. An Wintertagen unter null Grad kamen sie in dünnen Jacken und zerschlissenen Tennisschuhen in die Schule, ihre ungewaschene Haut roch nach altem Schweiß und Mist. In den Anden hatte ich in Lehmhütten zusammen mit Bauern gelebt, die sich ausschließlich von getrocknetem Mais und Kartoffeln ernährten. Dort schien es oft wahrscheinlicher, daß ein Neugeborenes starb, als daß es seinen ersten Geburtstag erlebte. Ich hatte Armut erlebt, aber ich war durch nichts auf Jakarta vorbereitet.

Meine Kollegen und ich waren natürlich im besten Hotel des Landes untergebracht, dem Hotel InterContinental Indonesia. Es gehörte wie die anderen Hotels der InterContinental-Kette der Fluggesellschaft Pan American Airways und war auf die extravaganten Launen der reichen Ausländer ausgerichtet, vor allem auf die Mitarbeiter von Ölgesellschaften und ihre Familien. Am Abend unseres ersten Tages gab unser Projektleiter Charlie Illingworth ein Essen für uns im eleganten Restaurant im obersten Stock.

Charlie war ein selbst ernannter Kriegsexperte, seine Freizeit widmete er vor allem der Lektüre von Geschichtsbüchern und historischen Romanen über große Schlachten und berühmte Feldherren. Er war der Inbegriff des Salonstrategen, der unbedingt für den Vietnamkrieg war, aber selbst nie gekämpft hatte. Wie üblich trug er an diesem Abend Khakihosen und ein kurzärmeliges Khakihemd mit militärisch wirkenden Schulterklappen.

Nach der Begrüßung zündete er sich eine Zigarre an. "Auf das gute Leben", seufzte er und hob das Champagnerglas. Wir schlossen uns an. "Auf das gute Leben." Unsere Gläser klirrten.

Eifrig an seiner Zigarre paffend sah Charlie sich um. "Wir werden hier richtig verwöhnt werden", sagte er und nickte anerkennend. "Die Indonesier werden sich mit Hingabe um uns kümmern. Und die Leute von der amerikanischen Botschaft genauso. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß wir einen Auftrag zu erfüllen haben." Er blickte auf die Notizzettel in seiner Hand. "Ja, wir sind hier, um einen Masterplan für die Elektrifizierung Javas zu entwickeln – die dichtbesiedeltste Region der Welt. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs."

Seine Miene wurde ernst; er erinnerte mich an George C. Scott in der Rolle von General Patton, einem von Charlies Helden. "Wir sind wegen nichts Geringerem hier, als das Land den Klauen des Kommunismus zu entreißen. Wie Sie wissen, hat Indonesien eine lange und tragische Geschichte. Nun, da es kurz davor steht, den Übergang ins 20. Jahrhundert zu vollziehen, wird es erneut auf den Prüfstand gestellt. Wir sind verantwortlich und müssen dafür sorgen, daß Indonesien nicht in die Fußstapfen seiner nördlichen Nachbarn Vietnam, Kambodscha und Laos tritt. Ein einheitliches Stromnetz ist ein Schlüsselelement. Das wird mehr als jeder andere Faktor (wahrscheinlich einmal abgesehen vom Öl) dafür sorgen, daß sich Kapitalismus und Demokratie durchsetzen." Charlie zog noch einmal an seiner Zigarre und überblätterte ein paar seiner Notizkärtchen.

"Da wir gerade von Öl reden", fuhr er fort. "Wir alle wissen, wie sehr unser Land auf Öllieferungen angewiesen ist. Indonesien kann in dieser Hinsicht ein starker Verbündeter für uns werden. Wenn Sie daher den Masterplan entwickeln, achten Sie bitte darauf, daß die Ölindustrie und die damit verbundenen Einrichtungen – Häfen, Pipelines, Bauunternehmen – den erforderlichen Strom bekommen, den sie für die gesamte Dauer des 25-Jahres-Plans benötigen."

Er hob den Blick von seinen Notizen und sah mich direkt an. "Lieber ein bißchen übertreiben, als etwas zu unterschätzen. Sie wollen sicher nicht, daß das Blut der indonesischen Kinder – oder Ihrer eigenen Kinder – an Ihren Händen klebt. Sie wollen sicher nicht, daß die Bevölkerung Indonesiens unter Hammer und Sichel oder der roten Flagge Chinas leben muß!"

Als ich nachts in meinem Bett hoch über der Stadt bequem und geborgen in meiner Luxussuite lag, trat mir plötzlich Claudines Bild vor Augen. Ihre Ausführungen über Verschuldung verfolgten mich. Ich versuchte mich zu beruhigen und rief mir Lektionen aus meinen Makroökonomie-Seminaren ins Gedächtnis. Schließlich, sagte ich mir, bin ich hier, um Indonesien zu helfen, damit es seine mittelalterliche Wirtschaft überwindet und seinen Platz in der modernen industrialisierten Welt findet. Aber ich wußte, daß ich am nächsten Morgen aus meinem Fenster blicken und jenseits des prächtigen Hotelparks mit seinem Swimmingpool die Slums sehen würde, die sich kilometerweit erstreckten. Ich wußte, daß dort Babys starben, weil sie nicht genug zu essen und kein sauberes Trinkwasser hatten. Kinder und Erwachsene litten gleichermaßen an furchtbaren Krankheiten und lebten unter schrecklichen Bedingungen.

Ich warf mich in meinem Bett hin und her und gestand mir ein, daß Charlie und alle anderen in unserem Team aus eigennützigen Motiven hier waren. Wir arbeiteten für die amerikanische Außenpolitik und die wirtschaftlichen Interessen unseres Landes. Unsere Motivation war Gier, nicht der Wunsch, das Leben der Indonesier zu verbessern. Ein Wort kam mir in den Sinn: Korporatokratie, die Herrschaft der Konzerne. Ich war mir nicht sicher, ob ich es schon einmal gehört oder gerade erfunden hatte, aber es schien die neue Elite perfekt zu beschreiben, die fest entschlossen war, die Weltherrschaft an sich zu reißen.

Die Korporatokratie war eine eingeschworene Gemeinschaft einiger weniger Männer mit gemeinsamen Zielen. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft wechselten mühelos und häufig zwischen Unternehmensvorständen und Regierungsämtern hin und her. Der damalige Präsident der Weltbank, Robert McNamara, war dafür ein perfektes Beispiel. Er war Vorstandsvorsitzender der Ford Motor Company gewesen und wurde dann Verteidigungsminister unter Kennedy und Johnson. Mittlerweile hatte er die wichtigste Position am mächtigsten Finanzinstitut der Welt inne.

Ich erkannte auch, daß meine Professoren an der Universität nicht die wahre Natur der Makroökonomie verstanden hatten: Wenn man einer Volkswirtschaft zu Wachstum verhilft, werden oft nur die wenigen Menschen noch reicher, die ganz oben an der Spitze der Pyramide stehen. Für diejenigen ganz unten wird nichts getan, sie versinken nur noch tiefer im Elend. Die Verbreitung des Kapitalismus führt oft zu einem System, das an die mittelalterliche Ständegesellschaft erinnert. Falls einer meiner Professoren das gewußt haben sollte, dann hatte er es nicht zugegeben – wahrscheinlich weil große Unternehmen und die Männer, die sie leiten, Universitäten finanzieren. Hätte ein Professor die Wahrheit ausgesprochen, hätte ihn das unweigerlich seine Stelle gekostet – genau wie die offene Äußerung meiner Gedanken mich meinen Job kosten konnte.

Diese Gedanken hielten mich jede Nacht wach, die ich im Hotel InterContinental Indonesia verbrachte. Letzten Endes war das Argument, das ich zu meiner Verteidigung vorbrachte, sehr privater Natur: Ich hatte mich aus einer Kleinstadt in New Hampshire hochgearbeitet, hatte die Schule hinter mir gelassen und war der Einberufung entgangen. Durch eine Mischung aus Zufall und harter Arbeit hatte ich mir einen Platz auf der Sonnenseite des Lebens erkämpft. Außerdem tröstete ich mich mit dem Umstand, daß ich vom Standpunkt meiner Kultur aus das Richtige tat. Ich war auf dem Weg, ein erfolgreicher und angesehener Wirtschaftsexperte zu werden. Ich tat das, worauf mein Studium mich vorbereitet hatte. Ich half, ein Entwicklungsmodell umzusetzen, das von den besten Köpfen in den angesehensten Denkfabriken der Welt befürwortet wurde.

Trotzdem mußte ich mich mitten in der Nacht oft mit dem Versprechen trösten, daß ich eines Tages die Wahrheit offenlegen würde. Dann las ich mich mit den Wildwestromanen von Louis L’Amour in den Schlaf.

Die Seele verkaufen

Unser elfköpfiges Team verbrachte sechs Tage in Jakarta. Wir meldeten uns bei der amerikanischen Botschaft an, trafen uns mit verschiedenen Regierungsbeamten, organisierten unsere Arbeit und entspannten uns am Pool. Die Zahl der Amerikaner, die im Hotel InterContinental lebten, verblüffte mich. Mit großem Vergnügen betrachtete ich die schönen jungen Frauen, die mit den Managern amerikanischer Ölgesellschaften und Bauunternehmen verheiratet waren und ihre Tage am Swimmingpool und die Abende in dem halben Dutzend nobler Restaurants in unserem Hotel und der näheren Umgebung verbrachten.

Dann verlegte Charlie unser Team in die Bergstadt Bandung. Das Klima war dort milder und die Armut weniger offensichtlich; allerdings gab es auch weniger Zerstreuungen. Wir wurden in einem Gästehaus der Regierung untergebracht, das als das Wisma bekannt war, komplett mit einem Verwalter, Koch, Gärtner und einer Reihe Bediensteter. Das Wisma war unter der holländischen Kolonialherrschaft erbaut worden und eine Oase der Ruhe. Der Blick von der großzügigen Veranda schweifte über Teeplantagen in der hügeligen Landschaft und an den Vulkanhängen Javas. Zusätzlich zum Gästehaus stellte uns die Regierung elf Toyota-Geländewagen zur Verfügung, jeweils mit Fahrer und Dolmetscher. Außerdem wurden wir in den exklusiven Golf and Racket Club von Bandung aufgenommen. Unsere Büros lagen in der örtlichen Niederlassung der Perusahaan Umum Listrik Negara (PLN), der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft.

In den ersten Tagen in Bandung hatte ich mehrere wichtige Besprechungen mit Charlie und Howard Parker. Howard war über siebzig und eigentlich schon im Ruhestand. Früher hatte er die Lastprognosen für die Elektrizitätsgesellschaft New England Electric System erstellt. Heute sollte er Prognosen über die Strommenge und Stromerzeugungskapazität (die Last) erstellen, die die Insel Java in den kommenden 25 Jahren benötigen würde. Zusätzlich schlüsselte er den Bedarf nach Städten und Regionen auf. Da der Strombedarf eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung zusammenhängt, stützten sich seine Prognosen auf meine wirtschaftlichen Hochrechnungen. Das restliche Team sollte den Generalplan anhand dieser Vorhersagen entwickeln, Standorte für Kraftwerke auswählen und planen, außerdem die Übertragungs- und Verteilungsleitungen und die Wege für die Treibstoffversorgung so planen, daß unsere Hochrechnungen so gut wie möglich realisiert wurden.
Bei unseren Besprechungen betonte Charlie ständig, wie wichtig meine Aufgabe sei, und lag mir in den Ohren, daß meine Prognosen möglichst optimistisch ausfallen sollten. Claudine hatte Recht gehabt; ich war der Schlüssel für den gesamten Masterplan.

"In den ersten Wochen geht es darum, Daten zu sammeln", erklärte Charlie.

Er, Howard und ich saßen in den großen Korbsesseln in Charlies luxuriösem privatem Büro. Die Wände schmückten gebatikte Wandbehänge, die Epen aus alten Hindu-Texten, der Ramayana, darstellten. Charlie paffte eine dicke Zigarre.

"Die Ingenieure erstellen ein detailliertes Bild des vorhandenen Stromnetzes, der Hafenkapazitäten, Straßen, Schienenverbindungen, all diese Sachen." Er deutete mit der Zigarre auf mich. "Sie müssen schnell arbeiten. Am Ende des ersten Monats braucht Howard eine ziemlich genaue Vorstellung vom Ausmaß des Wirtschaftswunders, das sich einstellen wird, wenn wir das neue Netz installieren. Am Ende des zweiten Monats braucht er mehr Details, aufgeschlüsselt nach Regionen. Im letzten Monat werden die Lücken gefüllt. Das wird ganz entscheidend sein. Wir werden dann alle die Köpfe zusammenstecken. Bevor wir hier abreisen, müssen wir absolut sicher sein, daß wir sämtliche Informationen haben, die wir benötigen. Daheim Thanksgiving feiern, das ist mein Motto. Wir kommen nicht zurück."

Howard wirkte wie ein liebenswürdiger, großväterlicher Typ. Tatsächlich war er ein verbitterter alter Mann, der sich vom Leben betrogen fühlte. Er hatte es nie bis an die Spitze der Elektrizitätsgesellschaft geschafft, und darüber ärgerte er sich sehr. "Ich wurde übergangen", erzählte er mir immer wieder, "weil ich den Standpunkt der Firma nicht vertreten habe." Howard war in den Ruhestand geschickt worden, aber weil er die Untätigkeit daheim mit seiner Frau nicht aushielt, hatte er eine Stelle als Berater für MAIN angenommen. Indonesien war sein zweiter Auftrag, und Einar und Charlie hatten mich vor ihm gewarnt. Sie beschrieben Howard mit Begriffen wie halsstarrig, niederträchtig und nachtragend.

Wie sich herausstellen sollte, war Howard einer meiner besten Lehrer, allerdings konnte ich ihn damals noch nicht als solchen akzeptieren. Er hatte die Ausbildung nicht, die ich von Claudine erhalten hatte. Ich nehme an, er galt als zu alt, vielleicht auch als zu stur. Oder vielleicht dachte man, er sei ohnehin nur kurze Zeit dabei, bis man einen gefügigen Vollzeitmitarbeiter wie mich gefunden hatte. Auf jeden Fall erwies sich Howard aus Sicht der Firma als Problemfall. Er verstand ganz genau die Situation und wußte, was man von ihm erwartete, wollte sich aber nicht auf dieses Spiel einlassen. Die Adjektive, mit denen Einar und Charlie ihn beschrieben hatten, paßten sehr gut, aber zumindest ein Teil seiner Sturheit erwuchs aus seiner Entschlossenheit, nicht ihr Knecht zu werden. Ich bezweifle, daß er je den Begriff Economic Hit Man gehört hatte, aber er wußte, daß man ihn dazu benutzen wollte, eine Form des Imperialismus durchzusetzen, die er nicht akzeptieren konnte.

Nach einer unserer Besprechungen mit Charlie nahm er mich beiseite. Er trug ein Hörgerät und fummelte an dem kleinen Kästchen unter seinem Hemd herum, mit dem er die Lautstärke kontrollierte.

"Das bleibt unter uns", sagte Howard mit gedämpfter Stimme. Wir standen am Fenster unseres gemeinsamen Büros und blickten auf das träge Wasser im Kanal, der am PLN-Gebäude vorbeifloß. Eine junge Frau badete im stinkenden Wasser und versuchte, zumindest einen Hauch von Anstand zu wahren, indem sie einen Sarong lose um ihren nackten Körper geschlungen hatte. "Sie versuchen, Sie davon zu überzeugen, daß die Wirtschaft wie eine Rakete abheben wird", sagte Howard. "Charlie ist rücksichtslos. Lassen Sie sich von ihm nicht beeinflussen."

Seine Worte gaben mir ein flaues Gefühl im Magen. Andererseits regte sich in mir auch der Wunsch, ihn davon zu überzeugen, daß Charlie Recht hatte; schließlich hing meine Karriere davon ab, daß ich die Erwartungen meiner Chefs bei MAIN erfüllte.

"Natürlich wird die Wirtschaft hier boomen", sagte ich. Ich konnte den Blick nicht von der Frau im Kanal abwenden. "Sehen Sie doch nur, was sich hier abspielt."

"Da haben wir’s", murmelte er, offensichtlich hatte er die Szene vor uns gar nicht mitbekommen. "Sie sind denen also schon auf den Leim gegangen?"

Eine Bewegung weiter oben am Kanal lenkte mich ab. Ein älterer Mann war das Ufer hinuntergestiegen, ließ die Hosen fallen, kauerte sich hin und folgte dem Ruf der Natur. Die junge Frau sah ihn, war aber offensichtlich von seinem Treiben nicht beeindruckt und badete weiter. Ich wandte mich vom Fenster ab und sah Howard direkt an.

"Ich war viel unterwegs und kenne mich aus", sagte ich. "Ich bin vielleicht jung, aber ich war gerade drei Jahre in Südamerika. Ich habe erlebt, was passiert, wenn Öl gefunden wird. Die Dinge können sich schnell ändern."

"Oh, ich war auch viel unterwegs", sagte Howard spöttisch. "Viele Jahre lang. Ich sage Ihnen was, junger Mann. Ich kümmere mich einen Dreck um Öl und all das. Ich habe mein ganzes Leben lang Stromlasten vorausberechnet – während der Weltwirtschaftskrise, im Zweiten Weltkrieg, in Pleiten und Boomzeiten. Ich habe erlebt, was das so genannte Wirtschaftswunder von Massachusetts an der Route 128 Boston gebracht hat. Und ich kann mit Gewißheit sagen, daß eine Stromlast langfristig gesehen noch nie um mehr als 7 bis 9% pro Jahr gestiegen ist. Und das im bestmöglichen Fall. Sechs Prozent sind realistischer."

Ich starrte ihn an. Ein Teil von mir vermutete, daß er Recht hatte, aber ich fühlte mich angegriffen. Ich ich wollte ihn unbedingt überzeugen, schon um mein eigenes Gewissen zu beruhigen.

"Howard, das hier ist nicht Boston. Das ist ein Land, in dem bis jetzt niemand Strom hatte. Die Dinge liegen hier anders. "

Howard machte auf dem Absatz kehrt und wedelte mit der Hand, als ob er mich beiseite fegen könnte.

"Nur weiter so", knurrte er. "Verkaufen Sie sich. Mir ist es egal, welche Prognose Sie erstellen." Er zog seinen Stuhl vom Schreibtisch zu sich heran und ließ sich darauf fallen. "Ich erstelle meine Elektrizitätsprognose so, wie ich es für richtig halte, nicht anhand von irgendwelchen hochfliegenden Wirtschaftsprognosen." Er nahm einen Bleistift und begann, auf einem Block Notizen zu machen.

Diese Provokation konnte ich nicht ignorieren. Ich baute mich vor seinem Schreibtisch auf.

"Sie werden ganz schön dumm dastehen, wenn ich das liefere, was alle erwarten – einen Boom, der es mit dem Goldrausch in Kalifornien aufnehmen kann –, und Sie prognostizieren eine Wachstumsrate beim Strombedarf, die der von Boston in den sechziger Jahren entspricht."

Er schleuderte den Bleistift auf den Schreibtisch und starrte mich an. "Unerhört! Das ist unerhört. Sie – Sie alle hier ..." Er fuchtelte mit den Armen und deutete auf die Büros hinter der Wand, "Sie haben Ihre Seele an den Teufel verkauft. Sie machen das wegen des Geldes. Nun gut ..." Er verzog die Lippen zu einem scheelen Lächeln und faßte unter sein Hemd. "Ich stelle jetzt mein Hörgerät ab und arbeite weiter."

Der Streit erschütterte mich sehr. Ich polterte aus dem Zimmer und machte mich auf den Weg zu Charlies Büro. Auf halbem Weg blieb ich jedoch stehen, weil ich nicht wußte, was ich eigentlich wollte. Ich machte kehrt und ging die Treppe hinunter, verließ das Gebäude und trat ins nachmittägliche Sonnenlicht. Die junge Frau kletterte aus dem Kanal, den Sarong eng um den Körper geschlungen. Der ältere Mann war verschwunden. Ein paar Jungen spielten im Kanal und bespritzten sich gegenseitig, begleitet von Rufen und Kreischen. Eine ältere Frau stand knietief im Wasser und putzte sich die Zähne, eine andere schrubbte Wäsche.

Ich hatte einen dicken Klumpen im Hals. Ich setzte mich auf ein Stück bröckelige Betonmauer und versuchte, den beißenden Gestank des Kanals zu ignorieren. Ich konnte nur mühsam die Tränen unterdrücken. Ich mußte herausfinden, warum es mir so schlecht ging.

Sie machen das wegen des Geldes. Ich hatte Howards Worte noch in den Ohren, ich hörte sie wieder und wieder. Er hatte den Finger in die Wunde gelegt.

Die kleinen Jungen bespritzten sich weiter, ihre fröhlichen Stimmen erfüllten die Luft. Ich fragte mich, was ich tun konnte. Was brauchte ich, um so sorglos zu werden wie sie? Die Frage quälte mich, während ich zusah, wie sie in paradiesischer Unschuld herumtobten. Offenbar hatten sie keine Ahnung, daß das übelriechende Wasser sie krank machen konnte. Ein buckliger alter Mann mit einem knorrigen Stock humpelte am Ufer entlang. Er blieb stehen und sah den Jungen zu, sein Mund verzog sich zu einem zahnlosen Grinsen.

Vielleicht konnte ich mich Howard anvertrauen, vielleicht würden wir gemeinsam eine Lösung finden. Sofort überkam mich ein Gefühl der Erleichterung. Ich hob einen kleinen Stein auf und schleuderte ihn in den Kanal. Als die kleinen Wellen verebbten, schwand auch meine Euphorie. Ich wußte, daß ich das nicht machen konnte. Howard war alt und verbittert. Er hatte sich einige Karrierechancen entgehen lassen. Sicher würde er jetzt nicht nachgeben. Ich war jung, fing gerade erst an und wollte ganz gewiß nicht enden wie Howard.

Ich starrte auf das Wasser des ekligen Kanals und hatte wieder Bilder der Schule auf dem Hügel in New Hampshire vor Augen. Ich dachte daran, wie ich meine Ferien allein verbracht hatte, während die anderen Jungen zu ihren Bällen gingen und mit den Debütantinnen tanzten. Langsam erkannte ich die traurige Tatsache. Wieder einmal gab es niemanden, mit dem ich reden konnte.

Abends lag ich noch lange wach und dachte an die Menschen in meinem Leben – Howard, Charlie, Claudine, Ann, Einar, Onkel Frank. Ich fragte mich, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich sie alle nie getroffen hätte. Wo würde ich leben? Sicher nicht in Indonesien. Ich dachte auch über meine Zukunft nach, fragte mich, wohin ich steuerte. Ich grübelte über die Entscheidung, die ich treffen mußte. Charlie hatte klar gesagt, daß er von Howard und mir Wachstumsraten von mindestens 17% im Jahr erwartete. Was für eine Prognose würde ich erstellen?

Plötzlich kam mir ein Gedanke, der mich sehr beruhigte. Warum war mir das nicht schon früher eingefallen? Die Entscheidung lag gar nicht bei mir. Howard hatte gesagt, er würde tun, was er für das Richtige halte, egal, welche Schlußfolgerungen ich traf. Ich konnte meine Chefs mit einer optimistischen Wirtschaftsprognose zufrieden stellen, und er würde seine eigene Prognose abgeben. Meine Arbeit würde keine Auswirkung auf den Masterplan haben. Ständig wurde die Bedeutung meiner Aufgabe betont, aber das war falsch. Eine schwere Last war mir von den Schultern genommen. Ich fiel in tiefen Schlaf.

Ein paar Tage später wurde Howard krank, er hatte sich eine schwere Darminfektion zugezogen. Wir brachten ihn schnell ins katholische Missionskrankenhaus. Die Ärzte verschrieben ihm Medikamente und rieten ihm dringend, sofort in die USA zurückzukehren. Howard versicherte uns, er habe bereits alle notwendigen Informationen und könne die Lastprognose leicht in Boston fertig stellen. Seine Abschiedsworte waren eine Wiederholung seiner früheren Warnung.

"Kein Grund, die Zahlen zu manipulieren", sagte er. "Bei diesem Betrug mache ich nicht mit, egal, was Sie über die Wunder des Wirtschaftswachstums sagen!"

Meine Rolle als Inquisitor

Aufgrund unserer Verträge mit der indonesischen Regierung, der Asiatischen Entwicklungsbank und USAID mußte einer aus unserem Team alle großen Städte in dieser Region besuchen, die vom Masterplan abgedeckt wurden. Ich war für diese Aufgabe prädestiniert. "Du hast den Amazonas überlebt und weißt, wie man mit Infektionskrankheiten, Schlangen und fauligem Wasser zurechtkommt", meinte Charlie.

Zusammen mit einem Fahrer und einem Dolmetscher besuchte ich viele schöne Städte und stieg in einigen ziemlich trostlosen Herbergen ab. Ich traf mich vor Ort mit Unternehmern und Politikern, um mir ihre Meinungen hinsichtlich der Möglichkeiten wirtschaftlichen Wachstums anzuhören. Doch die meisten meiner Gesprächspartner hielten sich sehr bedeckt. Meine Anwesenheit schien sie einzuschüchtern. Ihre üblichen Ausflüchte lauteten, ich solle mich mit ihren Vorgesetzten in Verbindung setzen, mit Regierungsbehörden oder mit den Firmenzentralen in Jakarta. Mitunter hatte ich den Verdacht, daß eine Art Verschwörung gegen mich im Gange war.

Diese Reisen dauerten in der Regel nicht länger als zwei oder drei Tage. Dazwischen kehrte ich immer wieder ins Wisma in Bandung zurück. Die Managerin des Gästehauses hatte einen Sohn, der ein paar Jahre jünger war als ich. Er hieß Rasmon, aber alle außer seiner Mutter nannten ihn Rasy. Er studierte Wirtschaft an einer Universität der Stadt und begann sich sofort für meine Arbeit zu interessieren. Ich fürchtete sogar, er würde mich irgendwann fragen, ob ich nicht einen Job für ihn hätte. Er begann auch, mir Bahasa Indonesia beizubringen.

Nachdem Indonesien seine Unabhängigkeit von den Niederlanden erlangt hatte, betrachtete es Präsident Sukarno als vordringliches Ziel, eine Sprache zu schaffen, die möglichst einfach zu erlernen war. Im indonesischen Archipel werden mehr als 350 Sprachen und Dialekte gesprochen, und Sukarno war bewußt, daß sein Land eine gemeinsame Sprache brauchte, um die Menschen der zahlreichen Inseln und unterschiedlichen Kulturen zu einen. In seinem Auftrag entwickelte eine internationale Gruppe von Linguisten Bahasa Indonesia, das zu einer sehr erfolgreichen neuen Sprache wurde. Es beruht auf dem Malaiischen, verzichtet jedoch auf viele Zeitwechsel, unregelmäßige Verben und andere Kompliziertheiten, welche die meisten Sprachen kennzeichnen. Anfang der siebziger Jahre sprachen bereits die meisten Indonesier Bahasa, obwohl sie auch weiterhin an Javanisch und anderen lokalen Dialekten festhielten. Rasy war ein großartiger Lehrer mit einem wunderbaren Sinn für Humor, und im Vergleich zu Shuar oder auch Spanisch war Bahasa Indonesia wirklich leicht zu erlernen.

Rasy besaß einen Motorroller und erklärte sich bereit, mir seine Stadt und ihre Menschen vorzustellen. "Ich werde Ihnen eine Seite von Indonesien zeigen, die Sie noch nicht kennen", versprach er mir eines Abends und lud mich ein, mich hinter ihm auf den Roller zu setzen.

Wir fuhren an Schattenspiel-Aufführungen vorbei, an Musikern, die auf traditionellen Instrumenten spielten, an Feuerschluckern, Jongleuren und Straßenhändlern, die alle erdenklichen Waren feilboten, von eingeschmuggelten amerikanischen Kassetten bis zu seltenen einheimischen Kunstwerken. Schließlich landeten wir in einem kleinen Café, in dem junge Männer und Frauen saßen, deren Kleidung, Hüte und Frisuren vielleicht auf einem Beatles-Konzert Ende der sechziger Jahre angesagt gewesen wären; doch sie waren alle eindeutig Indonesier. Rasy stellte mich einer kleinen Gruppe an einem Tisch vor, und wir setzten uns zu ihnen.

Sie sprachen alle Englisch, unterschiedlich flüssig, aber sie schätzten es, daß ich Bahasa zu lernen versuchte. Sie sprachen dieses Thema offen an und fragten, weshalb sich die meisten Amerikaner niemals die Mühe machten, ihre Sprache zu erlernen. Ich wußte keine Antwort. Und ich konnte auch nicht erklären, warum ich der einzige Amerikaner oder Europäer war, der sich in diesen Teil der Stadt begab, während man viele von uns im Golf and Racket Club, den noblen Restaurants, den Kinos und den besseren Supermärkten antreffen konnte.

Es war ein Abend, den ich nie vergessen werde. Rasy und seine Freunde behandelten mich wie ihresgleichen. Ich freute mich, bei ihnen zu sitzen, ihre Stadt, ihr Essen und ihre Musik mit ihnen zu teilen, den Duft ihrer Nelkenzigaretten und die vielen anderen Gerüche zu riechen, die zu ihrem Leben gehörten, mit ihnen zu scherzen und zu lachen. Es war fast wieder wie in den Zeiten des Peace Corps, und ich fragte mich, warum ich unbedingt First Class reisen und mich von solchen Menschen hatte fern halten wollen. Die Stunden vergingen wie im Fluge, und die jungen Leute interessierten sich immer mehr dafür, was ich über ihr Land dachte und über den Krieg, den mein Land in Vietnam führte. Sie alle waren entsetzt über diese "illegale Invasion", wie sie es nannten, und waren erleichtert, als sie erfuhren, daß ich genauso dachte.

Als Rasy und ich ins Gästehaus zurückkamen, war es schon spät, und alles war dunkel. Ich bedankte mich ausdrücklich bei ihm, daß er mich in seine Welt mitgenommen hatte; er dankte mir, daß ich seinen Freunden offen gegenübergetreten war. Wir versprachen uns, daß wir diesen Ausflug wiederholen würden, umarmten uns kurz, dann ging jeder in sein Zimmer.

Dieses Erlebnis mit Rasy weckte in mir den Wunsch, mehr Zeit außerhalb des MAIN-Teams zu verbringen. Am nächsten Vormittag traf ich mich mit Charlie und erklärte ihm, daß es mich allmählich zu langweilen beginne, die Leute in der Stadt um Informationen anzugehen. Die meisten Statistiken, die ich für die Entwicklung von Wirtschaftsprognosen brauchte, könne ich ohnehin nur bei den Regierungsbehörden in Jakarta bekommen. Charlie und ich verständigten uns darauf, daß ich für ein bis zwei Wochen in die Hauptstadt reisen sollte.

Er bekundete mir sein Mitgefühl, daß ich Bandung verlassen und mich in die heiße, stickige Metropole begeben müsse, während ich so tat, als ob ich von dieser Idee gar nicht begeistert wäre. Insgeheim jedoch freute ich mich darauf, wieder etwas mehr Zeit für mich selbst zu haben, Jakarta zu erforschen und im eleganten Hotel InterContinental Indonesia zu wohnen. Als ich in Jakarta angekommen war, wurde mir jedoch klar, daß ich das Leben nun aus einem anderen Blickwinkel betrachtete. Der Abend, den ich mit Rasy und den jungen Indonesiern verbracht hatte, und auch meine Reisen im Land hatten mich verändert. Ich sah meine amerikanischen Landsleute jetzt in einem anderen Licht. Die jungen Frauen erschienen mir nicht mehr so schön. Der Maschendrahtzaun um den Pool und die Stahlgitter vor den Fenstern in den unteren Stockwerken, die ich zuvor kaum wahrgenommen hatte, wirkten nun beunruhigend auf mich. Das Essen im feinen Hotelrestaurant schmeckte fad.

Noch etwas anderes fiel mir auf. Bei meinen Gesprächen mit Politikern und Wirtschaftsführern registrierte ich bestimmte Feinheiten in ihrem Umgang mit mir. Das hatte ich zuvor nie wahrgenommen, aber jetzt merkte ich, daß vielen von ihnen meine Anwesenheit Unbehagen bereitete. Wenn sie mich zum Beispiel ihren Kollegen vorstellten, verwendeten sie häufig Bahasa-Ausdrücke, die laut meinem Wörterbuch so viel bedeuteten wie Inquisitor oder Vernehmer. Ich gab absichtlich nicht zu erkennen, daß ich ihre Sprache einigermaßen verstand – selbst mein Dolmetscher war in dem Glauben, daß ich nur einige Standardsätze beherrschte –, und kaufte mir ein gutes Bahasa-Englisch-Wörterbuch, das ich häufig aufschlug, nachdem unsere Besprechungen beendet waren.

Handelte es sich bei diesen Bezeichnungen lediglich um sprachliche Zufälle? Um falsche Übersetzungen in meinem Wörterbuch? Ich wollte mir das einreden. Doch je mehr Zeit ich mit diesen Männern verbrachte, desto deutlicher wurde mir, daß ich ein Eindringling war, daß sie von irgendjemandem die Anweisung erhalten hatten, mit mir zusammenzuarbeiten, und daß ihnen gar keine andere Wahl blieb. Ich hatte keine Ahnung, ob diese Anweisung von einem Regierungsbeamten, einem Banker, einem General oder der US-Botschaft gekommen war. Obwohl sie mich in ihren Büros empfingen, mir Tee anboten, höflich meine Fragen beantworteten und mich scheinbar freudig begrüßten, spürte ich einen Anflug von Reserviertheit und Groll.

Daher begann ich allmählich auch ihre Antworten auf meine Fragen und die Aussagekraft der Daten, die sie mir gaben, in Zweifel zu ziehen. So konnte ich beispielsweise nie mit meinem Dolmetscher einfach in ein bestimmtes Büro gehen und mit jemandem sprechen; wir mußten immer zuerst einen Termin vereinbaren. Das wäre an sich nicht sonderlich bemerkenswert gewesen, aber es kostete eine Menge Zeit. Da die Telefone nur selten funktionierten, mußten wir uns durch die überfüllten Straßen quälen, die so verschachtelt angelegt waren, daß man manchmal bis zu einer Stunde brauchte, um ein Gebäude zu erreichen, das nur zwei Blocks entfernt lag. Dann mußten wir immer mehrere Formulare ausfüllen. Schließlich erschien ein männlicher Sekretär. Mit jenem höflichen Lächeln, für das die Javaner berühmt sind, erkundigte er sich dann, welche Art von Informationen ich wünschte, um anschließend einen Termin für das Gespräch vorzuschlagen.

Der vereinbarte Termin war stets mehrere Tage später, und wenn das Gespräch dann schließlich stattfand, händigte man mir einen Ordner mit vorbereitetem Material aus. Die Fabrikbesitzer gaben mir Fünf- und Zehn-Jahres-Pläne, die Banker warteten mit Diagrammen und Grafiken auf, und die Regierungsmitarbeiter legten Listen mit Projekten vor, die gerade aus dem Planungsstadium herauskamen und sich zu Wachstumsmotoren entwickeln sollten. Alles, was diese Industriebosse und Beamten in diesen Interviews sagten, deutete darauf hin, daß Java wahrscheinlich kurz vor dem größten Wirtschaftsboom stand, den je ein Land erlebt hatte. Niemand – kein einziger meiner Gesprächspartner – stellte jemals diese Prämisse in Frage oder lieferte mir Informationen, die gegen dieses Szenario sprachen.

Als ich nach Bandung zurückfuhr, ließ ich mir alle diese Erlebnisse durch den Kopf gehen; irgendetwas beunruhigte mich zutiefst. Mir kam es vor, als sei alles, was ich in Indonesien tat, ein Spiel und nicht Wirklichkeit. Es erschien mir wie ein Pokerspiel. Wir hielten unsere Karten verdeckt. Keiner konnte dem anderen oder den Informationen trauen, die er erhielt. Doch dieses Spiel war blutiger Ernst, und sein Ausgang sollte auf Jahrzehnte hinaus das Leben von Millionen Menschen prägen.

Die Zivilisation am Pranger

"Ich bringe Sie zu einem Dalang", rief Rasy strahlend. "Sie wissen schon, zu einem der berühmten indonesischen Puppenspieler." Er freute sich, daß ich wieder zurück in Bandung war. "Heute Abend kommt ein sehr berühmter Mann in die Stadt."

Er fuhr mich mit seinem Motorroller durch Teile seiner Stadt, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, durch Viertel mit traditionellen javanischen Kampong-Häusern, die aussahen wie eine ärmliche Version kleiner Ziegeldach-Tempel. Die stattlichen Villen im holländischen Kolonialstil und die Bürogebäude, in denen ich sonst zu tun hatte, lagen weit hinter uns. Die Menschen waren offensichtlich arm, strahlten aber Würde und Stolz aus. Sie trugen abgenutzte, aber saubere Batik-Sarongs, bunte Blusen und breitkrempige Strohhüte. Überall, wo wir hinkamen, wurden wir mit einem freundlichen Lächeln oder fröhlichem Lachen empfangen. Wenn wir stehenblieben, liefen die Kinder auf mich zu und betasteten den Stoff meiner Jeans. Ein kleines Mädchen steckte mir die Blüte einer Frangipani-Blume ins Haar.

Wir stellten den Motorroller in der Nähe einer kleinen Straßenbühne ab, vor der sich bereits mehrere hundert Menschen versammelt hatten; einige standen, andere saßen auf Klappstühlen. Es war ein heiterer, schöner Abend. Obwohl wir uns im Herzen des ältesten Stadtteils von Bandung befanden, gab es keine Straßenbeleuchtung, so daß wir die funkelnden Sterne am Himmel sehen konnten. In der Luft lag der Geruch von Holzfeuern, Erdnüssen und Nelken.

Rasy verschwand in der Menge und kehrte kurz darauf mit mehreren jungen Leuten zurück, die ich bereits im Café kennengelernt hatte. Sie boten mir heißen Tee an, kleine Kuchenstücke und Sate, Fleischkügelchen, die in Erdnussöl gebraten waren. Ich zögerte anscheinend ein wenig, bevor ich letztere annahm, denn eine der jungen Frauen deutete zu einem kleinen Feuer. "Das Fleisch ist wirklich frisch", sagte sie und lachte. "Gerade erst gebraten."

Dann hob die Musik an – die zauberhaften Klänge eines Gamalong, eines Instruments, das an Tempelglocken erinnert.

"Der Dalang spielt ganz allein", flüsterte mir Rasy zu. "Er bedient auch selbst alle Puppen und spricht ihre Stimmen, in mehreren Sprachen. Wir werden für Sie übersetzen."
Es war eine bemerkenswerte Vorstellung, in der traditionelle Legenden mit aktuellen Ereignissen verbunden wurden. Später sollte ich erfahren, daß ein Dalang ein Schamane ist, der seine Arbeit in Trance verrichtet. Er hatte mehr als hundert Puppen und gab allen unterschiedliche Stimmen. Dies war ein weiterer unvergeßlicher Abend, der mein Leben nachhaltig beeinflussen sollte.

Nachdem der Dalang einen Text aus dem alten Ramayana-Epos vorgetragen hatte, präsentierte er eine Puppe von Richard Nixon mit der charakteristischen langen Nase und den Hängebacken. Der US-Präsident war angezogen wie Uncle Sam mit einem Stars-and-Stripes-Zylinder und entsprechendem Frack. An seiner Seite stand eine weitere Puppe, die einen dreiteiligen Nadelstreifenanzug trug. Diese zweite Figur hielt in der einen Hand einen Eimer, der mit Dollarzeichen versehen war. In der anderen Hand hatte sie eine amerikanische Flagge, die sie über Nixons Kopf schwenkte, so wie ein Sklave seinem Herrn mit einem Fächer Luft zuwedelt.

Hinter den beiden Puppen tauchte eine Karte des Mittleren und des Fernen Ostens auf, auf der die verschiedenen Länder an Haken an ihrer jeweiligen Position hingen. Nixon trat an die Karte heran, nahm Vietnam vom Haken und schob es sich in den Mund. Dann rief er etwas, das übersetzt wurde als: "Ah, schmeckt das bitter! Grauenhaft! Davon wollen wir keine zweite Portion!" Er warf Vietnam in den Eimer und wandte sich einem anderen Land zu.

Überrascht verfolgte ich, daß es sich bei den nächsten Ländern, die er sich vornahm, nicht um die Domino-Staaten des Fernen Ostens handelte. Vielmehr lagen diese Länder alle im Nahen und Mittleren Osten – Palästina, Kuwait, Saudi-Arabien, Irak, Syrien und der Iran. Danach befaßte er sich mit Pakistan und Afghanistan. Jedes Mal rief die Nixon-Puppe irgendeinen Schimpfnamen, bevor sie das Land in den Eimer warf, und immer hatten diese abwertenden Bezeichnungen eine antiislamische Färbung: "Moslemische Hunde", "Mohammeds Ungeheuer" und "islamische Teufel".

Die Menge wurde immer aufgeregter, und die Spannung wuchs mit jedem Neuzugang im Eimer. Die Zuschauer waren offensichtlich hin- und hergerissen zwischen Lachen, Entsetzen und Wut. Manchmal nahmen sie auch Anstoß an der Ausdrucksweise der Puppe, wie ich bemerkte. Mir wurde allmählich mulmig; ich stand hier mitten in der Menge, überragte die Zuschauer und fürchtete, sie könnten ihren Zorn an mir auslassen. Dann übersetzte mir Rasy eine Äußerung Nixons, die mir die Nackenhaare aufstellte.

"Gib das der Weltbank. Schau zu, was sie machen kann, damit wir in Indonesien ein bißchen Geld verdienen können." Er nahm Indonesien von der Landkarte und ließ es in den Eimer fallen, aber genau in diesem Augenblick sprang eine andere Puppe aus dem Schatten. Diese Puppe stellte einen Indonesier dar, trug ein Batikhemd und eine Khakihose und hatte ein Namensschild am Revers.

"Das ist ein bekannter Politiker aus Bandung", erklärte mir Rasy.

Diese Puppe schoß zwischen Nixon und dem Mann mit dem Eimer hin und her und stieß eine Hand in die Höhe.

"Halt!", rief der Mann. "Indonesien ist ein souveränes Land."

Die Menge begann zu applaudieren. Da hob der Mann mit dem Eimer seine Flagge und schleuderte sie wie einen Speer gegen den Indonesier, der zu Boden stürzte und auf höchst dramatische Weise starb. Die Zuschauer buhten, pfiffen, kreischten und schüttelten die erhobenen Fäuste. Nixon und der Mann mit dem Eimer standen auf der Bühne und schauten uns an. Dann verbeugten sie sich und traten ab.

"Ich glaube, wir sollten jetzt lieber gehen", sagte ich zu Rasy.

Er legte mir schützend eine Hand um die Schultern. "Alles in Ordnung", sagte er. "Die Leute haben nichts gegen Sie persönlich." Ich war mir da nicht so sicher.
Später kehrten wir alle ins Café zurück. Rasy und seine Freunde versicherten mir, sie hätten nicht gewußt, daß dieser Sketch über Nixon und die Weltbank aufgeführt werden sollte. "Man weiß nie, was ein solcher Puppenspieler bringt", bemerkte einer der jungen Männer.

Ich stellte die Frage, ob dieses Stück mir zu Ehren aufgeführt worden sei. Da lachte einer der jungen Männer und meinte, ich sei wohl sehr von mir eingenommen. "Typisch Amerikaner", fügte er hinzu und klopfte mir freundschaftlich auf den Rücken.

"Die Indonesier interessieren sich sehr für Politik", bemerkte der Mann auf dem Stuhl neben mir. "Besucht ihr Amerikaner keine solchen Shows?"

Eine junge Frau, die an der Universität Englisch als Hauptfach studierte, saß am Tisch mir gegenüber. "Aber Sie arbeiten doch für die Weltbank, nicht wahr?", fragte sie.
Ich erklärte ihr, daß meine gegenwärtigen Auftraggeber die Asiatische Entwicklungsbank und die US-Agency for International Development seien.

"Ist das nicht das Gleiche?" Sie wartete meine Antwort nicht ab. "Ist das nicht so wie in dem Puppenspiel heute Abend? Betrachtet Ihre Regierung Indonesien und die anderen Länder nicht wie ..." Sie suchte nach einem passenden Wort.

"Wie eine Traube", half ihr einer ihrer Freunde aus.

"Genau. Wie eine Traube. Sie pflücken die Trauben und suchen sich dann die beste aus. Behalten wir England. Verspeisen wir China. Und werfen wir Indonesien weg."
"Nachdem ihr uns unser Öl genommen habt", ergänzte eine andere junge Frau.

Ich versuchte mich zu verteidigen, war der Situation jedoch nicht gewachsen. Ich wollte eigentlich stolz sein darauf, daß ich in diesen Teil der Stadt gekommen war und mir dieses antiamerikanische Puppenspiel angesehen hatte, das ich eigentlich als persönlichen Affront hätte auffassen müssen.

Ich wollte, daß sie begriffen, wie mutig ich war, daß ich das einzige Mitglied unseres Teams war, das sich die Mühe machte, Bahasa zu lernen oder sich mit ihrer Kultur zu beschäftigen, und ich wollte sie auch darauf hinweisen, daß ich der einzige Ausländer bei dieser Aufführung gewesen war. Aber dann überlegte ich mir, daß es klüger wäre, nichts dergleichen zu sagen. Stattdessen versuchte ich das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Ich fragte sie, warum der Dalang ihrer Ansicht nach mit Ausnahme von Vietnam lauter moslemische Länder ausgewählt habe.

Die hübsche Englischstudentin lachte über meine Frage. "Weil das der Plan ist."

"Vietnam ist nur eine Zwischenstation", warf einer der Männer ein, "so wie Holland für die Nazis. Ein Sprungbrett."

"Das eigentliche Ziel", fuhr die Frau fort, "ist die islamische Welt."

Das konnte ich nicht unwidersprochen stehen lassen. "Aber ihr könnt doch nicht behaupten, daß die Vereinigten Staaten gegen den Islam sind", protestierte ich.
"Nein?", fragte sie. "Seit wann denn? Da muß man doch nur einen eurer Historiker lesen – einen Briten namens Toynbee. Schon in den fünfziger Jahren hat er behauptet, daß der entscheidende Krieg im nächsten Jahrhundert nicht zwischen Kommunisten und Kapitalisten ausgefochten werden wird, sondern zwischen Christen und Muslimen."

"Arnold Toynbee hat das geschrieben?" Ich war verblüfft.

"Ja, lesen Sie Civilization on Trial und The World and the West."

"Aber weshalb sollte eine solche Feindschaft zwischen den Muslimen und den Christen entstehen?", fragte ich.

Die jungen Leute am Tisch warfen sich vielsagende Blicke zu. Sie konnten es anscheinend kaum glauben, daß ich eine so törichte Frage stellte.

"Weil der Westen, und insbesondere seine Führungsmacht, die Vereinigten Staaten von Amerika ...", antwortete die junge Frau langsam, als spreche sie zu jemandem, der ein wenig schwer von Begriff ist, "entschlossen sind, die ganze Welt zu beherrschen und das größte Weltreich der Geschichte aufzubauen. Damit seid ihr auch schon sehr weit vorangekommen. Die Sowjetunion steht euch noch im Weg, aber die Sowjets werden sich nicht auf Dauer halten können. Toynbee hat das erkannt. Sie haben keine Religion und keinen Glauben, ihre Ideologie hat keine Substanz. Die Geschichte lehrt, daß der Glaube – die Seele, das Vertrauen auf höhere Mächte – etwas ganz Entscheidendes ist. Wir Muslime haben diesen Glauben. Bei uns ist er stärker ausgeprägt als bei allen anderen Menschen auf der Welt, selbst stärker als bei den Christen. Also müssen wir nur warten. Wir werden immer stärker werden."

"Wir werden warten, bis unsere Zeit gekommen ist", mischte sich einer der anderen Männer ein, "und dann zubeißen wie eine Schlange."

"Was für ein schrecklicher Gedanke!" Ich konnte mich kaum mehr beherrschen. "Was können wir tun, um das zu verhindern?"

Die Englischstudentin schaute mich offen an. "Hört auf, so gierig zu sein", sagte sie, "und so selbstsüchtig. Begreift endlich, daß es auf der Welt mehr gibt als eure großen Häuser und schicken Einkaufszentren. Die Menschen verhungern, und ihr macht euch Sorgen um das Öl für eure Autos. Babys verdursten, und ihr sucht euch in Modekatalogen die neuesten Klamotten aus. Länder wie unseres gehen an ihrer Armut zugrunde, aber ihr hört unsere Hilferufe nicht. Ihr verschließt eure Ohren vor den Stimmen derer, die euch all diese Dinge sagen wollen. Ihr bezeichnet sie als Radikale oder als Kommunisten. Ihr müsst eure Herzen öffnen für die Armen und Getretenen, anstatt sie noch tiefer in die Armut und die Knechtschaft zu treiben. Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Wenn ihr euch nicht ändert, seid ihr verloren."

Einige Tage später wurde der populäre Politiker aus Bandung, dessen Puppe sich Nixon entgegengestellt hatte und die von dem Mann mit dem Eimer aufgespießt worden war, von einem Auto überfahren. Der Mann erlag seinen Verletzungen.

...

Der Bericht eines Gefolterten

Einige Tage später fuhr mich Yamin aus Teheran heraus, durch einen staubigen und heruntergekommenen Vorort, an einem alten Kamelpfad entlang bis an den Rand der Wüste. Die Sonne ging bereits hinter der Stadt unter, als er bei einer Ansammlung von winzigen Lehmhütten anhielt, die von Palmen umgeben waren.

"Eine sehr alte Oase", erklärte Yamin. "Schon zu Zeiten Marco Polos war sie Jahrhunderte alt." Er führte mich zu einer Hütte. "Der Mann in der Hütte hat einen Doktortitel von einer unserer renommiertesten Universitäten. Aus Gründen, die Sie bald verstehen werden, muß er anonym bleiben. Sie können ihn Doc nennen."

Er klopfte an die Holztür, und es kam eine gedämpfte Antwort. Yamin drückte die Tür auf und führte mich hinein. Der winzige Raum war fensterlos und wurde nur von einer Öllampe auf einem niedrigen Tisch in der Ecke beleuchtet. Nachdem meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, daß der Lehmboden mit persischen Teppichen bedeckt war. Dann zeichnete sich der Umriß eines Mannes ab. Er saß so vor der Lampe, daß seine Gesichtszüge nicht zu erkennen waren. Ich konnte nur erkennen, daß er in Decken gewickelt war und etwas um den Kopf trug. Er saß im Rollstuhl, der neben dem Tisch das einzige "Möbelstück" im Raum war. Yamin gab mir ein Zeichen, mich auf den Teppich zu setzen. Er ging zu dem Mann und umarmte ihn sanft.

Nachdem er ihm einige Worte ins Ohr geflüstert hatte, setzte er sich neben mich.

"Ich habe Ihnen von Mr. Perkins erzählt", sagte er. "Es ist uns beiden eine Ehre, daß wir Sie besuchen dürfen, Sir."

"Mr. Perkins, Sie sind willkommen." Die Stimme, die kaum einen Akzent erkennen ließ, war tief und heiser. Ich merkte, wie ich mich unbewußt vorgebeugt hatte, um den Abstand zu verringern, der zwischen uns lag. "Sie sehen einen gebrochenen Mann vor sich. Ich war nicht immer so. Einst war ich stark wie Sie. Ich war ein enger und getreuer Berater des Schahs." Dann schwieg er lange. "Der Schah der Schahs, der König der Könige." Seine Stimme klingt eher traurig als wütend, dachte ich.

"Ich kannte viele Staatschefs persönlich. Eisenhower, Nixon, De Gaulle. Sie vertrauten darauf, daß ich dieses Land ins kapitalistische Lager führte. Der Schah vertraute mir und ..." Er gab ein Geräusch von sich, das ein Husten sein konnte, das ich aber als Lachen interpretierte. "Ich vertraute dem Schah. Ich glaubte seinen Reden. Ich war überzeugt, daß der Iran die muslimische Welt in eine neue Epoche führen und daß Persien sein Versprechen wahr machen würde. Es schien unser Schicksal zu sein – das Schicksal des Schahs, meines, unser aller Schicksal. Wir hatten eine Mission zu erfüllen, dazu waren wir von Geburt an bestimmt."

Das Deckenbündel bewegte sich, der Rollstuhl quietschte und drehte sich leicht. Ich konnte die Umrisse des Gesichts im Profil sehen, seinen zottigen Bart und – Grausen packte mich – die flachen Konturen. Er hatte keine Nase! Ich schauderte und unterdrückte ein Keuchen.

"Kein schöner Anblick, nicht wahr Mr. Perkins? Zu schade, daß Sie es nicht im vollen Licht sehen können. Es ist wirklich grotesk." Wieder hörte ich das erstickte Lachen. "Aber wie Sie sicher verstehen werden, muß ich anonym bleiben. Gewiß könnten Sie meine Identität klären, wenn Sie es ernstlich versuchen würden, allerdings würden Sie feststellen, daß ich tot bin. Offiziell existiere ich nicht mehr. Dennoch vertraue ich darauf, daß Sie es nicht versuchen werden. Für Sie und Ihre Familie ist es besser, wenn Sie nicht wissen, wer ich bin. Der Arm des Schahs und des SAVAK reicht weit."

Der Rollstuhl quietschte erneut und kehrte in seine alte Position zurück. Ich empfand Erleichterung, als ob die Gewalt, die dem Mann angetan worden war, ausgelöscht werden würde, wenn ich sein Profil nicht sah. Damals hatte ich noch nie von diesem Brauch gehört, der in einigen islamischen Kulturen besteht. Wer Schande über eine Gesellschaft oder ihren Anführer gebracht hatte, wurde dadurch bestraft, daß man ihm die Nase abschnitt. Damit war man fürs Leben gezeichnet – wie das Gesicht dieses Mannes.

"Sie fragen sich sicher, Mr. Perkins, warum wir Sie hierher eingeladen haben." Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr der Mann im Rollstuhl fort. "Sehen Sie, dieser Mann, der sich König der Könige nennt, ist in Wirklichkeit ein Teufel. Sein Vater wurde von Ihrer CIA mit – ich hasse es, das einzugestehen – meiner Hilfe abgesetzt, weil er angeblich mit den Nazis zusammenarbeitete. Dann gab es die Probleme mit der Regierung Mossadeq. Heute ist unser Schah auf dem besten Weg, Hitler auf dem Gebiet der Bosheit zu übertreffen. Und das tut er mit dem vollen Wissen und der Unterstützung Ihrer Regierung.

"Warum ist das so?", fragte ich.

"Ganz einfach. Er ist Ihr einziger verläßlicher Verbündeter in der Ölregion. Die industrialisierte Welt ist auf das Öl angewiesen, das aus diesen Staaten kommt. Oh natürlich, Sie haben Israel, aber das ist eher eine Verpflichtung für Sie als ein Trumpf. Und es gibt kein Öl dort. Ihre Politiker müssen sich nach den Stimmen der jüdischen Wähler richten, brauchen deren Geld, um ihre Wahlkampagnen zu finanzieren. Daher sind Ihnen gegenüber Israel die Hände gebunden, fürchte ich. Wie dem auch sei, Iran ist der Schlüssel. Ihre Ölgesellschaften (die sogar noch mehr Macht haben als die Juden) brauchen uns. Sie brauchen unseren Schah – oder Sie glauben zumindest, daß Sie ihn bräuchten, genauso wie Sie dachten, Sie bräuchten die korrupte Regierung in Südvietnam."

"Wissen Sie etwas Besseres? Ist Iran das Äquivalent zu Vietnam?"

"Möglicherweise noch viel schlimmer. Sehen Sie, der Schah wird sich nicht mehr lange halten können. Die muslimische Welt haßt ihn. Nicht nur die Araber, sondern die Muslime auf der ganzen Welt, in Indonesien, den USA, aber vor allem natürlich hier in diesem Land, sein eigenes persisches Volk haßt ihn." Ich hörte ein Klopfen und erkannte, daß er gegen die Seite seines Rollstuhls geschlagen hatte. "Er ist böse! Wir Perser hassen ihn." Dann herrschte Schweigen. Nur sein schwerer Atem war zu hören.
"Doc steht den Mullahs sehr nahe", sagte Yamin zu mir mit leiser, ruhiger Stimme. "Bei den religiösen Gruppen hier gibt es eine mächtige Bewegung gegen das herrschende Regime, und sie hat einen Großteil des Landes erfaßt, mit Ausnahme einer Hand voll Menschen der Oberschicht, die vom Kapitalismus des Schahs profitieren."

"Ich zweifle nicht an Ihren Worten", sagte ich. "Aber ich muß sagen, daß ich bei meinen Besuchen nichts dergleichen bemerkt habe. Jeder, mit dem ich spreche, scheint den Schah zu lieben, und preist das wirtschaftliche Wachstum."

"Sie sprechen kein Farsi", bemerkte Yamin. "Sie hören nur, was Ihnen die Männer sagen, die am meisten profitieren. Wer in den USA oder England ausgebildet wurde, arbeitet am Ende für den Schah. Doc hier ist eine Ausnahme – jetzt."

Er schwieg und schien seine nächsten Worte zu überdenken. "Mit Ihrer Presse ist es ganz ähnlich. Die Journalisten sprechen nur mit den Verwandten und dem engsten Kreis des Schahs. Natürlich werden Ihre Medien größtenteils auch vom Öl kontrolliert. Sie hören, was sie hören wollen, und schreiben, was ihre Werbekunden lesen wollen."

"Warum erzählen wir Ihnen das alles, Mr. Perkins?" Docs Stimme klang noch rauer als zuvor, als ob seine Gefühle und die Anstrengung zu sprechen die Energie aufgebraucht hätten, die der Mann für dieses Treffen mobilisiert hatte. "Weil wir Sie davon überzeugen möchten, abzureisen und Ihr Unternehmen zu überreden, sich aus dem Land zurückzuziehen. Wir möchten Sie warnen. Sie denken vielleicht, Sie werden hier viel Geld verdienen, aber da täuschen Sie sich. Diese Regierung wird sich nicht halten." Wieder hörte ich, wie seine Hand gegen den Rollstuhl schlug. "Und wenn sie stürzt, wird die Regierung, die ihr nachfolgt, keine Sympathien für Sie und Ihre Firmen haben."

"Sie meinen, wir werden kein Geld bekommen?"

Doc bekam einen Hustenanfall. Yamin ging zu ihm und rieb seinen Rücken. Als der Anfall vorbei war, sprach er mit Doc Farsi und kehrte dann an seinen Platz zurück.

"Wir müssen das Gespräch beenden", sagte Yamin zu mir. "Als Antwort auf Ihre Frage: Sie werden nicht bezahlt. Sie werden die ganze Arbeit machen, und wenn es an der Zeit ist, Ihren Lohn zu bekommen, wird der Schah nicht mehr im Amt sein."

Auf der Rückfahrt fragte ich Yamin, warum er und Doc MAIN das Finanzdesaster ersparen wollten, das er vorhergesagt hatte.

"Wir würden mit Freuden sehen, wenn Ihr Unternehmen Bankrott ginge. Allerdings wäre es uns noch lieber, wenn Sie den Iran verlassen. Wenn sich ein Unternehmen wie Ihres zurückzieht, könnte es damit ein Signal setzen. Darauf hoffen wir. Sehen Sie, wir wollen hier kein Blutbad, aber der Schah muß weg, und wir unterstützen alles, was seinen Sturz rascher herbeiführen kann. Daher beten wir zu Allah, daß Sie Ihren Mr. Zambotti davon überzeugen, sich rechtzeitig zurückzuziehen.

"Und warum ich?"

"Als wir bei unserem Essen über das Projekt Blühende Wüste sprachen, merkte ich, daß Sie offen für die Wahrheit sind. Ich wußte, daß unsere Informationen über Sie korrekt waren – Sie sind ein Mann zwischen zwei Welten, ein Mann in der Mitte."

Nach diesen Worten fragte ich mich, wie viel er wirklich über mich wußte.

Der Sturz eines Königs

Eines Abends 1978 saß ich allein in der luxuriösen Bar in der Lobby des Hotels InterContinental von Teheran, als mir jemand auf die Schulter tippte. Ich drehte mich um und sah einen kräftigen, leicht schwergewichtigen Iraner im Anzug.

"John Perkins! Erinnerst du dich nicht an mich?"

Der ehemalige Fußballspieler hatte stark zugenommen, aber die Stimme war unverkennbar. Es war mein alter Freund Farhad aus Middlebury, den ich seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Wir umarmten uns und setzten uns an die Bar. Schnell wurde deutlich, daß er alles über mich und meine Arbeit wußte. Genauso deutlich war, daß er mir nicht viel über seine eigene Arbeit erzählen wollte.

"Kommen wir gleich zur Sache", sagte er, als wir unser zweites Bier bestellten. "Ich fliege morgen nach Rom. Meine Eltern leben dort. Ich habe ein zweites Ticket für den Flug. Du kannst es haben. Hier bricht alles zusammen. Du mußt weg." Er reichte mir ein Flugticket. Ich zweifelte nicht einen Moment an seinen Worten.

In Rom aßen wir bei Farhads Eltern zu Abend. Sein Vater, der pensionierte General, der sich einmal in die Schußbahn einer Kugel geworfen hatte, um das Leben des Schahs zu retten, war völlig desillusioniert. Er sagte, daß der Schah in den letzten Jahren sein wahres Gesicht gezeigt habe, seine Arroganz und Gier. Der General machte die amerikanische Politik für den Haß verantwortlich, der im Nahen und Mittleren Osten herrschte. Die Amerikaner hatten Fehler gemacht, sie unterstützten Israel, korrupte Staatschefs und despotische Regierungen. Er prophezeite, daß der Schah in wenigen Monaten stürzen werde.

"Wissen Sie", sagte er, "Sie haben die Saat für die heutige Rebellion Anfang der fünfziger Jahre gesät, als Sie Mossadegh stürzten. Sie hielten sich damals für sehr schlau – ich auch. Aber jetzt fällt das auf Sie zurück – und auf uns.

Seine Prophezeiungen erstaunten mich. Ich hatte etwas Ähnliches von Yamin und Doc gehört, aber wenn dieser Mann sich ebenfalls in diesem Sinne äußerte, hatte das eine ganz andere Bedeutung. Zu der Zeit wußte jeder, daß es einen fundamentalistischen islamischen Untergrund gab, aber wir hatten uns eingeredet, daß der Schah beim Großteil seines Volkes enorm beliebt und damit politisch unverwundbar sei. Der General dagegen war unerbittlich.

"Denken Sie an meine Worte", sagte er ernst. "Der Sturz des Schahs wird nur der Anfang sein. Das ist ein Ausblick darauf, wohin die muslimische Welt steuert. Unser Zorn schwelte zu lange unter dem Sand. Schon bald wird er ausbrechen."

Beim Abendessen erfuhr ich viel über Ayatollah Ruhollah Khomeini. Farhad und sein Vater machten deutlich, daß sie sein fanatisches Schiitentum nicht unterstützten, waren aber eindeutig von seinen Maßnahmen gegen den Schah beeindruckt. Sie erzählten mir, daß der Geistliche, dessen gewählter Name "inspiriert von Gott" lautete, 1902 in einem Dorf in der Nähe von Teheran geboren wurde. Seine Familie blickt auf eine lange Reihe schiitischer Gelehrter zurück.

Khomeini beteiligte sich nicht an den Auseinandersetzungen zwischen Mossadegh und dem Schah Anfang der fünfziger Jahre, war aber in den sechziger Jahren aktiv in der Opposition gegen den Schah tätig und kritisierte den Herrscher so unerbittlich, daß er in die Türkei verbannt wurde und später in die den Schiiten heilige Stadt Nadschaf im Irak, wo er der anerkannte Führer der Opposition wurde. Er verschickte Briefe, Artikel und Tonbandaufnahmen, in denen er die Iraner drängte, sich zu erheben, den Schah zu stürzen und einen Gottesstaat auszurufen.

Zwei Tage nach meinem Abendessen mit Farhad und seinen Eltern wurde bekannt, daß es im Iran zu Bombenanschlägen und Unruhen gekommen war. Ayatollah Khomeini und die Mullahs hatten mit ihrer Offensive begonnen und sollten schon bald die Herrschaft übernehmen. Danach ging alles sehr schnell. Die Wut, die Farhads Vater beschrieben hatte, kam in einem gewalttätigen islamischen Aufstand zum Ausbruch. Der Schah floh im Januar 1979 nach Ägypten. Als man bei ihm Krebs diagnostizierte, reiste er nach Amerika, um sich dort medizinisch behandeln zu lassen.

Die Anhänger von Ayatollah Khomeini verlangten seine Rückkehr. Im November 1979 besetzten militante Islamisten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen 52 Amerikaner als Geiseln. Diese blieben 444 Tage in Gefangenschaft. Präsident Carter versuchte, über die Freilassung der Geiseln zu verhandeln. Als die Verhandlungen scheiterten, genehmigte er eine militärische Befreiungsaktion, die im April 1980 unternommen wurde. Die Aktion scheiterte und kann im Grunde als der Hammer betrachtet werden, mit dem der letzte Nagel in den Sarg von Präsident Carters Präsidentschaft getrieben wurde.

Unter dem immensen Druck amerikanischer Interessensgruppen aus Wirtschaft und Politik mußte der krebskranke Schah die Vereinigten Staaten verlassen. Seit er aus Teheran geflohen war, hatte er Schwierigkeiten, Unterschlupf zu finden; all seine früheren Freunde mieden ihn. Doch General Torrijos zeigte wie gewohnt Mitgefühl und bot dem Schah Asyl in Panama an, obwohl er eine persönliche Abneigung gegen die Politik des Schahs hegte. Der Schah nahm an und fand dort Unterschlupf, wo der neue Panamakanal-Vertrag vor kurzem ausgehandelt worden war.

Die Mullahs verlangten die Rückkehr des Schahs im Austausch für die Freilassung der Geiseln, die nach wie vor in der amerikanischen Botschaft festgehalten wurden. Die Gruppierungen, die schon gegen den neuen Kanalvertrag gewesen waren, warfen Torrijos nun Korruption und die heimliche Zusammenarbeit mit dem Schah vor. Torrijos setze das Leben der US-Bürger aufs Spiel. Außerdem verlangten sie, Torrijos solle den Schah an Ayatollah Khomeini ausliefern. Ironischerweise waren genau diese Leute noch vor wenigen Wochen die treuesten Anhänger des Schahs gewesen. Der einst stolze König der Könige kehrte schließlich nach Ägypten zurück, wo er an Krebs starb.

Docs Prognose erfüllte sich. MAIN verlor wie viele andere Konkurrenten Millionen Dollar im Iran. Carter wurde nicht wiedergewählt. Die Reagan-Bush-Regierung hielt in Washington Einzug und versprach, die Geiseln zu befreien, die Mullahs zu stürzen, die Demokratie im Iran wiederherzustellen und den Vertrag über den Panamakanal neu zu regeln.

Für mich war die Entwicklung im Iran eine wichtige Lektion. Das Beispiel Iran zeigte, daß die Vereinigten Staaten die Wahrheit über unsere Rolle in der Welt verbergen wollten. Es schien unbegreiflich, daß wir über den Schah und die Welle des Hasses gegen ihn nicht informiert worden waren. Selbst wir in Unternehmen wie MAIN, die Büros und Mitarbeiter im Land hatten, hatten nichts gewußt. Ich war mir sicher, daß die NSA und CIA erkannt hatten, was für Torrijos schon bei meinem Treffen mit ihm 1972 offensichtlich gewesen war. Aber unsere eigenen Geheimdienste hatten uns dazu gedrängt, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen.

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