Auszüge aus Hans-Peter Martin's & Harald Schumann's
"Die Globalisierungsfalle"

Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand

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Vorwort

Kommt die 20:80-Gesellschaft mit ungeahnter Arbeitslosigkeit? Genügt ein Fünftel der Bevölkerung, um die Weltwirtschaft in Schwung zu halten? Was wird aus dem großen Rest? Werden nur noch die mithalten können, die über genügend Ersparnisse verfügen, um vom Börsenboom zu profitieren? Folgt dem bedrohlichen Abstieg der Mittelklasse ein Aufstieg radikaler Populisten auch in Deutschland? Wie entkommen wir der Falle, die sich durch die globale Vernetzung von Wirtschaft, Politik, Medien und Umwelt auftut?

Die Globalisierung ist zum wichtigsten Thema der Gegenwart geworden. Nach weltweiten Recherchen legen jetzt zwei erfahrene Spiegel-Redakteure das erste anschauliche und umfassende Buch dazu vor. Sie berichten aus dem Innern der Finanzwelt, der Politik und der Konzerne. Sie enttarnen bequeme Lügen, und sie beschreiben Auswege. "Die Globalisierung ist kein Naturereignis", so die Autoren. "Die Zeit der allgemeinen Orientierungslosigkeit ist vorbei."

Das Sachbuch aller Sachbücher: ein flammender Aufruf, eine kämpferische Denkschrift, die auf die Macht der Vernunft setzt. DIE ZEIT

Vielleicht das wichtigste Buch des Jahres. Spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Süddeutsche Zeitung

Interessant und z.T. hinreißend wie ein Pamphlet geschrieben. Die Grundthesen teile ich allerdings nicht. Ich möchte das Buch mit einer "Ausrufung einer Gegenreformation" vergleichen. Tyll Necker, langjähriger Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI)

Exzellent. Ein sehr kraftvoller Text. Aufregend. Barbara Pyle, Executive Producer, CNN Center Atlanta

Ein wunderbares Buch. Es ist für den Club sehr wichtig. Ricardo Diez Hochleitner, Präsident des Club of Rome

Drei aufwühlende Herbsttage in San Francisco, Ende September 1995: Die Machtelite der Welt, 500 führende Politiker, Konzernchefs und Wissenschaftler, diskutiert hinter verschlossenen Türen das 21. Jahrhundert. Die Einschätzung der Weltenlenker ist verheerend: Nur mehr ein Fünftel aller Arbeitskräfte werde in lukunft benötigt. Der überwältigende Rest – 80 Prozent – müsse mit "tittytainment" bei Laune gehalten werden, einer Mischung aus Entertainment und Ernährung am Busen ("tits") der wenigen Produktiven.

Mit beängstigender Geschwindigkeit nähern sich die bisherigen Wohlstandsländer dieser Schreckensvision: Allein in Deutschland finden mehr als sechs Millionen Arbeitswillige keine feste Anstellung. Kein Job scheint mehr sicher, nach den Fabrikarbeitern bei VW, Philips oder Olivetti bangen in Europa jetzt Millionen Ingenieure, Bankangestellte, Telekombeschäftigte und sogar Computerspezialisten um ihre Arbeitsplätze. Allerorten ist die Klage zu hören: China, Indien und Europas Oststaaten seien mit ihren Billigstlöhnen die neuen Konkurrenten am Weltmarkt, man müsse sich an ihnen orientieren.

Die Wucht der Globalisierung eint die Welt, doch gleichzeitig zerfällt diese eine Welt. Wie Anarchisten des 21. Jahrhunderts setzen Manager milliardenschwerer Investmentfonds und Weltkonzerne die Nationalstaaten matt. Dabei treiben Politiker die Deregulierung immer schneller voran und halten sich dennoch – wie die Wirtschaftsführer – nur für Getriebene der brutalen Dynamik. Das Ergebnis sind immer neue Sparprogramme und Massenkündigungen. Länder wie Brasilien steigen zum Weltmodell auf: Die Reichen ziehen sich in Ghettos zurück, der Großteil der Bevölkerung bangt um seine Existenz. Gleichzeitig ist es für viele Wohlstandsbürger so bequem geworden, auf den Weltuntergang zu warten.

Das Tempo der Globalisierung überfordert alle. Verunsicherte Bürger suchen ihr Heil in Abgrenzung und Abspaltung. Vor dem eiskalten Effizienzwettlauf fliehen sie hin zur vermeintlichen Wärme moderner radikaler Verführer – von Scientology über Ross Perot bis Jörg Haider. Doch der Angriff auf Demokratie und Wohlstand ist keineswegs das Resultat eines unaufhaltsamen technischen und wirtschaftlichen Fortschritts. Es gibt realistische Alternativen, die Globalisierung muß nicht in die Sackgasse führen. Ein Leben in sozialem Frieden wäre weiterhin möglich.

Die 20:80-Gesellschaft

Weltenlenker unterwegs zu einer anderen Zivilisation

Die ganze Welt verändert sich in eine Veränderung hinein, wie sie früher einmal war in einem früheren Leben. Werner Schwab in seinem Nachlaß-Stück Hochschwab

Träume von Weltformat sind im Fairmont-Hotel von San Francisco zu Hause. Es ist Institution und Ikone, Luxusherberge und Legende der Lebenslust. Wer es kennt, nennt es nur respektvoll "The Fairmont", wer darin wohnt, hat es geschafft.

Wie eine Kathedrale des Wohlstands thront es auf dem Nob Hill über der gerühmten "City", ein kalifornischer Protzbau der Superlative, eine selbstvergessene Mischung aus Jahrhundertwende und Nachkriegsboom. Besucher überfällt die Blicksucht, wenn sie im gläsernen Lift außen am Hotelturm ins Crown’s Room Restaurant entschweben. Da öffnet sich das Panorama auf jene schöne neue Welt, in die sich Milliarden Menschen hineinträumen: Von der Golden-Gate-Brücke bis zur Hügelkette von Berkeley glänzt ein unendlich scheinender Mittelstandsreichtum. Zwischen den Eukalyptusbäumen blitzen die Swimmingpools der einladend großzügigen Häuser im milden Sonnenlicht, in fast jeder Einfahrt parken mehrere Fahrzeuge.

Das Fairmont markiert wie ein kolossaler Grenzstein die Schnittstelle zwischen Moderne und Zukunft, zwischen Amerika und dem pazifischen Raum. Am Abhang vor dem Hotel leben dicht gedrängt mehr als hunderttausend Chinesen, weit hinten grüßt die Heimstatt der Computer-Revolution, das Silicon Valley. Kaliforniens Katastrophengewinnler des Erdbebens von 1906, US-Weltkriegsgeneräle, die Gründer der Uno, Konzernherren und alle Präsidenten Amerikas in diesem Jahrhundert – sie feierten ihre Triumphe in den weitläufigen, aufgeplüschten Hallen des Hotels, das der Verfilmung von Arthur Haileys Fiktion Hotel die Traumkulisse seiner Wirklichkeit bot und seither von Touristen bestürmt wird.

In diesem geschichtsträchtigen Rahmen begrüßt einer der wenigen, der selbst Geschichte schrieb, Ende September 1995 die Elite der Welt: Michail Gorbatschow. US-Mäzene richteten ihm ausgerechnet im Presidio, einem nach dem Ende des Kalten Krieges aufgelassenen Militärareal südlich der Golden-Gate-Brücke, aus Dankbarkeit eine Stiftung ein. Jetzt hat Gorbatschow 500 führende Politiker, Wirtschaftsführer und Wissenschaftler aus allen Kontinenten einfliegen lassen. Der neue "globale Braintrust", wie der letzte Staatspräsident der Sowjetunion und Nobelpreisträger die exklusive Runde definiert, soll den Weg ins 21. Jahrhundert weisen, "unterwegs zu einer neuen Zivilisation".

Erfahrene alte Weltenlenker wie George Bush, George Shultz oder Margaret Thatcher treffen auf die neuen Herren des Planeten wie CNN-Chef Ted Turner, der seine Unternehmen mit Time Warner zum weltweit größten Medienkonzern verschmilzt, oder auf den südostasiatischen Handelsmagnaten Washington SyCip. Drei Tage lang wollen sie hochkonzentriert nachdenken, in kleinen Arbeitskreisen mit den Global Playern der Computer- und Finanzwelt, aber auch mit den Hohepriestern der Wirtschaft, den Ökonomieprofessoren der Universitäten von Stanford, Harvard und Oxford. Auch Emissäre des Freihandels aus Singapur und natürlich Peking wollen gehört werden, wenn es um die Zukunft der Menschheit geht. Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf bemüht sich um deutsche Akzente in der Debatte.

Niemand ist zum Schwadronieren angereist. Keiner soll die freie Rede stören, die aufdringliche Journalistenschar wird aufwendig abgeschirmt. Strenge Regeln zwingen alle Teilnehmer, jeden rhetorischen Ballast abzuwerfen. Gerade fünf Minuten lang dürfen Referenten ein Thema einleiten, keine Wortmeldung soll länger als zwei Minuten dauern. Gepflegte ältere Damen halten den diskutierenden Milliardären und Theoretikern wie Formel-1-Fahrern unübersehbare Zeittafeln ins Blickfeld: Noch "1 Minute", "30 Sekunden", "Stopp".

John Gage, Topmanager bei der US-Computerfirma Sun Microsystems, stößt die Debattenrunde über "Technologie und Arbeit in der globalen Wirtschaft" an. Sein Unternehmen gilt als ein neuer Star der Branche, es entwickelte die Programmiersprache "Java", der Aktienkurs von Sun Systems bricht an der Wall Street die Rekorde. "Jeder kann bei uns so lange arbeiten, wie er will, wir brauchen auch keine Visa für unsere Leute aus dem Ausland", erklärt Gage knapp. Regierungen und deren Vorschriften für die Arbeitswelt seien bedeutungslos geworden. Er beschäftige, wen er gerade brauche, derzeit bevorzugt "gute Gehirne in Indien", die so lange arbeiten, wie sie können. Aus allen Erdteilen erhalte die Firma per Computer Bewerbungen, die für sich sprächen. "Wir stellen unsere Leute per Computer ein, sie arbeiten am Computer, und sie werden auch per Computer wieder gefeuert."

Noch "30 Sekunden", signalisiert ihm die Tafeldame. "Wir holen uns ganz einfach die Cleversten. Mit unserer Effizienz konnten wir den Umsatz seit unserem Beginn vor 13 Jahren von null auf über sechs Milliarden Dollar hochjagen." Selbstzufrieden wendet sich Gage an einen Tischnachbarn und schmunzelt: "Das hast du längst nicht so schnell geschafft, David." Die Sekunden, die ihm bis zum "Stop"-Schild bleiben, genießt Gage den kleinen Seitenhieb.

Der Angesprochene ist David Packard, Mitbegründer des High-Tech-Riesen Hewlett-Packard. Der greise Self-made-Milliardär verzieht keine Miene. Mit hellwachem Verstand stellt er lieber die zentrale Frage: "Wie viele Angestellte brauchst du wirklich, John?"

"Sechs, vielleicht acht", antwortet Gage trocken. "Ohne sie wären wir aufgeschmissen. Dabei ist es völlig gleichgültig, wo auf der Erde sie wohnen." Jetzt hakt der Diskussionsleiter, Professor Rustum Roy von der Pennsylvania State University, nach: "Und wie viele Leute arbeiten derzeit für Sun Systems?" Gage: "16000. Sie sind bis auf eine kleine Minderheit Rationalisierungsreserve."

Kein Raunen geht da durch den Raum, den Anwesenden ist der Ausblick auf bislang ungeahnte Arbeitslosenheere eine Selbstverständlichkeit. Keiner der hochbezahlten Karrieremanager aus den Zukunftsbranchen und Zukunftsländern glaubt noch an ausreichend neue, ordentlich bezahlte Jobs auf technologisch aufwendigen Wachstumsmärkten in den bisherigen Wohlstandsländern – egal, in welchem Bereich.

Die Zukunft verkürzen die Pragmatiker im Fairmont auf ein Zahlenpaar und einen Begriff: "20 zu 80" und "tittytainment".

20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung würden im kommenden Jahrhundert ausreichen, um die Weltwirtschaft in Schwung zu halten. "Mehr Arbeitskraft wird nicht gebraucht", meint Magnat Washington SyCip. Ein Fünftel aller Arbeitssuchenden werde genügen, um alle Waren zu produzieren und die hochwertigen Dienstleistungen zu erbringen, die sich die Weltgesellschaft leisten könne. Diese 20 Prozent werden damit aktiv am Leben, Verdienen und Konsumieren teilnehmen – egal, in welchem Land. Das eine oder andere Prozent, so räumen die Diskutanten ein, mag noch hinzukommen, etwa durch wohlhabende Erben.

Doch sonst? 80 Prozent der Arbeitswilligen ohne Job? "Sicher", sagt der US-Autor Jeremy Rifkin, Verfasser des Buches Das Ende der Arbeit", "die unteren 80 Prozent werden gewaltige Probleme bekommen." Sun-Manager Gage legt noch einmal nach und beruft sich auf seinen Firmenchef Scott McNealy: Die Frage sei künftig, "to have lunch or be lunch", zu essen haben oder gefressen werden.

In der Folge beschäftigt sich der hochkarätige Diskussionskreis zur "Zukunft der Arbeit" lediglich mit jenen, die keine Arbeit mehr haben werden. Dazu, so die feste Überzeugung der Runde, werden weltweit Dutzende Millionen Menschen zählen, die sich bislang dem wohligen Alltag in San Franciscos Bay Area näher fühlen durften als dem Überlebenskampf ohne sicheren Job. Im Fairmont wird eine neue Gesellschaftsordnung skizziert: reiche Länder ohne nennenswerten Mittelstand – und niemand widerspricht.

Vielmehr macht der Ausdruck "tittytainment" Karriere, den der alte Haudegen Zbigniew Brzezinski ins Spiel bringt. Der gebürtige Pole war vier Jahre lang Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, seither beschäftigt er sich mit geostrategischen Fragen. "Tittytainment", so Brzezinski, sei eine Kombination von "entertainment" und "tits", dem amerikanischen Slangwort für Busen. Brzezinski denkt dabei weniger an Sex als an die Milch, die aus der Brust einer stillenden Mutter strömt. Mit einer Mischung aus betäubender Unterhaltung und ausreichender Ernährung könne die frustrierte Bevölkerung der Welt schon bei Laune gehalten werden.
Nüchtern diskutieren die Manager die möglichen Dosierungen, überlegen, wie denn das wohlhabende Fünftel den überflüssigen Rest beschäftigen könne. Soziales Engagement der Unternehmen sei beim globalen Wettbewerbsdruck unzumutbar, um die Arbeitslosen müßten sich andere kümmern. Sinnstiftung und Integration erwarten sich die Diskutanten vom weiten Feld der freiwilligen Gemeinschaftsdienste, bei der Nachbarschaftshilfe, im Sportbetrieb oder in Vereinen aller Art. "Diese Tätigkeiten könnte man doch durch eine bescheidene Bezahlung aufwerten und so die Selbstachtung von Millionen Bürgern fördern", meint Professor Roy. Jedenfalls werden in den Industrieländern schon bald wieder Menschen fast zum Nulltarif die Straßen sauberhalten oder als Haushaltshilfen kärglichen Unterschlupf finden, erwarten die Konzernlenker. Schließlich sei das Industriezeitalter mit seinem Massenwohlstand nicht mehr als ein "Wimpernzucken in der Geschichte der Ökonomie", analysiert der Zukunftsforscher John Naisbitt.

Unterwegs zu einer neuen Zivilisation wähnten sich die Veranstalter der drei denkwürdigen Tage im Fairmont. Doch die Richtung, welche der versammelte Sachverstand aus Chefetagen und Wissenschaft wies, führt geradewegs zurück in die vormoderne Zeit. Nicht mehr die Zweidrittelgesellschaft, vor der sich die Europäer seit den achtziger Jahren fürchten, beschreibt demnach die künftige Verteilung von Wohlstand und gesellschaftlicher Stellung. Das Weltmodell der Zukunft folgt der Formel 20 zu 80. Die Einfünftelgesellschaft zieht herauf, in der die Ausgeschlossenen mit Tittytainment ruhiggestellt werden müssen. Alles maßlos übertrieben?

"Der richtige Orkan"

Deutschland im Jahr 1996: Mehr als sechs Millionen Arbeitswillige finden keine feste Anstellung – mehr als je zuvor seit Gründung der Bundesrepublik. Die durchschnittlichen Nettoeinkommen der Westdeutschen sinken seit fünf Jahren. Und dies sei, so künden die Auguren aus Regierung, Wissenschaft und Unternehmen, erst der Anfang. Mindestens 1,5 Millionen weitere Jobs würden allein in der Industrie im kommenden Jahrzehnt gestrichen, prognostiziert der führende Unernehmensberater der Republik, Roland Berger, "obendrein vermutlich jeder zweite Arbeitsplatz im mittleren Management". Sein Kollege Herbert Henzler, Chef der deutschen Filiale der Beratungsfirma McKinsey, geht noch weiter: "Die Industrie wird den Weg der Landwirtschaft nehmen", prophezeit er. Die Warenproduktion biete zukünftig nur noch für wenige Prozent der Erwerbsbevölkerung Lohn und Brot. Auch in Österreich melden die Behörden immer bescheidenere Beschäftigtenzahlen, jedes Jahr brechen 10.000 Industriejobs weg, 1997 soll die Arbeitslosenquote bei acht Prozent liegen, fast doppelt so hoch wie noch 1994.

Die von Ökonomen und Politikern verbreiteten Erklärungen für den Niedergang gipfeln stets in einem Wort: Globalisierung. High-Tech-Kommunikation, niedrige Transportkosten und grenzenloser Freihandel lassen die ganze Welt zu einem einzigen Markt verschmelzen, lautet die stets wiederkehrende These. Dies schaffe harte globale Konkurrenz, auch auf dem Arbeitsmarkt. Deutsche Unternehmen würden neue Arbeitsplätze nur noch im billigeren Ausland schaffen. Vom Konzernchef bis zum Arbeitsminister kennt die Führungsriege der Republik nur eine Antwort: Anpassung nach unten. Unentwegt sind die Bürger einer Kakophonie aus Verzichtsforderungen ausgesetzt. Die Deutschen – erst recht die Österreicher – arbeiten zuwenig, beziehen zu hohe Einkommen, machen zuviel Urlaub und feiern zu oft krank, behauptet ein Chor aus Verbandsfunktionären, Ökonomen, Sachverständigen und Ministern. Publizistische Helfer bei Presse und Fernsehen assistieren. Die "westliche Anspruchsgesellschaft kollidiert mit ehrgeizigen asiatischen Verzichtsgesellschaften", schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Wohlfahrtsstaat sei "zur Zukunftsbedrohung geworden", ein "Mehr an sozialer Ungleichheit ist unausweichlich". Österreichs marktbeherrschendes Massenblatt, die Neue Kronenzeitung, zieht mit der Schlagzeile in die Boulevardschlacht:

Der Kontinent hat über seine Verhältnisse gelebt: Neue Sparwelle schockt Europa.

Selbst der deutsche Bundespräsident Roman Herzog sekundiert mit Einstimmungsreden ans Volk. Der Wandel sei "unausweichlich. Jeder wird Opfer bringen müssen."
Da hat er allerdings etwas falsch verstanden. Es geht keineswegs um notwendige Opfer für alle in Zeiten der Krise. Kürzung der Lohnfortzahlung bei Krankheit, Aufhebung des Kündigungsschutzes, radikale Schnitte bei allen Sozialleistungen und Lohnsenkung trotz steigender Produktivität sind kein Krisenmanagement mehr. Die Reformer im Zeichen der Globalisierung kündigen vielmehr den ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag der Republik, der die soziale Ungleichheit durch Umverteilung von oben nach unten in Grenzen hielt. Das Modell des europäischen Wohlfahrtsstaats habe ausgedient, propagieren sie, im weltweiten Vergleich sei er nun zu teuer. Die Betroffenen verstehen sehr wohl. Gewerkschaften und Wohlfahrtsverhände senden einen Aufschrei der Empörung durch die Republik. Selbst die sonst konservative IG Chemie droht mit flächendeckenden Streiks, und Dieter Schulte, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, warnt vor "Verhältnissen", denen gegenüber der französische Massenausstand im Dezember 1995 "ein müder Auftakt war".

Doch die Verteidiger des Sozialstaats kämpfen auf verlorenem Posten. Zwar sind viele Argumente ihrer Gegner einfach falsch. Per Saldo schaffen Deutschlands Konzerne im Ausland kaum zusätzliche Jobs, sondern kaufen zumeist nur dortige Unternehmen, um anschließend die Belegschaft auszudünnen und regionale Märkte zu versorgen. Auch sind die Soziallasten in Deutschland keineswegs explodiert, ihr Anteil am Bruttosozialprodukt war 1995 sogar geringer als 20 Jahre zuvor. Was wirklich trifft, ist dagegen der stete Verweis auf die Politik der anderen, bisherigen Industrieländer. Staatsausgaben kürzen, Löhne senken und Sozialleistungen streichen, das Programm ist von Schweden über Österreich bis Spanien im Kern gleich. Und überall endet der Protest in Resignation.

Der Internationalismus, einst eine Erfindung sozialdemokratischer Arbeiterführer gegen kapitalistische Kriegstreiber, hat längst die Seiten gewechselt. Weltweit spielen über 40.000 transnationale Unternehmen aller Größenordnungen ihre Beschäftigten ebenso wie die Staaten gegeneinander aus. 40 Prozent Steuern auf Kapitalerträge in Deutschland? Viel zuviel, Irland gibt sich mit zehn Prozent zufrieden, Malaysia und einige US-Bundesstaaten verzichten sogar fünf oder zehn Jahre lang ganz auf Abgaben. 45 Mark für die Facharbeiterstunde? Viel zu teuer, die Briten arbeiten für weniger als die Hälfte, die Tschechen für ein Zehntel. Nur 33 Prozent Investitionszulage für neue Fabriken in Italien? Viel zuwenig, in Ostdeutschland legt der Staat gerne 80 Prozent dazu.

In einer globalen Zangenbewegung hebt die neue Internationale des Kapitals ganze Staaten und deren bisherige gesellschaftliche Ordnung aus den Angeln. An der einen Front droht sie mal hier, mal dort mit Kapitalflucht und erzwingt so drastische Steuerabschläge sowie milliardenschwere Subventionen oder kostenlose Infrastruktur. Wo das nicht wirkt, hilft Steuerplanung im großen Stil: Gewinne werden nur noch in den Ländern ausgewiesen, wo der Steuersatz auch wirklich niedrig ist. Weltweit sinkt der Anteil, den Kapitaleigner und Vermögensbesitzer zur Finanzierung staatlicher Aufgaben beitragen. Auf der anderen Seite fahren die Lenker der globalen Kapitalströme das Lohnniveau ihrer steuerzahlenden Beschäftigten kontinuierlich nach unten. Auch die Lohnquote, der Anteil der Lohnbezieher am gesellschaftlichen Reichtum, sinkt im Weltmaßstab. Keine Nation allein vermag sich dem Druck entgegenzustellen. Das Modell Deutschland, kommentiert der US-Ökonom Rüdiger Dornbusch, werde im transnationalen Wettbewerb nun "regelrecht abgekocht".

Börsenkurse und Konzerngewinne steigen mit zweistelligen Raten, während Löhne und Gehälter sinken. Gleichzeitig wächst die Arbeitslosigkeit parallel mit den Defiziten der öffentlichen Haushalte. Niemand benötigt besondere ökonomische Kenntnisse, um zu verstehen, was geschieht: 113 Jahre nach dem Tod von Karl Marx steuert der Kapitalismus wieder in jene Richtung, die der revolutionäre Ökonom für seine Zeit so trefflich beschrieb. "Die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktion ist, den durchschnittlichen Lohnstandard nicht zu heben, sondern zu senken oder den Wert der Arbeit bis zu seiner Minimalgrenze zu drücken", referierte er 1865 vor dem Generalrat der 1. Internationale in London – und ahnte nicht, daß der Urkapitalismus dereinst demokratisch gezähmt werden würde. Doch nach den Reformen des sozialdemokratischen Jahrhunderts bahnt sich nun eine Gegenreform von historischer Dimension an: Rückwärts geht es in die Zukunft, und Gewinner wie Heinrich von Pierer, der Chef des Weltkonzerns Siemens, triumphieren: "Der Wettbewerbswind ist zum Sturm geworden, und der richtige Orkan steht uns noch bevor."

Die Wortwahl Pierers und anderer Bannerträger des neuen Globalismus soll glauben machen, bei alldem handele es sich um einen gleichsam naturgegebenen Prozeß, Ergebnis eines unaufhaltsamen technischen und wirtschaftlichen Fortschritts. Das ist Unsinn. Die globale wirtschaftliche Verflechtung ist keineswegs ein Naturereignis, sondern wurde durch zielstrebige Politik bewußt herbeigeführt. Vertrag für Vertrag, Gesetz für Gesetz waren es immer Regierungen und Parlamente, deren Beschlüsse die Barrieren für den grenzüberschreitenden Verkehr von Kapital und Waren beseitigt haben. Von der Freigabe des Devisenhandels über den europäischen Binnenmarkt bis zur fortwährenden Ausdehnung des Welthandelsabkommens GATT haben Regierungspolitiker der westlichen Industrieländer systematisch jenen Zustand selbst heraufbeschworen, mit dem sie nun nicht mehr fertig werden.

Demokratie in der Falle

Die globale Integration ist begleitet vom Aufstieg einer wirtschaftspolitischen Heilslehre, die eine Heerschar von Wirtschaftsberatern fortwährend in die Politik trägt: des Neoliberalismus. Dessen Grundthese lautet vereinfacht: Der Markt ist gut, und staatliche Eingriffe sind schlecht. Ausgehend von den Ideen des führenden Vertreters dieser wirtschaftswissenschaftlichen Schule, des US-Ökonomen und Nobelpreisträgers Milton Friedman, erhoben die mehrheitlich wirtschaftsliberalen Regierungen des Westens während der achtziger Jahre dieses Dogma zur Richtschnur ihrer Politik. Deregulierung statt staatlicher Aufsicht, Liberalisierung von Handel und Kapitalverkehr sowie Privatisierung der staatlichen Unternehmen wurden die strategischen Waffen im Arsenal marktgläubiger Regierungen und der von ihnen gelenkten internationalen Wirtschaftsorganisationen, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Welthandelsorganisation (WTO). Mit diesen Instrumenten fochten sie einen Freiheitskampf fürs Kapital, der bis heute andauert. Ob Luftfahrt oder Telekommunikation, Banken oder Versicherungen, Bauindustrie oder Softwareentwicklung und eben auch die Arbeitskraft, nichts und niemand soll sich dem Gesetz von Angebot und Nachfrage entziehen.

Der Zusammenbruch der Parteidiktaturen des Ostblocks verschaffte diesem Glauben zusätzlichen Schub und globale Durchschlagskraft. Befreit von der Drohung der Diktatur des Proletariats, wird seitdem um so härter an der Errichtung der Diktatur des Weltmarktes gearbeitet. Plötzlich erscheint die massenhafte Teilnahme der Arbeitnehmer an der allgemeinen Wertschöpfung nur als ein Zugeständnis im Kalten Krieg, das der kommunistischen Agitation die Basis entziehen sollte.

Doch der "Turbo-Kapitalismus", dessen weltweite Durchsetzung jetzt unaufhaltsam scheint, zerstört die Grundlagen seiner Existenz: den funktionsfähigen Staat und demokratische Stabilität. Das Tempo der Veränderung und die Umverteilung von Macht und Wohlstand erodieren die alten sozialen Einheiten schneller, als das Neue sich entwickeln kann. Die bisherigen Wohlstandsländer verzehren die soziale Substanz ihres Zusammenhalts, schneller noch als die ökologische. Neoliberale Ökonomen und Politiker predigen der Welt das "amerikanische Modell ", doch diese Parole gleicht furchterweckend der Propaganda der DDR-Regierung, die bis zu ihrem Ende von der Sowjetunion das Siegen lernen wollte. Schließlich wird der gesellschaftliche Zerfall nirgendwo deutlicher als im Ursprungsland der kapitalistischen Gegenrevolution, den USA: Die Kriminalität hat epidemische Ausmaße angenommen. Im Bundesstaat Kalifornien, für sich genommen die siebtgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, übersteigen die Ausgaben für die Gefängnisse den gesamten Bildungsetat. Schon 28 Millionen Amerikaner, mehr als zehn Prozent der Bevölkerung, haben sich in bewachten Hochhäusern und Siedlungen verschanzt. Für private bewaffnete Wächter geben die US-Bürger doppelt soviel Geld aus wie ihr Staat für die Polizei.

Aber auch Europa und Japan, China und Indien spalten sich in eine Minderheit von Gewinnern und eine Mehrheit von Verlierern. Für viele hundert Millionen Menschen gilt: Der globalisierte Fortschritt ist gar keiner. Wie ein Hohn muß für sie die Formel klingen, welche die Regierungschefs aus den sieben führenden Industrienationen zum Leitmotiv ihres G-7-Gipfels Ende Juni 1996 in Lyon erhoben:

Aus der Globalisierung einen Erfolg zum Nutzen aller machen.

So trifft der Protest der Verlierer auf Regierungen und Politiker, deren Gestaltungsmacht kontinuierlich schrumpft. Egal, ob soziale Gerechtigkeit hergestellt oder die Umwelt geschützt werden muß, ob Medienmacht begrenzt oder die internationalisierte Kriminalität bekämpft werden soll: stets ist der einzelne Nationalstaat überfordert, und ebenso regelmäßig scheitert die internationale Konzertierung. Wenn aber Regierungen in allen existentiellen Zukunftsfragen nur noch auf die übermächtigen Sachzwänge der transnationalen Ökonomie verweisen, gerinnt alle Politik zu einem Schauspiel der Ohnmacht, und der demokratische Staat verliert seine Legitimation. Die Globalisierung gerät zur Falle für die Demokratie.

Nur naive Theoretiker oder kurzsichtige Politiker glauben, man könne, wie derzeit in Europa, Jahr für Jahr Millionen Menschen um Jobs und soziale Sicherheit bringen, ohne dafür irgendwann den politischen Preis zu bezahlen. Das muß schiefgehen. Anders als in der betriebswirtschaftlichen Logik der Konzernstrategen gibt es in demokratisch verfaßten Gesellschaften keine "surplus people", keine überflüssigen Bürger. Die Verlierer haben eine Stimme, und sie werden sie nutzen. Kein Grund zur Beruhigung: Dem sozialen Erdbeben wird das politische folgen. Sozialdemokraten oder soziale Christen werden so schnell keine neuen Triumphe feiern. Statt dessen wird sichtbar, wie immer mehr Wähler die stereotypen Formeln der Globalisierer wirklich ernst nehmen. Nicht wir sind es gewesen, die ausländische Konkurrenz ist schuld, erfährt der Bürger in jeder zweiten Nachrichtensendung aus dem Mund derer, die seine Interessen vertreten sollten. Von diesem – ökonomisch falschen – Argument ist es nur ein kleiner Schritt zur offenen Feindschaft gegen alles Fremde. Längst suchen Millionen verunsicherter Mittelstandsbürger ihr Heil in Fremdenhaß, Separatismus und der Abschottung vom Weltmarkt. Die Ausgegrenzten antworten ihrerseits mit Ausgrenzung.

Der national-autoritäre Populist Ross Perot fuhr 1992 bei seinem ersten Antritt zur Präsidentschaftswahl in den USA 19 Prozent der Stimmen ein. Ähnliche Wahlergebnisse erzielen der französische Prediger der nationalen Wiedergeburt Jean-Marie Le Pen und Österreichs radikaler Rechtspopulist Jörg Haider. Von Quebec über Schottland bis in die Lombardei verzeichnen auch Separatisten wachsenden Zulauf. Sie ergänzen den Kanon des Fremdenhasses um den Zorn auf Zentralregierungen und die Abgrenzung von den vermeintlichen Kostgängern in ärmeren Landesteilen. Gleichzeitig wächst in aller Welt die Masse vagabundierender Migranten, die dem Elend entfliehen wollen.
20:80, die Einfünftelgesellschaft, wie sie die elitären Visionäre im Fairmont-Hotel für das nächste Jahrhundert ausmalten, folgt durchaus der technischen und wirtschaftlichen Logik, mit der Konzernführer und Regierungen die globale Integration vorantreiben. Aber der Welt-Wettlauf um höchste Effizienz und niedrigste Löhne öffnet der Irrationalität die Türen zur Macht. Es sind nicht die wirklich Notleidenden, die rebellieren. Unkalkulierbare politische Sprengkraft entspringt vielmehr der Furcht vor Deklassierung, die sich jetzt in der Mitte der Gesellschaft ausbreitet. Nicht die Armut gefährdet die Demokratie, sondern die Angst davor.

Schon einmal führte die ökonomische Aufhebung aller Politik in die globale Katastrophe. 1930, ein Jahr nach dem großen Börsencrash, kommentierte das britische, stets kapitalfreundliche Magazin The Economist:

Das größte Problem unserer Generation besteht darin, daß unsere Erfolge auf wirtschaftlicher Ebene den Erfolg auf der politischen Ebene dermaßen übertreffen, daß Wirtschaft und Politik nicht miteinander Schritt halten können. Ökonomisch ist die Welt eine umfassende Handlungseinheit. Politisch ist sie zerstückelt geblieben. Die Spannungen zwischen den beiden gegensätzlichen Entwicklungen haben reihenweise Erschütterungen und Zusammenbrüche im gesellschaftlichen Leben der Menschheit ausgelöst.

Geschichte wiederholt sich nicht. Gleichwohl ist der Krieg noch immer das wahrscheinlichste Ventil, wenn soziale Konflikte unerträglich werden, und sei es in Form des Bürgerkriegs gegen ethnische Minderheiten oder abtrünnige Regionen. Die Globalisierung muß nicht zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen, aber sie kann, wenn es nicht gelingt, die entfesselten Kräfte der transnationalen Ökonomie sozial zu bändigen. Die bislang formulierten politischen Antworten auf die wirtschaftliche Vernetzung der Welt verneinen, daß dieser Prozeß überhaupt beherrschbar sei. Doch es gibt Instrumente und Wege, die Steuerung wieder in die Hand gewählter Regierungen und ihrer Institutionen zu legen, ohne die Nationen gegeneinander aufzubringen. Einige davon werden in diesem Buch vorgestellt und diskutiert.

Die vornehmste Aufgabe demokratischer Politiker an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert wird die Instandsetzung des Staates und die Wiederherstellung des Primats der Politik über die Wirtschaft sein. Geschieht dies nicht, wird die dramatisch schnelle Verschmelzung der Menschheit durch Technik und Handel schon bald ins Gegenteil umschlagen und zum globalen Kurzschluß führen. Unseren Kindern und Enkeln bliebe nur die Erinnerung an die goldenen neunziger Jahre, als die Welt noch geordnet schien und das Umsteuern noch möglich war.

Alles ist überall

Die Wucht der Globalisierung und der globale Zerfall

Die Bauern gehörten zur Herrschaft und die Herrschaft zu den Bauern, aber jetzt ist alles durcheinander, man versteht nichts mehr. Der Diener Firs in
Anton Tschechows Stück "Der Kirschgarten
"

Die Welt wird eins. Und am Anfang war das Bild von der einen Erde.

Fast drei Flugstunden von Peking entfernt, aber auch drei von Hongkong und zwei vom tibetischen Lhasa, liegt Chengdu. Allenfalls Liebhabern der scharfen chinesischen Küche ist das abgelegene Zentrum der Provinz Szetschuan mitten im Reich der Mitte ein Begriff, ausländische Reisende nähern sich der Stadt nur bei unfreiwilligen Zwischenlandungen. Dabei zählt Chengdu bereits 3,4 Millionen Einwohner und ist eines der am schnellsten wachsenden Stadtungeheuer der Welt.

Zwischen den Baustellen der neuen Hochhauswüsten zeigen Maos kunstvolle Plakatmaler, welches Gesicht jetzt der Fortschritt trägt. Umhüllt vom beißenden Staub der schon überfüllten, aber noch ungeteerten Straßenzüge, locken grelle Gemälde wie TV-Riesenleinwände die Passanten: schweinchenrosa die einstöckige Villa, griftgrün der Rasen, hellblau der Swimmingpool, glücklich das chinesische Paar vor seinem übergroßen Cabriolet.

Auch auf der anderen Seite des Erdballs, weit hinten in Amazonien und nahe der bolivianisch-brasilianischen Grenze, beherrscht die gleiche Verheißung das Straßenbild. Der Baukonzern Mendes Junior aus São Paulo wirbt im Regenwald großflächig für die gepflegte, naturvernichtende Einzelhausidylle nach US-Vorbild. In den muffigen Hütten am trüben Rio Purus debattieren junge Caboclos, die vermischten Nachfahren der Indianer und schwarzen Sklaven, über die Oberweite der Rettungsschwimmerin Pamela Anderson aus der kalifornischen TV-Serie "Baywatch", als wäre sie ein Mädchen von nebenan. Mit Videorecordern und Filmkassetten aus Hollywood bestechen Holzhändler die Handvoll verbliebener Indianerstämme im Bundesstaat Rondonia, um in den Reservaten die letzten Mahagonibäume fällen zu dürfen.

Die Macht der bewegten Bilder prägt inzwischen sogar die Ianomami-Indianer, für deren Einzigartigkeit sich unter anderem Rockstar Sting begeistert hatte, ebenso wie die Jugend im vermeintlich letzten Shangri-La, in Bhutan. In dieser buddhistischen Ökodiktatur am Fuße des Himalaya sind die Bewohner zwar gezwungen, stets einen kniebedeckenden Kittel zu tragen und mit mittelalterlichen Mitteln die Felder zu bestellen. Bewundert werden allerdings jene Einheimischen, die über die nationale Einheitstracht eine Lederjacke ziehen und mit Raubkopien von US-Filmen aus Indien handeln.

Selbst im fernen Osten Rußlands ist der "Denver Clan" längst heimisch. Der Leiter des Flughafens von Chabarowsk entrüstet sich ehrlich über Besucher, die glauben, ihm erklären zu müssen, was Der Spiegel sei. Jede Woche kann er ihn doch lesen, in Auszügen als Nachdruck in der regionalen Tageszeitung. An der Copacabana wiederum hißt ein Strandverkäufer an Wochenenden aus Überzeugung die deutsche Flagge. Der dunkle Mann ist kein Nachfahre germanischer Nationalisten, vielmehr bewundert er "die Gerechtigkeit in Deutschland, wo auch einfache Leute nicht arm sind".

Keine Frage: Müßte die Menschheit heute über einen Welt-Lebensstil abstimmen, sie könnte es. Mehr als 500 aktive Satelliten bestreichen inzwischen die Erde mit den Funksignalen der Moderne. Uniforme Bilder auf einer Milliarde Fernsehschirmen nähren die gleiche Sehnsucht an Amur, Jangtse, Amazonas, Ganges und Nil. Satellitenschüsseln und Sonnenkollektoren haben auch in stromfernen Gegenden wie im westafrikanischen Niger Millionen Menschen "von ihrem dörflichen Leben in eine planetare Dimension gestoßen", wie es Bertrand Schneider formuliert, der Generalsekretär des Club of Rome.

Die Abwehrschlacht des chinesischen Regimes gegen Faxbriefe, E-mail und Fernsehsender aus der Kapitalistenwelt dient nur mehr dem eigenen Machterhalt, nicht aber der Verteidigung eines anderen Gesellschaftskonzeptes. Wo TV-Bilder der universellen Warenwelt verpönt sind wie noch in Nordkorea und in den Ländern des Islam, machen doch Fotos und detailgenaue Erzählungen die Runde. Selbst im Iran gilt amerikanischer Heavy-Metal-Rock als populärste Musik unter den Teenagern der Mittelschicht. Auch Ajatollahs bekommen den Luftraum ihres Hoheitsgebietes nicht mehr unter Kontrolle.

Niemals zuvor hörten und wußten so viele Menschen so vieles über den Rest der Welt. Erstmals in der Geschichte eint die Menschheit eine gemeinsame Phantasie des Seins.

Könnten die knapp sechs Milliarden Erdenbürger tatsächlich per Völkerentscheid bestimmen, wie sie leben wollten, es gäbe eine überwältigende Mehrheit für ein Mittelstandsdasein wie in einem Vorort von San Francisco. Eine qualifizierte, informierte Minderheit würde sich zusätzlich die sozialen Standards der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren vor dem Mauerfall wünschen. Die Luxuskombination einer Karibik-Villa mit schwedischer Wohlfahrtsabsicherung wäre noch immer der Traum der Träume.

Disney über alles

Warum konnte sich gerade das kalifornische Lebensideal weltweit durchsetzen, warum siegte Disney über alles? Die nationale Größe des amerikanischen Marktes, die geopolitische Machtposition der USA nach dem Zweiten Weltkrieg und ihre Stärke in den Propagandaschlachten des Kalten Krieges spielten eine zentrale, aber nicht die allein entscheidende Rolle. Oder andersherum: Stalin wollte Omnipotenz, doch Mickey Mouse erreichte Omnipräsenz.

Medienmogul Michael Eisner, Präsident und Vorstandsvorsitzender der Walt Disney Company, pflegt sein Erklärungsmodell, "amerikanische Unterhaltung vermittelt eine Vielfalt individueller Möglichkeiten, individueller Wahl und individuellen Ausdrucks. Das ist es, was die Leute überall wollen." Unbekümmert fügt der Hollywood-Verkäufer hinzu:

Die US-Unterhaltungsindustrie bringt als Ergebnis der ungehinderten schöpferischen Freiheit eine Originalität hervor, wie sie an keinem anderen Platz der Welt zu finden ist.

Sein derzeit ausdrucksstärkster Kritiker ist Benjamin R. Barber, Direktor des Walt Whitman Center an der Rutgers University in New Jersey. Er fand die inzwischen klassische Formel "Jihad vs. McWorld" und nennt Eisners Vielfaltsthese

eine glatte Lüge. Dieser Mythos verwischt zwei entscheidende Punkte: die Art der Wahl und die angebliche Unabhängigkeit der Wünsche. In vielen amerikanischen Städten kann man beispielsweise zwischen Dutzenden Automodellen wählen, aber sich nicht für öffentliche Verkehrsmittel entscheiden. Und wie kann irgendwer den Anspruch ernst nehmen, der Markt gebe den Leuten nur, was sie wollen, wenn gleichzeitig eine Werbeindustrie mit einem Budget von 250 Milliarden Dollar existiert? Ist nicht auch der Fernsehsender MTV letztlich nur eine weltweite Werbung für die Musikindustrie, rund um die Uhr?

Der durchschlagende Erfolg der "Disney-Kolonialisierung der globalen Kultur", glaubt Barber, beruhe auf einer Erscheinung so alt wie die Zivilisation: dem Wettbewerb zwischen schwierig und leicht, langsam und schnell, komplex und einfach. Das jeweils erstere ist mit bewunderten kulturellen Leistungen verbunden, letzteres entspricht "unserer Gleichgültigkeit, Abgespanntheit und Trägheit. Disney, McDonald’s und MTV appellieren alle ans Leichte, Schnelle und Einfache."

Unabhängig davon, ob nun Eisner oder Barber die Ursachen des Hollywood-Triumphs richtig einschätzen, seine Folgen sind allgegenwärtig. "Cindy Crawford und Pocahontas starren dir an jeder Ecke ins Gesicht, wie Lenins Statuen in der früheren Sowjetunion. Das Trillern von Madonna und Michael Jackson ist der Muezzin der neuen Weltunordnung", beschreibt der kalifornische Zukunftsdenker Nathan Gardels das eintönige Blickfeld der Gegenwart.

Im Reich der großen Medienimperien geht die Sonne nicht mehr unter. Hollywood liefert als internationales Kraftzentrum den wichtigsten Rohstoff für den Postmaterialismus. Time Warner will sich mit Ted Turners Broadcasting Corporation und CNN zum Weltmarktführer verschmelzen, die Fusion von Disney und dem Fernsehsender ABC wäre der zweitgrößte Firmenaufkauf in der US-Wirtschaftsgeschichte. Sony besitzt Columbia Pictures, Matsushita verkaufte den Unterhaltungsriesen MCA 1995 an den Getränkemulti Seagram. Zwischen dem Persischen Golf und Korea herrscht der Australier Rupert Murdoch. Sein Satellitensender Star TV mit Sitz in Hongkong bestrahlt vier Zeitzonen, in denen die Hälfte der Erdbevölkerung lebt. Raum und Zeit überbrücken auf sechs Kanälen aparte chinesische, indische, malaysische oder arabische Moderatorinnen, die abwechselnd Mandarin oder Englisch sprechen. Mit Inbrunst bemüht sich Murdoch, über Beteiligungen an Kabelkanälen die Volksrepublik China in großem Stil zu erschließen. Bislang können erst 30 Millionen Festlandchinesen seine Programme legal und störungsfrei empfangen. Die Machthaber in Peking zieren sich noch, signalisieren aber bereits an Branchenkreise die Formel, mit der sich der Australier durchsetzen kann: "No sex, no violence, no news."

Die Mediengiganten, zu denen sich auch der deutschstämmige Riese Bertelsmann, dessen hartnäckiger Konkurrent Leo Kirch sowie Selbstinszenierer wie der Telekrat Silvio Berlusconi zählen, sind damit gut gerüstet für jenes Tittytainment, über das die Weltenlenker bei Treffen wie dem der Gorbatschow-Stiftung in San Francisco grübeln. Ihre Bilder beherrschen die Träume, und Träume bestimmen die Taten.

Der große Durst nach dem eintönigen "skrietsch"

Je grenzüberschreitender der Markt für die Bilder wurde, um so mehr engt er sich aber auch ein. Im Durchschnitt wendet die amerikanische Filmindustrie für einen Spielfilm 59 Millionen Dollar auf, eine Summe, bei der europäische oder indische Produzenten nicht annähernd mithalten können. In Technik und Ausstattung setzen die aufwendig gestalteten Streifen stets neue Maßstäbe, die ihre Konkurrenten nur selten erreichen können. So verstärkt sich der Sog Richtung Hollywood und New York noch.
Auch die versprochene zukünftige Vielfalt der 500 Fernsehkanäle in jedem Haushalt ist nur eine scheinbare. Wenige Marktführer werden auf vielen Sendeplätzen ihre Waren verformen und recyceln, jeweils zielgruppengerecht. Daneben fördert die Jagd nach der größten Einschaltquote den Konzentrationsprozeß. Die Übertragungsrechte für wichtige Sportveranstaltungen etwa sind nur noch mit enormen Werbeeinnahmen finanzierbar, die aber lediglich größere Sendeanstalten oder internationale Vermarkter erzielen können. Für Spots und Sponsoring wiederum interessieren sich nur Hersteller, die auch im ganzen Sendegebiet präsent sind, vor allem multinationale Konzerne. Lediglich zehn Großunternehmen bezahlen in Deutschland inzwischen fast ein Viertel der gesamten TV-Werbung. Interkontinental einsetzbare Werbeeinschaltungen von 90 Sekunden Länge kosten so viel wie ein durchschnittlicher europäischer Spielfilm.

Die Werbeagenturen schließlich bedienen sich der Versatzstücke einer gemeinsamen Traumheimat ihrer Kunden. Das deutsche Massenpublikum hat New York und den Wilden Westen bereits so liebgewonnen, daß der TV-Sender RTL mehr als die Hälfte seiner Reklamespots rund um das Endspiel der Fußball-Champions-League im Mai 1996 mit Klischees aus dieser scheinbar vertrauten, fernen Welt bestritt. Statt bei Capri versinkt die rote Sonne jetzt hinter der Golden-Gate-Brücke im Meer mit Beck’s Bier, die Continental-Reifen quietschen nicht mehr dem deutschen Boden nahe auf dem Nürburgring, sondern raffiniert geschnitten über den Hochhausschluchten von Manhattan.

Die rückgekoppelten Verstärker der Weltangleichung treiben die Entwicklung immer weiter. Ein konsequentes Endprodukt im Kulturbereich wäre ein monotoner globaler US-Einheitston "screech" ("skrietsch"), wie ihn der New Yorker Videokünstler Curt Royston prophezeit. Fast zur Bestätigung imitiert seit Jahren eine lärmende junge Kulturavantgarde vom sibirischen Tomsk bis Wien und Lissabon in Ausstellungen detailgetreu die New Yorker Szene vor zwei Jahrzehnten: bemüht grell, angestrengt schrill, voller höllisch kreischender TV-Monitoren – wie langweilig. Daß anregende Stille in einer Zeit, in der alle schreien, als Alternative viel provokanter und substantieller sein kann, spricht sich erst zögerlich herum.

Roystons Skrietsch-Vision kamen auch die drei Tenöre José Carreras, Plácido Domingo und Luciano Pavarotti bei ihrer Welttournee 1996 schon auf Hörweite nahe: In den ausverkauften Stadien von München bis New York konnten unzählige Besucher kaum mehr als die Grundmelodie ihrer klassischen Ohrwürmer wahrnehmen. Das ansonsten uniforme Potpourri enthielt aber an jedem Ort etwas Unverwechselbares, das den Kartenkäufern stets das Gefühl vermitteln sollte, etwas Einzigartiges erlebt zu haben. Abgestimmt auf den jeweiligen Kulturkreis, durfte das Publikum auf vier Kontinenten bei der Zugabe dahinschmelzen. Den Japanern trugen die drei Global Singers "Kawa-no nagare nayomi" vor, die schmachtende Weise vom ewig fließenden Fluß. An der niemals blauen Donau wiederum, die derzeit justament vor der Wiener Tenor-Spielstätte des Praterstadions aufgestaut wird, erklang exklusiv vor 100.000 überwiegend neureichen deutschen, tschechischen und ungarischen Ohren der Schunkelhit "Wien, Wien, nur du allein".

Bei ihrer national berechnenden Sensibilität darf sich das Belcanto-Verzückertrio auf den weltweit unerreichten Kehlenverführer Coca-Cola berufen. Der Softdrink-Riese bietet seine braune Brause in China und Japan in verschiedenen Geschmackssorten an, gesüßt je nach kulturellen Vorlieben und Eigenheiten eines Landesteils. Im olympischen Sommer 1996 empfahl sich Coca-Cola in seinen transkonrinental verbreiteten Werbespots "for the fans", im schwülen Atlanta hingegen richtete sich der einfühlsame Multi in dicken Lettern auf den Athletenbussen an die schwitzenden Live-Zuschauer der Spiele: "Cheering is thirsty work", Anfeuern ist eine durstmachende Arbeit.

Auch in Europa wandelt sich das Kulturgut Sport zusehends zum Angebot für eine designfixierte Spaßgesellschaft, die Mogelpackungen bejubelt. Fifa-Präsident João Havelange wünscht sich bei Fußballspielen mehr Pausen für Werbeblöcke wie im US-Football, die deutsche Bundesliga sucht eine neue Identität nahe der amerikanischen National Basketball Association. Die Begeisterung für ein Image tritt an die Stelle eines kulturell gewachsenen Zugehörigkeitsgefühls, Bayern München setzt in Hamburg mehr Trikots ab als die heiden örtlichen Bundesligisten HSV und St. Pauli. Allein mit dem Verkauf von Fanartikeln erreichen die Spitzenklubs bereits größere Umsätze als noch Anfang der neunziger Jahre mit ihren gesamten Klubeinnahmen, inklusive der Fernsehrechte. Da Kontroversen immer schwerer aus den traditionellen Städtevergleichen entstehen, "müssen sie künstlich erzeugt werden, eben Spieler gegen Spieler, Spieler gegen Trainer, Trainer gegen Präsidien", erläutert der Sportforscher Hans J. Stollenwerk.

Wie ein erdumkreisender Pflug hat sich die milliardenfache Nachfrage nach der global beworbenen Warenflut durch die Geschäftsstraßen aller Weltstädte gegraben. Die "Transformierung des Durstes in ein Bedürfnis nach Coca-Cola", wie Gesellschaftskritiker Ivan Illich den Prozeß einst höhnisch bezeichnete, ist vollzogen. In den Metropolen dominieren die bekannten Schriftzüge, von Calvin Klein über Kodak bis Louis Vuitton. Gedanken und Produkte folgen den Filmangeboten der wenigen verbliebenen Kinos und dem Musikgeschmack: Sie gleichen sich an, oft in vernichtendem Tempo für alteingesessene nationale Anbieter.

Das jüngste Opfer ist die ehemalige k.u.k. Hauptstadt Wien. Unzählige kleine Geschäfte, die mit ihren eigenwilligen Produktpaletten den Schaufenstern in der Wiener Innenstadt eine angenehme Unverwechselbarkeit verliehen, mußten seit Österreichs Beitritt zur Europäischen Union Anfang 1995 aufgeben, zumal gleichzeitig die strengen Mietpreisregelungen aufgehoben wurden. Internationale Handelsketten übernehmen die besten Lagen, dröge Schnellimbisse, aufreizende Unterwäschefirmen und geruchlose Drogeriemärkte eröffnen ihre sterilen Filialen.

Die Zeit der Städte

Der städtische Mittelstand der florierenden Wirtschaftszentren bewegt sich mit ungeahnter Selbstverständlichkeit auf dem schrumpfenden blauen Planeten, bei Geschäftsreisen gleichermaßen wie im Urlaub. Bereits 90 Millionen Menschen haben regelmäßigen Zugriff aufs weltumspannende Internet, jede Woche werden es eine halbe Million mehr. Eine Wiener Photographin, die in Vorarlberg geboren wurde, kennt heute den New Yorker West Broadway besser als Innsbruck, ein Londoner Börsenmakler fühlt sich seinen Kollegen in Hongkong enger verbunden als einem Bankfilialleiter in Southampton. Gemeinsam halten sie sich für aufgeschlossene Weltbürger, fernab vom Gefühl, daß ihre globalen "connections" oft sehr provinziell und auf das eigene Milieu beschränkt sind. Journalisten, EDV-Systemspezialisten oder Schauspieler reisen mehr und angestrengter als Diplomaten und Außenpolitiker: Am Morgen noch in einer ungarischen Kleinstadt beim verzweifelten Kunden oder anregenden Gesprächspartner, am Nachmittag zu einem Termin in Hamburg, am Abend bei der neuen, aber auch schon fast wieder verlorenen Freundin in Paris, tags darauf in der Firmenzentrale irgendwo, und dann ab in die USA oder nach Fernost. Wer beim Aufwachen einige Sekunden benötigt, um zu begreifen, auf welchem Kontinent er soeben geschlafen hat, zählt zur Avantgarde im Klub der permanenten Weltreisenden. "Paß auf, daß du dir beim Einchecken am Flughafen nicht selbst begegnest, wie du schon wieder zurückkommst", witzeln wie einst bei Hans-Dietrich Genscher die wenigen Freunde, die solchen Menschen in ihrer Rastlosigkeit bleiben. Dabei werden sie von vielen beneidet, um ihre Flexibilität, um ihr Einkommen, um ihre Weltläufigkeit eben.

Doch in den berühmtesten Hotelbars, im Raffles in Singapur, im Savoy in Moskau oder im Copacabana Palace in Rio de Janeiro, weinen sich die gehetzten Dienstboten der Global Player aus, spätnachts, wenn die alten Schulkollegen aus dem Heimatort, die sie zufällig auf der Straße trafen, weil die sich alle paar Jahre einmal als Touristen in die weite Welt wagen, längst staunend in ihren Billigbetten liegen. Fernab von allem und von sich selbst bricht sie dann hervor, die lähmende Leere und Einsamkeit, die sich spätestens nach dem achten Interkontinentalflug innerhalb eines Jahres ausbreitet. Global zwar, aber monoton und unbelastbar ist letztlich das Vertrautheitspolster, auf dem sich die unendlichen Vielflieger ausruhen können: Rund um den Erdball sind sie eingesperrt in verläßlich abstoßenden, aber zum Verwechseln ähnlichen Flughäfen, Hotelketten, Kettenrestaurants, betäubt mit der gleichen Auswahl an Videokassetten im klimatisierten, aber muffigen Hotelzimmer. Die Seele der Rastlosen reist nicht so schnell wie der Körper, die Kraft fürs Einlassen auf das andere, Fremde, wirklich Neue gab es nie oder ist längst verflogen. So ist man überall und bleibt doch am gleichen Ort, hat alles gesehen und sieht doch nur, was man längst kennt – und sammelt Bonusmeilen bei den Fluggesellschaften wie die Daheimgebliebenen ihre Telefonkarten, Briefmarken oder Bierdeckel.

Dennoch ist solche Beweglichkeit richtungweisend, zumindest Orientierungsleuchte auf dem schallschnellen Jetflug in die Zukunft, die ein aufwühlend neues Weltgefüge verspricht. Ein dichtes Gewebe elektronischer Netzwerke, digitaler Satelliten-Telefone, hochleistungsfähiger Flughäfen und steuerbefreiter Industrieparks dürfte schon kurz nach der Jahrtausendwende etwa 30 weitläufige Stadtregionen miteinander verknüpfen, in denen jeweils acht bis 25 Millionen Einwohner leben werden. Die Metropolen sind wie zufällige Lichtflecken über den Globus verstreut, über Tausende Kilometer hinweg glauben sich die Bewohner einander näher zu sein als ihren jeweiligen Nachbarn im Hinterland, das bislang ihre Geschichte bestimmte.

Die Macht wird bei einem "Bündnis von weltweit agierenden Händlern und Stadtregierungen liegen, die vor allem die Wettbewerbsfähigkeit jener globalen Firmen fördern, die sie beherbergen", erwartet der italienische Futurologe Riccardo Petrella. Schon jetzt sind die Zentren Asiens überall auf der Überholspur. Jugendliche auf allen Kontinenten wachsen, im Vergleich zu ihren Eltern, mit einem gänzlich veränderten globalen Städtebild auf. Nicht mehr Paris, London und New York glänzen mit Superlativen, auch nicht Moskau oder Chicago. Das höchste Gebäude der Welt wirft seit März 1996 in Malaysias Hauptstadt Kuala Lumpur seine Schatten, die meisten Baukräne überragen derzeit keineswegs die Dächer von Berlin, sondern die von Peking und Schanghai.

Zwischen Pakistan und Japan drängen ein Dutzend boomender Regionen als neue Spieler auf die globale Konkurrenzbühne und wetteifern um Rollen, wie sie die westliche Städtewelt in den vergangenen Jahrzehnten geprägt hat. Bangkok etwa will den Part Detroits als Autometropole übernehmen. Die japanischen Hersteller Toyota, Honda, Mitsubishi und Isuzu montieren schon längst in Thailand ihre Wagen, Chrysler und Ford bauen ihre dortigen Niederlassungen zum Stützpunkt ihrer Konzerngeschäfte in Südostasien aus.

Taipeh sieht sich in der Nachfolge des Silicon Valley, ohnehin liegt Taiwan bei der Produktion von Monitoren, Computermäusen und Bildscannern weltweit mit vorn. Malaysia will mit High-Tech-Exporten prosperieren wie einst das Ruhrgebiet mit seiner Stahlverarbeitung. Bombay wiederum produziert schon 800 Spielfilme im Jahr, viermal mehr als Hollywood. Die Büromieten dort überflügeln die bisherigen Rekordmarken in Japan.

Um die Hauptrolle als Nervenzentrum der neuen Superstädte Asiens, mithin als Widersacher von Tokio und New York, buhlt vor allem Schanghai. "Bis 2010 wollen wir das internationale und finanzielle Geschäftszentrum im westlichen Pazifik sein", erklärt Hu Yangzhao, Chefökonom der städtischen Planungskommission. In der wohl größten urbanen Umgestaltung seit der Neuerschaffung von Paris durch Baron Haussmann im 19. Jahrhundert wird das alte Schanghai fast abgerissen – und an seiner Stelle eine neue Stadt erbaut. Eine Viertelmillion Haushalte mußte die Innenstadt bereits verlassen, weitere 600.000 sollen noch umgesiedelt werden. Dafür haben 40 der 100 größten multinationalen Firmen Büros eröffnet. Siemens will sich am U-Bahn-Bau beteiligen, bei Volkswagen-Schanghai rollen in diesem Jahr 220.000 Pkw von den Bändern, vom Jahr 2000 an sollen es zwei Millionen sein. Die britische Kronkolonie Hongkong, die 1997 an die Volksrepublik China zurückfällt, will dagegenhalten. "Die Geographie ist auf unserer Seite", argumentiert der Großbanker Clint Marshall. Allein 20 Milliarden Dollar fließen in ein neues Flughafenprojekt, nur 20 Kilometer entfernt beliefert schon jetzt die prosperierende chinesische Provinz Guandong die globalen Märkte.

Der ökonomische Aufbruch Chinas ist inzwischen Gemeinplatz, und doch birgt er süßsaure Überraschungen. Mit der "sozialistischen Marktwirtschaft" des Deng Xiaoping kann das Land um das Jahr 2000 zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Erde aufsteigen – vor Japan und Deutschland. Während noch in den sechziger Jahren die Gymnasiallehrer Europas vor ihren Schülern die heranstürmende "Gelbe Gefahr" beschworen und nichts geschah, sind sie jetzt da, die Männer aus dem Reich der Mitte. Arbeiter von Schanghais Metallurgie-Konzern Meishan werken in Neapel fast rund um die Uhr. Sie zerlegen eine 24.000 Tonnen schwere Gußstahlanlage auf dem 100 Hektar großen Gelände der stillgelegten Fabrik des italienischen Stahlkonzerns Bagnoli. Im Sommer 1997 sollen die Teile wieder zusammengeschweißt sein, 14.000 Kilometer entfernt in der Hafenstadt Nanjing am Jangtse-Fluß. Auch Thyssen Stahl demontiert einen nicht ausgelasteten Hochofen für den Export nach Indien, Österreichs Voest-Alpine veräußerte ein gesamtes, obsoletes LD-2-Stahlwerk aus Linz nach Malaysia. Die Käufer aus Fernost erwerben Qualitätsware, sie sind die letzten, die von den jahrzehntelangen Milliardensubventionen für Europas Stahlindustrie profitieren.

Mit kaum noch faßbarer Geschwindigkeit kommt so die Globalisierung voran – diese "Vereinigung der Pfützen, Teiche, Seen und Meere von dörflichen, provinziellen, regionalen und nationalen Wirtschaften zu einem einzigen globalen Wirtschaftsozean, der die kleinen Bereiche riesigen Wogen wirtschaftlichen Wettbewerbs statt wie früher nur kleinen Wellen und ruhigen Gezeiten aussetzt", wie der Ökonom Edward Luttwak das neue Zeitalter beschreibt.

Die ganze Welt ist ein einziger Markt, scheinbar gedeiht der friedliche Handel. Geht damit nicht ein Menschheitstraum in Erfüllung? Sollten wir Bewohner der bislang wohlhabenden Industriestaaten uns nicht freuen über den Aufstieg so vieler Entwicklungsländer? Ist der globale Frieden nicht greifbar nahe?
Nein.

Die Vision des kanadischen Vordenkers Marshall McLuhan vom "global village", von der Welt als homogenem Dorf, hat sich keineswegs erfüllt. Während Kommentatoren und Politiker diese Metapher unablässig strapazieren, zeigt sich, wie wenig die wirkliche Welt zusammenwächst. Zwar verfolgen mehr als eine Milliarde Fernsehkonsumenten beinahe zeitgleich den Boxkampf zwischen Axel Schulz und Michael Moorer im Juni 1996 im Dortmunder Westfalenstadion. Mit 3,5 Milliarden Zuschauern wird die Eröffnungszeremonie der olympischen Jahrhundertspiele in Atlanta das weltverknüpfendste TV-Ereignis dieses Jahrtausends gewesen sein. Aus einer universalen Bilderwelt beim Schlagabtausch und Sportwettkampf entsteht jedoch noch lange kein wechselseitiger Austausch, keine Verständigung untereinander. Mediale Nähe und Gleichzeitigkeit erzeugen noch lange keine kulturelle Verbundenheit, erst recht keine ökonomische Angleichung.

Die olympische Offenbarung

Noch ehe anonymer und damit typisch rechter Terror ein grelles Licht der gesellschaftlichen Zerwürfnisse in den USA auf die olympischen Fernsehspiele warf, stellten die Veranstalter in Atlanta die Falschheit ihrer Völkerverbindung selbst bloß. Schamlos degradierten sie zunächst 85.000 Besucher, die 636 Dollar pro Eintrittskarte für die Eröffnungsfeier ausgegeben hatten, zu zahlenden Statisten in einer berauschenden Bilderflut. Bunte Tücher, Taschenlampen und Kartons mußten jeweils auf Kommando kameragerecht geschwenkt werden. Zum zelebrierten Star des Abends avancierte das Wort "Traum", das die Propagandisten Amerikas noch lieber beschwören als ihren Freiheitsbegriff. Atlanta sei ein "Meilenstein in einem Traum", verkündete das opulent-kitschige Programmheft. "The power of the dream" besang die Chanteuse Celine Dion, ein Gedicht von Edgar Allan Poe strahlte von der Anzeigentafel minutenlang ins Publikum: "Träume träumen, die kein Sterblicher je zuvor zu träumen wagte". Schließlich hallte der historische Satz des schwarzen Bürgerrechtskämpfers Martin Luther King durch die Reihen: "Ich hatte einen Traum."

Ja, welchen denn? Etwa den, daß drei Jahrzehnte nach seiner Ermordung die fast ausschließlich hellhäutigen amerikanischen Vorstadtbürger im prächtigen neuen Stadionoval seiner Heimatstadt wohlig schauern, wenn seine bebende, aber nur undeutlich aufgenommene Stimme von einer kunstvoll aufbereiteten Tonkassette abgespielt wird? Oder hatte Luther King je zu träumen gewagt, daß zur Olympiade die fast ausschließlich dunkelhäutigen Obdachlosen Atlantas mit Bussen aus dem Stadtzentrum weggekarrt werden, um nicht den internationalen Kamerateams die Bilder der amerikanischen Wirklichkeit aufzudrängen?

In dieser US-Südstaaten-Metropole jedenfalls, die mit ihren gesäuberten Slums und großmächtigen Wolkenkratzern so verkommen reich wirkt wie Malaysias emporstrebende Hauptstadt Kuala Lumpur, sind schwarz und arm Synonyme geblieben. Mit selbstschützendem Zynismus kommentiert die sozial sensible TV-Produzentin Barbara Pyle, eine leitende Mitarbeiterin von Ted Turners Medienmulti in Atlanta, die richtungweisenden Rekordspiele von 1996:

Bislang lagen zwischen den Hochhäusern von CNN und Coca-Cola einige schwarze Armenviertel mit billigen Wohnungen. Sie sind für den Jahrhundert-Olympiapark des sogenannten "AT&T-Global Olympic Village" geschleift worden, und in Zukunft können die Angestellten der beiden Unternehmen unbehelligt zwischen den Firmenzentralen spazierengehen.

Die eine Welt zerfällt

Auftrumpfende und hochtechnisierte Stadtmaschinen wie die von Atlanta dominieren inzwischen den Erdball, jedoch zunehmend als isolierte Inseln. Der weltumspannende Reichtumsarchipel besteht zwar aus aufblühenden Enklaven. Doch auch in bisherigen Entwicklungsländern sind die Kuala Lumpurs lediglich Zitadellen der globalen Ökonomie. Der größte Teil der Welt mutiert hingegen zu einem Lumpenplaneten, reich nur an Megastädten mit Megaslums, in denen sich Milliarden Menschen notdürftig durchschlagen. Jede Woche wachsen die Städte um eine Million Menschen.

Gleichzeitig hat sich "unsere verlegene Gleichgültigkeit in eine selbstgefällige Gleichgültigkeit verändert", warnte der französische Präsident François Mitterrand im März 1995. "Jedes Interesse an Entwicklungshilfe ist dahingeschmolzen. Jedes Land, so scheint es, sorgt sich nur noch um seinen Hinterhof." Im Jahr nach dem Tod des schillernden Staatsmannes ist selbst dieser Hinterhof zu einem Lichtschacht geschrumpft.

358 Milliardäre sind gemeinsam so reich wie insgesamt 2,5 Milliarden Menschen, fast die Hälfte der Weltbevölkerung. Die Ausgaben der Industriestaaten für die Dritte Welt sinken und sinken, 1994 betrugen sie in Deutschland noch 0,34 Prozent der Wirtschaftskraft, 1995 waren es mit 0,31 Prozent noch einmal 10 Prozent weniger (Österreich 1995: noch 0,34 Prozent). Zwar trifft zu, daß inzwischen private Investitionen aus wohlhabenden Ländern die staatlichen Entwicklungshilfegelder übertreffen, doch davon profitieren nur wenige Regionen. Die erwartete Kapitalrendite der Anleger liegt "wegen des Risikos" oft bei jährlich 30 Prozent, etwa beim Wasserleitungsbau in Indien und Indonesien. Insgesamt steigen die Schulden der Entwicklungsländer trotz der gebetsmühlenhaften Versprechen der Regierungen des Nordens, einen einschneidenden Nachlaß zu gewähren, immer weiter an. 1996 kletterten die Verbindlichkeiten auf 1,94 Billionen Dollar und sind damit beinahe doppelt soviel wie noch zehn Jahre zuvor.

"Es ist vorbei", erklärt folgerichtig der ägyptische Schriftsteller Mohammed Sid Ahmed. "Der Nord-Süd-Dialog ist so tot wie der Ost-West-Konflikt. Die Idee der Entwicklung ist tot. Es gibt keine gemeinsame Sprache mehr, nicht einmal einen Wortschatz für die Probleme. Süd, Nord, Dritte Welt, Befreiung, Fortschritt, all diese Ausdrücke ergeben doch keinerlei Sinn mehr."

Hilfe, so der anschwellende Bocksgesang in Europa und den USA, haben doch längst wir selbst nötig. Wir, so empfinden es Millionen Wähler selbst in den boomenden Stadtregionen, sind doch die Betrogenen der neuen Zeiten. In der lähmenden Angst um Arbeitsplatz, Karriere und Kinderzukunft beschleicht Grübler ein neues Mißtrauen: Wird sich der gegenwärtig noch so selbstverständliche westliche Mittelstandswohlstand in der historischen Perspektive lediglich als ein großes KaDeWe darstellen, jenes subventionierte Berliner Luxuskaufhaus also, das im konsumarmen kommunistischen Osten Furore machte, aber für Westeuropas Lebensstandard entgegen aller Propaganda keineswegs repräsentativ war?

Da sich die Gesellschaft ökonomisch weiter spaltet, suchen verunsicherte Menschen ihr politisches Heil immer öfter in Abgrenzung und Abspaltung. Dutzende neue Staaten mußten in den vergangenen Jahren in die Landkarten eingetragen werden, bei der Olympiade von Atlanta zogen schon 197 nationale Mannschaften ins Stadion ein. Italiener und selbst die Schweizer ringen um ihre Identität, die nationale Einheit steht auf dem Spiel. 50 Jahre nach der Gründung der "Repubblica Italiana" stimmen bis zu 50 Prozent der Bürger in den Provinzen zwischen Ventimiglia und Triest für die Protestbewegung Lega Nord, deren Führer Umberto Bossi aufruft, die Übertragungsstationen des nationalen Rundfunk- und Fernsehsenders RAI zu sprengen. Für den 15. September 1996 kündigte Bossi gar die Ausrufung eines unabhängigen Staates an. Auch in anderen Weltregionen zerfallen prosperierende Länder. So wollen etwa die bislang friedvollen karibischen Urlaubsinseln St. Kitts und Nevis ihre Föderation aufgeben.

Kanada und Belgien sind vom Streit ihrer Sprachgruppen gelähmt. In den Vereinigten Staaten, deren babylonische Einwanderungsströme so lange eine gemeinsame nationale Sprache akzeptierten, verweigern sich Millionen zugezogener Hispanics auch in zweiter und dritter Generation dem Englischen. Der Tribalismus erstarkt allerorten, in vielen Gebieten droht der Rückfall in einen gewalttätigen Nationalismus oder regionalen Chauvinismus.

Im Gegensatz zu den traditionellen Kriegen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts werden die meisten Kriege nunmehr nicht zwischen, sondern innerhalb von Staaten geführt. 1995 folgten noch lediglich zwei von 50 weltweiten bewaffneten Konflikten dem vertrauten Muster: die Kriege zwischen Peru und Ekuador sowie zwischen dem Libanon und Israel. Die neuen Auseinandersetzungen innerhalb nationaler Grenzen finden allerdings kaum internationale Beachtung. Dabei kamen etwa in Südafrika im Jahr nach dem Ende der Apartheid 17.000 Menschen durch Gewalttaten ums Leben – mehr, als der 16 Jahre dauernde Bürgerkrieg gefordert hatte.

Mit verhängnisvollen Verdrängungsmechanismen reagiert die Weltgemeinschaft auf die kulminierende Tragödie des afrikanischen Kontinents. Neun der 21 US-Außenstellen für Auslandshilfe, die bis 1999 geschlossen werden sollen, liegen auf diesem Erdteil, der von vielen schon verlorengegeben wird. "Dabei ist Afrika für die zukünftige Weltpolitik vielleicht ebenso relevant, wie es der Balkan vor hundert Jahren war, vor den beiden Balkankriegen und dem Ersten Weltkrieg", vermutet der nordamerikanische Drittweltspezialist Robert D. Kaplan. "Gerade weil ein großer Teil Afrikas vor dem Abgrund steht, liefert es einen Vorgeschmack darauf, wie Kriege, Grenzen und ethnische Politik in einigen Jahrzehnten aussehen werden."

Die Städte zwischen Sierra Leone und Kamerun, allen voran Freetown, Abidjan und Lagos, zählen nachts zu den gefährlichsten der Welt, in der Hauptstadt der Elfenbeinküste sind zehn Prozent der Bewohner HIV-positiv. "Es gibt keinen anderen Ort auf diesem Planeten, wo die politischen Landkarten so trügerisch, ja so verlogen sind wie in Westafrika", urteilt Kaplan. Mit Ruanda, Burundi, Zaire und Malawi werden auch andere afrikanische Staaten zum Inbegriff von Stammes- und Bürgerkrieg.
Da sich 95 Prozent der weltweiten Bevölkerungszunahme auf die ärmsten Gebiete des Erdballs konzentrieren, lautet die Frage kaum noch, ob es neue Kriege geben wird, sondern von welcher Art sie sein werden und wer gegen wen kämpfen wird. 17 von 22 arabischen Staaten meldeten 1994 eine sinkende Wirtschaftsleistung, in vielen dieser Länder dürfte sich aber die Einwohnerzahl in den kommenden beiden Jahrzehnten noch einmal verdoppeln. Wasser wird bald in unterschiedlichen Regionen knapp, in Zentralasien ebenso wie in Saudiarabien, Ägypten und Äthiopien. In so einem Umfeld "wird der Islam gerade wegen seiner Militanz für die Unterdrückten attraktiv. Diese am schnellsten wachsende Religion der Welt ist die einzige, die zum Kampf bereit ist", bilanziert Kaplan. Sezessionisten und religiöse Eiferer finden damit immer größeren Zulauf, von Marokko über Algerien bis Indien und Indonesien.

Bereits im Sommer 1993 veröffentlichte Harvard-Professor Samuel P. Huntington einen Essay in der Zeitschrift Foreign Affairs, dem US-Renommierblatt für Intellektuelle der Außenpolitik, mit der berühmt gewordenen Frage in der Überschrift: "The Clash of Civilizations?" Seine These, wonach nicht mehr gesellschaftstheoretische und ordnungspolitische Konflikte wie zu Zeiten des Kalten Krieges, sondern religiöse und kulturell bedingte Auseinandersetzungen zwischen Zivilisationen die Zukunft bestimmen würden, erregte vor allem in den westlichen Industrieländern enorme Aufmerksamkeit. Uralte Ängste, wonach Europa, je nach Jahrhundert, von den Hunnen, Türken oder Russen überrannt wurde, fanden bei Huntington ihre gefällige Bestätigung. Doch sind sie berechtigt? Wird letztlich, wie der Harvard-Stratege darlegt, der demokratische Westen mit dem Rest der Welt zusammenprallen, mit einem Bündnis aus Despoten und Theokraten à la Saddam Hussein oder Ayatollah Khomeini, unterstützt gar von effizienten konfuzianischen Lohndrückern?

Zweifel sind mehr als angebracht, zumal in der neuen, enträumlichten Welt der eng verbundenen Städte die bisher wohlhabenden Länder ihre eigenen sozialen Netze mit verblüffendem Tempo durchlöchern und damit politische Spannungen im Westen provozieren. Gleichzeitig verbindet die globale Einheitskultur die nationalen Eliten. Vor allem aber ist das aufstrebende Asien alles andere als ein homogenes Gebilde. Auflösung und Fragmentierung bedrohen auch das Reich der Mitte. "China läuft doch gegen eine Mauer", meint Timothy Wirth, Amerikas erster Staatssekretär für globale Fragen und ein enger Vertrauter des Präsidenten Bill Clinton. "Der Zerfall Chinas könnte schon bald zum alles beherrschenden Thema werden."

Die chinesischen Bauern haben ihr kümmerliches Landleben satt. Vor lediglich zwanzig Jahren konnten sie im staatlich kontrollierten Radio nichts über die vergleichsweise gutgestellten Städter erfahren. Selbst wenn ihnen jemand davon erzählte und sie in die Stadt ziehen wollten, wurden sie von den rigiden Polizeikontrollen entlang den Provinzstraßen sofort gestoppt. Jetzt aber reihen sie sich ein in das Heer der Entwurzelten, die auf der Suche nach Überlebensplätzen in Slums untertauchen, fernab jeder Überwachung durch die Kommunistische Partei und Nachbarschaftskomitees. Mehr als 100 Millionen Menschen stark ist schon die Masse vagabundierender Migranten, die körperlich spürbar macht, welch ungeheurer Druck auf dem bevölkerungsreichsten Land der Erde lastet.

Auch Indien, das noch vor der Jahrtausendwende das zweite Milliardenvolk auf dem Planeten beherbergen wird, gerät unter zunehmenden Streß. Bombay und Neu-Delhi verdrängen Mexiko-Stadt und São Paulo aus den Schlagzeilen über die Horrorstädte. In beiden Stadtmonstern leben heute jeweils mehr als zehn Millionen Menschen, in weniger als zwanzig Jahren soll sich die Zahl fast noch einmal verdoppeln. Bald wird auch Pakistans bislang wenig beachtete Metropole Karatschi für internationales Aufsehen sorgen: Die Einwohnerzahl dürfte von gegenwärtig knapp zehn Millionen auf mehr als 20 Millionen bis zum Jahr 2015 emporschnellen.

Die Verwalter Neu-Delhis erkennen oft erst auf Satellitenbildern, wo ihre Metropole schon wieder wächst – ungeplant, unkontrolliert und ungenehmigt. Tagsüber verwandeln sich die Straßen in Rauchtunnel, drei Meter breit, hundert Meter hoch. Die ganze Stadt hustet im Qualm der knatternden "Phut-Phuts", der billigen Motor-Rikschas. Ein Drittel aller Kinder leidet unter allergischer Bronchitis, die handelsübliche Medikamente allenfalls kurzfristig lindern können. 2200 Menschen sterben jedes Jahr im Verkehr, im Verhältnis zur Autozahl dreizehnmal mehr als in den USA. Ein Minister des Landes nannte Neu-Delhi, das bis in die siebziger Jahre als "Gartenstadt" gerühmt wurde, das "ökologische schwarze Loch in Asien", für Menschen "eigentlich unbewohnbar".

In Bombay, seit Indiens wirtschaftlicher Öffnung "der teuerste Slum der Welt" (so der Kolumnist Sudhir Mulji), riechen Taxis am Morgen verläßlich nach Schlaf, ihre Fahrer können sich einen stundenlangen Heimweg nicht leisten. Täglich müssen 2000 Tonnen Müll von den Straßen geräumt werden, Hunderttausende Toiletten würden gebraucht, die Stadtverwaltung kann nicht einmal zwei Drittel des benötigten Wassers bereitstellen.

Dennoch ziehen die Millionen Land- oder Kleinstadtbewohner keineswegs wie ignorante Lemminge in die Megalopolen. Eine Studie über Neu-Delhi ergab, daß sich die meisten Zuwanderer erst zum Umzug entschließen, wenn ihnen Freunde oder Familienangehörige, die bereits in der Riesenstadt leben, eine Chance auf einen Job anbieten können. Neuankömmlinge finden sich dann oft wesentlich besser zurecht als die unüberschaubare Menge der Armen, die schon in der Großstadt geboren wurden. Auch dadurch wachsen Spannungen, die wiederum neue, dann aber grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen in Gang bringen können.

Welch zerbrechliches Gebilde selbst das autoritär regierte China ist, erfuhr der deutsche Bundesminister Klaus Töpfer bei einem Arbeitsbesuch in Peking. Pflichtschuldig mahnte er bei Ministerpräsident Li Peng an, auch im Reich der Mitte müßten die Menschenrechte eingehalten werden. Diese Rechte könne man seinem Volk schon gewähren, entgegnete der chinesische Machtstratege. "Aber wäre Deutschland auch bereit, jährlich zehn bis 15 Millionen Chinesen aufzunehmen und für sie zu sorgen?"
Die unerwartete Reaktion ließ den Missionar der westlichen Demokratie verstummen. Der "unglaubliche Zynismus", erinnert sich Töpfer, habe ihn entwaffnet. Doch war die Polemik des Kommunisten nur zynisch? Sie enthält eben die Frage, der sich heute die Menschheit und insbesondere die bisherigen Gewinner in Europa und Nordamerika stellen müssen: Wieviel, genauer, welche Art von Freiheit ist auf dem mit bald acht Milliarden Menschen bewohnten blauen Planeten noch möglich? Welches sind die Regeln, welches die Gesellschaftsformen, mit denen die Umwelts-, Ernährungs- und Wirtschafrsprobleme bewältigt werden können?

Eine unbehagliche Unruhe hat die Spitzen der Weltpolitik erfaßt. "Wir leben inmitten einer weltweiten Revolution", trommelt neuerdings Uno-Generalsekretär Butros Butros-Ghali bei seinen Vorträgen. "Unser Planet steht unter dem Druck von zwei ungeheuren, einander entgegengesetzten Kräften: der Globalisierung und der Zersplitterung."

Zutiefst verunsichert fügt Butros-Ghali hinzu: "Die Geschichte offenbart, daß diejenigen, die mitten im revolutionären Wandel stecken, nur selten dessen endgültigen Sinn verstehen."

Der Feind sind wir selbst

Das einst in Europa ersonnene Modell der Zivilisation hat sich zwar als konkurrenzlos dynamisch und erfolgreich erwiesen. Doch für die Gestaltung der Zukunft ist es nicht geeignet. Die "wesentliche Verbesserung des Lebensstandards" für alle in den "unterentwickelten Ländern" durch "Hebung der Industrieproduktion", wie sie der amerikanische Präsident Harry Truman 1949 den Armen der Welt verkündete, wird nicht stattfinden.

Gerade jetzt, da die in der Bilderwelt vereinten Milliarden Menschen von Bogota bis Jakutsk eine Entwicklung nach westlichem Vorbild anstreben, werden die Verkäufer dieser Entwicklungsverheißung vertragsbrüchig. Sie können schon in ihren eigenen Ländern, in den USA und in Europa, ihr Versprechen nicht einlösen und bekommen die wachsende soziale Spaltung nicht in den Griff – wer denkt da noch an ökologisch verträgliches Wachstum und eine gerechte Verteilung des Reichtums in der Dritten Welt? Immer mehr entpuppt sich das selbstherrliche Entwicklungsdogma als Waffe einer vergangenen Epoche, es zählte zum Arsenal des Kalten Krieges und scheint in dieser Logik reif fürs Museum.

Rette sich, wer kann, lautet die neue Devise. Nur: Wer kann das schon? Denn nach dem Sieg des Kapitalismus ist keineswegs das "Ende der Geschichte" erreicht, das der nordamerikanische Philosoph Francis Fukuyama 1989 ausrief, sondern das Ende des Projekts, das so kühn "die Moderne" genannt wurde. Eine Zeitenwende von globaler Dimension ist angebrochen, da nicht Aufstieg und Wohlstand, sondern Verfall, ökologische Zerstörung und kulturelle Degeneration zusehends den Alltag der Menschheitsmehrheit bestimmen.

Wenn in San Francisco die Weltelite mit einer 20:80-Gesellschaft innerhalb der bislang wohlhabenden Staaten rechnet, so hat sich dieses Verteilungssystem im Weltmaßstab längst etabliert.

Die Daten sind bekannt, doch durch die freigesetzten Kräfte der Globalisierung werden sie in Kürze in ganz neuem Licht erscheinen: Das reichste Fünftel aller Staaten bestimmt über 84,7 Prozent des Weltbruttosozialprodukts, seine Bürger wickeln 84,2 Prozent des Welthandels ab und besitzen 85,5 Prozent aller Inlandssparguthaben. Seit 1960 hat sich der Abstand zwischen dem reichsten und dem ärmsten Fünftel der Länder mehr als verdoppelt – auch dies eine in Zahlen ablesbare Bankrotterklärung einer Fairneß verheißenden Entwicklungshilfe.

Derzeit überschattet zwar die Sorge um Arbeitsplätze und sozialen Frieden das Interesse an Umweltfragen, doch weniger aktuelle Schlagzeilen bedeuten keineswegs, daß sich der ökologische Zustand der Erde gebessert hätte. Das globale Verbrauchsmuster der natürlichen Ressourcen ist seit der spektakulären UNO-Umwelt- und Entwicklungskonferenz in Rio de Janeiro 1992 unverändert geblieben. Die wohlhabenden Top-20-Prozent beanspruchen 85 Prozent der Welt-Holznutzung, 75 Prozent der Metallverarbeitung und 70 Prozent der Energie für sich. Die Konsequenzen daraus sind banal, aber brutal: Nie werden alle Erdenbürger gemeinsam einen solchen naturbelastenden Wohlstand erleben können. Die Erde setzt der Menschheit ihre Grenzen.

Die weltweite Verbreitung von Kraftwerken und Verbrennungsmotoren hat das energetische Gleichgewicht unseres Ökosystems schon jetzt fundamental gestört. Die Absichtserklärungen des Rio-Gipfels klingen nur noch wie Schalmeienklänge einer längst vergangenen Epoche. Die Weltgemeinschaft hatte sich am Stadtrand der schönsten Metropole des Erdballs wortreich zu einer "nachhaltigen Entwicklung" bekannt, zu einem Wirtschaftskurs, der nachfolgenden Generationen die Umwelt und Ressourcen nicht in verschlechtertem Zustand überlassen werde. Der Ausstoß an Kohlendioxid sollte bis zur Jahrtausendwende zumindest in den Industriestaaten auf das Niveau von 1990 zurückgeführt werden, Deutschland wollte bis 2005 seine Werte um 25 Prozent senken.

Die papiernen Versprechen sind Makulatur, vermutlich wird sich der weltweite Energieverbrauch bis zum Jahr 2020 sogar verdoppeln. Die Treibhausgase werden um 45 bis 90 Prozent zunehmen. Vergeblich warnen die renommierten Klimaforscher, die im Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ihre Forschungsergebnisse austauschen, seit Jahren vor dem "merklichen menschlichen Einfluß auf das Weltklima".

Der Klimawandel ist nicht mehr aufzuhalten, allenfalls zu mildern, und er wird ungeheure Opfer fordern. "Für uns ist die globale Erwärmung mit ihren Folgen wie Stürmen und Überschwemmungen schon heute eine Tatsache", erklärt Walter Jakobi vom Gerling-Konzern, dem größten Industrieversicherer Deutschlands. In den achtziger Jahren mußten sich die Versicherungsgesellschaften weltweit jährlich 50 Naturkatastrophen mit einem jeweiligen Schaden von mindestens 20 Millionen Dollar stellen, Mitte der neunziger Jahre kommt es jedes Jahr bereits zu 125 solch verheerender Großereignisse. Ein einziger gewaltiger Sturm über der US-Ostküste oder über Nordeuropa, so kalkulieren die Rückversicherer neuerdings, könnte sogar ein Vielfaches kosten, bis zu 80 Milliarden Dollar. Entsprechend steigen die Prämien, in überschwemmungsgefährdeten Gebieten fällt es Hauseigentümern immer schwerer, einen zumutbaren Versicherungsvertrag auszuhandeln. Einzelne Staaten bezahlen schon einen unberechenbaren Preis für das Klimarisiko. Die wachsende Verwundbarkeit durch Orkane hält etwa zahlreiche ausländische Anleger ab, nennenswerte Beträge in Bangladesch zu investieren.

Ein deutlicher Anstieg des Meeresspiegels ist wohl nicht mehr verhinderbar. Die Zeit der Städte, kaum angebrochen, kann so schon vor dem Jahr 2050 ein abruptes Ende finden. Denn vier von zehn Agglomerationen mit mehr als 500.000 Einwohnern liegen in Küstennähe, darunter drei Fünftel aller Megametropolen. Bombay, Bangkok, Istanbul und New York sind in ihrer Existenz bedroht, doch nur die wenigsten Stadtungetüme werden sich aufwendige Dammbauten wie in den Niederlanden leisten können, um sich über Wasser zu halten.

Auch China muß die Sturmfluten des nächsten Jahrhunderts fürchten, Schanghai, Hongkong und Dutzende andere Millionenstädte blicken aufs offene Meer. Doch Maos Erben denken vornehmlich an dieses Jahrhundert, haben daraus gelernt und kopieren die Errungenschaften des Westens, mit und ohne Lizenz. Eine prinzipielle Richtungsentscheidung ist gefallen, das Milliardenvolk reiht sich ein zum langen Marsch in die Autogesellschaft. Das pragmatische Kalkül kann nur lauten: Besser das Weltklima heizt sich auf als die Stimmung im Lande, ein eigenes Fahrzeug beruhigt wie Opium.

"Das Radfahren ist in China inzwischen als Ausdruck der Unterentwicklung verpönt", beobachtete der Washingtoner Verkehrsexperte Odil Tunali. Derzeit bewegen sich auf den Straßen lediglich 1,8 Millionen Automobile, gerade fünf Prozent des deutschen Bestandes. Doch in weniger als 15 Jahren sollen es bereits 20 Millionen sein. Die großen internationalen Markthersteller fiebern wie im Goldrausch, allein das Volkswagen-Werk in Schanghai erwartet, ein Drittel aller neuen Autos ausliefern zu können. Auch General Motors, Chrysler, Mercedes-Benz, Peugeot, Citroen, Mazda, Nissan und Südkoreas Daewoo-Konzern beteiligen sich mit Produktionsabkommen und Fabrikaten am atemberaubenden Aufbruch Chinas. Indien, Indonesien, Thailand und all die anderen ziehen mit in die neue Zeit.

"Der gesamte asiatische Markt wird mit jährlich 20 Millionen Neuwagen bald so groß sein wie der Europas und Nordamerikas zusammengenommen", prophezeit Takahiro Fujimoto, Autoindustrieexperte an der Tokioter Universität. Auch Lateinamerika und die ehemaligen Staaten des Ostblocks melden erstaunliche Zuwachsraten, in Brasilien verdoppelte sich der Auto-Output in den neunziger Jahren ebenso wie das Verkehrsaufkommen auf Moskaus Straßen. Nach nichts sehnen sich die Bürger des Ostens mehr, als mit ihren westlichen Nachbarn gleichzuziehen. Die Faszination des eigenen Fahrzeugs, die hierzulande langsam verblaßt, ist in den neuen Märkten noch ungebrochen. Das Auto ist keineswegs nur Transportmittel, sondern vor allem Symbol für sozialen Aufstieg und Beweis von Reichtum, Macht und vermeintlicher persönlicher Freiheit. Weltweit sind damit die Autoabgase jeder Kontrolle entglitten, eine Milliarde Autos, doppelt so viele wie heute, werden vermutlich schon im Jahr 2020 auf den globalen Verkehrsinfarkt zusteuern.

Schon jetzt verschwenden die EU-Bürger rund 1,5 Prozent ihres Bruttosozialproduktes im Stau, in Bangkok sind es 2,1 Prozent. Fahrten durch die lahmgelegte Hauptstadt Thailands, dem einstigen Venedig des Ostens, dauern so lange, daß Automobilisten auf dem Weg zu Geschäftsterminen vorsichtshalber tragbare Toiletten in den Wagen packen. Unternehmen in Japan schicken routinemäßig drei Lkw auf verschiedenen Routen zu ihren Kunden, um trotz stundenlanger Wartezeiten auf den Autobahnen ihre Liefertermine einzuhalten.

Na und? Träume bleiben auch dann noch Träume, wenn sie sich längst als Irrwege erwiesen haben. So wird die haltlose Motorisierung mit scheinbar unaufhaltsamer Konsequenz zu einer letzten, großen Blüte geführt. Alle Bemühungen in manch anderen Ländern und Regionen, die Klimaerwärmung durch sparsame Energienutzung und Zurückdrängung des Autoverkehrs wenigstens zu reduzieren, sind zunichte gemacht. Bitter rächt sich, daß die industrialisierten Staaten in den achtziger Jahren die Diskussion um sinnvolle Transport- und Benzinpreise nie konsequent vorangetrieben und eine faire Ökosteuer nie ernsthaft angepeilt haben. Jetzt läuft ihnen die Entwicklung davon – und vom Spottpreis fürs Öl profitieren bislang abgelegene Newcomer im globalen Markt. Solange Umweltkosten keine Rolle spielen, können etwa chinesische Händler tonnenweise Spielzeug um den halben Erdball schiffen und in der Europäischen Union noch immer kostengünstiger anbieten als die Niedriglohnfabriken aus Tschechien, von EU-Betrieben ganz zu schweigen.

Mit beängstigender ökologischer Ignoranz schreitet inzwischen die Industrialisierung der sich entwickelnden Länder voran. Chinas Städte speien eine gewaltige Giftwolke aus, die sich 1700 Kilometer weit über den Pazifischen Ozean hinzieht. Die Bewohner Schanghais wachen an fast jedem Arbeitstag unter einer tieforangen Smogglocke auf. Über Dutzende Kilometer hinweg strömt bei Chengdu weiß-schwarzer Rauch ungefiltert aus Tausenden Kalköfen und Ziegelfabriken, schlimmer noch als im berüchtigten Katmandu-Tal in Nepal, wo die Luft die Schleimhäute strapaziert wie sonst nur in den Smoghöllen der Megastädte. Nach einer ausgedehnten Fernost-Reise faßte der britische Architekt John Seargant seine Eindrücke zusammen:

Ich habe die Zukunft eines Großteils des pazifischen Raumes gesehen und bin zu Tode erschrocken. Ein Viertel der Erdbevölkerung verändert seinen Lebensstandard und richtet dabei einen wichtigen Teil des Erdballs zugrunde.

China befindet sich in bester Gesellschaft, wir alle wissen es und gehören selbst dazu. Mit der zunehmenden Ungemütlichkeit durch die globale Erwärmung glauben die meisten Bewohner in den bisherigen Wohlstandsländern ganz gut leben zu können. Doch die ökologische Enge begünstigt auch die heraufziehende 20:80-Gesellschaft. Denn knappe und teure Naturgüter werden sich nur noch wenige leisten können. Wer aber über sie verfügen kann, wird zusätzlich profitieren.

Im mondänen Vorarlberger Skiort Lech am Arlberg etwa darf klammheimlich Freude aufkommen, wenn Klimaforscher neuerdings das "Aus für den Wintertourismus" in Österreich prognostizieren. Das 1450 Meter hoch gelegene Dorf kann erst recht reich werden, sobald in tieferen Lagen der Schnee gänzlich ausbleibt. Das Wedeln in den Alpen wird dann zu einem so exklusiven Sport wie das Polospiel in Großbritannien. Zwar lastet gegenwärtig noch auf manchen Hoteliers, die sich mit zu großen Investitionen verspekulierten, ein Schuldenberg. Die 1380 Lecher Einwohner aber haben vorausblickend ihre Claims flachendeckend abgesteckt und blockieren jeden Zuzug. Ihre Kinder und Enkel erwartet ein Bonanza. Sollten sie um das Jahr 2060 nicht einmal mehr mit aufwendigsten Beschneiungsanlagen die Abfahrten unter Kriegerhorn und Mohnenfluh weiß einfärben können, so werden fast alle Millionäre sein, die von ihren Kapitalerträgen leben oder mühelos eine andere Existenz aufbauen können.

Dieses Beispiel mag abstoßend klingen, kann aber vielleicht einiges erklären. Denn eine breite politische Front zur Bekämpfung der Erderwärmung bildet sich auch deshalb so langsam, weil sich noch immer viele Millionen Menschen zu den Gewinnern des Klimawandels zählen dürfen. Andererseits ist jedoch auch der Glaube falsch, alle Mühen seien ohnehin vergebens, die Apokalypse wäre unausweichlich. So eine Schlußfolgerung leistet nur der Verdrängung Vorschub und dient als Ausrede für eigene Tatenlosigkeit. Es ist so bequem geworden, auf den Weltuntergang zu warten.

Der alle Konflikte aufhebende, erlösende Untergang wird jedoch nicht stattfinden. Die Menschheit wird und muß noch lange überleben. Die Frage ist nur wie – und welcher Prozentsatz näher dem Wohlleben oder der großen Not sein wird, auch in den bisherigen Industrieländern. Zwar wird sicherlich "das ökologische Schicksal der Menschheit in Asien entschieden", wie der Chef von Greenpeace International, Thilo Bode, betont. Doch die Erstverantwortung zum umweltverträglichen Umbau fällt auf jene zurück, die das Warenparadies zunächst schufen und an dessen Bildern wie an Götzen festhalten.

Dabei müßte die Abkehr vom herkömmlichen wirtschaftlichen Entwicklungsmodell – bei allem notwendigen Verzicht – keineswegs "ein trister Marsch ins Elend" sein, sondern könnte zu "neuen Formen des Wohlergehens führen", argumentiert Ernst Ulrich von Weizsäcker, Präsident des Wuppertal-Instituts. Als Leiter dieses bewährten Zukunftslabors legte er gemeinsam mit den nordamerikanischen Energieexperten Amory B. Lovins und L. Hunter Lovins 1995 sein detailliertes Konzept vor: Faktor vier – Doppelter Wohlstand, halbierter Naturverbrauch. Zumindest in Deutschland wurde das Buch ein bestaunter Bestseller.

Während die Kernregionen Europas die Vollmotorisierung melden und alle Haushalte mit TV-Geräten versorgt sind, lösen sich vor allem nachdenkliche Stadtbürger zusehends von diesen Ikonen der Moderne. Doch selbst da polarisiert sich die Gesellschaft: Seit die Mühe der Parkplatzsuche die Lust am Fahren übertrifft, sind die Ideale einer egalitären Autogesellschaft perdu. Auch der große Stau macht noch lange nicht alle Menschen gleich. Während früher der Besitz von Fernsehapparat und Automobil Status verlieh, gehört es heute zum neuen Luxus, weder ein Fahrzeug besitzen zu müssen noch vom Fernsehen abhängig zu sein. Wer es sich leisten kann, lebt jetzt lieber in ruhigen, parknahen Innenstadtlagen als in schwer erreichbaren Vororten. Wer ein spannendes Leben führt, verzichtet leichten Herzens auf die flimmernde TV-Scheinwelt – und will von "Tittytainment" nichts wissen.

Solch kleine, exquisite Fluchten ersetzen nicht den bevorstehenden gesellschaftlichen Wandel, den Vordenker von Dennis Meadows (Die Grenzen des Wachstums, 1972) bis US-Vizepräsident Al Gore (Wege zum Gleichgewicht, 1992) schon so lange entwerfen. Im Frühsommer 1989 standen erstmals Umweltprobleme und Klimakatastrophe auf der Tagesordnung des G-7-Wirtschaftsgipfels der sieben reichsten Nationen des Westens – es schien ein Signal für ein Umdenken der Mächtigen. "Die Neunzigerjahre werden zum kritischen Jahrzehnt", erklärte die regierungsbeeinflussende Denkfabrik des Washingtoner World Resources Institute in einer aufsehenerregenden Stellungnahme. "Im nächsten Jahrhundert wird es bereits zu spät sein", assistierte der Biologe Thomas Lovejoy von der Smithsonian Institution in Washington, "die entscheidenden Kämpfe werden in den neunziger Jahren gewonnen oder verloren".

Wenige Monate später fiel die Berliner Mauer, und Optimisten glaubten, die Schlacht zur Rettung des Planeten würde nun den ideologischen Krieg zwischen Ost und West ersetzen. Zunächst wirkte diese Vorstellung auch bestechend. Immerhin wurde der Kalte Krieg mit ungeheuerlichem Aufwand und Fanatismus geführt, und diese Kapazitäten lagen plötzlich brach. Doch der Antikommunismus richtete sich gegen einen eindeutigen äußeren Feind und konnte sich auf jahrtausendealte menschliche Instinkte stützen. "Die heutige Bedrohung hat aber kein Gesicht, der Feind sind wir selbst", sagt Bertrand Schneider vom Club of Rome.

...

Diktatur mit beschränkter Haftung

Das Billiardenspiel auf dem Weltfinanzmarkt

Wir wollten Demokratie.
Was wir bekommen haben,
ist der Rentenmarkt.
Polnisches Graffito
Michel Camdessus ist zweifelsfrei ein Mann der Macht. Seiner Sprache fehlen die Schnörkel, seine Aussagen dulden kaum Widerspruch. Von seinem wuchtigen Schreibtisch aus, im 13. Stock des abweisenden Stahlbetonbaus an der G-Street im Nordwesten der US-Hauptstadt, steuert der französische Elite-Bürokrat eine der umstrittensten und offenbar doch unentbehrlichen Institutionen der Welt: den Internationalen Währungsfonds, kurz "IWF" genannt. Wann immer Regierungen Hilfe bei ausländischen Finanzministern und Banken suchen, weil sie ihre Schulden nicht mehr tilgen und wirtschaftliche Krisen nicht mehr ohne internationale Unterstützung bewältigen können, werden sie an Camdessus und seine 3000 Mitarbeiter starke Weltfinanzbehörde verwiesen.
Vor dem IWF-Chef, der schon seit zehn Jahren amtiert, sind selbst die Vertreter so großer Nationen wie Rußland, Brasilien oder Indien einfache Bittsteller. In Verhandlungen, die bisweilen Jahre andauern, müssen sie sich stets zu drakonischen Sparprogrammen und einer radikalen Schrumpfung ihrer Staatsbürokratie verpflichten. Erst dann legt Camdessus den reichen Geberländern des Fonds, allen voran den Repräsentanten der USA, Japans und Deutschlands, die Verträge über die begehrten zinsbegünstigten Milliardenkredite zur Abstimmung vor. Und erst dann gibt er mit seiner Unterschrift das Geld frei.

Doch am kalten Montagabend des 30. Januar 1995 ist diese wohlerprobte Routine nichts mehr wert. Gegen 21 Uhr erreicht Camdessus eine Nachricht, die ihn schaudern läßt. Von einer Minute zur anderen trägt er allein die Verantwortung, eine Katastrophe abzuwenden, die er bis dahin für nahezu unmöglich gehalten hatte. In höchste Anspannung versetzt, bleibt er nicht mehr an seinem Schreibtisch. Er packt seine Unterlagen und geht durch sein riesiges, mahagonigetäfeltes Chefzimmer hinüber in den noch größeren Konferenzsaal, in dem üblicherweise die 24 Exekutivdirektoren des Fonds über die Vergabe der IWF-Kredite entscheiden. Jetzt aber ist Camdessus allein mit einem Telefon. "Ich suchte die Antwort auf eine Frage, die sich nie zuvor gestellt hatte", erzählt er später. Soll er die ehernen Gesetze des IWF außer Kraft setzen und ohne Bedingungen, ohne Vertrag und ohne die Zustimmung der Geldgeber den größten Kredit in der fünfzigjährigen Geschichte seiner Organisation freigeben? Camdessus greift zum Hörer, und binnen weniger Stunden schrumpft der sonst so machtbewußte Direktor des weltgrößten Kreditgebers selbst zur Marionette, deren Fäden Leute in Händen halten, die er nicht einmal kennt.

Operation "Peso Shield"

Die Krise hatte begonnen, als das politische Washington soeben in den Winterurlaub aufbrach. Vier Tage vor Weihnachten gab die mexikanische Regierung bekannt, ihre Landeswährung müsse erstmals seit sieben Jahren wieder abgewertet werden. Der Peso sollte fünf US-Cent und damit 15 Prozent weniger kosten als bisher. Weltweit, insbesondere in den großen Bankhäusern an der New Yorker Wall Street sowie den ihnen verbundenen Investmentfonds, breitete sich unter den Verwaltern privater Anlagegelder Panik aus. Weit über 50 Milliarden Dollar hatten sie in mexikanische Staatsanleihen, Aktien und Schuldverschreibungen investiert. Schließlich stand Mexiko bis dahin in dem Ruf, ein finanzpolitisch solider Staat geworden zu sein, der alle Auflagen des IWF zur Sanierung von Staat und Wirtschaft vollständig erfüllt hatte. Doch nun drohte dem Vermögen der ausländischen Anleger ein massiver Wertverlust. Wer immer konnte, zog – wie zuvor schon mexikanische Insider – Geld aus Mexiko ab. Der Peso verlor in nur drei Tagen nicht bloß 15 Prozent, sondern 30 Prozent seines Gegenwertes in Dollar.

Für US-Finanzminister Robert Rubin und den Stabschef des Weißen Hauses, Leon Panetta, aber auch für viele ihrer Mitarbeiter waren die Weihnachtsferien vorbei, kaum daß sie begonnen hatten. Ein Krisenstab trat zusammen, in dem von der Zentralbank bis zum Nationalen Sicherheitsrat alle Bereiche der amerikanischen Regierung vertreten waren, die mit Außen- und Wirtschaftspolitik befaßt sind. Eines der wichtigsten Projekte der Administration des US-Präsidenten Bill Clinton drohte zu scheitern: die wirtschaftliche Stabilisierung des südlichen Nachbarlandes, aus dem Jahr für Jahr Millionen verarmte Auswanderer in nordamerikanische Bundesstaaten drängen. Also starteten Rubin und Panetta eine Rettungsaktion, welche die Washington Post in Anlehnung an die Operation "Desert Shield" (Wüstenschild) zu Beginn des Golfkrieges schon bald Operation "Peso Shield" taufte.

Nach drei Wochen ununterbrochener Verhandlungen mit der mexikanischen Regierung schien das Problem zunächst gelöst. Mexikos Präsident Ernesto Zedillo opferte seinen Finanzminister und gelobte die sofortige Sanierung der Staatsfinanzen. Präsident Clinton kündigte an, seine Regierung werde Mexiko mit Kreditgarantien in Höhe von 40 Milliarden Dollar beistehen. Niemand sollte befürchten müssen, der mexikanische Staat werde seine ausländischen Gläubiger nicht bezahlen.

Zur Verblüffung der Krisenmanager sorgte Clintons Stellungnahme jedoch nicht für Entlastung, die Situation spitzte sich sogar zu. Jetzt ahnten die Anleger nicht nur, daß Mexiko die Dollars ausgingen, jetzt wußten sie es. Zudem war unklar, ob Clinton die zugesagten Gelder von der neuen republikanischen Mehrheit im US-Kongreß, die ihm feindselig gesinnt war, auch bekommen würde. Obwohl die mexikanische Notenbank täglich für eine halbe Milliarde Dollar Pesos kaufte, gab der Kurs weiter nach. Das war bedrohlich für Mexiko, weil importierte Waren plötzlich unbezahlbar wurden, und es war problematisch für die Vereinigten Staaten, in denen vom Mexiko-Handel Tausende Jobs abhingen. Die übrige Welt schien der Peso-Absturz noch kaum zu betreffen.

Das änderte sich ab dem 12. Januar dramatisch. Noch während dieses Tages, an dem Clinton und Zedillo ihren finanziellen Schulterschluß bekanntgaben, setzte eine gespenstische Entwicklung ein, mit der kaum jemand gerechnet hatte. An allen wichtigen Börsenplätzen der Welt – von Singapur über London bis New York – geriet ein gutes Dutzend Währungen gleichzeitig unter Druck. Der polnische Zloty verlor genauso schnell an Wert wie der thailändische Baht oder der argentinische Peso. Plötzlich stießen Investoren in allen aufstrebenden Schwellenländern des Südens und Mitteleuropas, in den sogenannten "emerging markets", Aktien und Anleihen ab. Weil sie die Erlöse sofort in die Hartwährungen Dollar, Mark, Schweizer Franken und Yen zurücktauschten, fielen mit den Kursen der Wertpapiere auch die Kurse für die Währungen, in denen sie ausgestellt waren. Das geschah in so verschiedenen Ländern wie Ungarn und Indonesien, die wirtschaftlich nichts miteinander verband. Erstmals in ihrer Geschichte trafen sich die Notenbank-Chefs der Länder Südostasiens zu einer gemeinsamen Notsitzung. Getrieben von einer Dynamik, die sie nicht zu verantworten hatten, mußten sie ihre Währungen durch deutliche Zinserhöhungen künstlich verteuern, um die Anleger bei Laune zu halten. Argentinien, Brasilien und Polen folgten.

Ab dem 20. Januar, dem Ende der vierten Krisenwoche, ging auch der Dollarkurs auf Talfahrt. Nun warnte selbst Alan Greenspan, der in Banker-Kreisen für seine unbeirrbare Haltung bewunderte Chef der US-Zentralbank Federal Reserve (Fed). Die sich anbahnende "weltweite Kapitalflucht" in Qualitätswährungen wie Yen und Deutsche Mark, erklärte der Fed-Chef vor dem US-Senat, bedrohe "den globalen Trend zu Marktwirtschaft und Demokratie". Gemeinsam mit Clintons Leuten drängte er seine Parteifreunde im Kongreß, endlich dem Vorschlag des Präsidenten zuzustimmen und Mexiko die notwendigen Kreditgarantien zu gewähren. Noch einmal beruhigte sich die Lage für ein paar Tage, das Ende der Vertrauenskrise in die neuen Wachstumsländer des Südens und Ostens schien nahe – bis zu jenem kalten letzten Montag im Januar.

Kurz nach 20 Uhr an diesem 30. Januar erreichten Clintons Stabschef Panetta zwei Anrufer: der neue mexikanische Finanzminister Guillermo Ortiz und der republikanische Mehrheitsführer des Repräsentantenhauses, Newt Gingrich. Der Mexikaner berichtete, sein Land sei am Ende, die letzten Dollar-Reserven seien erschöpft. Werde der Kapitalabfluß nicht gestoppt, müsse er den Peso-Umtausch beschränken und die über zehn Jahre mühsam betriebene Integration Mexikos in den Weltmarkt mit einem Schlag beenden. Die Botschaft Gingrichs stimmte nicht optimistischer: Es werde auf absehbare Zeit keine Kongreßmehrheit für den Mexiko-Kredit geben, erklärte der Republikaner dem politischen Gegner im Weißen Haus. Der Präsident müsse die Verantwortung allein übernehmen, mit der Unterstützung des Parlaments könne er nicht rechnen.
Damit blieb Clinton und seinem Team nur noch ein zuvor ausgearbeiteter "Plan B", wie Panetta später berichtete. Der Krisenstab mußte nun den mit 20 Milliarden Dollar ausgestatteten Krisenfonds der Regierung ausschöpfen, der dem US-Präsidenten im Notfall zur freien Verfügung steht. Und er mußte um Beistand aus anderen Kassen bitten, weil selbst dieser riesige Betrag bei weitem nicht ausreichte. Der erste Hilferuf ging an die Zentrale des IWF in der nahen G-Street. Die bangen Stunden des Michel Camdessus hatten begonnen.

In einem beispiellosen Parforceritt hatte der IWF-Chef schon in den zwei vorangegangenen Wochen eine Zahlungshilfe für Mexiko in Höhe von 7,7 Milliarden Dollar durch die Entscheidungsgremien gepeitscht, die größte Summe, die nach geltendem IWF-Statut überhaupt zulässig war. Doch diese Maßnahme war verpufft, jedermann wußte, daß dies nicht ausreichte. Mindestens weitere zehn Milliarden wurden benötigt, um Mexiko vor der Pleite zu bewahren.

Aber durfte er so mit dem ihm anvertrauten Geld umgehen? Der Wunsch und das Drängen der Nordamerikaner und Mexikaner waren eindeutig. Aber lag eine Aufstockung des Notkredits um noch einmal zehn Milliarden auch im Interesse der vielen anderen Zahler, darunter Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Japan? Für die formal vorgeschriebene Konsultierung blieb keine Zeit. In Bonn und Paris war es drei Uhr früh. Die Entscheidung mußte aber noch diese Nacht fallen. Schon am nächsten Morgen würde das Scheitern des Clinton-Plans im Kongreß öffentlich bekannt werden.

Noch einmal, erinnert sich Camdessus, dachte er an die warnenden "Anrufe von führenden New Yorker Bankern und Investment-Managern" in den vergangenen Tagen. Breche der mexikanische Markt zusammen, so hatten sie ihm prophezeit, werde es kein Halten mehr geben. Die Furcht vor ähnlichen Krisen in anderen Entwicklungsländern werde eine Kettenreaktion auslösen, an deren Ende ein weltweiter Finanzkrach stehen könne.

Camdessus ließ sich nacheinander mit neun in Washington anwesenden Regierungsvertretern aus dem IWF-Exekutivdirektorium verbinden. Allen Angerufenen stellte er nur eine Frage: "Sind Sie der Meinung, daß der IWF-Direktor im Notfall völlig selbständig handeln muß?" Verwundert bestärkten alle Angesprochenen den späten Anrufer und sprachen ihm ihr Vertrauen aus. Dann faßte Camdessus einen einsamen Entschluß, von dem Bill Clinton erfuhr, als er kurz vor Mitternacht von einem Abendessen ins Weiße Haus zurückkehrte. Der Franzose setzte sich über alle Regeln des Fonds hinweg, riskierte seinen Job sowie den bisherigen Ruf seiner Institution und ließ Clinton ausrichten, der IWF sei für weitere zehn Milliarden gut, insgesamt also 17,7 Milliarden Dollar.

Ein ähnliches Risiko ging kurze Zeit später auch Andrew Crocket ein, der als leitender Manager der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) vorsteht, dem weltweiten Verbund der Notenbanken. An deren Sitz in Basel war es schon sieben Uhr morgens, als die amerikanische Fed bei Crocket anfragte, ob die BIZ sich an dem Stützungspakt beteiligen werde. Zwar sagte Crocket, es sei bislang nur diskutiert worden, daß die Bank der Zentralbanken mit zehn Milliarden einspringen könne. Aber dem Anrufer aus Washington genügte das.1

Kaltblütig setzten Rubin und Panetta nun ihren "Plan B" in die Tat um. Nach nur vier Stunden Schlaf leitete ihr Präsident um 11.15 Uhr im Washingtoner Marriott-Hotel seinen Auftritt vor der Jahresversammlung der amerikanischen Gouverneure mit einer Sensation ein: Mit Hilfe des IWF, der BIZ und der kanadischen Regierung, erklärte Clinton seinen verblüfften Zuhörern, stehe dem krisengeschüttelten Nachbarland ab sofort auch ohne Zustimmung des Kongresses ein Stützungskredit von über 50 Milliarden Dollar zur Verfügung. Mexiko werde alle seine Schulden bezahlen.

In weniger als 24 Stunden brachte ein halbes Dutzend Männer so jenseits aller parlamentarischen Kontrolle mit dem Steuergeld der westlichen Industrieländer das größte internationale Kredithilfeprogramm auf den Weg, das seit 1951 vergeben wurde, übertroffen nur von den Zahlungen im Rahmen des Marshall-Plans, mit denen die Vereinigten Staaten den Wiederaufbau Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützten. Stellvertretend für alle Beteiligten sparte Camdessus nicht mit Superlativen, um den Coup zu rechtfertigen. Der Fall Mexiko, erklärte der französische Weltbürger an der Spitze des IWF, "war die erste große Krise unserer neuen Welt der globalisierten Märkte". Er habe einfach handeln müssen, ungeachtet der Kosten. Andernfalls "wäre eine wahre Weltkatastrophe eingetreten".

Zahlreiche Kritiker interpretierten den Milliarden-Deal jedoch ganz anders. Rimmer de Vries, Ökonom bei der New Yorker Investmentbank J. P. Morgan, die sich am Mexiko-Boom nicht beteiligt hatte, sprach offen von einem "bail-out for speculators", einem Freikauf von Anlegern, die sich verspekuliert hatten. Auch Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, kritisierte, es sei "nicht einzusehen, warum der Steuerzahler den Investoren die hohen Renditen [auf die mexikanischen Schuldtitel] noch nachträglich garantieren mußte". Willem Buiter, Wirtschaftsprofessor an der Universität von Cambridge, kommentierte: Die ganze Aktion sei nichts weiter gewesen "als ein Geschenk der Steuerzahler für die Reichen".

Dieser Vorwurf widerlegt freilich nicht die Argumentation von Camdessus, Rubin und ihren Mitstreitern. Denn der Mexiko-Deal war beides: die vielleicht kühnste Katastrophenabwehr der Wirtschaftsgeschichte und ein dreister Raubzug gegen die Steuerkasse der zahlenden Länder zugunsten einer vermögenden Minderheit. Natürlich habe der Milliardenkredit den Spekulanten genutzt, antwortet der IWF-Direktor seinen Kritikern. Aber, so gesteht er ganz offen, "die Welt liegt in den Händen dieser Burschen".

In seltener Schärfe beleuchtete die Mexiko-Krise das Gesicht der neuen Weltordnung im Zeitalter der Globalisierung. Wie noch nie zuvor demonstrierten die Akteure, mit welcher Wucht die globale ökonomische Integration das Machtgefüge der Welt verändert hat. Als seien sie von unsichtbarer Hand gesteuert, unterwarfen sich die Regierung der Supermacht USA, der einst allmächtige IWF und alle europäischen Notenbanken dem Diktat einer höheren Gewalt, deren Zerstörungskraft sie gar nicht mehr einschätzen können: dem internationalen Finanzmarkt.

Von Bretton Woods zur freien Spekulation

An den Börsen und in den Handelsräumen der Banken und Versicherungen, bei Investment- und Pensionsfonds hat eine neue politische Klasse die Weltbühne der Macht betreten, der sich kein Staat, kein Unternehmen und erst recht kein durchschnittlicher Steuerbürger mehr entziehen kann: global agierende Händler in Devisen und Wertpapieren, die einen täglich wachsenden Strom von freiem Anlagekapital dirigieren und damit über Wohl und Wehe ganzer Nationen entscheiden können – weitgehend frei von staatlicher Kontrolle.

Die Operation "Peso Shield" war nur ein herausragender Fall. Immer häufiger registrieren Politiker und ihre Wähler in aller Welt, wie die anonymen Akteure der Finanzmärkte die Steuerung ihrer Wirtschaft übernehmen und der Politik nur die Rolle des machtlosen Zuschauers bleibt. Als im September 1992 einige hundert Bank- und Fondsmanager dem Beispiel des Finanzgurus George Soros folgten und mit Milliardenbeträgen auf die Abwertung des britischen Pfund und der italienischen Lira setzten, konnten die Bank of England und die Banca d’Italia den Kursverfall nicht verhindern, obwohl sie fast ihre gesamten Dollar- und D-Mark-Reserven für Stützungskäufe einsetzten. Beide Regierungen mußten schließlich aus dem wirtschaftlich vorteilhaften Europäischen Währungssystem (EWS) mit seinen festen Wechselkursen aussteigen.

Als im Februar 1994 die Fed in den USA die Leitzinsen heraufsetzte und der amerikanische Kapitalmarkt kollabierte, konnte auch die Bundesregierung nur hilflos zusehen, wie deutsche Unternehmen plötzlich drastisch höhere Zinsen für ihre Kredite entrichten mußten, obwohl die Inflation nur gering war und die Bundesbank mit einem niedrigen Diskontsatz den Banken eigentlich genügend billiges Geld bereitstellte. Ebenso ohnmächtig präsentierten sich die japanische und die deutsche Regierung ihren Wählern, als im Frühjahr 1995 der Dollarkurs auf das historische Tief von 1,35 Mark und 73 japanischen Yen fiel und damit die Exportindustrien in die Knie zwang.

In die Enge getrieben von unangreifbaren Händlern, ergehen sich seitdem zahlreiche Regierungschefs in hilflosen Beschwörungsformeln und dumpfen Beschimpfungen. Es könne nicht angehen, beschwerte sich etwa Britanniens Premier John Major im April 1995, daß die Vorgänge an den Finanzmärkten "mit einer Geschwindigkeit und in einer Größenordnung ablaufen, die sie völlig außerhalb der Kontrolle von Regierungen und internationalen Institutionen stellen". Italiens Ex-Ministerpräsident Lamberto Dini, immerhin selbst früher Präsident der Notenbank seines Landes, pflichtet ihm bei, "den Märkten sollte nicht erlaubt werden, die Wirtschaftspolitik eines ganzen Landes zu unterminieren". Und dem französischen Präsidenten Jacques Chirac erscheint die gesamte Finanzbranche als verwerflich, kurzerhand nannte er deren Händlerkaste das "Aids der Weltwirtschaft".

Doch die vermeintliche Verschwörung ist gar keine. Kein Kartell profitgieriger Banker ist hier am Werk. Nirgendwo treffen sich geheime Zirkel in verborgenen Hinterzimmern, um die Währung dieses Landes zu schwächen oder die Kurse an jener Börse in die Höhe zu treiben. Was an den Finanzmärkten geschieht, folgt durchaus einer weitgehend nachvollziehbaren Logik und wurde von den Regierungen der großen Industrieländer selbst heraufbeschworen. Im Namen der ökonomischen Heilslehre vom freien, grenzenlosen Markt haben sie seit Beginn der siebziger Jahre systematisch alle Schranken niedergerissen, die ehedem den grenzüberschreitenden Geld- und Kapitalverkehr regierbar und damit beherrschbar machten. Nun beklagen sie wie ratlose Zauberlehrlinge, daß sie der Geister nicht mehr Herr werden, die sie und ihre Vorgänger herbeiriefen.

Die Befreiung des Geldes aus den staatlich verfügten Beschränkungen begann mit der Aufhebung der festen Wechselkurse zwischen den Währungen der großen Industrieländer im Jahr 1973. Bis dahin galten die Regeln des Systems von Bretton Woods. In diesem Bergdorf im US-Staat New Hampshire hatten die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs im Juli 1944 einen Vertrag über eine internationale Währungsordnung abgeschlossen, der fast dreißigJahre lang für Stabilität sorgte. Für die Währungen aller Beitrittsländer galt eine feste Parität zum Dollar, die US-Notenbank wiederum garantierte, Dollar gegen Gold einzutauschen. Gleichzeitig unterlag der Devisenhandel staatlicher Aufsicht, der Umtausch und Transfer großer Beträge waren in den meisten Ländern genehmigungspflichtig. Das System galt als die Antwort auf die chaotischen Entwicklungen der zwanziger und dreißiger Jahre, die in wilden nationalen Abwehrreaktionen, Protektionismus und schließlich Krieg geendet hatten.

Die stürmisch expandierende Industrie und die großen Banken sahen die bürokratische Kontrolle jedoch als lästige Bremse an. Die Vereinigten Staaten, die Bundesrepublik Deutschland, Kanada und die Schweiz gaben ab 1970 die Kapitalverkehrskontrollen auf. So brach der Damm. Nun handelten die "Spekulanten", also Händler, die den Wert der Währungen nach den verschiedenen Anlagemöglichkeiten taxieren, die Wechselkurse unter sich aus. Das Festkurssystem brach zusammen.

Gleichzeitig kamen aber auch alle anderen Länder, die noch an Kontrollen festhielten, unter Druck. Ihre Konzerne beschwerten sich, daß ihnen der Zugang zu zinsgünstigem ausländischem Kapital verwehrt war. 1979 hoben die Briten die letzten Beschränkungen auf, Japan folgte ein Jahr später. Den Rest besorgten der IWF und die Europäische Gemeinschaft. Geleitet vom festen Glauben an die Wohlstandsmehrung durch grenzenlose Wirtschaftsfreiheit, hoben die EG-Regenten ab 1988 den europäischen Binnenmarkt aus der Taufe. Im Zuge der Umsetzung dieses "größten Deregulierungsprogramms der Wirtschaftsgeschichte", wie der EG-Kommissar Peter Schmidhuber es formulierte, gaben auch Frankreich und Italien im Jahr 1990 den Geld- und Kapitalverkehr frei, Spanien und Portugal hielten noch bis 1992 durch.

Was die G 7, die sieben großen Industrieländer des Westens, für ihre Wirtschaftsräume beschlossen hatten, setzten sie nach und nach auch in der übrigen Welt durch. Dafür war der IWF das ideale Instrument, in dessen Aufsichtsgremien die G-7-Staaten das Sagen haben. Wo immer die IWF-Gewaltigen in den vergangenen zehn Jahren Kredite vergaben, verknüpften sie dies mit der Auflage, die jeweilige Währung konvertibel zu machen und das Land für den internationalen Kapitalverkehr zu öffnen.

Erst durch zielstrebige Politik und Gesetze von zumeist demokratisch gewählten Regierungen und Parlamenten entwickelte sich auf diesem Weg, Schritt für Schritt, jenes selbständige ökonomische System "Finanzmarkt", dem Politikwissenschaftler und Ökonomen inzwischen den Charakter einer Art höherer Gewalt zubilligen. Nun binden keine Ideologie, keine Popkultur, keine internationale Organisation und nicht einmal die Ökologie die Nationen der Welt enger aneinander als die elektronisch vernetzte, weltumspannende Geldmaschine der Banken, Versicherungen und Investmentfonds.

Renditejagd mit Lichtgeschwindigkeit

Auf der Basis dieser weltweiten Freiheit konnte das Geschäft der Welt-Finanzindustrie in den vergangenen zehn Jahren explodieren: Seit 1985 haben sich die Umsätze im Devisen- und internationalen Wertpapierhandel mehr als verzehnfacht. Während eines durchschnittlichen Handelstages wechseln heute Währungsbestände im Wert von rund 1,5 Billionen Dollar den Besitzer, ermittelte die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Diese Summe, eine Zahl mit zwölf Nullen, entspricht annähernd dem Gegenwert der gesamten Jahresleistung der deutschen Wirtschaft oder dem Vierfachen der jährlichen Welt-Ausgaben für Rohöl. In der gleichen Größenordnung bewegen sich die Umsätze mit Aktien, Konzernanleihen, staatlichen Schuldtiteln und unzähligen verschiedenen Spezial-Kontrakten, den sogenannten Derivaten.

Noch vor einem Jahrzehnt gab es in Frankfurt einen Markt für Bundesanleihen, in London einen für britische Aktien und in Chicago einen für Termingeschäfte, die jeweils eigenen Gesetzen gehorchten. Heute sind alle diese Märkte unmittelbar miteinander verbunden. Sämtliche Kursdaten aller Börsenplätze können an jedem Ort der Welt zu jeder Zeit abgefragt werden und lösen bei den Empfängern Käufe und Verkäufe aus, deren Kurswert ihrerseits sofort wieder als Bits und Bytes rund um die Erde geschickt werden. Darum ist es möglich, daß fallende Zinsen in den USA am anderen Ende der Welt, in Malaysia etwa, die Aktienkurse hochtreiben. Wenn sich das Engagement in US-Schuldtiteln weniger lohnt, schichten die Anleger in ausländische Aktien um. Darum kann der Wert von Bundesanleihen steigen, wenn die Zentralbank von Japan billiges Geld an Tokios Geldhäuser verleiht. Umgetauscht in Mark und angelegt in höher verzinsten deutschen Papieren, verwandeln sich die billigen Yen-Kredite in garantierte Erträge ohne Risiko. Und ebendarum tritt jeder, der Geld leihen oder Kapital aufnehmen will, gleich ob Regierungen, Konzerne oder Hausbauer, sofort in weltweite Konkurrenz mit allen anderen potentiellen Schuldern. Weder die konjunkturelle Lage der deutschen Wirtschaft noch die Bundesbank entscheiden über den Zins am deutschen Kapitalmarkt. Was zählt, ist allein das Urteil der professionellen Geldvermehrer, die sich wie eine "elektronisch gerüstete Armee" (The Economist) 24 Stunden am Tag ein globales Rennen um die beste Finanzanlage liefern.

Bei ihrer Arbeit bewegen sich die Rendite-Jäger mit Lichtgeschwindigkeit in einem vielfach verzweigten weltweiten Datennetz – ein elektronisches Utopia, dessen Komplexität noch unübersichtlicher ist als die komplizierte Mathematik, die den einzelnen Transaktionen zugrunde liegt. Vom Dollar in den Yen, anschließend in Schweizer Franken, dann wieder ein Rückkauf von Dollars – innerhalb weniger Minuten können Devisenhändler von einem Markt zum nächsten, von einem Handelspartner in New York zu einem anderen in London oder Hongkong springen und Deals über dreistellige Millionenbeträge abschließen. Ebenso verschieben Fondsmanager oft binnen Stunden die Milliarden ihrer Kunden zwischen völlig unterschiedlichen Anlagen und Märkten. US-Staatsanleihen verwandeln sich da per Anruf und Tastendruck in britische Schuldtitel, in japanische Aktien oder in Schuldverschreibungen der türkischen Regierung, die in D-Mark denominiert sind. Neben den Währungen werden schon über 70.000 verschiedene Wertpapiere über alle Grenzen hinweg frei gehandelt – ein phantastischer Markt mit unendlich vielen Chancen und Risiken.

Um die Datenflut zu verarbeiten, vollbringen die einzelnen Händler Höchstleistungen der Informationsverarbeitung. Einer von ihnen ist der 29jährige Patrick Slough. Gemeinsam mit über 400 Kollegen sitzt er täglich zehn Stunden ohne Pause im großen Handelssaal der Londoner Investmentbank Barclays de Zoete Wed (BZW) und managt das Geschäft mit Schweizer Franken, kurz "swiss".

Sein Arbeitsplatz ist eine unscheinbare, drei Meter breite Konsole, umgeben vom Stimmengewirr und gebrüllten Kommandos im halbdunklen Saal. Hinter der schmalen Arbeitsfläche sind drei Bildschirme und zwei Lautsprecher montiert, die ihn optisch und akustisch unentwegt mit neuen Daten versorgen. Rechts oben thront der vielfarbige Schirm von Reuters, dem Marktführer in Sachen Finanzelektronik. Von einer einfachen Nachrichtenagentur hat sich das Unternehmen zum Hauptorganisator des elektronischen Marktplatzes entwickelt und erwirtschaftet damit jährlich über eine Milliarde Mark Gewinn. Reuters verbindet Slough über feste Standleitungen, eigene Satellitenkanäle und einen Megarechner in den Londoner Docklands mit 20.000 Finanzhäusern sowie allen großen Börsen der Welt.

Auf dem Schirm erscheinen gleichzeitig die letzten drei Angebote oder Nachfragen für "swiss", die höchsten und niedrigsten Quoten der letzten Stunde für alle Währungen sowie die letzten News aus der Währungswelt. Gleichzeitig kann Slough jeden Teilnehmer per Eingabe eines Kürzels anticken und sofort einen Deal abschließen. Allein darauf darf er sich jedoch nicht verlassen. Zugleich muß er auf die Kurse achten, die ihm seine zwei Broker, unabhängige Zwischenhändler, per Lautsprecher mitteilen. Alle paar Minuten gibt er selbst ein Angebot durch, mal per Telefon, mal per Tastatur. Nimmt ein anderer Broker-Kunde an, folgt bald ein Anruf.

Die menschlichen Preisfinder konkurrieren mit den elektronischen Brokersystemen von Reuters und EBS, der Konkurrenzfirma eines internationalen Bankenkonsortiums. Auch diese nehmen jedes Gebot entgegen und leiten es sofort und anonym auf die Bildschirme. In "real-time", also sofort, und "online" (am Draht) erfährt Slough so von seinem EBS-Schirm zur Linken jederzeit den höchsten Kaufpreis ("bid") sowie den niedrigsten Verkaufswert ("offer") für Franken in Dollar oder Mark, die innerhalb dieses Systems geboten werden. Wichtig und darum schwarz auf gelb groß angezeigt sind nur die dritte und vierte Stelle hinterm Komma, die sich ständig verändern. Drückt Slough die "bye"-Taste, enthüllt der Rechner die Identität des Anbieters und stellt automatisch die Verbindung her.

An diesem Donnerstag im Januar 1996 "ist der Markt sehr nervös", klagt Slough. Vor Arbeitsbeginn hat er die Tagesausgabe des hauseigenen Informationsdienstes der volkswirtschaftlichen Abteilung studiert. Entscheidend wird der Ausgang der Sitzung des Bundesbankdirektoriums in Frankfurt. Senkt die Bundesbank die Sätze für die Leitzinsen weiter ab, sollten Dollar und Franken weiter anziehen. Aber fraglich ist, ob die Deutschen sich das leisten können, ihr Schuldenberg ist hoch, und die Furcht der Bundesbanker vor Inflation ist eine feste Größe im Devisengeschäft. Der Hausökonom tippt daher auf keine Zinsänderung. Slough schließt sich an und setzt auf eine stärkere Mark.

Nach einer halben Stunde testet er den Markt und kauft "70 Mark" für "swiss 575" bei der Schweizer UBS-Bank. Per Elektrostift überträgt er mit der schnellen Fahrt über die Kontaktpunkte auf der Konsole vor ihm den Deal ins hausinterne System: 70 Millionen D-Mark gegen Franken zum Preis von 0,81575 Franken pro Mark. Kurz darauf entfährt ihm ein lautes "fuck", der Kurs ist um ein Hundertstel Rappen gefallen, Slough hat – vorerst – 7000 Franken verloren. Doch die "Buba", wie die Deutsche Bundesbank in Fachkreisen genannt wird, ist auf seiner Seite. Die deutschen Zinsen bleiben unverändert. Die Mark zieht an, und mit dieser Nachricht verwandelt sich der Verlust binnen Sekunden in einen doppelt so hohen Gewinn. Slough geht auf Nummer Sicher, verkauft sofort und entspannt sich für eine Minute.

"Educated gambling", ein Wettspiel nach eisernen Regeln und auf hohem Niveau, nennt er den nervenaufreibenden Job und sieht sich doch nur als kleinen Soldaten, den der Markt vor sich hertreibt. "Selbst die größten Player", etwa die New Yorker Citibank, "können die Kurse nicht allein bewegen", versichert Slough. "Der Markt ist einfach zu groß."

Der Devisenhändler hat es noch einfach, für ihn zählt nur das Jetzt. Am anderen Ende des Saales sitzen die Kollegen, die das Geschäft mit Derivaten betreiben. Sie handeln mit der Zukunft, genauer den Werten, welche die Mehrheit der Marktteilnehmer für Aktien, Anleihen oder Währungen in drei oder zwölf Monaten, einem oder fünf Jahren erwartet. Ihre Produkte heißen Swaps und Collars, Futures und Options, Dingos und Zebras. Jeden Monat kommen neue auf den Markt. Allen gemeinsam ist, daß ihr Wert nur abgeleitet (derivativ) ist, also auf Kursen beruht, die heute oder später für die realen Wertpapiere und Devisen gezahlt werden.

Um etwa auf die deutsche Wirtschaft zu setzen, muß man nicht gleich deutsche Aktien kaufen. Kunden können auch einen Future-Kontrakt auf den deutschen Aktienindex zeichnen, der – gegen Prämie – die Zahlung eines Differenzbetrags verspricht, wenn der Index über den vereinbarten Wert steigt. Für diesen Fall muß sich die Bank wiederum durch Gegenverträge absichern oder durch einen eigenen Aktienbestand. Wenn der Kunde will, kann er sich gleichzeitig gegen Kursschwankungen der Mark durch eine weitere Option sichern und per Zins-Swap die Zinsen auf sein langfristig geliehenes Geld gegen die Zahlung von Kurzfrist-Zinsen an die Bank eintauschen – oder umgekehrt. Der verblüffende Effekt solcher Geschäfte ist, daß sie das Risiko eines Kursverfalls oder eines säumigen Schuldners vom Kauf der wirklichen Wertpapiere oder Devisen abtrennen. Das Risiko selbst wird zum Handelsgut.

Ehedem dienten diese Termin- und Risikogeschäfte nur als eine Art Versicherung für die Realwirtschaft. Exporteure etwa konnten sich damit gegen Kursschwankungen der Währung ihrer Handelspartner absichern. Seitdem die Kapazität der Rechner praktisch unbegrenzt ist, hat sich das Derivat-Geschäft jedoch gänzlich verselbständigt – und eine "Zeit der finanziellen Revolution" eingeläutet, wie es der frühere BIZ-Präsident Alexandre Lamfalussy euphorisch umschrieb. Längst haben alle großen Finanzplätze eigene Börsen nur für den Terminhandel eingerichtet. Von 1989 bis 1995 verdoppelten sich die nominellen Werte der gehandelten Kontrakte alle zwei Jahre und erreichten weltweit die unvorstellbar große Summe von 41.000 Milliarden Dollar.

Allein diese Zahl signalisiert den dramatischen Wandel des Geldgeschäfts. Nur noch zwei bis drei Prozent dieses Handels dienen direkt der Absicherung von Industrie und Handel. Alle anderen Kontrakte sind organisierte Wetten der Marktjongleure untereinander – nach dem Muster: "Wetten, daß der Dow-Jones in einem Jahr um 250 Punkte über dem heutigen Stand steht. Andernfalls zahle ich ..." Gegenüber dem Spielkasino haben die Wetter freilich einen enormen Vorteil: Sie müssen bei Abschluß ihrer Verträge zunächst nur geringe Einsätze einzahlen. Zum Schwur kommt es erst, wenn der Vertrag tatsächlich eingelöst werden muß, wobei die meisten mit entsprechenden Gegenverträgen ihr Verlustrisiko begrenzen. Darum beträgt der tatsächliche Marktwert der Derivate nur einen Bruchteil der nominalen Summen. Dafür haben sie aber das Geschehen an den Märkten von Grund auf verändert: Schon kleine Kapitalumschichtungen lösen immer größere Kursbewegungen aus, und im Ergebnis bekommt die kollektive Erwartungshaltung der Händler selbst physische Wucht.

Mit dem Derivatgeschäft habe sich "die Finanzwelt von der Realsphäre emanzipiert", meint der Banker Thomas Fischer, der als Leiter des Handels bei der Deutschen Bank selbst jahrelang den Markttiger geritten hat. Objektive ökonomische Beziehungen, etwa der Zusammenhang zwischen Leitzinsen und Anleihekursen, verlieren immer mehr an Gewicht. Was mehr zählt, ist die Erwartung darüber, "was die anderen machen. Da kommt es nicht darauf an, warum irgendein Kurs steigt, sondern warum er steigen könnte", und dies dann vorwegzunehmen. Die Wertentwicklung für deutsche Bundesanleihen zum Beispiel handeln nicht die Rentenhändler der deutschen Banken aus, sondern lange vorher die buntbedreßten Jobber der Londoner Terminbörse "Liffe", an der zwei Drittel der Abschlüsse mit "Bund-Futures" getätigt werden. Wegen solcher Mechanismen hat die Schwankungsbreite aller Kurse, im Finanzjargon "Volatilität" genannt, drastisch zugenommen.

Aus diesem erst durch den Derivathandel selbst erzeugten Risiko haben vor allem die Großbanken ein glänzendes Geschäft gemacht. Allein die Deutsche Bank verdient mit Derivaten fast eine Milliarde Mark jährlich. Die wachsende Bedeutung des Handels in ihren Bilanzen dokumentiert die veränderte Rolle der Banken in der globalisierten Weltfinanz. Das Verwalten von Spareinlagen und die Vergabe von Krediten verlieren an Bedeutung. Zahlreiche Konzerne sind längst ihre eigene Bank.

Dafür steht wie kein anderer die Siemens AG, die mit ihren Geldgeschäften mehr verdient als mit ihren weltbekannten Produkten. Hunderte von Großunternehmen besorgen sich mittlerweile ihre Kredite, indem sie selbst weltweite Anleihen auflegen. Mit Ausnahme der tatsächlich global tätigen Finanzriesen aus New York und Tokio bleibt der Mehrzahl der Geldhäuser nur die Funktion des Transmissionsriemens für die Märkte. Ihre Handelsabteilungen stellen nur noch die Söldner der elektronischen Finanzarmeen. Die Befehlshaber kommandieren von ganz anderen Höhen: Sie sitzen in den Chefzimmern der Verwaltungszentralen der Investment- und Pensionsfonds. Mit zweistelligen Wachstumsraten sind sie in den vergangenen zehn Jahren zu den eigentlichen Kapitalsammelstellen der Welt geworden. Gut 8000 Milliarden Dollar Spargeld und Rentenrückstellungen verwalten allein Amerikas Fondsgesellschaften und sind damit die größte Quelle des endlosen und unbeständigen Kapitalstroms.

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