Auszüge aus Jürgen Leinemann's
"Höhenrausch"

Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker

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Einleitung

Todeskuß

Der Mann im Publikum fühlte sich sichtlich fehl am Platz. Gierig blickte er auf die Bühne, während er wortlos zwischen den Sportlern und Chorsängerinnen des sächsischen Städtchens Grimma wartete, vielleicht ein bißchen formeller gewandet in seinem dunklen Nadelstreifenanzug, aber nicht weniger aufgeregt. Denn da oben auf dem provisorischen Podest am Ufer der Mulde standen die Großen des Landes – der Bundeskanzler und der Ministerpräsident. Auf die zielten die Kameras, vor denen waren die Mikrofone aufgebaut, zu ihnen blickten die Leute auf. Nichts wünschte der Mann in der Menge in diesem Augenblick mehr, als mit den Wichtigen zusammen gesehen zu werden, seinen Namen erinnerte sowieso noch jeder: Kurt Biedenkopf.

In Wahrheit zählte er sich natürlich noch immer dazu. Sechzehn Monate war es jetzt her, daß der kleine Professor sein Amt in der Dresdener Staatskanzlei an Georg Milbradt abgegeben hatte. Offiziell hoch gepriesen, war er im April 2002 als Ministerpräsident zurückgetreten, tatsächlich aber hatten ihn seine Parteifreunde nach kleinkrämerischen Affären und großmannssüchtigem Gehabe in Schande davongejagt. Denn der CDU-Chef Biedenkopf und seine Frau Ingrid hatten etwas zu feudal und selbstherrlich regiert. Ein Minister spottete:

Biedenkopfs öffentliche Auftritte besitzen eine fast religiöse Dimension.

Jetzt liefen die Kabelträger und Fotographen achtlos an ihm vorbei. Es war der 13. August 2003, vor fast genau einem Jahr hatte das Hochwasser hier eine Hängebrücke schwer beschädigt und die Stadt überflutet. Damals versprach ein entschlossener Gerhard Schröder, dem im Wahlkampf selbst das Wasser bis zum Hals stand, unbürokratische rasche Hilfe. Jetzt kassierte er den Dank ein. Und während der Bundeskanzler zufrieden die Menge der vielen tausend Grimmaer Bürger überblickte, entdeckte er schließlich den vor verkannter Bedeutung vibrierenden Mann neben der Bühne. "Ach", rief er leutselig, "da ist ja der Altministerpräsident." Und ohne auf Milbradt zu achten, zog er dessen Vorgänger hoch aufs Podium und juchzte ins Mikrofon: "Herr Professor Biedenkopf. Oder soll ich sagen: König Kurt?" Die Menge klatschte, Kurt Biedenkopf strahlte und überbrachte Grüße von Richard von Weizsäcker.

War das nun rührend? Zynisch? Peinlich? Gar entwürdigend? Mit gemischten Gefühlen verfolgte ich, wie der 73-Jährige dem genüßlich die Zuneigung der Menge einsammelnden Schröder nachlief. Gelegentliches Winken und Zurufe, die ihm galten, beflügelten den Promi im Ruhestand wie Aufputschpillen: Ja, auch Kurt Biedenkopf war immer noch populär. "Wie leben Sie denn so ohne Politik?", fragte ich ihn, als der Kanzler ihm an der Theke eines Lokals ein Bier bestellt hatte. Das war aber die falsche Frage. "Ich lebe doch nicht ohne Politik", fuhr er mich an. Was glaubte ich denn, was er mache im Flutkuratorium und in der Deutschen Nationalstiftung, an Hochschulen, Akademien und beim Bücherschreiben? Nein, dieser Mann, der sich zeitlebens so viel darauf zugute gehalten hatte, daß er in der Wirtschaft erfolgreich gewesen war, an der Universität Karriere gemacht und als "Staranwalt" – so seine Frau – reüssiert hatte, konnte von der Politik nicht lassen.

Wieder einer. Seit vierzig Jahren beobachte ich nun Politiker aus nächster Nähe, sehe, wie die Macht sie verändert, wie sie sich einmauern in Posen von Kompetenz und Zuversicht, während die öffentliche Verachtung wächst. Alle haben sie irgendwann einmal die Welt verändern wollen, ein bißchen wenigstens, aber die meisten geraten doch alsbald in die Versuchung, ihre Wahlämter als Plattform zur Selbstbestätigung zu benutzen, sich und anderen mit ihren Privilegien Bedeutung vorzuspielen. Viele merken gar nicht, wie sie von einem Sog erfaßt werden, der ihnen immer mehr äußeren Betrieb zumutet und immer mehr innere Freiheit nimmt. Meist wollen sie es nicht wahrhaben.
Eine Weile glaubte ich mich in meiner Beobachterposition auf der sicheren Seite – bis ich merkte, daß ich als Journalist keineswegs nur Zuschauer war, der auf der Tribüne des Geschehens saß und cool protokollierte, sondern auch Zeitgenosse und Mitspieler in der politischen Klasse. Ich mußte erst selbst eine lebensbedrohliche Krise überstehen, um zu begreifen, in welches Elend manche geraten, wenn sie Politik zum Beruf machen. Hans Magnus Enzensberger hat es drastisch zugespitzt:

Der Eintritt in die Politik ist der Abschied vom Leben, der Kuß des Todes.

Mit den meisten politischen Karrieristen teilte ich einen unersättlichen Hunger nach Anerkennung und Bestätigung. Denn wie sie sah auch ich mich bald nicht nur auf der Erfolgsleiter, sondern zugleich auf der Flucht vor der immer unangenehmer werdenden Realität aus Selbstzweifeln, Furcht vor dem Scheitern und quälenden Fragen nach dem persönlichen Preis für die Karriere. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend war ich schnell weit gekommen. Mit einunddreißig Jahren arbeitete ich als dpa-Korrespondent in Washington, D.C., 1971 wurde ich Büroleiter des Spiegel in der amerikanischen Hauptstadt.

Da war damals zwar noch nicht viel zu leiten, aber zu viel für mich: Ich begann zu ahnen, daß ich meinem Aufstieg nur unzureichend gewachsen war. Zwar hatte ich gelernt, die Erwartungen meiner Umwelt zu erkennen, und ich war auch talentiert und fleißig genug, sie zu erfüllen. Doch meinem äußeren Aufstieg fehlte das innere Gegengewicht. Ich brauchte Erfolg, um meine Selbstzweifel zu kompensieren. Ich war hungrig nach Lob und Zustimmung, um meine Ängste zu ersticken. Und ich arbeitete bis zur Bewußtlosigkeit, um meinen Aufstieg zu rechtfertigen und meinem Leben einen Sinn zu geben. Das gelang mir aber erst später.

Nun erlebte ich in Grimma ohne Überraschung die klägliche öffentliche Macht-Ranschmeiße des Kurt Biedenkopf, der sich zwar immer als hochintelligenter Mann, aber selten als talentierter Politiker erwiesen hatte. Nie war ich dem selbstgefälligen CDU-Herren, den ich seit Anfang der Achtzigerjahre kannte, besonders nahe gekommen. Sein ruhmloser Abgang aus Dresden, wo er um Ikea-Rabatte gefeilscht und sich monatelang mit "Putzfrauen"-, "Miet"- und "Yachturlaubs"-Affären herumgeschlagen hatte, erschien mir umso trostloser, als er sich kurz zuvor noch öffentlich über den verhaßten Helmut Kohl belustigt hatte, weil der – als Kanzler abgewählt und als CDU-Ehrenvorsitzender abgesetzt – sich wie ein "Altbauer" aufführe, der nicht aufs Altenteil wolle. Mit deutlicher Herablassung hatte Kurt Biedenkopf begründet, woher "die irrationale Unfähigkeit zum Loslassen" komme, mit der der Altkanzler seine furiose Selbstdemontage durch illegale Parteispenden in Szene gesetzt habe: Kohl habe nun einmal seit seinem 15. Geburtstag ein Leben geführt, das auf nichts anderes als auf die Eroberung von formalen Machtpositionen ausgerichtet gewesen sei. Und nun könne er eben nicht mehr existieren ohne Macht. Das sei wie eine Sucht.

Daß Politik im "Machtrausch" enden kann, daß der Verlust einer politischen Position zu "Entzugserscheinungen" führt – das sind geläufige Redensarten in Politikerkreisen. Schon Max Weber hatte 1919 in seiner berühmten Rede über "Politik als Beruf" davor gewarnt, daß das Machtstreben des Politikers "Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung" werden könnte. Heute hantieren die Akteure selbst locker mit Sucht-Begriffen, um die Gefahren der beruflichen Verformung zu beschreiben. Und Gerd Langguth, einst CDU-Vorstandsmitglied, Bundestagsabgeordneter und RCDS-Vorsitzender, jetzt Professor für Politische Wissenschaft in Bonn, spricht gar von "Politoholics", um die Persönlichkeitsveränderungen zu charakterisieren, die die "Droge Macht" auslöst.

Sucht. Droge. Entzug. Die meisten Politiker benutzen die Begriffe aus der Junkie-Szene mit bemerkenswerter Beiläufigkeit, um ihre eigene Befindlichkeit zu beschreiben. Sie tun so, als seien die Sucht-Vergleiche bloße Metaphern, harmlose Umschreibungen für eine etwas peinliche Besessenheit. Sucht light, sozusagen.

Doch wer von Drogen redet und von Sucht, der redet zugleich von Realitätsverlust. Wenn also gerade jene Menschen Gefahr laufen, von Berufs wegen ein gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit zu entwickeln, denen wir durch Wahl den Auftrag erteilt haben, unser eigenes Leben, unsere persönliche Alltagsrealität zu ordnen, zu schützen oder sogar zu verändern, dann brauchen wir uns über den beklagenswerten Zustand der Welt nicht zu wundern.

Die "Droge Politik", hat Bundespräsident Johannes Rau gewarnt, verursache eine "Sehstörung", die er als Hauptgefahr im Leben von Berufspolitikern betrachte. Politiker neigten dazu, sagte Rau, sich so sehr an ihrer eigenen Bedeutung zu berauschen, in dem Gefühl zu schwelgen, die Welt verändern zu können, daß sie bald nicht mehr wahrnähmen, daß für andere Menschen Politik keineswegs das ganze Leben ist. Normale Bürger lesen Bücher, treiben Sport, kümmern sich um ihre Familie, haben Hobbys. Der Politiker hat von morgens bis abends nur die Politik, um die sich alles dreht – sein Denken, sein Tagesablauf, seine Phantasien, alles. Rau:

Wenn der Politiker das zu übersehen beginnt, dann politisiert er die Welt. Und weil die Realität anders ist, verschätzt er sich in der Welt.

Auch der SPD-Politiker Rau war gegen solche Irrtümer keineswegs gefeit. Ziemlich erschrocken und empört saß er im Frühjahr 2000 – während ihm im atmosphärischen Gefolge der Kohlschen Parteispenden-Affäre nachträglich angebliche Privatflüge und gesponserte Geburtstagsfeiern aus seiner Düsseldorfer Regierungszeit vorgeworfen wurden – als neu gewählter Bundespräsident im Berliner Schloß Bellevue, auf dessen Dach die goldene Präsidentenfahne mit dem schwarzen Adler flatterte. "Die Leute sagen, wenn der Lappen draußen hängt, sind die Lumpen drinnen", flüsterte er fassungslos Freunden zu, die ihn besuchten.

Daß die Anklagen unhaltbar waren, erwies sich schnell. Raus Wahrnehmungsstörung betraf auch eher sein neues Amt – er hatte offenbar geglaubt, als Staatsoberhaupt aus der Klasse der normalen Berufspolitiker ausgeschieden zu sein. Sonst hätte der alte politische Fahrensmann eigentlich nicht überrascht sein können, daß in der Vorstellung der meisten Deutschen die parteipolitischen Profis generell als korrupt, oder wenigstens als latent korruptionsanfällig gelten. Und schien nicht eine unendliche Folge von Skandalen und Affären in den vergangenen Jahrzehnten – eine Strauß-Lambsdorff-Barschel-Engholm-Späth-Krause-Streibl-Leisler-Kiep-Kohl-Koch-Klimmt-Biedenkopf-Möllemann-Döring-Kette von mehr oder minder hochgespielten Anrüchigkeiten und unzweifelhaft kriminellen Akten – diesen Eindruck zu bestätigen?

Politik als Beruf, hat Erhard Eppler geschrieben, gehöre nicht nur zum Gefährlichsten und Abgründigsten, worauf Menschen sich einlassen können, sondern auch zum Faszinierendsten, Spannendsten, ja Schönsten. Fast zögernd fügte der gestrenge Protestant in einer Art verkappter Bilanz seines öffentlichen Wirkens als Abgeordneter, Minister und freier Volkstribun der Friedensbewegung hinzu:

Vielleicht ist Politik an der Grenze dessen angesiedelt, was Menschen leisten können, ohne, um es biblisch zu sagen, Schaden zu nehmen an ihrer Seele.

Das wissen die meisten ziemlich genau, auch wenn sie über den selbstzerstörerischen Trend in ihrem Beruf nicht reden. Sie ahnen zumindest, daß es ernst ist.
Ich weiß es seit dem 9. August 1974, 12 Uhr mittags. Damals gab der 37. amerikanische Präsident, Richard Milhouse Nixon, in Washington, D.C. sein Amt an den Vizepräsidenten Gerald Ford ab. Die Watergate-Affäre, eine aus dem Weißen Haus gesteuerte Verschwörung zur Vertuschung krimineller Wahlkampfaktivitäten, hatte den Republikaner eingeholt. Nixon war der erste Präsident, den Verstöße gegen seinen Amtseid zum Rücktritt zwangen. Zum letzten Mal spielte die Marine Band "Hail to the Chief". In der Tür des Helikopters, der ihn aus dem Weißen Haus abholte, drehte sich Nixon noch einmal um und spreizte die Finger zum nun grotesk wirkenden Siegeszeichen "Victory". Er hatte keine Schuld auf sich genommen und niemanden um Verzeihung gebeten. Er tat sich leid.

Ein paar hundert Meter entfernt hockte ich derweil am Schreibtisch des Spiegel-Büros im National Press Building und versuchte vergeblich, Nixons trostlosen Augenblick als meinen Triumph zu genießen. Aus irgendeinem Grund war auch ich ganz allein. Sozusagen zur Belohnung für meine ausführliche und vorherschauende Berichterstattung in den Monaten zuvor sollte ich den Abgang des US-Präsidenten in einem Namensbericht beschreiben – in jenen Jahren im Hamburger Nachrichtenmagazin noch eine ziemlich ungewöhnliche Auszeichnung. Doch ich starrte auf den Fernseher, sah den krampfhaft um Haltung bemühten gedemütigten Mann und fühlte nichts. Keine Erregung, keine Erleichterung, kein Mitgefühl, keinen Haß, nichts. Es war eine historische Stunde, aber die Kommentare der Fernsehkorrespondenten erreichten mich so wenig wie die Bedeutung der Bilder. Ich hörte wie durch Watte, sah wie durch Milchglas. Mein Bewußtsein schien ausgeschaltet. Heute weiß ich, daß dieser taube Augenblick ein existenzieller Tiefpunkt war, daß er eine Wende in meinem Leben einleitete, nicht nur in meinem beruflichen, aber da vor allem.

Im Mai 1968 hatte ich in Washington angefangen. Da schwelten in Reichweite des Weißen Hauses noch die Trümmer der schwarzen Ghettos, die nach dem Mord an dem farbigen Bürgerrechtler Martin Luther King explodiert waren. Monatelang passierte ich die Sicherheitskontrollen zum Amtssitz des Präsidenten, 1600, Pennsylvania Avenue, NW, mit einer Art frommem Schauder. Ich war der junge Mann aus Germany, ein kaum wahrgenommener Außenseiter im legendären White House Press Corps. Den Ausweis – man trug ihn an einer Kette um den Hals – empfand ich als eine Art Orden. Auch wenn mich das Attentat auf John F. Kennedy und der schmutzige und erfolglose Krieg in Vietnam erschreckt und irritiert hatten – im Grunde waren meine positiven Vorurteile über die Vortrefflichkeit der amerikanischen Demokratie noch unerschüttert.

Dann eskalierte der Vietnamkrieg, Präsident Lyndon B. Johnson, der deftige Texaner, der John F. Kennedy nachgefolgt war und den Krieg intensiviert hatte, gab auf, die Demokraten verloren die Wahl 1968. Jetzt richtete sich der Zorn der Demonstranten gegen den Republikaner Nixon, der sich fast über Nacht aus einem geschäftsmäßig kühlen Taktiker der Weltpolitik in einen rücksichtslosen Spieler mit Menschenleben verwandelt zu haben schien. Statt, wie versprochen, den Krieg in Südostasien zu beenden, weitete er ihn aus. Dennoch wurde Nixon 1972 wiedergewählt – und das, obwohl zuvor fünf Männer, von der Presse "die Klempner" genannt, bei einem Einbruch ins Wahlkampfhauptquartier der Demokraten im Watergate-Bürokomplex erwischt worden waren, denen eindeutig Kontakte ins Weiße Haus nachgewiesen werden konnten.
Mich versetzte diese Nachricht schlagartig in ein unerklärliches und unangemessenes Jagdfieber. Ich war inzwischen zum Spiegel gewechselt, wo ich größeren Spielraum für Meinungsäußerungen hatte, aber mehr als eine kurze Nachrichtengeschichte über die obskure Räuberpistole hatte ich zunächst nicht zu bieten. Trotzdem sagte mir mein Instinkt, daß Nixons Leute, wenn nicht gar er selbst, hinter dem klandestinen Unternehmen stecken mußten.

Ich traute dem ungeliebten Nixon, für den ich auf eine mich selbst irritierende Weise zugleich Abscheu und Mitgefühl empfand, inzwischen allerhand Verrücktheiten zu. Irgendwie meinte ich etwas zu ahnen von den Ängsten und der unterdrückten Wut, die ihn antrieben, immer aufs Neue beweisen zu müssen, daß er, der einfache Kleinbürger aus Yorba Linda in Kalifornien – dem der Ruf eines schlüpfrigen, überehrgeizigen Opportunisten anhing – der rechtmäßig gewählte und auch befähigte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war. Ich war sicher, daß er scheitern würde – an sich selbst. Das blieben natürlich Vermutungen. Mit seinem Einzug ins Weiße Haus war Richard Nixon sozusagen der menschlichen Nachprüfbarkeit entrückt und zu einer abstrakten Herrschaftsfigur geworden – blutleer, aufgedonnert, schemenhaft, mehr das Image eines Präsidenten als eine kenntliche Person. Solche Enthumanisierungsprozesse, im heutigen Medienzeitalter überall üblich, gehörten schon Anfang der Siebzigerjahre zum Alltag in der politischen Weltmetropole am Potomac, dem Neuen Rom.

Das Thema "Watergate" entwickelte einen Sog, dem sich kaum einer zu entziehen vermochte. Ich am allerwenigsten. Meine Jagd nach Details, die Akribie meiner Kenntnisse über Personen, Zeitpunkte und Formulierungen sowie die aggressive Intensität meiner Argumentation kriegten wahnhafte Züge. Was nach außen wie professionelle Leidenschaft wirkte – und sich für die Berichterstattung ohne Zweifel auch höchst positiv auszahlte –, empfand ich selbst immer mehr als Besessenheit. Ich begann Richard Nixon zu hassen. Er hatte mir nicht nur endgültig meinen amerikanischen Traum von einer funktionierenden und integren Demokratie zerstört. Er trug auch persönlich alle Merkmale des kleinbürgerlichen Aufsteigers, der sich in Positionen hochgedient hatte, denen er nicht gewachsen war – so wie ich selbst. Immer zwanghafter projizierte ich meine eigenen ungeliebten Eigenschaften auf Tricky Dick, um sie an ihm zu bekämpfen.

Wohl war mir dabei nicht. Ich ahnte meine Unfreiheit, litt unter meiner Unfähigkeit zur Distanz. Die Ruhelosigkeit quälte mich. Ich lebte mit dem Gefühl, mich und meine Position verteidigen zu müssen, obwohl mich niemand in Frage stellte. Ich schlief schlecht. Ich arbeitete rastlos. Ich trank zu viel und aß zu wenig. Aus Erschöpfung wurde Depression. Medikamente kamen dazu. Doch ich blieb Richard Nixon auf den Fersen, begleitete ihn zur Nato nach Brüssel, zu Breschnew auf die Krim und in den Kreml und zu Pompidou, den sterbenskranken, durch Kortison aufgeblähten französischen Staatspräsidenten, nach Island. Merkte Nixon nicht, daß ich dabei war, ihn zur Strecke zu bringen? Wann würde er zurückschlagen? Bei jedem Telefonschrillen zuckte ich zusammen. FBI? CIA? Secret Service? Steuerbehörde? Einwanderungsbüro? Er oder ich, ich oder er – in meinem Kopf lief ein panischer High-Noon-Film in Endlosschleife.

Am Ende war Richard Nixon erledigt, aber ich hatte nicht gewonnen. Im Gegenteil – auch ich konnte und wollte in Washington nicht länger bleiben. Denn so krank, müde und depressiv, wie der Präsident wirkte, fühlte ich mich auch. Ein Hochstapler im Weißen Haus war enttarnt, nun war ich dran. Das weinerlich-selbstmitleidige und unterschwellig suizidale Lamento über seine armen Eltern, die sich krumm gelegt hatten für ihren Sohn, der es einmal zu etwas bringen sollte, weswegen er, Richard Nixon, ihnen niemals Schande machen wollte – diese Schnulze, die echten Schmerz in falsche Gefühle umsetzte, entsprach voll und ganz meiner eigenen Empfindung. Der Alkohol, mit dem ich mir aufhelfen wollte, machte alles noch schlimmer. Nein, ich konnte keine Sieger-Story abliefern, denn mir ging es miserabel. Wie Nixon suchte auch ich nach diesem Tag professionelle Hilfe wegen meines seelischen Zustands. Doch was dann monatelang von verschiedenen Ärzten zunächst als endogene Depression behandelt wurde, erhielt am Ende einen anderen Namen: Sucht.

Das Wort "Sucht" – es kommt von "siech", englisch "sick", was krank heißt – kennzeichnet einen Mangel, ein Defizit. Die Wirklichkeit wird als unerfüllt oder bedrohlich erlebt. Mit Hilfe von Drogen, ganz gleich ob chemische Mittel oder stimulierende Aktivitäten, versucht der Betroffene, dieses Defizit zu füllen. Wenn das Bedürfnis nach solchen Mitteln sich auswächst zu einem "unabweisbaren Verlangen" nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebnis- oder Bewußtseinszustand, sprechen die Fachleute von Sucht. An Mitteln zur Herstellung dieser betäubenden Gemütsverfassung war kein Mangel in meinem Job – dazu dienten Arbeit, öffentliche Wirkung, Lob und Rituale der Bedeutung, Rauchen und vor allem Alkohol. Aus Gewöhnung an diese Mittel wurde durch ständige Wiederholung und immer höhere Dosierung zunächst Abhängigkeit, dann Sucht.

Es dauerte eine Weile, bis ich diesen Prozeß erkannt, bearbeitet und akzeptiert hatte. Einzugestehen, daß ich zwar alkoholabhängig war, daß mein süchtiges Verhalten aber nicht durch Whisky, Bier oder Wein erzeugt wurde, sondern daß umgekehrt der Suff die Folge eines persönlichen Defizits war, fiel mir nicht leicht. Es half aber, daß ich schnell merkte, wie sehr auch andere sich mit dieser Problematik herumschlugen – nicht zuletzt in der Politik.

Die da oben

Etwas Zweideutiges und Heimtückisches, ja Todbringendes hat der tschechische Präsident Václav Havel in der Versuchung der Macht entdeckt, nachdem er selbst in politische Führungspositionen aufgerückt war:

Unter einem Schleier existenzieller Selbstbestätigung wird die Existenz ihrer selbst enteignet, von sich selbst entfremdet, gelähmt.

Es war aber gerade dieses Abgründige, das mich an der Politik früh gereizt hat. Neugierig auf Menschen war ich sowieso immer – auf ihre Irrtümer, ihre Vernunft und ihr Bewähren, auf ihr Scheitern und ihre Schuld, das ganze unübersichtliche Drama des Lebens.

Die Umstände meiner Kindheit und Jugend in den Bombenkellern des Zweiten Weltkrieges und im Wiederaufbaufieber der frühen Adenauer-Jahre haben es mit sich gebracht, daß dieses Interesse schon früh eine politische und historische Einfärbung erhielt. Denn die älteren Menschen um mich herum – die Verwandten, Nachbarn, Lehrer und Professoren, die mich auf den Ernstfall des Erwachsenendaseins vorzubereiten vorgaben – schienen fast alle über zwei verschiedene Biographien zu verfügen. Es irritierte mich, daß – wenn sie von sich redeten – eine unüberbrückbare Kluft ihre persönliche Alltagswelt von jener großen Geschichte zu trennen schien, die offenbar ganz ohne eigenes Zutun hineingehagelt hatte in ihr privates Geschick.

Von ihren Großtaten als treu sorgende Familienmenschen, fleißige Kleingärtner, listige Überlebenskünstler und pflichtbewußte Berufstätige wußten sie lebensprall und saftig zu erzählen – von Geburten, Hochzeiten, Krankheiten und Beförderungen. Da waren sie Helden, Schlitzohren, Tölpel und Pechvögel, und, ob glücklich oder unglücklich, immer mittendrin im richtigen Leben. Das zweite Schicksal blieb dagegen seltsam vage, farblos und abgetrennt von eigenem Selbstverständnis. Es war den verhärmten Neudemokraten irgendwie zugestoßen, als exklusive Veranstaltung von "denen da oben" über sie hereingebrochen. Die hatten sie nach Verdun in den Ersten Weltkrieg geschickt oder nach Stalingrad in den Zweiten. Die hatten Inflation, Arbeitslosigkeit, Krieg, Hungerjahre und Wirtschaftswunder gemacht. "Die da oben" – das waren der Kaiser und die Parteien, die Siegermächte, Hitler und die Nazis, die Amis, der Tommy und der Russe, schließlich Adenauer und "die in Bonn".

Vor allem deshalb, denke ich heute, habe ich Geschichte studiert und bin Journalist geworden, um herauszufinden, wie diese beiden Leben zusammenpassen. Die Abspaltungen waren mir unheimlich, das Private und das Politische zu integrieren, erschien mir unumgänglich. In meinem eigenen Leben wollte ich diese Kluft nicht zulassen, und ich wollte andere Menschen beobachten, wie sie sich gegen das Auseinanderfallen wehrten – oder wie sie es benutzten. Und wo wäre das besser zu studieren gewesen als in der Politik?

Deshalb habe ich mich nach meinem Zusammenbruch, den ich nur verkraften konnte, indem ich eine Menge über mich selbst lernte, vor allem darauf konzentriert, die handelnden Figuren in der Politik zu beschreiben. Nicht weil ich – wie etwa die Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts – noch immer glaubte, Politiker und Staatsmänner seien die großen Macher, die alle Fäden in der Hand hielten und die Geschichte lenkten. In ihnen bricht und spiegelt sich Geschichte eher. Weil sie öffentliche Ämter haben und öffentliche Funktionen ausüben, weil sie mitentscheiden, wie wir leben, verdienen sie besondere Aufmerksamkeit, nicht weil sie so bedeutsame Menschen wären. In seltenen Fällen sind sie es trotzdem.

Als ich anfing, klangen solche Einschätzungen ziemlich altmodisch. Ende der Siebzigerjahre kamen Menschen als Machtfaktoren in theoretischen Abhandlungen über Politik kaum noch vor. Biographische Darstellungsformen galten als überholt. Strukturen und Systeme, Bürokratien, Märkte und Kulturen schienen Geschichte zu machen, wenn die sich nicht ohnehin dem Ende zuneigte, künftig abgelöst von einer die Zeit einebnenden virtuellen Globalität. Doch dann geriet mit dem Fernsehen der Mensch wieder in den Blick – die Glotze brauchte action. Und prompt reduzierten sich hochkomplizierte politische Zusammenhänge auf archaische Kämpfe zwischen Helden und Schurken, Rettern und Opfern, Machern und Moralisten. Je differenzierter und unüberschaubarer Politik wurde, desto mehr wuchs das Bedürfnis von Parteien und Wählern, mit Hilfe des Fernsehens einzelne Personen als Symbole für Kompetenz, Integrität und Durchsetzungskraft eines politischen Konzeptes herauszustellen und zu akzeptieren. Nach amerikanischem Vorbild, das ich ja sieben Jahre lang vor Ort hatte studieren dürfen, wurden auch in der Bundesrepublik aus Wahlkämpfen zunehmend Duelle zwischen den Spitzenkandidaten der Parteien.

Uns schreibenden Journalisten blieb die Aufgabe, zu den Bildern spannende Geschichten zu erzählen. Hinter den Gesichtern in der "Tagesschau" sollten Lebensmodelle erkennbar werden, die zur Identifikation einluden. Denn es sind ja nicht in erster Linie die Aussagen eines Politikers, die ihn für die Fernsehzuschauer attraktiv oder abstoßend machen. Nur zu sieben Prozent, haben Kommunikationswissenschaftler ermittelt, reagieren Menschen auf Worte und Aussagen. Tonfall und Stimme beeinflussen das Urteil zu 38 Prozent, den Rest – 55 Prozent – prägen Körperhaltung, Gesten, Gang und Mimik. Und so hängt die Glaubwürdigkeit von Politik weitgehend davon ab, ob die Politiker ihre Inhalte durch Auftreten zu legitimieren vermögen. Sie bieten der Öffentlichkeit ein Bild von sich an – ist es durch ihr Leben gedeckt?

Das interessierte mich, nachdem ich an Richard Nixon wie auch am eigenen Leib erlebt hatte, daß es offenbar nicht ausreichte, die nötigen Begabungen für bestimmte Positionen zu besitzen – man mußte ihnen auch charakterlich und menschlich gewachsen sein. Gab es so etwas Altväterliches wie sittliche Integrität überhaupt noch? Was waren das für Menschen, die Politik zum Beruf machten? Was trieb sie an? Von welchen hohen Träumen und tiefen Ängsten, Ehrgeiz und Trieben, Hemmnissen und Prägungen wurden sie bestimmt? Willy Brandt, der während seiner jungen Jahre in Oslo lange Gespräche mit dem politisch engagierten Psychoanalytiker Wilhelm Reich geführt hatte, wunderte sich später häufig, daß die seelischen Probleme und die neurotischen Störungen von Politikern in der öffentlichen Diskussion in Deutschland so wenig erörtert wurden. Man frage viel zu wenig, "wie es zu bestimmten Fehlentscheidungen oder zu bestimmtem Fehlverhalten kommt. Man nimmt sie einfach so hin, als Faktum", sagte Brandt 1989 in einem Interview. Das sei ein Fehler. Es werde so getan, als ergebe sich alles aus politischen Erwägungen, aus parteipolitischen Interessen oder aus sachlichen Notwendigkeiten. Brandt:

Daß die Beweggründe eines Politikers sich häufig aus dessen Struktur mehr ergeben als aus den eingespielten politischen Regeln, das, finde ich, wird viel zu wenig beachtet.

Muß man, um das erkennen zu können und beurteilen zu dürfen, ausgebildeter Psychoanalytiker sein? Im Studium der Psychologie bin ich über die Köhlerschen Affenversuche nicht hinausgekommen, der Statistikkurs hatte mich vergrault. Auf der Psycho-Couch eines Analytikers habe ich nie gelegen. Mit Hilfe verschiedener Methoden der humanistischen Psychologie und durch langjährige Sitzungen in Selbsterfahrungsgruppen glaube ich mir aber so viel Menschenkenntnis angelernt und anerlitten zu haben wie meine Großmütter in der Alltagspraxis ihrer Großfamilien. So gerüstet habe ich mich teilnehmend dem politischen Personal in Bonn und Berlin genähert. Wie sehr dabei mein Blick auf die Befragten durch die eigene Befindlichkeit bestimmt war, ist mir im Nachhinein erst so recht deutlich geworden.

Natürlich nahm ich die Personen, über die ich schrieb, als Individuen ernst. Auch habe ich ihre sozialen Rollen, ihre Herkunft und ihre Lebensgeschichte sorgsam zu recherchieren versucht. Doch die jeweilige Sehweise auf den anderen – ob meine Aufmerksamkeit sich auf Fassaden, Identitäten oder Inszenierungen konzentrierte – hatte mit meiner persönlichen Biographie zu tun, mit dem jeweiligen Stand meiner Selbsterkundung.

Wichtig blieb mir jedoch immer, daß Berufspolitiker Handeln und Verantwortung nicht nur darstellen, sondern daß sie als gewählte Vertreter des Volkes auch wirklich entscheiden und für ihr Handeln verantwortlich sind. "Entscheidend kommt es am Ende immer wieder auf die Person in der Politik an", hat der politische Praktiker Richard von Weizsäcker bekräftigt. "Sie kann Fehlentwicklungen korrigieren. Zweifellos kann sie aber auch Gefahren heraufbeschwören."

Weizsäcker – inzwischen Bundespräsident a. D. – versuchte im Februar 2003 im Französischen Dom am Berliner Gendarmenmarkt aktuelle Antworten auf Fragen zu finden, die 1919 Max Weber zum ersten Mal öffentlich formuliert hatte: Was ist ein Politiker? Was treibt ihn? Was betreibt er? Einen Beruf? Max Weber selbst – Jurist, Historiker, Soziologe – war im Revolutionswinter 1919 gerade mit seinem Versuch gescheitert, ein Mandat der Deutschen Demokratischen Partei für die Nationalversammlung der Weimarer Republik zu erhalten. Aber aus Sorge um das Gelingen der jungen Demokratie in Deutschland ließ er nicht nach in seinem Bemühen, die bürgerliche deutsche Abneigung allem Politischen gegenüber zu bekämpfen. Bis heute kommt niemand, der sich ernsthaft mit dem Politikbetrieb und den politischen Profis befaßt, an seinen Maßstäben vorbei.

Offenbar hatte Weber vor allem den Idealtypus des homo politicus im Sinn, weniger den gemeinen Berufspolitiker. Und doch trifft die Grundbeschreibung auch diesen: "Kampf um die eigene Macht und die aus dieser Macht folgende Eigenverantwortung für seine Sache ist das Lebenselement des Politikers." Webers Forderungen an einen Menschen, der dafür gerüstet sein möchte, "seine Hand in die Speichen der Geschichte legen zu dürfen", heißen Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Auch die berühmte Geduld für "starkes langsames Bohren von harten Brettern" verlangt er vom Politiker sowie die Einsicht: "Politik wird mit dem Kopf gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele."

Diese Qualifikationen gehören seither zum Pflichtrepertoire der Selbstbeschreibung politischer Profis.

Traumtänzer

Besonders angesehene Leute waren Politiker nie. Schon der französische Historiker und Politiker Alexis de Tocqueville, der während der Revolution von 1848 in der Französischen Nationalversammlung saß und unter der Diktatur des Louis Napoleon seine Erinnerungen schrieb, machte aus seiner Abscheu vor dem Opportunismus, der platten Verlogenheit und der Mittelmäßigkeit seiner Politikerkollegen kein Geheimnis. Sie besäßen "die wertvolle und in der Politik manchmal unerläßliche Gabe", höhnte er, "ihre Überzeugungen ihren augenblicklichen Begierden und Interessen anzupassen, und gelangen so dazu, auf verhältnismäßig anständige Weise ziemlich unehrenhaft zu handeln". Der deutsche Volkswirtschaftler Werner Sombart sprach vor dem Ersten Weltkrieg geradezu mit Ekel von der "unseligen Spezies der Berufspolitiker" als von einer Art unehrlichen Gewerbetreibenden – "geistig öde, ethisch verlogen, ästhetisch roh". Und Thomas Mann hieß 1918 in den Betrachtungen eines Unpolitischen den Politiker "ein niedriges und korruptes Wesen", das in geistiger Sphäre eine Rolle zu spielen keineswegs geschaffen sei.

An diesem Negativ-Image hat sich bis heute nicht viel geändert. In der Skala der Traumberufe, die im Jahr 2000 bei den Männern von Spitzensportlern und bei den Frauen von Stewardessen angeführt wurde, kamen Politiker nicht vor; bei einer Rangfolge von "ehrlichen Berufen" – mit Pastoren, Apothekern und Polizisten an der Spitze – landeten Bundestagsabgeordnete ein Jahr später knapp vor Autoverkäufern und Immobilienmaklern am Schluß. Niemand schien besonders überrascht über die Parteispenden-Skandale; die Erwartung an die Sachorientierung der Politiker, an ihre politische Leidenschaft für die Lösung der Probleme des allgemeinen Wohls scheinen auf ein Minimum gesunken. Filz und Vetternwirtschaft, Absahnermentalität und egoistisches Versorgungsdenken werden den Parteien und ihren professionellen Vertretern nahezu selbstverständlich zugerechnet. Und nach einer Umfrage von 2003 fanden 80 Prozent der Bundesbürger, das Ansehen von Politikern sei seit der Bundestagswahl im Jahr davor "eher gesunken".

Die Zahl der Berufspolitiker in der Bundesrepublik Deutschland ist geringer, als ihre öffentliche Wirkung und die allgemeine Empörung über sie vermuten läßt. Hans Herbert von Arnim, einer der unermüdlichsten Kritiker des politischen Personals, kommt auf 16.826 Frauen und Männer, die als Politiker ihren Lebensunterhalt verdienen – unter Berücksichtigung von gut 2000 Abgeordneten aus 16 Landtagen, 603 Bundestagsabgeordneten, 99 deutschen Vertretern im Europäischen Parlament, einer Bundesregierung und 16 Länderregierungen samt Ministern und Staatssekretären, der direkt oder indirekt gewählten hauptamtlichen Bürgermeister, Dezernenten und Landräte, sowie der fest angestellten Mitarbeiter der Parlamentarier. Nicht in dieser Zahl enthalten sind die fest angestellten Funktionäre der Parteien.

Ich habe mir angewöhnt, von der "politischen Klasse" zu sprechen, wenn ich die Polit-Profis meine, wobei ich den Begriff beschreibend benutze, nicht, wie vielfach üblich, denunziatorisch als Ausdruck verbalen Widerstandes gegen eine neue Privilegienstruktur. Denn die polemisch geführte Debatte über Pensionsansprüche, Nebeneinkünfte, Luxusreisen, Dienstwagen und Bonusmeilen scheint mir oft in klischeehafter Banalität die eigentlichen Probleme zu verdunkeln. Ich halte eher die gesellschaftliche Isolierung und den häufig ärgerlichen Mangel an Sach- und Weltkenntnis dieser Generalisten mit Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft – wie Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Mehrheit der Abgeordneten einmal charakterisierte – für eine gefährliche Entwicklung.

Politik als Beruf, das hieß und heißt in Deutschland praktisch, daß die meisten Akteure in keinen anderen Beruf wechseln können, weil sie nichts anderes gelernt haben als jenen Teil von Politik, den die Amerikaner politics nennen, was – im Gegensatz zu policy – nur die Tricks und Fertigkeiten des parteipolitischen Ränkespiels meint, nicht Inhalte, Programme oder gar Visionen. "Das sind doch fast alles Traumtänzer", spottet der greise Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis über die gestern und heute Regierenden:

Der Wirklichkeitsverlust unserer führenden Politiker, und das begann bei Kohl, ist tief beängstigend.

Ihren Politikstil empfindet er als unernst, bei niemanden kann Hennis "große sachliche Kenntnisse" ausmachen. Gerade die fatale Neigung der politischen Führungseliten, ihre Ohnmacht angesichts der hoch differenzierten und komplexen gesellschaftlichen Probleme hinter selbstgewissen Posen und beruhigenden Formeln verstecken zu wollen, entlarvt den Anspruch nur allzu oft als öffentliche Lüge.

Glücklich sind die Betroffenen damit selbst nicht. Ein Minister, der sicher ist, daß die Leute ihm ein Eingeständnis seiner Machtlosigkeit nicht honorieren würden, hat mir sein Dilemma so beschrieben:

Da sitzt du schon am frühen Morgen im Auto, hörst Radio, liest Zeitung, telefonierst und wartest, daß irgendwo irgendwas schief läuft. Nie weißt du: Wann passiert die Riesensauerei? Wann machst du den zentralen Fehler, wo du abrutschst. Dann mußt du handeln, oder besser: Du mußt so tun, als ob du das Problem lösen könntest. Meist kannst du ja gar nix machen. Entscheidend ist also, welche Erscheinung du von dir in die Welt setzt, daß du also Handlungen vortäuschst. Denn das fragen doch immer gleich alle: Hat er gehandelt? Und je weniger konzeptionell du bist, desto mehr Fiktion mußt du liefern. Das wird dann zur Masche.

War das immer so? An großen Ereignissen und Veränderungen hat es in den letzten zwanzig Jahren gewiß nicht gefehlt. Aber machten die Politiker mehr oder gar anderes, als sowieso geschah? Gut – Helmut Kohl bei der Euro-Einführung, Gerhard Schröder beim Nein zum Irak-Krieg. Aber sonst? Management des Betriebs, Verwaltung des Zustands. Wochenlang bin ich in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder bei Wahlkämpfen mit den Kandidaten durch das Land gehetzt – mit Helmut Kohl und Johannes Rau, mit Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping, mit Gerhard Schröder und Edmund Stoiber, Joschka Fischer, Angela Merkel und Guido Westerwelle. Manchmal war das nicht unspannend, unterhaltsam fand ich es immer, abwechslungsreicher jedenfalls als den Alltag in Bonn. Aber aufregend, leidenschaftlich, elektrisierend? Da waren routinierte Manager der Macht unterwegs, die es verstanden, noch das kleinste Karo in große Worte umzumünzen und dazu ein betroffenes Gesicht zu machen. Aber Ziele, die mich bewegt hätten, Hoffnungen, die mein Engagement gefordert hätten, Projekte, die mein Herz angesprochen hätten? Fehlanzeige.

Das Auftreten der ersten beiden Bundeskanzler, die ich Ende der Sechzigerjahre in Washington erlebte, Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt, war deutlich bestimmt durch ihr persönliches Schicksal inmitten der deutschen Geschichte. Während wir jüngeren Korrespondenten aus der Bundesrepublik froh waren über jede Minute, die Kiesinger über seine in Washington lebende Enkelin "Fröschle" schwätzte, weil er in dieser Zeit nicht nach seiner Nazi-Vergangenheit gefragt werden konnte, mokierte sich der Emigrant und Antifaschist Willy Brandt über die vielen Nazi-Filme im US-Fernsehen, wenn Fragen zur neuen Rechten in Westdeutschland kamen. Und abends erzählte er im kleinen Kreis, wie Fritz Erler und er bei ihrem ersten Amerika-Besuch während der kommunistenfresserischen McCarthy-Zeit einmal um vier Uhr morgens angeheitert am Weißen Haus vorbeigefahren seien und – im offenen Wagen stehend – die Internationale gesungen hätten.

Es gibt eine unheilvolle deutsche Tradition fehlender Einfühlung in die eigene Befindlichkeit, die vom Wilhelminismus bis zu den Nazis den seelischen Untergrund von Generationen prägte. "Affektive Entwirklichung" nennt der Psychoanalytiker Tilman Moser diese Verschüttung biographischer Wahrheiten, die sich in allen Bereichen des Lebens auswirkte – auch, wenn nicht gar vor allem, in der Politik. Doch die historischen Ereignisse der Hitler-Barbarei und der "Scheiße des Krieges", wie Helmut Schmidt bis heute gern sagt, waren so intensiv und verheerend, daß sie – trotz der kollektiven Tabuisierung des Persönlichen – die innersten Lebensbezirke der Zeitgenossen berührten. Die persönliche Existenz der Weimarer Generation, der Soldaten und Flakhelfer, ihr Blick auf Welt und Menschen, wurde davon für immer geprägt.

Danach rückten in die politischen Ämter der Bundesrepublik junge Deutsche ein, die weniger von ihren persönlichen Erfahrungen als von ihren Ambitionen und Karriereträumen beflügelt wurden. Für sie wurde Politik mehr und mehr zur bloßen Laufbahn, zu einem Aufstiegskanal für Emporkömmlinge. Die von Max Weber erwartete "geschulte Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens, und die Fähigkeit, sie zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu sein", von der die Alten gezeichnet blieben, verdünnte sich bei ihren Nachfolgern zum scheelen Seitenblick auf den Konkurrenten beim Gerangel um öffentliche Erfolge.

Mit vielen bin ich mitgewachsen. Ich sah, wie die Erfahrungen des Aufstiegs ihr Mißtrauen schärfte. Sie kannten sich aus mit der Angst vor eigenen Fehltritten und der Heimtücke anderer. Das machte sie "beinhart", wie Gerhard Schröder bekannte, und zynisch. Jeder kämpft gegen jeden. Die Zweckbündnisse der Politik zerbrachen bei veränderter Lage. Im glücklichsten Fall blieben den politischen Stars ein paar private Freundschaften. "Jeder, der Erfolg hat – und das heißt auch, sich durchsetzen –, wird Gegner hinterlassen, Enttäuschungen produzieren, auch Wut. Dann heißt es, er geht über Leichen", rechtfertigte sich Joschka Fischer. Der grüne Vizekanzler und Außenminister schwelgt in Bergsteiger-Bildern, um die extremen Belastungen zu beschreiben, die Politiker auf der letzten Etappe ihres Weges zum Gipfel aushalten müssen. Mit fast kindlicher Bewunderung, die vor sich selbst keineswegs Halt macht, beschreibt er strahlend die Strapazen auf dem Marsch zum Gipfel. Kanzlerschaft, Regierung – das sind für Fischer die Achttausender der Politik. Bis auf 7000 Meter brächten es viele Talente, höhnt Fischer mit genüßlichem Schaudern. Auf den letzten Metern aber sieht er viele festgefrorene Politikerleichen in der Wand hängen. Er selbst aber hat es geschafft, er sieht sich auf dem Mount Everest: "Da ist die Luft dünn und der Wind eisig."

Um sich gegen Verletzungen zu wappnen, lernen Spitzenpolitiker, sich emotional zu reduzieren. Vielleicht ist das die Voraussetzung dafür, ins politische Hochgebirge aufzusteigen. Sie spalten ganze Bereiche ihrer Persönlichkeit ab, verweigern das Nachdenken über Fehler und Niederlagen, wehren Selbstzweifel ab, suchen Schuldige anderswo und klammern sich so an eine durchsetzungsfähige Siegerversion von sich selbst.

Aber sind die wirklich mächtig, die es bis ganz oben geschafft haben? Gewiß, die üppige Ausstattung ihres Arbeitsplatzes suggeriert Macht. Denn die Luftwaffenjets, die gepanzerten Limousinen, die Leibwache und die Suiten in Luxushotels, die den Spitzenleuten in ihren demokratischen Ämtern ein kinohaftes Königsleben ermöglichen, sind ja keine Attrappen. Mag auch der Luxus der Sicherheit geschuldet sein und der Funktionalität des Amtes – verführerisch ist er trotzdem. Alles signalisiert: Wichtig! Very important person! Überrascht erkannte der PDS-Fraktionschef Gregor Gysi nach zehn Jahren Parlamentszugehörigkeit in der kapitalistischen Bundesrepublik die Kehrseite: "Politiker sind oft hilflos, ohnmächtig, überfordert." Allerdings geständen sich die meisten die Begrenztheit ihrer Wirkungsmöglichkeiten nicht ein, ergänzte er. Im Gegenteil: "Politiker sind an dem trügerischen Bild, das über sie existiert, sogar interessiert."

Kann es verwundern, wenn der eine oder andere sich womöglich unersetzlich findet mit der Zeit? Stets sitzen sie in der ersten Reihe, immer wollen sie das Beste, Applaus ist ihnen sicher. Schnell haben sie herausgefunden, welche Gesten und welche Floskeln beim Publikum ankommen. Und sie werden ihrer eigenen Erfolgstiraden nie überdrüssig. Sie gefallen sich immer aufs Neue, wenn sie sich im Radio noch einmal hören oder in der "Tagesschau" sehen: Guck, da bin ich schon wieder. Sollten sie es nicht selbst registrieren, hilft die Umgebung. "Hans-Dietrich, du bist im Fernsehen", gellte mütterliches Triumphgeschrei durch die Genscher-Villa im Bonner Vorort Pech, sobald der Außenminister während seiner Amtszeiten über den Bildschirm flimmerte.

Der Blick für die kleinen Schwierigkeiten des Alltags verliert sich. Alles scheint möglich. In der Umgebung von Macht halten alle Zerrspiegel der Täuschung bereit. Die zeigen einen öffentlichen Helden. Für die Betroffenen ergibt das eine seltsame Diskrepanz. Auf der einen Seite wird der Spitzenpolitiker zum Prominenten schlechthin. Völlig entindividualisiert, geistert er als glorreiche Schablonen-Figur durch die öffentliche Landschaft, die mit einem normalen Lebewesen nicht mehr vergleichbar scheint. "In der Politik gibst du die Souveränität über dich auf", hatte Gregor Gysi schon geahnt, bevor er in Berlin Senator wurde, "du verfügst nicht mehr über dich: nicht über dein öffentliches Bild, nicht über dein Image, nicht über deine Zeit."

Das blieb so. Aber zusätzlich lernte Gysi jetzt die andere Seite kennen: Als Medienversion des Helden wurde er ganz persönlich für alles haftbar gemacht, was in der Welt passierte. Auf dem Bildschirm ist er der, um den sich alles dreht, im Positiven wie im Negativen. Als die Firma Herlitz in Berlin Pleite machte, standen die Arbeitslosen bei Gysi vor der Tür, nicht bei den Banken. Und die Kameraleute waren dabei.

So ist es überall. In allen politischen Institutionen, Gremien oder Parteien sind sämtliche Handlungen und Charaktere auf den politischen Hauptdarsteller ausgerichtet: Er muß – möglichst mit Taten, auf jeden Fall aber mit Worten – den Dingen einen Sinn geben, Orientierung schaffen. Das ist eine Überforderung, die schmeichelt und nervt. Sie putscht die Akteure auf und deformiert sie zugleich. "Die gesamte Gesellschaft nimmt teil an den Verletzungen", sagt Angela Merkel, "man ist sozusagen auf dem öffentlichen Markt."

Sucht ist Ersatz

Umgekehrt werden die Politiker mit der Lebenswirklichkeit ihrer Bürger ebenfalls vor allem durch Fernsehbilder konfrontiert. Was widerfährt ihnen denn noch persönlich? Längst ist der politische Betrieb für die meisten Akteure zum Ersatz für das richtige Leben geworden – und damit zur Einbruchstelle von süchtiger Deformation. Denn Ersatz ist das Wesen der Sucht. Drogen ersetzen das Eigentliche: Anerkennung, Sinn, Glück, Glauben, Liebe, Sicherheit.

Meine an Richard Nixon – und natürlich auch an mir selbst – gewonnenen Erfahrungen halfen mir beim Verständnis der Barschel-Affäre und des Möllemann-Endes, des Lafontaine-Rücktritts und der Geltungsgier Helmut Kohls. Aber nicht nur die Extremfälle, sondern der Alltag des politischen Betriebes mit seiner zunehmend um sich selbst drehenden Hektik, der "Machtvergessenheit und Machtversessenheit" (Richard von Weizsäcker) der Parteien und der Realitäts- und Lebensfremdheit vieler Akteure erschienen mir süchtig. Je intensiver ich mich mit dem Suchtphänomen befaßte, während ich gleichzeitig weiter hauptberuflich das Geschehen aus der Nähe beobachtete – ab 1975 in Bonn, seit 1989 in Berlin –, desto auffälliger wirkten die Überschneidungen. Wenn der Nutzen des Drogenkonsums in der Entlastung von Ohnmachtsgefühlen, Kränkungen und Selbstwertzweifeln besteht – wo wäre der Unterschied? Wahrgenommen, bemerkt und anerkannt zu werden, ist das Hauptziel jedes Süchtigen. Es ist auch das Bestreben jedes Politikers in der Medienwelt.

Alle wollen sie bemerkt und gemocht und am Ende natürlich gewählt werden. Das Fernsehen habe die Politik nicht nur deshalb so tiefgreifend verändert, glaubt Altkanzler Helmut Schmidt, weil es die Politiker zur Oberflächlichkeit verführt:

Es macht sie auch sympathiesüchtig.

Die Versuchung zum Opportunismus, ohnehin immer eine Gefahr für die demokratisch gewählten Vertreter des Volkes, werde übermächtig. Schmidt:

In der Demokratie werden Sie nämlich nur gewählt, wenn Sie sich ausreichend angenehm machen.

Das heißt: Der Politiker sagt Dinge, von denen er glaubt, daß seine Zuhörer sie denken. Vor allem sagt er nicht, was sie nicht hören wollen. In diesem Zusammenspiel zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern wird die Suchtgefahr am deutlichsten – die Wähler werden zu Co-Abhängigen, wie es in der Therapiesprache heißt, zu Komplizen der von sich selbst und ihren Privilegien Berauschten, die ihnen zum Dank dafür die Welt schönreden.

In Wahrheit sind die Politiker den Bürgern ziemlich ähnlich. Daß die Bereitschaft, rücksichtslos – und möglichst am Finanzamt vorbei – in die eigene Tasche zu wirtschaften und egoistisch auf den eigenen Vorteil zu pochen nur eine Eigenart der politischen Klasse wäre, läßt sich gewiß nicht behaupten. "Politikverdrossenheit und ihre permanente Beschwörung halte ich in den meisten Fällen für eine unernste Luxushaltung des verbrämten 'Ohne mich', einen billigen Freibrief zum Meckern", schrieb der Philosoph und Theologe Richard Schröder, der 1990 SPD-Fraktionsvorsitzender in der frei gewählten Volkskammer war.

Es geht um Wirklichkeit. Die krasse Realit ät ist für niemanden uneingeschränkt erfreulich. Für den Politiker aber, der gewählt wird, um den Bürgern ein möglichst erfreuliches Leben zu gestalten oder wenigstens vorzugaukeln, ist eine verunsichernde Realität besonders bedrohlich. Also versucht er, sie zu schönen: Ängste zu leugnen, Störungen abzuwehren und sich selbst zu bestätigen. Das macht ihn zum Dienstleistungspolitiker. Tatsachen verwandelt er in Ansichtssachen, durch symbolische Politik ersetzt er, was an Handlungen unterbleibt. Verändert werden solle weniger die äußere Welt, sagt der Soziologe Claus Offe, "als das Bild, das wir uns von ihr machen, und die Erwartungen, die wir an sie richten". Macht hat, wessen Wirklichkeitsversion von der Mehrheit der Wähler geteilt wird. Im Idealfall könnten Politiker ihren Wählern natürlich zumuten, das Störende zu akzeptieren. Das wäre staatsmännisch. Im schlimmsten Fall lenken sie die Wut ihrer Klientel auf Sündenböcke. Das wäre Demagogie. Im Normalfall aber rühren Politiker nicht an Themen, die den Leuten Einsichten oder Einbußen abverlangen. Immer häufiger entwickelt sich so eine wechselseitige Manipulation, mit der sich Politiker und Wähler in ihrer Gemütsruhe bestätigen. Das macht die Bürger immer verdrossener, die Politiker immer unfreier.

Daß ich über meine Beobachtungen und Erfahrungen zu diesem Thema ein Buch schreiben würde, stand für mich seit zwanzig Jahren fest. Ich habe so lange gewartet, weil ich wußte, daß ich mich selbst als Süchtiger zu erkennen geben müßte, sollte die Charakterisierung der Politiker als potentielle Erfolgs-Junkies nicht denunzierend wirken. Und sozusagen offiziell als trockener Alki outen wollte ich mich erst, wenn ich für den Spiegel, der mich in meiner Notzeit vorbildlich geschützt und gestützt hatte, nicht mehr im politischen Tagesgeschäft tätig sein würde. Denn natürlich hat der Sucht-Begriff ja auch heute noch einen diffamierenden Beigeschmack: Er enthält einen moralischen Vorwurf gegenüber angeblich Willensschwachen, Undisziplinierten, wenn nicht gar Verwahrlosten. "Ob etwas als Sucht bezeichnet wird, und wie sehr die Sucht verurteilt wird, hängt davon ab, wer sie hat", schreibt die Psychoanalytikerin Thea Bauriedl.

Die Sucht der Herrschenden und der "Normalen" wird nicht oder nur vorsichtig als solche benannt und zumeist mit irgendeinem "Sachzwang" entschuldigt.

Natürlich weiß ich, daß es vieler Reformen und Veränderungen im institutionellen Umfeld der Parteien, Parlamente und des Staates und der Medien bedürfte, um Politikern ihre innere Freiheit zu sichern. Letztlich ist aber auch in diesem Gewerbe jeder selbst – wie jeder Workaholic, jeder Computer-Freak oder jeder fröhliche Zecher – dafür verantwortlich zu erkennen, wann süchtige Entgleisungen sein Leben zu beherrschen beginnen. Die zunehmende Fülle der öffentlichen Äußerungen zu diesem Thema deutet darauf hin, daß sich viele Polit-Profis der psychischen Unfallgefahr an ihrem Arbeitsplatz bewußt zu werden beginnen.

Nach meinem Eindruck ist die Flucht in die Sucht ganz und gar keine Spezialität der politischen Klasse. Eher halte ich die Politiker in dieser Hinsicht wirklich für "Volksvertreter", Mandatsträger einer Suchtgesellschaft. Ihre Besonderheit ist freilich erstens, daß ihre berufsbedingte "Sehstörung" nicht Privatangelegenheit bleibt, sondern unser aller Leben beeinflußt. Und daß zweitens die Verführungen zur Deformation für sie in jüngster Zeit weitaus zahlreicher und wirksamer geworden sind als die Bildungschancen. Eppler:

Die wachsende Übermacht der Medien über die Politik, des Verkaufens über das Erarbeiten, des Scheinens über das Sein, der Inszenierung über die Aktion machen Deformation immer wahrscheinlicher, Reifung immer erstaunlicher.

Doch unmöglich ist das Erstaunliche nicht.

Die Berliner Republik

Das Raumschiff

Politiker tun sich schwer mit dem richtigen Leben. Nicht nur haben sie Schwierigkeiten, es zu bewältigen, es macht ihnen schon Mühe, es überhaupt zu erkennen. Kein Wort habe die Union "zur realen Lage" in der Bundesrepublik gesagt, empörte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder Dezember 2002 im Bundestag. Höhnisch fragte er den CSU-Sprecher Michael Glos: "Über welches Land reden Sie eigentlich?" Und für die Grünen nahm sich die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt die CDU-Vorsitzende vor: "Frau Merkel, haben Sie denn keine Möglichkeit mehr, die Realität in diesem Lande wahrzunehmen?" Prompt lederte die an die Adresse des Bundeskanzlers zurück: "Sie haben ja langsam einen Tunnelblick in Bezug auf das, was die Realität in diesem Lande ausmacht." Und ihr Parteifreund Steffen Kompeter assistierte: "Sie liefern ein absolutes Zerrbild nicht nur von der Wirklichkeit, sondern vor allem von den angeblichen Erfolgen Ihrer Regierungsarbeit. Sie haben in Ihrer Rede jedweden Bezug zur Wirklichkeit vermissen lassen."

Eigentlich war das, im Gebäude des Berliner Reichstages, eine typische Bonner Debatte. Dort am Rhein, in der idyllischen Provinz, war es ja realistisch gewesen, einander Wirklichkeitsverlust vorzuwerfen. Dort galt es sozusagen als ausgemacht, daß die "wahre Wirklichkeit", wie Kanzler Schröder zu sagen pflegt, bei den Menschen draußen im Lande zu Hause war, aber nicht zwischen den lieblichen Vorgärten im Villenviertel rund um das Kanzleramt, wo sich die drittgrößte Industriemacht der Erde vor der Weltpolitik wegduckte. Ex-Justizminister Jürgen Schmude (SPD) hatte mich, als ich ihm in den Monaten nach der deutschen Vereinigung allzu ungeduldig auf politische Konsequenzen aus der radikal veränderten Situation zu drängen schien, einmal an die Fenster im obersten Stockwerk des Abgeordnetenhochhauses "Langer Eugen" geführt und auf das romantische Panorama des Siebengebirges gedeutet. "Sie müssen doch zugeben", spottete er, "daß man dahinter den Osten beim besten Willen nicht erkennen kann."

Das Treibhaus hatte Wolfgang Koeppen in einem frühen Roman die provisorische Hauptstadt am Rhein genannt. In dem schwülen Klima zwischen Drachenfels und Venusberg gediehen vor allem Eitelkeit und selbstgezüchtete Aufgeregtheiten der angereisten Politiker, die zu den rheinischen Menschen wenig Zugang fanden. "Bonn war eine kleine Stadt, die im politischen Leben nicht wirklich vorkam", fand vierzig Jahre später Wolfgang Thierse, der Parlamentspräsident, der sich damals wie auch heute noch, vom Kollwitzplatz im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg aus zur Arbeit in den Bundestag aufmachte – bis 1999 nach Bonn, seither nach Berlin Mitte. "Berlin aber hat selber so viel Gewicht, daß die Stadt und ihr Leben die Politik in ihrer Bedeutung relativieren können."

Die Politik in ihrer unrelativierten Bedeutung – das meinte die nimmermüde, um sich selbst zirkulierende politische Klasse, den Insider-Betrieb der nahezu ausschließlich mit ihrer eigenen Bedeutung beschäftigten Bescheidwisser und Wichtigtuer von Ministern, ehemaligen Ministern, künftigen Ministern und journalistischen Ministermachern, von Parlamentariern, Lobbyisten, Diplomaten, Pressesprechern, Redenschreibern und Beamten, denen in Bonn niemand entrinnen konnte. Mein erster Karneval begann mit einem in Mullbinden gewickelten Bettler, der greinend auf dem Parkplatz unseres Bonner Redaktionsbüros saß und "um ’ne Mark für’n Kölsch" barmte. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn als Norbert Blüm identifizierte.

Für den damals noch grünen Großbürger Otto Schily gehörten solche Episoden zu den Trostlosigkeiten einer provinziellen Tristesse, die er nur schwer aushielt. Er fand "die sterilen Aufgeregtheiten, die verschnulzten Sprechweisen" und "hausbackenen Rituale" ebenso unerträglich, wie die "entsetzlichen Zusammenrottungen, die in Bonn als Feste ausgegeben werden und hauptsächlich als Staffage für die Werbung von Brauereien und Würstchenfabrikanten dienen".

Als Pressemensch gehörte ich dazu. Das war einfach so in der rheinischen Republik. Für mich bedeutete das eine radikale Umstellung, denn in Washington blieben Auslandskorrespondenten immer außen vor. In Bonn hingegen war Abstand schwerer hinzukriegen als Nähe. Du wußtest, welcher Abgeordnete dir am Sonntag in der Sauna begegnen würde, welcher Botschafter am Samstag, und daß du am Mittwoch dort Richard Stücklen beim Skat zusehen konntest. Beim Schwimmen traf man gegen acht Uhr morgens Richard von Weizsäcker im Godesberger Kurfürstenbad, beim Italiener in Kessenich tafelte Helmut Kohl mit seiner Carbonara-Runde, die rundliche Wirtin Didi bemutterte im "Midi" nahe dem Auswärtigen Amt die Grünen. Norbert Blüm hechelte mit zwei Spiegel-Redakteuren durch die rechtsrheinischen Wälder. An "Ossis Bar" im Bundestagsrestaurant lallte verläßlich der Hannoversche Liberale Detlef Kleinert. Am Gemüsestand des Eifelbauern auf dem Heiderhof starrte ein lebloser Herbert Wehner ins Rheintal hinunter, während seine Frau Greta Gurken einkaufte. Beim Elternabend des Heinrich-Hertz-Gymnasiums saß ich neben Anke Fuchs. Und der freundliche Mensch, der an der Ampel aus dem auf der Nebenspur wartenden Auto winkte, war der Bundespräsident. Seine Frau saß am Steuer, also war "Ritchie" mal wieder seinen Sicherheitsleuten entwischt. Ich winkte zurück. Alles war berechenbar, unüberraschend, freundlich und langweilig. Alle redeten immer so über Politik, daß sie selbst deren Mittelpunkt zu sein schienen.

"Es stimmt ja, wenn immer von dem Raumschiff Bonn die Rede ist", sagte Björn Engholm, nachdem er vierzehn Jahre als Abgeordneter, Staatssekretär und Minister in der provisorischen Hauptstadt am Rhein verbracht hatte.

Das heißt ja nicht, daß da nur Verrückte oder Autisten leben. Das heißt nur, daß sich Menschen gewissermaßen einschließen und für denselben Zweck unter engsten Bedingungen zusammenleben. Fünf, sechs Tage immer in denselben Strukturen, dreizehn, vierzehn Stunden am Tag.

Es war ein Leben ohne Blutzufuhr, ohne Wärmeaustausch und Energieschübe von außen. Der Beamte, der den Politikern die Info-Mappe mit dem Pressespiegel und den Agenturmeldungen auf den Schreibtisch legte, stellte den einzigen Bezug zur realen Welt her. "Und am Abend", so Engholm, "geht man in die Kneipe, sitzt wieder mit Kollegen oder Journalisten zusammen. Und redet wieder das Gleiche."

Auch deshalb war die Politik 1999 umgezogen nach Berlin, um endlich in der Wirklichkeit anzukommen. Bedeutete der Wechsel nicht Risiko statt Behäbigkeit, Vielfalt gegen Einfalt, Offenheit versus "Keine Experimente"? Hofften nicht viele, wie ich, daß den Politikern in der harten, widersprüchlichen, schnellen Millionenstadt, der angeblichen Werkstatt der deutschen Einheit, der größten Baustelle des nach Osten erweiterten Europas, endlich die Augen aufgehen würden für notwendige Veränderungen?
Kein Kanzler außer Konrad Adenauer fühlte sich wirklich wohl in Bonn. Zuletzt hatte der neu gewählte Gerhard Schröder gelangweilte Blicke durch die schußsicheren Scheiben seines Chefbüros in die prächtigen Bäume des Parks hinter dem Kanzleramt am Rhein geschickt. Für ihn war das die grüne Hölle, er kam sich vor "wie im Aquarium". Der Umzug erschien ihm als Befreiung. Im September 1999 stand er zum ersten Mal in Berlin hinter der mächtigen Panzerglasscheibe seines provisorischen neuen Büros und blickte mit fast kindlicher Freude über die weite, wüste Brache, auf der einmal das Schloß der Hohenzollern gestanden hatte. Die Adresse mußte dem Mann, der in einer Baracke am Rande eines dörflichen Fußballplatzes im östlichen Westfalen aufgewachsen war, vorkommen wie aus einem Monopoly-Spiel geklaut: Schlossplatz Nr. 1, Berlin-Mitte. Bis zum Ende der DDR hatte der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker hier residiert. "Berlin", sagte Schröder, "finde ich doll."

Gewiß, wenn da das Schloß stände, mit Türmen, Giebeln und Portalen, das würde ihm noch besser gefallen als der Blick auf den bräunlich-trüben Torso des abgewrackten Palastes der Republik am Rande des Platzes. Das sprach er an diesem Tag auch ganz unverhohlen aus. Um Schönheit ging es ihm dabei so wenig wie um Geschichte. Letztlich war es ihm egal, daß die Berliner frisch-grünen Rollrasen in sein Blickfeld drapiert und eine Baumreihe gepflanzt hatten, wo einst das Schloß stand. Nein, ihn reizte der leere Platz. Was man auf dem alles machen könnte ... Warum nicht wieder ein Schloß? Über Drahtzäune, Rummelbuden, Parkplätze und Bauwagen hinweg ließ er den Blick Hunderte von Metern schweifen bis zum barocken Zeughaus, den Säulen des Alten Museums und dem wilhelminischen Schwulst des Berliner Doms. Der Mann am Fenster konnte sich nicht satt sehen an dieser chaotischen Stätte. "Glücklich" fühlte er sich. Es war, als sauge er Energien an aus den Schrunden des Platzes. Daß dies einmal die Welt der Markgrafen, Kurfürsten, Könige und Kaiser gewesen war, ließ ihn kalt. Ihn faszinierte, daß Touristen zu ihm hochwinkten, daß Arbeiter herüberstarrten, Autos vorbeirauschten – Leben, Abwechslung, Bewegung. So hatte er sich die neue Hauptstadt vorgestellt. Und er mittendrin. "Es ist ja nicht so sehr der Ort, der für mich Berlin ausmacht", bekannte er, "es ist das Tempo."

Dann zog er, widerwillig, in seinen mächtigen Neubau im Regierungsviertel an der Spree, wo sich inzwischen längst wieder – in mehreren tausend funkelnagelneuen Büros – der politische Betrieb rastlos um sich selbst drehte. Raus aus der Idylle, rein in die harte Realität? Gewiß doch. Aber obwohl – oder vielleicht sogar gerade weil – der Lebensalltag mit seinen realen Problemen den Politikern in Berlin so viel näher auf die Pelle rückte, verbarrikadierte sich die politische Klasse umso perfekter hinter Glas und Beton. "Glas suggeriert erbarmungslose Transparenz", findet der ehemalige CDU-Minister Norbert Blüm, "in der sich niemand in eine dunkle Ecke verkriechen kann. Beton erzeugt jene Kälte, auf die harte technokratische Politik angewiesen zu sein scheint." Und sicher ist, daß die Einsamkeit des Kanzlers Schröder in seinem lichtdurchfluteten Amtsneubau in Berlin vor der Vertrauensfrage nicht geringer war als die des Kanzlers Brandt vor dem Mißtrauensvotum im biederen Bonner Palais Schaumburg rund dreißig Jahre zuvor.

Das "Raumschiff Bonn" war im Spreebogen am Tiergarten gelandet. Dort liegt es als ein monumentaler Fremdkörper. In Bonn hieß dieser lebensleere Innenraum der Macht "die Käseglocke".

Zu viele Wirklichkeiten

Keine Frage, daß die Besatzung des Regierungs-Raumschiffs in Berlin häufiger und lieber von Bord geht als in Bonn. Aber den festen Boden der Tatsachen, auf den sie doch ihre Politik in Berlin gründen wollten, den suchen sie vergeblich. Denn die große Stadtlandschaft von 890 Quadratkilometern, die einzige wirkliche Metropole in Deutschland, entzieht sich der Greifbarkeit. Die Welt um das Raumschiff herum ist bunter, anregender, vielfältiger, zugleich aber auch fordernder, härter, lauter und unbequemer geworden. Das macht die Situation unübersichtlich und widersprüchlich, erlaubt viele Deutungen und widersetzt sich verläßlichen Einordnungen. Diverse Scheinwirklichkeiten verzerren das Bild zusätzlich.

"Unordnung" und "Vielfalt", "Verwirrung" und "Zeitenwende" waren die zentralen Begriffe, um die noch im sechsten Jahr nach dem Umzug in den Reichstag eine Selbstvergewisserungsdebatte der Deutschen Gesellschaft für Parlamentsfragen über die Berliner Republik kreiste. "Wo die Sachen diffus werden, werden die Personen konkret", beschrieb Jürgen Engert, der frühere Chef des ARD-Haupstadtbüros, die Situation: "Personen schieben sich vor die Sachen." Sind es wirklich Personen? Oder sind es inszenierte Bilder? Der junge CDU-Abgeordnete Eckart von Klaeden zitierte eine Maxime des verstorbenen Kollegen Jürgen Möllemann: "Ansehen und Aufsehen sind zwei Seiten derselben Medaille." Im hektischen Medienumfeld an der Spree diene sie vielen Politikern als Handlungsanweisung.

Nein, an kultureller Vitalität, gesellschaftlicher Vielfalt und Medien-Aufmerksamkeit ist in Berlin kein Mangel, doch wer sich aus der neuen Regierungsumwelt Prägekraft erhoffte, um der vereinigten Bundesrepublik einen neuen Stempel aufzudrücken, der sah sich bisher enttäuscht. Eher schon hat die Republik – zerfasert in Regionen, Milieus, Mentalitäten, Kulturen, Religionen und inzwischen auch wieder in Klassen – mit ihrer mobilen Richtungslosigkeit die Berliner Politik verwaschen. "Vieles ist so unerkennbar geworden", seufzt Bundespräsident Johannes Rau. Optimistisch klang er nicht am Ende seiner Amtszeit in Berlin.

Wenn Bundeskanzler Gerhard Schröder bei seinen gelegentlichen Fußmärschen durch Berlins Mitte Hände schüttelt und für Amateurfotos posiert, bleibt ihm die Realität seiner unmittelbaren Umgebung erspart. Bisweilen wirkt es sogar noch immer so, als seien Reste jener Heiterkeit in den Grünanlagen hängengeblieben, die 1995 vor Christos silbern verkleidetem Reichstag Hunderttausende verzauberte. Dabei ist die Armut näher, als das Touristentreiben vermuten läßt. 41.000 der 319.000 Bewohner von Berlin Mitte bezogen 2003 Sozialhilfe, darunter jedes dritte Kind, das jünger als sechs Jahre war. "Der Regierungssitz ist von Armut umgeben", erläuterte ein Wissenschaftler des Instituts für angewandte Demographie. Die Stadt hat so viele Arbeitslose wie Bonn Einwohner hat: 300.000. Jeder sechste Berliner muß mit weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Einkommens der Bundesbürger auskommen und gilt deshalb nach den OECD-Richtlinien als arm. 6,65 Millionen Euro Schuldenzinsen muß die Stadt täglich zahlen.

Doch das blieb den meisten der elf Millionen Menschen verborgen, die in den ersten fünf Jahren nach dem Umzug die neuen Parlamentsgebäude im Spreebogen besichtigten. Keine Frage, daß dieses Interesse den Abgeordneten schmeichelte. Sie alle – von den Regierenden ganz zu schweigen – kommen sich wichtiger und großartiger vor als in Bonn. Täglich sehen sie in Schlangen noch immer Hunderte von Bundesbürgern vor dem Reichstag warten, die ihnen im wahrsten Sinne des Wortes aufs Dach steigen wollen. Die Kuppel des wuchtigen wilhelminischen Kastens, die strahlend über die Stadt leuchtet, ist zu einem höchst attraktiven Symbol der Berliner Republik geworden. "Politik", so Wolfgang Thierse, "verleiht ihren Akteuren ohnehin ein Gefühl von Wichtigkeit, die über alles hinausgeht, was sie in den meisten anderen Berufen erfahren würden. Tagtäglich werden sie in ihrer Bedeutung bestätigt, und sei es nur durch Kritik." Dieser Trend, das glaubt auch der CDU-Oldtimer Heiner Geißler, hat sich nach dem Umzug verstärkt. "Allerdings", fügte er hinzu, "der Inzuchtbetrieb bleibt."

Daß sich die Politik in der alten Reichshauptstadt Berlin – wenigstens zum Teil – in historischen Gemäuern abspielt, hat höchst widersprüchliche Folgen. Einmal lädt das Regieren an Schauplätzen der Vergangenheit zu realistischen Auseinandersetzungen mit der deutschen Geschichte ein, die in Bonn praktisch ausgeklammert blieb. Zum andern droht das geschichtsgesättigte Berlin häufig auch, die graue Alltagswirklichkeit durch historisch und emotional aufgeladene Reize zu überwuchern – womöglich eine Reaktion auf die Verdrängungspraxis in den Jahren davor. In den Nachkriegsjahren und während der Teilung neigten die Regierenden in beiden Hälften Berlins dazu, unliebsame Erinnerungen zu sprengen, abzutragen und zu vergraben. "Mißtraut den Grünanlagen", mahnte der Ostberliner Schriftsteller Heinz Knobloch nach dem Mauerfall auch die Westberliner. Um das neue Regierungsviertel herum decken Rasen und Bürobauten den Zentralfriedhof der neueren deutschen Geschichte, hier versuchte die Nation, sich ihrer Vergangenheit zu entledigen. Das jüngste Zeugnis untergebuddelter, verschrotteter Wirklichkeit – 155 Kilometer lang, bis zu 4,20 Meter hoch – ist die Berliner Mauer. Zusammen mit 302 Beobachtungstürmen, 22 Bunkern, mit Panzersperren, Hundelaufanlagen, Signalzäunen, Kolonnenwegen und Bogenlampen ist sie nahezu spurlos beseitigt. Nach den spärlichen Resten der bunt bemalten Betonwand müssen Touristen lange suchen.

Berlin ist eine Bilderfabrik. Eine Kino-Version dieser Stadt, mit Liedern und vorgefertigten Texten, mit eigenen Träumen und Ängsten, haben viele im Kopf, wenn sie an die Spree reisen. Als ich 1956 zum ersten Mal in das damals schon geteilte, aber noch nicht vermauerte Berlin kam, suchte ich vor allem das, was in meinem Kopf für "Spree-Athen" stand: das legendäre Haus Vaterland am Potsdamer Platz, für das mein Vater immer nur das Wort "gewaltig" gehabt hatte, den "lieben Leierkastenmann", den Bully Buhlan besang, die Reichskanzlei und den Führerbunker, eine Erinnerung an Jesse Owens im Olympia-Stadion, das Haus in der Potsdamer Straße 134 c, in dem – drei Treppen hoch, rechts – Theodor Fontane gewohnt hatte. Es machte nichts, daß ich nichts davon fand. Die Suche zählte.

Acht Jahre später war ich wieder da, um in Berlin zu arbeiten. Das Brandenburger Tor war verriegelt, die Mauer zerschnitt die Stadt. Ich begleitete als Journalist Martin Luther King, Robert Kennedy, Moise Tschombé und die Begum auf das Aussichtspodest am Potsdamer Platz. Ihr Erschrecken war so unübersehbar wie ihre Verständnislosigkeit. Was war denn schon zu sehen? Der Todesstreifen. Ein paar durch Ferngläser herüberstarrende Grenzer, versteppte Flächen, im Hintergrund zwischen belanglosen Plattenfassaden ein paar Passanten in der sich öffnenden Leipziger Straße. Das hatte eine abstoßende Trostlosigkeit, aber um zu erschauern, mußte man wissen. Erst dann sah man, was man nicht sah. Die Erschütterung kam aus der Erinnerung.

Als die Mauer gefallen war, siedelte ich sofort nach Berlin um, nicht in der Hoffnung, wohl aber mit der voreiligen Überzeugung, daß der Bonner Staatsbetrieb bald hinterherkommen würde. Ich kam in eine befremdliche Stadt, in Wahrheit in zwei Städte, und deutlicher denn je empfand ich die Brache im Zentrum, auf der jetzt das neue Regierungsviertel Kontur gewinnt, als leere Mitte nicht nur dieser amorphen Stadtlandschaft, sondern des ganzen wiedervereinigten Landes. Doch erst am 20. Juni 1991 fiel im Bundestag – nach heftigem Widerstreben – die Entscheidung für den Umzug nach Berlin. Wenige hatten so leidenschaftlich für diesen Schritt geworben wie der SPD-Abgeordnete Gert Weisskirchen, Jahrgang 44, in dessen Reden ich mein Empfinden wieder fand:

Wer vom Reichstag zu Fuß geht, am Brandenburger Tor vorbei, der betritt märkischen Sand. Da stand die Mauer, suchte Alfred Döblin nach Spuren von Glück in der Verzweiflung des Biberkopf, hier vergrub sich Hitler, schrien die Soldaten, deutsche und russische, nach ihrer Mutter. Hier blicken wir auf die Wüste, die sie uns hinterlassen haben. Sie ruft nach neuem Leben. Dort wird es gebraucht, das Parlament, um ein besseres, ein europäisches Deutschland zu bauen.

Wenn Bundeskanzler Schröder aus den Fenstern seines neuen Amtssitzes im Spreebogen, wo einst ein Palast für Adolf Hitler stehen sollte, seinen Besuchern die Stadt zeigt, dann sollte er zunächst auf die grüne Leere zwischen Tiergarten im Süden und den bebauten Vierteln jenseits der Spree im Norden verweisen. Dort hatte Albert Speer Hitlers Traumstadt GERMANIA bauen wollen. Erinnerungen und Wahrnehmung verschmelzen zu einer untrennbaren Einheit. Alles ist zerstört, entkernt, verfälscht, selbst wenn es noch da ist. Und alles ist noch da, selbst wenn es zerbombt, gesprengt oder geschleift ist.

Vor historischer Kulisse setzt sich die Politik in Berlin effektvoll in Szene. Von den östlichen Balkonen des neuen Kanzleramtes geht der Blick geradewegs auf den Reichstag – aus einem der Fenster hatte der Sozialdemokrat Scheidemann 1919 die Weimarer Republik ausgerufen –, dann folgt rechts das Brandenburger Tor, Symbol des Endes der deutschen Teilung, dahinter der riesige Platz mit den grauen Betonblöcken des Holocaust-Mahnmals. Weiter rechts sieht man vor dem Tiergarten das Ehrenmal zum Ruhme der Roten Armee, noch weiter westlich die Siegessäule mit den vergoldeten Kanonenrohren der geschlagenen dänischen und französischen Heere aus den drei Kriegen, mit denen Bismarck zwischen 1864 und 1870/71 Deutschland einte. Für den Unionsveteranen Heiner Geißler, Jahrgang 30, ist dieses Monument eines verblendeten deutschen Nationalismus "das negative Symbol Berlins". Kanzler Schröder betrachtet es eher sportlich als eine Art gigantischen Pokal. Darauf verwiesen, daß "die Goldelse" auf der Säule an die Kriege gegen Frankreich erinnere, fragte er hoffnungsvoll: "Gewonnen?"

Das Kabinett tagte sogar schon einmal vor dem legendären Pergamon-Altar. Der Außenminister residiert im Gebäude der Reichsbank des Nazi-Bankers Hjalmar Schacht. In dem prachtvollen wilhelminischen Anbau des friederizianischen Palais, in dem jetzt Wirtschaftsminister Wolfgang Clement amtiert, sprach einst die DDR-Justizministerin Benjamin, genannt die Rote Hilde, ihre Schreckensurteile. Der Finanzminister verwaltet unsere Schulden in dem abschreckend gigantischen grauen Gemäuer an der legendären Wilhelmstraße, das sich Nazi-Feldmarschall Hermann Göring als Reichsluftfahrt-Ministerium bauen ließ. Nach der Niederlage der Nazis wurde darin die DDR gegründet.

In einer Atmosphäre, in der die Gegenwart so massiv von Historie überlagert wird, wo es geradezu zum guten Ton zu gehören scheint, die politischen Gegner mit diffamierenden Vergleichen aus der unheilvollen Vergangenheit anzuschwärzen, erscheint es nicht ganz so zufällig, daß Ex-Kanzler Helmut Kohl den Parlamentspräsidenten Wolfgang Thierse mit Hermann Göring vergleicht, die ehemalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin den US-Präsidenten Bush mit Adolf Hitler und der militante Historiker Arnulf Baring den amtierenden Bundeskanzler Schröder mit Reichskanzler Heinrich Brüning, nach dessen gescheiterter Sparpolitik 1933 die Nazis die Macht ergriffen. Baring ließ sich vom Geist dieser Zeit voll überwältigen: "Die Situation ist reif für einen Aufstand gegen das erstarrte Parteiensystem", schrieb sich der Professor in Rage. "Ein massenhafter Steuerboykott, passiver und aktiver Widerstand, empörte Revolte liegen in der Luft. Bürger, auf die Barrikaden."

Keine Frage, das Leben der Politiker ist schwerer geworden in Berlin, komplexer, unübersichtlicher, aber auch spannender. Wer täglich durchs Brandenburger Tor geht, um an seinen Schreibtisch zu gelangen, der muß sich zugleich bedeutender und demütiger fühlen, als einer, der in Bonn, auf seinem Weg von Dottendorf zum Regierungsviertel in den Rheinauen, vor der Bahnschranke wartete. Die in Bonn an bescheidene Herrschaftsverhältnisse gewöhnten Politiker empfangen jetzt in prunkvollen Hallen und gewaltigen Lichthöfen, sie schreiten über ausladende Freitreppen, erscheinen durch hohe Flügeltüren, residieren unter üppigen Lüstern. "Erlebbare Geschichte" nennt Antje Vollmer das neue Ambiente, und sie glaubt, aus der "unglaublichen Anziehungskraft des Reichstagsgebäudes" schließen zu können, daß die Bürger das mögen. Doch sind sie nicht auch verunsichert? Auf der Projektionsfläche Berlin flimmern sehr verschiedene Bilder.

Die Probebühne

Mit dem Umzugsbeschluß in Bonn begann eine Übergangszeit, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Nicht einmal ihr Ziel schien deutlich, als sich die Bonner im April 2004 daran erinnerten, daß sie schon fünf Jahre in Berlin regierten. Daß das nicht mehr die alte Bonner Republik war, in der sie lebten, hatten inzwischen auch die hartnäckigsten Verteidiger des ewigen Status quo erkannt. Doch war es schon eine Berliner Republik?

Altbundespräsident Johannes Rau bleibt dabei, daß es die gar nicht gebe. Er hält sie für eine "Medien-Schimäre". Doch konnte auch er einen erheblichen "Stilwandel" nicht bestreiten, die Beschleunigung der politischen Prozesse hatte gegenüber Bonner Zeiten unverkennbar zugenommen. Das Geschehen bekam etwas Kurzatmiges. Noch erschien alles Neue improvisiert, alles Alte aber wirkte beschädigt und abgenutzt. Scheinbar identitäts- und orientierungslos driftet das vereinte Deutschland reformunwillig zwischen glorifizierter Vergangenheit und apokalyptischer Zukunftsangst hin und her – und verfehlt seine Gegenwart.

Bereits 1993 hatte der Historiker Christian Meier dem vereinigten Deutschland eine Art "Durchgangsschwachsinn" diagnostiziert. Dessen Hauptsymptom sei ein Gefühl von Sinnlosigkeit, die Menschen spürten, daß vieles nicht mehr zusammenpasse, und argwöhnten, daß die Politiker den Überblick verloren hätten, daß kein Krisenmanagement funktioniere, daß vielleicht gar die Ordnung bedroht sei. "Die ganze Wirklichkeit ist auf diese Weise schlüpfrig geworden", schrieb Meier.

Daran hat sich wenig geändert. Es ist eben alles nebeneinander da in der alten Hauptstadt der neuen Republik – Isolation und Lebensnähe, Geschichte und Zukunft, Stillstand und Dynamik, Ost und West. Nicht nur Außenminister Joschka Fischer, den das ungeheure Tempo der Veränderungen, das heillose Durcheinander der Ideen und das Nebeneinander von widerstreitenden Lebensgefühlen fasziniert, ist besorgt über die offenkundigen Schwierigkeiten aller Beteiligten, die "diffuse Situation" nach dem plötzlichen Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende des Kalten Krieges wenigstens halbwegs realistisch einzuschätzen. Auf die völlig überraschende Implosion der Sowjetunion sei der Westen mental und politisch nicht vorbereitet gewesen. "Es war, wie viele damals empfanden, Wahnsinn, als wäre der Zauberbann, der über der Prinzessin im Dornröschenschloß lag, urplötzlich weg." Daß dieser weltpolitische Umbruch, den Fischer, "was die historischen Konsequenzen angeht", für ein größeres Ereignis hält als die Französische Revolution, aus westlicher Sicht kaum mit Erschütterungen einherging – zunächst nicht einmal in Westberlin –, das führe "zu dieser diffusen Mischung aus Wahrnehmen und Nichtwahrnehmen". Man kann das Ergebnis auch Entwirklichung nennen.

Diese Situation – angeheizt durch die Auswirkungen des amerikanischen Antiterrorkrieges, weltwirtschaftlicher Labilität und hausgemachter Rezession, verbunden überdies mit den Chancen einer nie erlebten individuellen Flexibilität und Mobilität und den Ängsten vor dem Verlust von Sicherheit und fehlenden verbindlichen Werten –, diese brisante Mischung erzeugt in Berlin eine ungemein hektische Statik, einen aggressiven Stau, den man als das Lebensgefühl jener umstrittenen Berliner Republik bezeichnen könnte, die es bisher womöglich nur als eben dieses Gefühl gibt. Aber die Ausstrahlung ist stark. Nur langsam und in Schüben verfestigen sich die Veränderungen zu einer neuen politischen und kulturellen Gestalt, die einmal Nachfolgerin der Bonner Republik sein wird.

Anders als Bonn ist die rauhe und noch immer geistig und kulturell zweigeteilte Millionenstadt Berlin durchaus ein gesellschaftliches Brennglas. Und der quadratische Platz vor dem Brandenburger Tor ist die Bühne, auf der sich täglich zeigt, daß die Bundesrepublik in Bewegung geraten ist, wenn auch zunächst nur auf der Stelle. Dem Bonn-Befürworter Norbert Blüm gefällt das:

Der Platz um das Brandenburger Tor ist das bevorzugte Protestgelände der Berliner Republik. In Bonn mußten die Demonstrationszüge in fast unzumutbarer Weise mit dem Hofgarten, zwei Kilometer entfernt vom Parlament, oder mit den Rheinwiesen auf der Beueler Seite vorlieb nehmen. Berlin ist demonstrationsfreundlicher.

Claude Martin betrachtet dieses Phänomen von einem Logenplatz aus. Er ist seit 1999 Botschafter der Französischen Republik in Berlin und kann, vor allem samstags vormittags, von seiner Residenz am Pariser Platz Nr. 5 aus die fein regulierten deutschen Demonstrationsrituale beobachten. "Jeweils zur vollen Stunde wechseln sich die Vertreter der verschiedenen Anliegen ab", entdeckte er. Mal protestiere ein kleines Häuflein gegen die Wolfsjagd in Alaska, dann versammelten sich Radfahrer, die ihre Vehikel in ICE-Zügen der Bahn mitnehmen wollen. Auch Rechtsradikale und Krankenschwestern, Schüler, Bauern und Taxifahrer posaunen in Hörweite des Reichstages und der Versammlungsräume der Abgeordneten ihre Forderungen heraus. Und der neue Bundespräsident Horst Köhler traf sich dort unmittelbar nach Amtsantritt im Juli 2004 mit Bundesbürgern zu einem volkstümlichen Begrüßungsessen.

Auch das erweiterte Europa stellte sich auf dem Pariser Platz vor – mit Bier, Wurstbratereien und Walzerklängen. Besonders enthusiastisch fiel die zweitägige Begrüßungsparty für die zehn neuen Länder allerdings nicht aus. Ein kurzer Jubel um Mitternacht zum 1. Mai 2004, ein paar Luftballons – das war’s. Was sollte auch sein? Schon Ende 2002 lebten in Berlin 38.777 offiziell gemeldete Bürger aus den dazugekommenen Mitgliedsländern, über 30.000 davon kamen aus Polen. Die Dunkelziffer dürfte mindestens genauso groß sein. Es werde wohl alles so werden wie nach dem Ende der DDR, sagte ein Berliner aus dem Osten:

Zuerst ist da die Hoffnung, und dann kommt die Enttäuschung.

Wie die Deutschen in allen Teilen des Landes sind auch die Berliner nach den historischen Umbrüchen der letzten Jahre nicht besonders scharf auf zusätzliche Veränderungen. Und doch wird hinter ritualisierten Abläufen überall Neues erkennbar.

Schon der "Aufstand der Anständigen", wie Kanzler Schröder die Demonstration gegen Rechts am 9. November 2000 nannte, hatte das gezeigt – alle wollten irgendwie dasselbe, nämlich "Mitmenschlichkeit und Toleranz", aber jeder schien andere Gründe dafür und andere Vorstellungen davon zu haben. Zweihunderttausend Menschen waren zum Brandenburger Tor gekommen, so wie die Regierung, der Deutsche Bundestag, die Kirchen und alle Parteien von CDU bis PDS es gewünscht hatten; aber viele wollten offenbar auch ausdrücken, daß sie da waren, obwohl "die da oben" gerufen hatten. Zu viel "Staatsdemonstration", schimpften die Linken, bloße "Schauprozession", höhnten die Rechten.

Auf der Bühne ging die Frontbildung weiter. Bundespräsident Johannes Rau hatte seine Kritik an der Ausländerpolitik der Union noch dezent verschlüsselt, als er sagte, Anstand beginne mit der Sprache, und Unworte könnten Untaten hervorrufen. Der Beifall zeigte, daß er verstanden worden war. Paul Spiegel aber, der danach für den Zentralrat der Juden redete, ließ jede Rücksicht fahren. Noch drei Tage vorher hatte er sich mit herzlichen Küßchen von CDU-Chefin Angela Merkel verabschiedet. Da glaubte er nach einem intensiven Gespräch, die Union hätte den "schlimmen Einfall von der deutschen Leitkultur" zurückgenommen. Das war aber ein Trugschluß. Und zornig donnerte Spiegel jetzt, einen Meter vor den versteinert blickenden Unions-Führern Angela Merkel, Edmund Stoiber und Friedrich Merz stehend, ins Mikrofon:

Ist es etwa deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten?

Spiegels jüdische Gemeindefreunde, die mitkriegten, wie Wut und Scham die Unionsoberen verstörte, stöhnten auf, als ihr Vorsitzender ungebremst fortfuhr: "Meine Damen und Herren Politiker, überlegen Sie, was Sie sagen, und hören Sie auf, verbal zu zündeln" und "von so genannten nützlichen und unnützen Ausländern zu faseln". Ein Beifallssturm fegte über den Pariser Platz.

Auch die Berliner Demonstration gegen den Irak-Krieg am 15. Februar 2003 etwa hatte nur noch auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit den Demonstrationen und Protesten der Friedensbewegung in Ost und West gegen die Nachrüstung in den Achtzigerjahren. Gewiß, Friedrich Schorlemmer predigte neue Variationen zum Thema "Schwerter zu Pflugscharen", und noch immer sang der unverdrossene Konstantin Wecker linke Lieder. Es erscholl der Demo-Klassiker "Hoch die internationale Solidarität", Kirchen und Gewerkschaften hatten die Teilnehmer aus der ganzen Republik mit Bussen herangekarrt – Rucksäcke, Bärte und Palästinensertücher signalisierten eingeschliffene Reflexe, von den Ostermärschen bis zu den Sitzblockaden von Mutlangen. Und doch waren das eher Randerscheinungen in einer bunten Menge von einer halben Million individualistischer Bürger, die kein Milieu zusammenhielt, kein einheitliches Feindbild und keine Alternativkultur – nicht einmal eine apokalyptische oder aggressive Stimmungslage.

Die an diesem Tag bei trübem und naßkaltem Wetter im Tiergarten zusammenliefen, wollten einfach nur ein Zeichen setzen. Sie waren die alte und die neue Mitte oder, um es altmodisch auszudrücken, das deutsche Volk, multikulturell verstärkt. Damen in Pelzmänteln schlenderten friedlich und freundlich neben Punks, der Parlamentspräsident Thierse neben PDS-Funktionären und Palästinensern. Jeder hatte seine eigene Botschaft. "Kein Krieg im Irak" war eine Art allgemeine Richtungsangabe. Es war keine Anti-Regierungs-Demo, aber auch keine Pro-Schröder-Veranstaltung. Der Ton war skeptisch zustimmend. "Gerhard, bleibe stark" und "Joschka, halt durch" stand auf handgemalten Plakaten.

Ein gutes Jahr später, am 4. April 2004, hallte der Pariser Platz erneut wider von Protestgeheul und Trillerpfeifen. Nun zielten die wütenden Angriffe auf Gerhard Schröder und seine Reform-Agenda 2010 – und es waren die Gewerkschaften, die den Marsch von 250.000 Bürgern gegen die regierenden Roten organisiert, sowie die Globalisierungsgegner von Attac, die den Protest gegen die mitregierenden Grünen inspiriert hatten. Nein, die alten Fronten stimmen nicht mehr, doch die allgemeine Parteien- und Politiker-Verdrossenheit, die in einer ersten Welle nach den Affären um die Flick-Spenden, die Neue Heimat und den Barschel-Skandal in den Achtzigerjahren aufgebrochen war, konnten die Akteure weder durch einen Regierungswechsel noch durch eine Generationsablösung noch durch ihren Umzug von Bonn nach Berlin abschütteln. Im Gegenteil – nicht kulturelle Vielfalt und kreativer Schwung, sondern die offenkundige Unfähigkeit der Politiker aller Parteien, Arbeitslosigkeit und Reformstau in den Griff zu kriegen und die deutsche Einheit wirtschaftlich wenigstens halbwegs erfolgreich zu gestalten, prägen das Image der Hauptstadt Berlin. Es werde kaum gelingen, grummelte der sozialdemokratische Altkanzler Helmut Schmidt, "das Bild Berlins zu lösen von dem unbefriedigenden Bild, das der Durchschnittsdeutsche heute von seiner politischen Klasse hat".

Genschers Generationen

Nun war mir die Befürchtung – oder Hoffnung –, daß mit dem Umzug gleich alles anders werden würde, immer völlig wirklichkeitsfremd erschienen. Es waren schließlich dieselben Personen, die ihr politisches Geschäft jetzt zwar in historisch aufgeladener Umgebung und vor imposanterer Kulisse, aber doch mit unveränderten menschlichen und gesellschaftlichen Vorprägungen fortsetzten. Bei feierlichen Gelegenheiten repräsentieren die Ehrengäste auf den reservierten Plätzen alle Facetten des politischen Personals der Bundesrepublik Deutschland von den Anfängen bis heute. Zum 75. Geburtstag des langjährigen Außenministers und FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher etwa, im März 2002 in Berlin, stellten sie sich im kalten Glasfoyer des Paul-Löbe-Hauses neben dem Reichstag wie in einer gigantischen Museums-Vitrine unfreiwillig als personalisierte deutsche Demokratie-Geschichte aus.

Dabei symbolisierte Genschers Geburtstagsgesellschaft ja nicht nur politische Kontinuität, sondern auch historischen Wandel. Zu seinen Ehren saßen sechs Generationen der politischen Klasse beieinander, deren politisches, gesellschaftliches und historisches Selbstverständnis bestimmt war durch die unterschiedlichen Erfahrungen und Erlebnisse in ihrer Jugend und den frühen Jahren des Erwachsenenlebens. Über parteipolitische Differenzen hinweg hatten diese schicksalhaften Gemeinsamkeiten das Klima und die unterschiedlichen Wertigkeiten der Republik beeinflußt, denn für die allgemeine Weltsicht und den politischen Stil macht es – bei aller individuellen Nuancierung und trotz grundsätzlicher Gemeinsamkeit in der programmatischen Ausrichtung – eben auch einen Unterschied, ob einer aus dem Konzentrationslager, aus der Kriegsgefangenschaft oder aus dem Uni-Hörsaal in den Bundestag gerät.

Am eindrucksvollsten nehmen sich bei solchen Gelegenheiten die Alten aus. In Bonn waren immer einige dabei gewesen, die aus der Weimarer Republik in die Adenauer-Zeit hineinragten – Herbert Wehner, Walter Scheel, Hermann Höcherl, Hildegard Hamm-Brücher, Willi Brandt, Annemarie Renger. Nun war von den zerklüfteten Resten des politischen Urgesteins nur noch Egon Bahr anwesend, Jahrgang 22. Angesichts eines Parlaments, das dem Jugendwahn so konsequent verfallen ist, daß mit dem damals 70-jährigen Otto Schily ein amtierender Minister als Alterspräsident den 15. Bundestag eröffnete, verkörperte der Altsozi allein die historische Kontinuität der deutschen Demokratie.

Es folgten Genschers Altersgenossen, die sich heute als Elite der Bonner Republik verstehen – der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker sowie zahlreiche Ex-Minister aus dem Kabinett Schmidt, angeführt von Hans-Jochen Vogel, Georg Leber und Otto Graf Lambsdorff, die alle noch Soldaten waren in Hitlers Armee.
Sodann die Damen und Herren der langen Kohl-Jahre, Kriegskinder, die sich auf die "Gnade der späten Geburt" berufen konnten, repräsentiert vor allem durch Helmut Kohl selbst, eskortiert von vielen Ministern und Abgeordneten, an der Spitze Norbert Blüm, Theo Waigel und Rudolf Seiters.

Ferner natürlich die derzeit regierende und opponierende Generation der Trümmer- und Nachkriegskinder, die sich später als 68er oder Anti-68er verstanden, von Bundeskanzler Gerhard Schröder, Außenminister Joschka Fischer und Justizministerin Herta Däubler-Gmelin bis zu deren Herausforderern Edmund Stoiber und Wolfgang Schäuble sowie Genschers langjährigem Lieblingsschüler und Sorgenkind Jürgen Möllemann.

Und mittendrin, zu Ehren des Ex-Hallensers Genscher, natürlich auch die politischen Zuwanderer aus der ehemaligen DDR, mit Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, CDU-Chefin Angela Merkel und der FDP-Generalsekretärin Cornelia Pieper.

Die Jüngsten schließlich, die selbstbewußt und keck auftretenden Vertreter der Spaßgesellschaft aus den Generationen Golf und Berlin, die inzwischen in stattlicher Zahl für alle Parteien ins Parlament nachgerückt sind, wurden an diesem Tag vom Polit-Entertainer Guido Westerwelle allein vertreten, schrill.

Dabei war der Jubilar Hans-Dietrich Genscher, der Strahlemann mit den großen Ohren und dem gelben Pullunder, selbst ein Medien-Kultstar geblieben – "Genschman", der fliegende Liberale, der so rastlos unterwegs war in der Welt, daß er sich angeblich über dem Atlantik bisweilen selbst begegnete. Überall war er gewesen, nichts hatte er gesehen, weil er immer telefonieren mußte, um seine Partei zu Hause unter Kontrolle zu halten. Und den Rest der politischen Klasse im Unklaren.

Jetzt verkörperte er sie irgendwie alle. Genscher konnte das, weil er nach sechsundfünfzig Jahren in der Politik habituell unfähig geworden war zu eindeutigen Aussagen. "Genscherismus" hieß seine kunstvolle Art, sich so zu jedem beliebigen Thema zu artikulieren, daß alle nickten, aber keiner wußte, wer oder was gemeint war – außer, daß es ganz bestimmt nicht um das ging, wovon gerade die Rede war. Das machte den FDP-Chef zu einem frühen Prototypen jener glatten Macher, die "da oben" vereinsamten in einer Art Grauzone, die "seine Umgebung" hieß. Aus der sickerten, tuschelten und tönten unentwegt Informationen, dahin flossen auch Informationen, aber nichts war persönlich zurechenbar, und Verantwortung ließ sich nicht festmachen.

Sein Geburtsjahr 1927 und der Geburtsort Reideburg bei Halle an der Saale hatten Genscher zu einem Grenzgänger zwischen den Generationen und zwischen Ost und West gemacht. Im Februar 1943 war der Untersekundaner Flakhelfer geworden, Anfang 1945 rückte er als 17-Jähriger zu den Pionieren ein. Er gehörte zur Geistertruppe des General Wenck, der auf Befehl des Führers Berlin von der russischen Umklammerung befreien sollte, sich aber entschloß, seine Soldaten in die amerikanische Gefangenschaft statt in den Heldentod zu führen. "Die Schrecken des Krieges hatten mich für den Rest meines Lebens geprägt", schrieb Genscher in seinen Erinnerungen. Dieses Schicksal teilte er mit allen, die als Soldaten überlebten. Aber anders als vielen der älteren Landser erschien den Flakhelfern der Krieg schon verloren, als sie antraten. Entsprechend keck und zukunftszugewandt sei unter ihnen der Ton gewesen. Genscher:

Für mich gab es keine Landserromantik. Furcht und Angst hatte ich oft empfunden; jetzt, nach dem Ende des Krieges, dachte ich: "Irgendwie geht es weiter. Ich habe das überlebt."

Obwohl schon im Westen, schlug er sich nach Halle durch, wo seine Mutter lebte, studierte dort Jura und trat der LDPD bei. 1952 ging Genscher endgültig in den Westen, vier Jahre später war er bereits wissenschaftlicher Assistent in der Bonner FDP-Fraktion. "Meine Ost-Herkunft war ein ziemlich entscheidendes Moment in meinem politischen Werdegang", sagt Genscher heute. Er empfand sich nicht gerade als Außenseiter, "aber ich habe alle beneidet, die ihre Heimat im Parlament vertreten konnten".
Wohl der wichtigste Faktor für seine empfundene Sonderposition war eine schwere Lungentuberkulose, die den jungen Juristen zwischen 1947 und 1957 für insgesamt dreieinhalb Jahre in Krankenhäuser und Heilstätten zwang. Ein Arzt in Leipzig, der zu den Widerständlern des 20. Juli gehört hatte, rüstete ihn gegen die Krankheit und für den Lebenskampf: "Wenn du den Willen hast, überall der Erste und Beste zu sein, dann kannst du es packen", zitiert Genscher den Mediziner.

Das wurde Hans-Dietrich Genschers Lebensmotto in der Politik. Er wurde ein Mensch, der sich stets hinter seinen eigenen überhöhten Erwartungen im Rückstand sah. Deshalb durfte er möglichst nichts riskieren. Er lernte, nicht anzuecken. Der schwere Mann mit den listigen Elefantenaugen arbeitete mehr als andere und brachte es weiter. Er war intelligent, vernünftig, gefällig. Er legte sich nicht fest, gegen Personen schon gar nicht. Gegenüber Fremden war er mißtrauisch, hilfsbereit bei Freunden. "Aber nie, nie tut er etwas ohne Kalkül", wußten Mitarbeiter. Politik betrieb er wie ein Computer: Aufnahme von so vielen Informationen wie möglich, nahezu unbegrenzte Speicherkapazität, blitzschnelle Abruffähigkeit. Seine Entscheidungen, berichteten seine Freunde, waren von emotionalen Vorlieben oder ideologischen Vorurteilen ungetrübt. Aber immer war die Sache, die er betrieb, das Amt, das er ausübte, die Gruppe, die er vertrat, eins mit seiner Person. Die Inhalte ergaben sich aus den Umständen. Mit anderen Worten: Hans-Dietrich Genscher handelte zwar immer für sich, aber nur im Ausnahmefall von sich aus. Er reagierte.

Vielleicht war das der Grund, daß der politische Ruheständler bei seiner Feier allen Generationen von Kollegen ein bißchen zu ähneln schien. Die ganz Alten wie Thomas Dehler, Konrad Adenauer, Carlo Schmid, die längst nicht mehr lebten, hatte er in Bonn noch persönlich erlebt, mit Walter Scheel, Willy Brandt und Herbert Wehner zusammen hatte er regiert. Sie waren Lehrmeister und Stoff für Anekdoten, die Genscher, prustend vor Lachen, unermüdlich zu erzählen wußte. Mit dem nächsten Jahrgang – den Ex-Soldaten wie Lambsdorff und Hans-Jochen Vogel – hatte er die Arbeitswut und die Selbstdisziplin gemeinsam, dazu natürlich die Kriegserfahrung und Erinnerungen an ein ungeteiltes Deutschland.

So wie Helmut Kohl für die CDU stand, personifizierte Hans-Dietrich Genscher lange Zeit die FDP. Der Liberale ähnelte dem CDU-Chef in seinen Machttechniken, der Mischung aus Vorsicht und Raffinesse, mit der er Menschen manipulierte und durch ein System von Vorleistungen und Einforderung von Dankbarkeit an sich band. Sein Bedürfnis nach Kontrolle war enorm, sein Blick für Schwächen und Blößen seiner Mitbürger gefürchtet. So machte er Karriere: Assistent der Fraktion, Abgeordneter, Parteivorsitzender, Innenminister im Kabinett Brandt, Außenminister und Vizekanzler in der Schmidt-Regierung und dann bei Helmut Kohl. Als Funktions-Großbesitzer war Hans-Dietrich Genscher einer der mächtigsten Männer in Bonn.

Vor den Selbstdarstellungskünstlern der Schröder-Fischer-Gauweiler-Möllemann-Generation brauchte er sich nicht zu verstecken. Unter dem Motto "Mein Privatleben muß tabu bleiben" gab er Boulevard-Zeitungen bereitwillig Auskunft über Mutter, Frau und Tochter, deren Reitpferd und seine Sauna, über Fahrrad, Kellerbar und sein Leibgericht "grüne Bohnen", kurz, über so gut wie jeden privaten Winkel seines Lebens. Auch in der Persönlichkeitsstruktur schien er eine Art Vorläufer der politischen Show-Generation zu sein. Echtes Empfinden und Wirkungskalkül waren bei Genscher stets gleichzeitig da.

Deswegen wäre es für ihn wohl auch lebensgefährlich gewesen, sich der Politik ganz zu enthalten. Der Mann, der sich in Berlin feiern ließ, war noch immer ein gefürchteter Strippenzieher und ein gesuchter Trendwitterer. "Ich möchte Ihnen allen versichern, daß mein Ausscheiden aus dem Regierungsamt keinen Abschied von der Politik bedeutet", hatte er 1992 seine Parteifreunde wissen lassen, als er überraschend als Außenminister zurücktrat. Zwei Herzinfarkte hatten den PR-Junkie gewarnt. Die Ahnung, daß Politik und Macht tödliche Drogen sein könnten, ließ sich nicht immer verdrängen. Er fühle sich "wie in einem Drahtverhau von irren Verpflichtungen", räumte er damals ein. Das sei wie eine wuchernde Hecke – "die wächst zu, wenn man sie nicht zurückschneidet". Im Sommer 2004, ein Dutzend Jahre später, war er gerade wieder "in einer Bereinigungsphase". Sein Terminkalender sah nicht viel leerer aus als der des aktiven Polit-Profis.

Veranstaltungen wie Genschers Geburtstag sind immer journalistische Fundgruben. Ich stand, von Fahnen und Säulen angemessen verborgen, neben den TV-Kameras vor der Festversammlung und genoß die kleinen Karos des großen Machtspiels. Wie verdrießlich Ex-Kanzler Kohl seinen Nachfolger Schröder ignorierte. Wie intim Angela Merkel mit Herta Däubler-Gmelin tuschelte. Wie erschrocken Edmund Stoiber auffuhr, als er in seiner unmittelbaren Nachbarschaft Joschka Fischer gewahrte, der ihn spöttisch begrüßte. Dieses Nebeneinander von Temperamenten und Lebenswegen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, gebündelt durch Karriererituale, die alle gleich schleifen, charakterisiert die politische Klasse. Ich kannte sie fast alle persönlich. Über die meisten hatte ich geschrieben, über manche oft.

"Was also war das Leben?" als Antworten auf diese Frage aus Thomas Manns Zauberberg, die mit metallischen Lettern in den Fußboden des Paul-Löbe-Hauses eingelassen war, haben die Damen und Herren viele ähnliche Geschichten im Kopf. Darüber zum Beispiel, wie schön und praktisch es ist, wenn einem jede Tür aufgerissen und jede Fahrkarte besorgt wird, und wenn am Telefon jeder Gesprächspartner prompt zu sprechen ist – banale Geschichten also über die Faszination der Macht. Aber auch an Beispielen für Ohnmacht und Illusionen des öffentlichen Heldenlebens wäre sicher kein Mangel.

Viel reden, wenig sagen

Es ist schon so, wie das Volk an den Stammtischen weiß: "Die da oben" sind alle gleich. Und doch sind die Unterschiede beträchtlich, nicht nur zwischen den Einzelnen, sondern auch zwischen den Älteren und den Jüngeren. Gewiß, spektakuläre Vater-Sohn-Konflikte nach dem traditionellen Familienmuster hat es zwischen den Politiker-Generationen bei uns kaum gegeben. Allenfalls die 68er traten zunächst mit dieser Attitüde an. Doch erwiesen sich auf Dauer selbst zwischen einem Joschka Fischer und einem Hans-Dietrich Genscher die prägenden Kräfte des Politikerberufs und die Verbindlichkeit demokratischer Spielregeln als stärker. "Gemeinschaft", sagt Wolfgang Schäuble, "besteht nicht nur mit denen, mit denen wir aktuell zusammenleben, Gemeinschaft ist unerläßlich auch in der Kontinuität der Generationen."

In diesem Sinne funktioniert die politische Klasse in der Bundesrepublik Deutschland überraschend reibungslos. Sie speist sich nahezu vollständig aus dem Nachwuchs, den die Parteien vorschlagen. Die Auswahl ist begrenzt: Im 14. Deutschen Bundestag konnten 80,1 Prozent aller Abgeordneten einen Hochschulabschluß vorweisen, im 2. Bundestag hatte der Akademikeranteil nur bei 44 Prozent gelegen. Genau 45,8 Prozent kommen jetzt aus dem öffentlichen Dienst. Freiberufler, Arbeiter und Bauern, ja, sogar Rentner sind Exoten in dieser windschnittigen Angestellten-Versammlung, die Seiteneinsteiger schwer aushält und leicht abstößt, wie Ex-Wirtschaftsminister Werner Müller erfahren konnte.

Sie sprechen auch alle ähnlich – so wie Genscher. Im internen Aufstiegswettbewerb der Parteien haben die Kandidaten für höhere Ämter gelernt, sich hinter Leerformeln zu verstecken. "Am besten viel reden und nichts sagen, das aber wortreich und entschieden", spottet Warnfried Dettling, einst Berater der CDU-Regierungen in Bonn, jetzt Publizist. So haben sich inzwischen auch die Dazugekommenen ohne größere Schwierigkeiten dem Komment und dem Selbstverständnis der Bonner Gründungsväter der Republik angeschlossen, die Grünen und die Ostdeutschen. Die alternativen Grünen, deren Einzug in den Bundestag 1983 Unionsabgeordnete mit unverhüllten Haßausbrüchen begleiteten, und denen ein besonders konservativer Chor von Besitzstandswahrern um Helmut Kohl bis heute vorwirft, sie wollten "eine andere Republik", fallen so wenig auf wie die später neu hinzugestoßenen Politiker aus der DDR, die PDS eingeschlossen, die ja nun wirklich aus einer anderen Republik kamen.

Dennoch schoß mir an jenem Tag, als Genscher auf seine Zusammenarbeit mit den drei Kanzlern Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl zurückblickte und den vierten, Gerhard Schröder, spöttisch darüber hinwegtröstete, daß er ohne ihn auskommen müsse, plötzlich in den Sinn, mit welch ähnlicher Beharrlichkeit Willy Brandt und Gerhard Schröder sehr unterschiedliche politische Bretter gebohrt hatten. Als ich 1964, drei Jahre nach dem Bau der Mauer, bei der Deutschen Presse-Agentur in Westberlin freier Mitarbeiter war, stand im Kalender der Redaktion an jedem Dienstagnachmittag ein Termin im Rathaus Schöneberg, den kein gestandener Redakteur freiwillig wahrzunehmen bereit war. Der Termin hieß im Redaktionsjargon "Egons Märchenstunde". Manchmal, wenn kein Volontär zur Stelle war, durfte ich hin. Egon Bahr, der Berater des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt, versuchte mitten im kältesten Kalten Krieg, der Westberliner Journaille in Hintergrundgesprächen die Brandtsche Ostpolitik zu verkaufen – Wandel durch Annäherung, Politik der kleinen Schritte. Lachhaft fanden das die seriösen Kollegen, wenn nicht gar am Rande des Verfassungsbruchs. Es dauerte sieben Jahre, bis Brandt für diese Politik, die er im Außenministerium und im Kanzleramt von Bonn fortsetzte, den Friedensnobelpreis erhielt.
Zwanzig Jahre später, 1984 – Helmut Kohl war schon ein ganzes Jahr Bundeskanzler, war ich mehrmals Zeuge, wenn die frustrierten jungen Abgeordneten von SPD und Grünen, Gerhard Schröder und Joschka Fischer, in der Bonner Politkneipe "Provinz" nach dem sechsten oder siebten Bier die alsbaldige Vertreibung "des Dicken" aus dem Kanzleramt auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorzubereiten begannen. Auf einem Bierdeckel entwarfen sie die Zusammensetzung der neuen Regierung. Die Liste fing immer gleich an: Bundeskanzler Schröder, Vizekanzler und Außenminister Fischer. Fast fünfzehn Jahre vergingen, bis dieser Plan Realität geworden war.

Zweimal harte Bretter, zweimal starkes langsames Bohren. Eindrucksvoll, fürwahr. Aber Willy Brandt, der linke Patriot und von der Geschichte gezeichnete Sozialist, hatte ein politisches Ziel, das größer war als er selbst. Gerhard Schröder, sozialer Aufsteiger mit bravouröser politischer Karriere, wollte sich und der Welt beweisen, daß er groß genug sei für die höchsten Ämter, mehr nicht.

Der Kanzler und ehemalige SPD-Vorsitzende Gerhard Schröder ist ein aufrichtiger Verehrer Willy Brandts, zu dessen Enkeln er gerechnet wird. Er rühmt sich keiner besonderen Nähe, wer das tue, glaubt er, lüge ohnehin: "Willy war niemand nahe." Und doch ist es mehr als parteitaktisches Kalkül, daß er sich eine Statue seines Vorgängers ins Kanzleramt gestellt hat. Gemeinsamkeiten muß er nicht erfinden. Da ist die ähnliche Proletarier-Herkunft, die vaterlose Kindheit, eine rätselhafte Distanz selbst zu Freunden. Manchmal redet Schröder wie Brandt, manchmal posiert er wie "der Alte", und bisweilen bekennt er sogar: "Ihr glaubt es mir ja doch nicht, aber ich möchte, daß Willy auf Wolke Sieben findet, daß ich einen ordentlichen Job mache." Das ist Gerhard Schröder in solchen Augenblicken so ernst, wie ihm etwas nur ernst sein kann.

Und doch könnte der Kanzler von heute, der im vorletzten Kriegsjahr zur Welt kam, als der 31-jährige Emigrant Brandt sich schon auf ein Leben im zerstörten Deutschland nach Hitlers Niederlage vorzubereiten begann, dem Parteiheiligen Willy unähnlicher kaum sein. Liegt das tatsächlich nur, wie der Politikwissenschaftler Graf Christian von Krockow einmal in einer Diskussion über Max Webers Berufspolitiker-Bild sagte, am grundlegend veränderten "Gefüge der Rahmenbedingungen für Aufstieg, Durchsetzung und Machtausübung"? Oder gibt es Max Webers Idealtypus der reifen Persönlichkeit als Endprodukt einer erfolgreichen Integration und Verarbeitung von individuellen und historischen Erfahrungen gar nicht mehr?

Was Willy Brandt auszeichnete und worüber auch Schröder verfügt, ist eine eher instinkthafte Fähigkeit zur "politischen Urteilskraft", die der britische Philosoph Isajah Berlin erfolgreichen Politikern zuschreibt. Diese politische Variante eines ausgeprägten "Wirklichkeitssinns", die mehr mit Verstehen zu tun habe als mit Wissen und durch nichts zu ersetzen sei, ermögliche es Politikern, bewußt oder halb bewußt die Grundmuster menschlicher oder historischer Situationen aufzunehmen und Fakten als Symptome vergangener und zukünftiger Möglichkeiten zu sehen.

Es handelt sich um eine gewisse Vertrautheit mit den relevanten Tatsachen, die sie erkennen läßt, was zueinander paßt, was unter den gegeben Umständen getan werden könnte und was nicht, welche Mittel in welcher Situation und in welchem Umfang anzuwenden sind, ohne daß sie zwangsläufig erklären können, warum sie dies wissen, oder worin dieses Wissen überhaupt besteht.

Politiker teilen diese Fähigkeit, die eher eine der Synthese als der Analyse ist, mit Dompteuren, Dirigenten und Dichtern. Im ausgeprägtesten Falle, meint Berlin, bedeute das "Genialität". In der alltäglichen Version heißt diese Begabung gesunder Menschenverstand.

Doch bei aller Vergleichbarkeit der Grundausstattung – die Zeitumstände und sein politischer Lebensweg haben Willy Brandt einen gewaltigen Vorsprung gegenüber Schröder in Kenntnis und Wahrnehmung von Wirklichkeit verschafft. Brandt hat die Geschichte erlebt, von der Schröder im besten Falle gelesen hat. Und was für die beiden Kanzler gilt, läßt sich in beträchtlichem Maße auch auf ihre Generationsgefährten übertragen. Das ist niemandes Verdienst und niemandes Schuld. Aber es ist eine generelle Tatsache, die den Charakter der deutschen Politik, ihren Stil und ihr Personal im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte erheblich verändert hat. Die Älteren haben sich durch Emigration, Inhaftierung, schuldhafte Verstrickungen und politisches Wirken in Kriegszeiten und im Untergrund einen unvergleichlichen Erfahrungs- und Wissensschatz aneignen können und müssen, der über die Fähigkeit zur Einschätzung von historischen Entwicklungen, von politischen Chancen und Risiken weit hinausging. Im Vergleich zu den Jüngeren brachten sie ungleich mehr Lebenswirklichkeit mit in ihren Politikerberuf. Die meisten hatten ihre Kenntnisse auf schmerzhafte Weise durch Handeln und Erleiden erworben, vielfach im Wortsinne leibhaftig erfahren und erlebt.

Das beantwortet auch – unabhängig von allen erkenntnisphilosophischen Disputen – die Frage, was denn Wirklichkeit in der Politik überhaupt sei. Immer steht, was wirklich ist, in gegenwärtiger Beziehung zum eigenen Körper, wird durch Schmerz, Krankheit oder Wohlbehagen beglaubigt. "Die Realität, nach der die Philosophie letztlich fragt", schreibt der französische Philosoph Paul Ricœur, "ist der handelnde Mensch. Ich füge immer hinzu: Und der leidende Mensch." Sein deutscher Kollege Erich Rothacker erkennt Wirklichkeit daran, daß sie "wirken", das heißt, "ihr Erlebtwerden erzwingen" kann. Mit anderen Worten: Realität ist, wo man durch muß.

Mediokratie

Handelnd? Leidend? Wirkend? Wo lassen solche Definitionen einen Mann wie Guido Westerwelle, der an Genschers 75. Ehrentag vor dem Mikrofon herumkreischte wie bei einer Kindergeburtstags-Party? Formal ist er ja wer in der Politik – Parteivorsitzender, Parlamentarier, Rechtsanwalt. Daneben hat er sich einen anderen Ruf erarbeitet – als Talkshow-Gag-Produzent, Berufsjugendlicher, Omas Liebling, alles und noch viel mehr. In Sekundenschnelle kann der schmallippige, klirrend kalte Jurist zum balzenden rheinischen Charmeur schmelzen, wenn ein neuer Gesprächspartner eine veränderte Ansprache erforderlich macht. Vierzig Jahre ist er alt, aber er klammert sich an eine kultige Jugendlichkeit, die an ihm spannt wie ein zu enger Pullover. Seine Fähigkeit, viele höchst unterschiedliche Bilder von sich in die Welt zu setzen, machen ihn im Medienzeitalter zu einer attraktiven Figur. Was er natürlich weiß. Bisweilen gelingt es ihm sogar, den Eindruck zu erwecken, er habe genügend reflektive Distanz zu sich selbst, um mit seinen diversen Rollen spielen zu können.

Aber wer so etwas wie einen authentischen Kern sucht, wird nicht fündig. Westerwelle gelingt es nicht, seine diskrepanten Ausdrucksformen zu einem auch nur halbwegs identischen Persönlichkeitsbild zusammenzufügen Die diversen Guidos überlagern sich zu einer unscharfen Bilderserie. Ist er nun modern? Weitläufig? Entscheidungsstark? Cool? Sportlich? Die Design-Splitter seiner öffentlichen Erscheinung, mit denen der Liberale in den Medien hausieren geht, sind so unzureichend durch erkennbare Wirklichkeiten legitimiert wie Schecks ohne finanzielle Deckung. Für einen Politiker, der auf Glaubwürdigkeit angewiesen ist, kann das tödlich sein.

Einen "evidenten Verfall von Individualität "hatte Theodor W. Adorno schon in den Sechzigerjahren festgestellt. Klagen über den Sozialtypus des entkernten Menschen gehören inzwischen zum verläßlichsten Bestandteil der neuen Unübersichtlichkeit. "Das Ich der Zukunft" beschrieb das Magazin Psychologie heute als ein Kaleidoskop aus fremden Meinungen, Eindrücken, Bildern und miteinander im Widerstreit liegenden Überzeugungen.

Wer täglich erlebt, wie die Profis der Politik im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit in Sekundenschnelle ihr Gesicht wechseln, den Ton verändern oder die Logik ihrer Argumentation umdeuten, den muten solche Theorien nicht allzu fremd an. "Patchwork-Identitäten" nennt der Sozialpsychologe Heiner Keupp solche fraktionierten Menschen, die in der Lage sind, in jedem Augenblick ihr Ich zu dekonstruieren und situationsangemessen neu zusammenzusetzen.

Es sind Bilder, die von solchen Politikern haften bleiben, nicht Inhalte. Guido im plüschigen Guido-Mobil, Guido mit der 18 auf den Schuhsohlen, Guido mit Spaß-Kumpel Möllemann, später zerknautscht beim Nachruf, Guido mit Bierpulle im "Big-Brother"-Container. Guido als alles und nichts. Wie ernst er guckt, wie neckisch er lacht; ob er stottert oder eine geblümte Krawatte trägt, das bleibt beim Publikum eher in Erinnerung als irgendeine kesse These zur Rentenpolitik. Was rüberkommt, sind nur in Ausnahmefällen Reste von Information, normalerweise bleibt nicht mehr als ein vager Stimmungsreiz. Der Dortmunder Politikwissenschaftler Thomas Meyer erkennt darin eine neue politische Grundkonstellation, die er "Mediokratie" nennt. Wo Politiker-Talkrunden zum "menschelnden Geschwätz" werden und dramatische Bilder in Nachrichtensendungen sich selbst zum Inhalt machen, sieht er die Gefahr einer "Kolonisierung der Politik durch das Mediensystem" heraufziehen. Die sei immer dann gegeben, "wenn die dem Mediensystem eigentümlichen Regeln auf das politische System übergreifen und dessen eigentümliche Regeln dominieren oder gar außer Kraft setzen". Der Durchschnittszuschauer wähnt sich unterrichtet, während er in Wahrheit auf unterhaltsame Weise nichts erfährt.

Die Entwicklung in diese Richtung hatte schon in Bonn begonnen. Aber sie hat sich in der Metropole Berlin rasant verschärft. Im Jahr 2003 arbeiteten in der neuen Hauptstadt 5300 Menschen für die elektronischen Medien. Die Berliner konnten zwischen 42 TV-Kanälen und 61 Rundfunkprogrammen wählen.

Beim Bundespresseamt waren 3285 Berichterstatter akkreditiert. Die tägliche Zeitungsauflage betrug 1,3 Millionen Exemplare, ungefähr die Hälfte davon waren Boulevard-Blätter. Damit bestimmen schon jetzt die Kommunikationsweisen der Medien das Schicksal der Demokratie in der Berliner Republik. Sie ermöglichen dem Politiker, sich in Szene zu setzen und gezielt eigene Botschaften über seine persönliche Vortrefflichkeit zu verbreiten, sie setzen ihn aber auch dem Risiko aus, daß er unfreiwilliger Mitspieler einer Medieninszenierung wird.

Ja, wilder, bildergeiler und skandalträchtiger als am Rhein geht es schon zu in der Medienmetropole. Politik goes Pop. Minister sind Stars wie Filmschauspieler und Fußballer. Das Fernsehen braucht Drama, Kampf, Helden und Schurken. Immer wird auf Sieg und Niederlage inszeniert. Und immer geht es um alles. Manchmal liefert die Politik selbst das Drama, wie etwa beim Berliner Europa-Gipfel im März 1999. Die Kameras konnten in Großaufnahme nur noch den physiognomischen Niederschlag eines erbarmungslosen Machtkampfes um Geld und Prestige nachliefern, der hinter verschlossenen Türen abgelaufen war. Wie zwei Schiffbrüchige, die eigentlich schon nicht mehr an Rettung geglaubt hatten, saßen die außenpolitischen Neulinge Schröder und Fischer um 6 Uhr 30 am Morgen des letzten Verhandlungstages vor der Presse im Berliner UFA-Palast. Zwanzig Stunden hatten sie mit ihren europäischen Kollegen – immer am Rande des Scheiterns – um eine Neuordnung und Stabilisierung des EU-Agrarmarktes gefeilscht. Es war die Stunde der Bewährung auf internationalem Parkett für die neue rot-grüne Regierung. Am Ende sagte der Kanzler tiefstapelnd, er sei "zufrieden, trotz aller Härte der Arbeit". Aber das fast weihnachtliche innere Strahlen, das seine kalkig weißen, von Müdigkeit und Anstrengung zerschlissenen Züge erleuchtete, erzählte eine andere Geschichte: Mein Gott, das war knapp. Und: Es war mörderisch. Fischer fand sich "innerlich um zehn Jahre gealtert". Fünf Jahre konnte jeder auch äußerlich erkennen.

Meistens aber schaffen sich die Medien ihre Thriller selbst. Etwa als die Fernsehsender zur Bundestagswahl 2002 die Rivalen Edmund Stoiber und Gerhard Schröder zu einem Rededuell aufeinander hetzten, das die schreibende Presse wochenlang in sportlich-kriegerischen Vorausberichten angeheizt hatte, als boxten die Herren Kanzlerkandidaten um die Schwergewichts-Weltmeisterschaft: Gerhard Schröder, der Zwangsentspannte, gegen Edmund Stoiber, den verkannten Gutmütigen, dröhnte selbst die feine Zeit.

Der Effekt solcher Kampfsport-Politik-Bilder, ob dem wirklichen Leben abgewonnen oder durch Inszenierungen produziert, ist erheblich: Nahaufnahmen rücken die Akteure den Zuschauern so dicht vor die Augen, daß sie sich auf eine fast familiäre Weise an ihn oder sie gewöhnen. Die Wähler sehen, wie der Clement, die Merkel oder "Bruder Johannes" schwitzen, wenn sie unter Druck geraten, wie ihre Mundwinkel zucken und die Oberlippe zittert. Dann leiden sie mit. Oder sie freuen sich.

Politiker werden durch das Fernsehen in gewisser Weise "menschlicher"; das wiederum weckt Erwartungen auf völlig andere Eigenschaften als die Fähigkeit, "die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen", wie es Max Weber den Polit-Profis abverlangte.

  • Wer komplexe Sachverhalte darlegt, kommt als Umstandskrämer an.

  • Wer zuhört, gilt schnell als Schlaffi.

  • Wer zu viel weiß, wirkt wie ein Streber.

Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, der im letzten Bundestagswahlkampf als Kanzlerkandidat der Union in einer Christiansen-Talkshow mit Prozentzahlen um sich warf wie ein Zirkusclown mit Torten, wie die taz höhnte, fing sich eine vernichtende Presseschelte ein. Politik wird keineswegs nur mit dem Kopf gemacht. Mimik und Körpersprache, Modulation und Aussehen beeinflussen die Wirkung eines Politikers im Fernsehen nachdrücklicher als eine schlüssige Argumentation.

Medienwirksamkeit ist zur wichtigsten Voraussetzung geworden für eine politische Karriere, die in die Spitzenpositionen des Staates führt. Wer in der Bundesrepublik politisch nach ganz oben will, in die Regierung oder an die Spitze einer Partei, der muß vor allem im Fernsehen gut rüberkommen. Er muß mit flotten Sprüchen Stimmung machen können, sich extravagant aufführen, am liebsten ein bißchen schräg zur eigenen Partei argumentieren und eine gefällige Ausstrahlung haben, dann ist er gefragt in den drei Dutzend Talkshows. Harte Sachdiskussionen dagegen und programmatische Zielsetzungen, nach denen die Kommentatoren der Zeitungen verlangen, scheinen das Publikum zu überfordern und zu langweilen. Nach einer internen Studie des Instituts polis für den SPD-Parteivorstand interessieren sich 75 Prozent aller Bundesbürger kaum oder gar nicht für Politik. Nur ein Prozent ist "hoch interessiert". 10 Prozent sind "interessiert", 15 Prozent bezeichnen sich als "mäßig interessiert". Etwa 80 Prozent der Wähler haben nach einem Bericht der Frankfurter Rundschau vom Juli 2002 keine stabile Parteibindung. Der Anteil der harten Stammwähler wird für die beiden großen "Volksparteien" Union und SPD nur noch auf je 10 Prozent geschätzt.

Kein Wunder, daß die um Mehrheiten kämpfenden Politiker sich vorteilhaft persönlich in Szene zu setzen versuchen, wenn schon auf ihre politischen Positionen keiner wirklich neugierig ist. Daß dabei die Grenzen zwischen der öffentlichen Figur der Zeitgeschichte und dem Privatmenschen verschwimmen, versteht sich. Genauso wie sich die Unterschiede zwischen Gerücht und Information, Politik und Unterhaltung verwischen. Politiker wie Schröder, Fischer oder Westerwelle gewinnen ihre populäre Stärke nicht zuletzt aus ihren riskanten Gratwanderungen auf der Intimitätsgrenze. Ob der Kanzler seine in Thüringen entdeckten Cousinen der Presse vorführt, der Außenminister seine Jogging-Besessenheit als langen Weg zu sich selbst vermarktet, oder der FDP-Chef mit Parteifreunden vor Fotographen seine Volleyballkünste produziert – immer haben sie diese öffentlichen Einblicke in ihre Privatsphäre als wählerwirksame Aktionen verteidigt. "Politainment" nennt der Politikwissenschaftler Andreas Dörner diese spezielle Form von "unterhaltender Kommunikation", die Politik und Entertainment zusammenkoppelt, um politisch mäßig interessierte Bürger über Gefühle als Wähler zu gewinnen.

Einfach ist es nicht, immer und unter allen Umständen ein gutes Bild abzugeben. Man kann sich, in der Hoffnung auf parasitäre Popularität, auch so gründlich vergaloppieren wie Helmut Kohl 1998. Der hatte sich zu Beginn seines Wahlkampfes gegen Gerhard Schröder hemmungslos in der Bewunderung des deutschen Fußball-Nationaltrainers Berti Vogts und seiner Kicker gesonnt. Beim Länderspiel gegen Kroatien während der Weltmeisterschaft in Frankreich stand er breit und bräsig auf der Tribüne im Stadion von Lyon, als das Deutschlandlied erklang. Kohl, Deutschland und seine Kicker – waren wir das nicht alle? Eine glorreiche, schwarzrotgoldene Einheit? Dieser emotionale Eindruck wurde 22 Millionen Zuschauern – das entsprach der Hälfte aller Wahlberechtigten – per Fernsehbild ins Haus geliefert: Darum CDU.

Kohls sozialdemokratischer Konkurrent, Fußballfan auch er, hockte derweil mit unverkennbarem Grimm vor der Glotze. Seine Kiefer malten. Eine Einladung habe er auch gehabt, brummte Gerhard Schröder im Kreise von Freunden, die auf dem Ferienbauernhof des Theaterintendanten Jürgen Flimm das Spiel ansahen. Für Schröder schien es schon verloren, bevor es begann. Hätte er doch hinfahren sollen? "Das hätte aber auch blöd ausgesehen." Aber dann verloren die Deutschen nicht nur 0:3, sie machten als Verlierer auch noch eine schlechte Figur, vor allem Vogts, der bald darauf von seinem Amt zurücktrat. Für Helmut Kohl wurde das Spiel damit zum symbolischen Desaster, und Gerhard Schröder mußte sich große Mühe geben, nicht allzu laut zu jubeln über die Niederlage, die er ja auch nicht gewünscht haben dürfte. Doch daß das klägliche Scheitern der Kicker am amtierenden Kanzler persönlich hängen bleiben würde, war dem Instinktpolitiker Schröder sofort klar. "Es konnte empirisch nachgewiesen werden, daß sich die symbolische Kontamination tatsächlich direkt auf die Wahlabsicht des Publikums ausgewirkt hat", bestätigte Andreas Dörner später.

Es ist üblich geworden, diese Entwicklung, die früher bei uns besonders zu Wahlkampfzeiten mit geradezu aristokratischer Hochnäsigkeit als demokratische Entartung, sprich: Amerikanisierung, verketzert worden war, heute als "Telekratie" zu akzeptieren – vor allem mangels Alternative. Aber ist das tatsächlich Entpolitisierung? Sind Politiker nur noch Staatsschauspieler? Und ist das schließlich alles so neu?

Darsteller waren Politiker immer. Genau wie Schauspieler waren sie stets auch darauf aus, ihre Zuschauer zu erreichen und Beifall und Zustimmung zu erlangen. "Die Politik ist keine Wissenschaft, wie viele der berühmten Herren Professoren sich einbilden", sagte Bismarck 1881 im Reichstag, "sie ist eben eine Kunst." Aber anders als professionelle Mimen spielen Politiker nicht Rollen in einem Stück, das andere geschrieben und wieder andere für sie inszeniert haben. Politiker müssen sich und ihre Inhalte selbst inszenieren – und zwar paradoxerweise so, daß beim Publikum statt einer gelungenen schauspielerischen Leistung ein Eindruck von Authentizität ankommt.
Im übertragenen Sinn gehe es also für Politiker darum, die Waage zwischen Pragmatik und Theatralität im Gleichgewicht zu halten, schreiben Christine Kugler und Ronald Kurt in einem Aufsatz über Inszenierungsformen von Glaubwürdigkeit im Medium Fernsehen. In der Pragmatik-Waagschale finden sich die Eigenschaften, die eine Gesellschaft von ihren Politikern erwartet: Verantwortungsgefühl, Machtwille, Tatkraft, Klugheit, taktisches Geschick, Konfliktfähigkeit, Sachkompetenz, Engagement, Standhaftigkeit. In die Theatralitäts-Waagschale gehören Gestaltungsmittel wie Stimme, Tonlagen, Gesten, Posen, Mimik.

Jedes Zuviel oder Zuwenig an Ausdruckskraft kann die Glaubwürdigkeit eines Politikers in Frage stellen.

Die Wichtigkeitsdroge Politik

Touristisch boomt Berlin, und ohne Zweifel gehört das Regierungsviertel mit dem Reichstag und seiner Kuppel weiter zu den Attraktionen. Doch wenn Bundestagspräsident Wolfgang Thierse die Gesichter der Wartenden studiert, dann fragt er sich bisweilen, ob seine Abgeordneten sich über ihre Bedeutung nicht Illusionen machen. Er meint nämlich bei den Besuchern einen Ausdruck erkennen zu können, der ihm bei Zuschauern von Autounfällen aufgefallen ist: "Eine Mischung aus Faszination und Ekel."

Die politischen Profis leiden darunter, daß ihr Bild zwischen solch extremen Einschätzungen hin und her schwankt. Sie wollen keine "Windbeutel" (Weber) sein, keine Raffkes und keine Ganoven. Aber sie wehren sich genauso dagegen, als moralische Vorbilder in Anspruch genommen zu werden. So schwer sie sich tun, die Wirklichkeit im Lande zu erfassen, noch überforderter wirken sie bei ihren Bemühungen, die eigene Alltagsrealität, die konkreten Voraussetzungen und Umstände ihrer Berufsausübung der Öffentlichkeit zu vermitteln. Das führt zu einem Image, verwackelt und verwaschen, dem niemand recht traut. Umgekehrt fühlen sie sich durch die widersprüchlichen Erwartungen ihrer Wähler überfordert. "Parlamentarier sollen hoch kompetent, bienenfleißig, absolut integer und gleichsam in hohem Maße selbstlos sein", seufzt der SPD-Abgeordnete Hermann Bachmaier.

So weit, so gut. Danach aber wird es schwierig: Hoch professionell sollen die Abgeordneten ihr Mandat ausüben – aber bloß keine Berufspolitiker sein. Sie sollen Stehvermögen haben – gleichzeitig aber dem Bild der Geschlossenheit ihrer Fraktion keinen Schaden zufügen. Sie sollen Rückgrat zeigen und sich zugleich für "höhere Aufgaben" empfehlen. Bei allen Plenarsitzungen, die im Fernsehen übertragen werden, sollen sie anwesend sein, aber ebenso ihren zum Teil hoch spezialisierten Parlaments- und Wahlkreisaufgaben nachkommen. Lobbyisten und Interessenvertretern sollen sie auf die Finger klopfen und sich dennoch kompromißlos für alle Wahlkreisinteressen einsetzen. In mustergültigen Familienverhältnissen sollen sie leben und trotzdem rund um die Uhr den Mandatspflichten, selbstverständlich auch an Wochenenden, nachkommen.

Hermann Bachmaier aus Crailsheim in Baden-Württemberg sitzt seit 1983 im Deutschen Bundestag, erst in Bonn, jetzt in Berlin. Er ist Justiziar der SPD-Fraktion, stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses, wählt Richter mit aus, kontrolliert Geheimdienste, gilt als fleißiger Arbeiter und Experte für Atomrecht und ist, wie er sagt, "auf vielen Baustellen tätig". Im Fraktions-Establishment ist der Anwalt eine geachtete Größe. Und dennoch zählt er nicht zu den fünfzig bis siebzig Prominenten des Hohen Hauses, die immer aufs Neue in Talkshows eingeladen werden – und damit ihre Bedeutung schon nachgewiesen haben, bevor sie auch nur den Mund öffnen. Bachmaier sarkastisch: "Das wahre Leben spielt sich meist in Nischen ab." Einerseits ist der Fachpolitiker mit seiner Rolle ganz zufrieden. "Es gibt eben auch stille Karrieren im Bundestag." Vieles ist ihm zugewachsen, und mit seinen Expertenkenntnissen glaubt er, manchmal mehr bewegen zu können, "als wenn ich Medienzirkus-Mitglied wäre". Andererseits ist ihm klar, daß er mehr öffentliche Akzeptanz hätte – und damit auch mehr Durchsetzungskraft –, wenn er bekannter wäre.

Das Parlament gerät zunehmend in die Gefahr, als Symbol herhalten zu müssen für alles, was schief läuft. Und wenn du nur Abgeordneter bist und kein Staatssekretär werden willst, dann giltst du nach außen schnell als einer, der nicht weiterkommt.

Hermann Bachmeier gehört zweifellos zu den fleißigsten Parlamentariern in Berlin. Während das Bild der leeren Stühle im Plenum des Bundestags dem Volk seinen Verdacht zu bestätigen scheint, daß seine Abgeordneten Nichtsnutze und Tagediebe seien, sind die in Wahrheit am produktivsten, wenn sie nicht auf ihren blauen Sesseln unterm Adler sitzen. Im 14. Deutschen Bundestag von 1998 bis 2002 hatten die Abgeordneten 14.495 Fragen gestellt, 1288 Anträge behandelt und 851 Gesetzentwürfe beraten, von denen 548 rechtskräftig geworden sind. Weder die Neunzig-Stunden-Sitzungswochen der normalen Parlamentarier, noch die sechzehnstündigen Arbeitstage der Polit-Prominenten bestehen vorwiegend aus Talkshows, Pressekonferenzen und öffentlichen Gala-Auftritten. In unzähligen Telefonaten, Konferenzen, Beratungen und Gremiensitzungen sind Berufspolitker damit beschäftigt, ihre Ziele und Auffassungen gegen politische Konkurrenten und Parteifreunde, gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessengruppen und wohlmeinende Bedenkenträger durchzusetzen. Führungswille und Fingerspitzengefühl, taktisches Gespür und Entscheidungsfreude, fachliches Know-how und politische Erfahrung entscheiden über Erfolg und Mißerfolg im internen Einflußgerangel.

Daß diese Vielfalt ihren Reiz hat, bestätigen alle, so sehr sie sonst auch über unzumutbare Lebensumstände in der Politik klagen mögen. Selbst der einst so erbitterten und enttäuschten Grünen Andrea Fischer, Jahrgang 60, die über Einsamkeit, Versagensängste und Medienterror geklagt hatte wie alle, die halbwegs ehrlich von ihrem Berufsalltag reden, schien nach ihrem Abschied aus dem Regierungsamt etwas zu fehlen. Daß sie hart geworden war, mißtrauisch und ungeduldig im politischen Geschäft, hatte sie oft bedauert. Und im Januar 2001 trat sie als Berliner Gesundheitsministerin zurück, um dem Rausschmiß durch die eigenen Parteifreunde zuvorzukommen. Versteinert blickte sie bei ihrer letzten Pressekonferenz in die Kameras. Ein sicheres Angebot, wieder in den Bundestag einzuziehen, lehnte sie ab: "Jetzt ist es vorbei." Doch nicht einmal ein Jahr später, während noch immer kaum verkraftete Demütigungen ihr Gesicht verschatteten, sagte sie plötzlich: "Politik ist ein wunderbarer Beruf."

  • Wunderbar? Den meisten fällt zu ihrem Beruf auf Anhieb nichts Beneidenswertes ein. Macht? "Sie wissen ja gar nicht, wie machtlos ein Bundeskanzler ist", winkt Gerhard Schröder ab. Nach dem Amoklauf eines Schülers in Erfurt bekannte er hilflos: "Und da sitzt du hier und möchtest was tun und kannst nichts machen."

  • Respekt? "Staubsaugervertreter werden auch nicht verächtlicher behandelt", glaubt Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung.

  • Einkommen? "Wer ökonomisch denkt, ist völlig beknackt, wenn er in den Bundestag geht", findet der ehemalige Juso-Chef Wolfgang Roth, der aus dem Bonner Parlament als Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank nach Luxemburg wechselte.

  • Erfolge? "In meiner Bank beraten wir zu sechst drei Stunden, und dann machen sich dreieinhalbtausend Mitarbeiter daran, die Beschlüsse umzusetzen", sagt Ingrid Matthäus-Meyer, die frühere Finanzexpertin der SPD-Bundestagsfraktion, die jetzt im Vorstand der Kreditanstalt für Wiederaufbau sitzt. "Im Bundestag brauchten wir zu dritt sechs Stunden, um uns auf ein Ergebnis zu einigen. Anschließend begannen dreieinhalbtausend Genossen, den Kompromiß zu zerreden."

Und doch muß es irgendeinen magischen Reiz geben, der Politik als Beruf für Menschen attraktiv, ja faszinierend macht. Denn es waren ja nicht nur Gerhard Schröder, Edmund Stoiber und Guido Westerwelle, die bei der letzten Bundestagswahl als Bewerber um das Kanzleramt ihre Köpfe und Kehlköpfe und unsere Nerven strapazieren. Etwa 2500 Kandidaten kämpften überdies um die 598 Plätze im Bundestag. Und auch wenn Bundeskanzler Schröder manchmal zu befürchten vorgibt, daß – als Folge von Medien-Aufdringlichkeiten – bald kein junger Mensch mehr Politiker werden wolle, drängen auf der Ebene der Parteien noch immer genügend Nachwuchsleute in die erste Reihe. Teil einer systematischen Lebensplanung ist "Politik als Beruf" allerdings nur in Ausnahmefällen. Bloß knapp ein Sechstel der westdeutschen Abgeordneten bringt sich, nach den Erkundungen des schleswig-holsteinischen CDU-MdB Wolfgang Börnsen, gezielt als Kandidat für den Bundestag ins Gespräch. In Ostdeutschland ist es nur jeder Zehnte.

Es ist auch kein einheitlicher Typus auszumachen, sieht man einmal ab von einer robusten Grundausstattung an Eitelkeit, Ehrgeiz und Geltungsdrang. Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß? Inhalte? Hingabe an eine Sache? Irgendeine utopische Idee, wie es zugehen sollte zwischen den Menschen, hat – wie vage auch immer – wohl jeder, der politische Ämter anstrebt. Aber ob es die Politik ist, die über die entscheidenden Schalthebel zur Veränderung der Welt verfügt, das bezweifeln selbst die Akteure in der ersten Reihe. "Das Endziel sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verantwortung werden wir nicht erreichen", wußte Schröder schon vor mehr als zwölf Jahren. Das hat ihn nicht daran gehindert, die Kanzlerschaft anzustreben. Und Heide Simonis, damals Finanzministerin, heute Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, sagte im selben Jahr 1992:

Wenn es mir ausschließlich darum gegangen wäre, etwas zu ändern, wäre ich vermutlich bei der Gewerkschaft oder in der Kirche gelandet. Offensichtlich habe ich mir in der Politik auch eine gewisse Außenwirkung versprochen, die Möglichkeit, andere zu beeinflussen. Und das befriedigt auch die persönliche Eitelkeit.

Siegertypen oder wenigstens "Gewinnenwoller", wie der Sohn der Familienministerin Renate Schmidt seine Mutter charakterisiert, nehmen die Qualen und Strapazen des politischen Lebens auf sich, um wahrgenommen zu werden und Bestätigung einzuheimsen. Was der Gewinn ist? "Ich bin immer im Zentrum der Aufmerksamkeit", sagt Wolfgang Thierse. Auch Wolfgang Schäuble findet es "natürlich wichtig, öffentliche Beachtung zu erfahren".

Die Show-Seite und die Innenseite der Macht sind dabei keineswegs klar voneinander geschieden. In einer Rückkoppelungsbeziehung zwischen den öffentlichen und den arbeitsinternen Aspekten vermischen sich Sachverhalte und ihre mediale Präsentation. "All das", findet der Theaterregisseur Hajo Kurzenberger, "macht Politiker in mehrfachem Sinne zu Phantomexistenzen und stellt ihnen neue, oft kaum lösbare Aufgaben, nicht zuletzt die der eigenen wirkungsvollen Selbstdarstellung." Diese Quälerei im Druck- und Kräftedreieck von Medienpräsenz, internem Einflußgerangel und zuschauendem Wählerpublikum, dessen Meinung wöchentlich abgefragt und publiziert wird, und die damit verbundenen Identitätskrisen, panischen Ängste, Höhenflüge und Lebenslügen hat Kurzenberger in Berlin auf die Bühne gebracht: Kleine böse Geschichten aus dem großen neuen Deutschland, wie es im Programmheft heißt, frei erfunden auf der Basis von Dokumenten der Zeit. Merkels Brüder nannte er seine kabarettistische Grusel-Revue über die Karrieretretmühle Politik im Gorki-Theater, das von Angela Merkel und ihren real existierenden Kollegen zielstrebig gemieden wurde. Um über die "Spuren der Macht" in ihren Gesichtern zu erschrecken, reichte den meisten wohl Herlinde Koelbls Fotoband, wenn nicht der morgendliche Blick in den Spiegel. In den Gesichtern, den Bewegungen und der Körperhaltung der Politiker wird die Erfahrung ihres Berufes im Wortsinne "leibhaftig".

Nichts fürchten die Profis der Politik mehr, als ihre Verletzlichkeit und Schwäche als normale Sterbliche zu zeigen. "Warum ist es so schlimm zu weinen?", habe ich einmal einen Bundestagsabgeordneten gefragt, der als Minister gehandelt wurde. Der schoß von seinem Schreibtischstuhl in die Höhe, stürmte zum Eingang des Büros, sah sich wie gehetzt nach Lauschern um und knallte dann die Tür zu. "Was für eine Frage", sagte er dann. "Als wüßten Sie nicht, wie viele hier nur darauf warten, daß ich mal Schwäche zeige, um mich dann fertig zu machen." In der Konkurrenzgesellschaft der Politik lebt jeder gegen jeden, weil jeder besondere Angst vor Rivalen hat. Und der geheime Wunsch nach Geborgenheit in einer paradiesisch-heilen Welt zeigt sich in pervertierter Form als Gewalttätigkeit gegen sich selbst und gegen andere.

Das hatte der PDS-Star Gregor Gysi im Sinn, als er seinen überraschenden Rücktritt vom Amt des Berliner Wirtschaftssenators in einem Brief an seine Wähler begründete:

Ich fürchte mich vor meinen Persönlichkeitsveränderungen.

Er habe gemerkt, daß er sich zu wichtig genommen und den Drang verspürt habe, sich zu allem zu äußern. Im Urlaub sei es ihm nicht gelungen, Telefonate und Fax-Anfragen unbeantwortet zu lassen – trotz bester Vorsätze. Mit seiner 6-jährigen Tochter habe er gespielt, ohne wirklich bei der Sache zu sein:

Du hast den Kopf nicht frei, um mitzukriegen, wie ein anderer Mensch fühlt.

Das sei nun mal so, sagt Doris Schröder-Köpf, die Frau des Bundeskanzlers, die sich längst damit abgefunden hat, daß ein Spitzenpolitiker wie ihr Mann niemals, auch im Urlaub nicht, wirklich abschalten kann. Im Grunde habe er immer das Büro dabei. Dann kommen die Unterschriftsmappen, und wenn sie nicht kommen, ruft er in Berlin an und fragt, was los sei. Schröder-Köpf:

Er kann sich nicht aus der Verantwortung verabschieden, und insofern ist man nie mehr frei.

Unabhängig von Intelligenz, politischer Phantasie und menschlicher Reife ist es vor allem eine Frage der Härte, ob einer bis an die Spitze durchhält. Politik ist learning by doing. Das, findet Andrea Fischer heute, ist das größte Handicap in diesem Beruf: Man wird nur durch Schaden klug. Daß sie viel kämpfen mußte und viel einstecken, findet sie in Ordnung. "Politik", sagt sie, "ist niemals irgendwie Ringelpiez mit Anfassen, also irgendwas Nettes. Wer kuscheln will, sollte was anderes machen."

Diese emotionale Verarmung nehmen die meisten gar nicht wahr. Sie wissen nicht viel über sich und damit auch nicht über andere. Das macht sie handlungsfähig. "Mangel an Menschenkenntnis ist eine der wichtigsten Führungsvoraussetzungen in der Politik", hat Holger Börner, lebenslanger Berufspolitiker und Ex-Ministerpräsident von Hessen, einmal gesagt. Das war keineswegs als Witz gemeint. Selbstzweifel, schon auf früher Karrierestufe hinderlich, bedeuten auf oberster Ebene einen Anschlag auf die eigene politische Existenz. "Wenn man am Morgen aufwachen und über seine eigenen charakterlichen Defizite nachdenken würde, käme man nicht mehr zur Arbeit", bekannte Gerhard Schröder, als er noch öffentlich über sich reflektierte.

Im März 2004 mußte sich Bundeskanzler Schröder im Bundestag wieder einmal von Frau Merkel vorwerfen lassen, daß seine Regierung "abgekapselt irgendwo in einer irrealen Welt" agiere und er selbst "die Bodenhaftung" verloren habe. Der Regierungschef lachte gequält das traditionelle wegwerfende Kanzlerlachen. Müde sah er aus, sichtbar gezeichnet von Belastungen seines Amtes. Er wußte natürlich, daß auch in das schicke neue Bundestagsbüro der CDU-Chefin Merkel das richtige Leben nur in Form von Regenwasser einsickerte. Im Übrigen fühlte er sich in seinem schallschluckenden neuen Kanzlerbau tatsächlich häufig genug ausgesperrt.

Und so wirken seine gelegentlichen Versuche, die Isolation des Protokolls und der Sicherheit zu durchbrechen, wie brachiale Kraftakte. Es ist, als wäre eine Blase geplatzt, wenn Gerhard Schröder nach einer halbwegs wichtigen Rede oder Abstimmung aus dem Reichstag tritt. Ein rangelnder, schubsender, verbissen gegeneinander mit Ellenbogen kämpfender Pulk von Journalisten, bewaffnet mit schwerem Gerät, quillt rückwärts stolpernd die Treppe hinab. Blitzlichter zucken, Kameras surren, Mikrofone stechen nach dem Mann, um den es geht, und der – unterstützt von den Sicherheitsrecken an seiner Seite – so tut, als bummele ein entspannter Staatsmann lächelnd zu seiner Arbeitsstätte, hier eine Autogrammkarte signierend, dort ein paar Hände schüttelnd – Politik macht Spaß.

So sieht es jedenfalls abends auf dem heimischen Fernsehschirm aus, und man mag – wenn man dabei war als Teil der "Meute" – gar nicht glauben, daß dies das Ergebnis jenes Gedrängels ist, bei dem man sich kurz wieder einmal seines Berufs geschämt hat, wegen der blöden Fragen und der allgemeinen Rücksichtslosigkeit. Jetzt ist nichts mehr davon zu hören und zu sehen, auch nicht von den Regenschirmen, die den Kanzler trocken hielten, und nichts von den Scheinwerfern, die Schröders Gesicht in einen rembrandtschen Lichtschimmer tauchten.

...

Hoffnungsträger

Sehstörungen

Und was nun? Müssen wir auf die Ossis hoffen, um in der Politik endlich wieder lebenswahre Menschen zu erleben? Brauchen wir Medienabstinenz-Wochen für Abgeordnete? Einen Suchtbeauftragten für Polit-Junkies? Oder sollen wir uns gar einen Krieg wünschen, um Politiker wieder mit der Härte des wahren Lebens zu konfrontieren? Helmut Schmidt glaubt, daß Friedensgenerationen niemals den Erfahrungs- und Qualitätslevel von kriegsgestählten Jahrgängen erreichen.

Aber vielleicht reichte es ja auch schon, die politische Klasse daran zu hindern, sich vor den Unbequemlichkeiten der Wirklichkeit zu drücken. Carlo Schmid hatte vor der Gründung der Bundesrepublik vorgeschlagen, den westlichen Teil des getrennten Landes von einem Barackenlager an der Zonengrenze aus zu regieren, um den Provisoriumscharakter der staatlichen Zwischenlösung im Bewußtsein zu erhalten. Und nach dem Zusammenbruch des Honecker-Regimes wäre es womöglich besser gewesen, meint Hans-Dietrich Genscher heute, die Bonner hätte sich sofort nach der Vereinigungsfeier in der neuen gemeinsamen Hauptstadt niedergelassen, um die konkreten Schwierigkeiten des Zusammenwachsens im persönlichen Alltag zu erfahren.

Noch einmal: Es geht um Wirklichkeit, um die Wahrnehmung der Realität durch die politischen Akteure und eine angemessene Reaktion auf die Lebensumstände, Interessen, Erwartungen und Gefühle der Menschen. Derzeit trennt ein gigantisches Mißtrauen die Bürger von der politischen Klasse. Offenbar sehen die Politiker aller Parteien und aller Altersgruppen die Welt, ihre Probleme und deren Lösungen sehr viel anders als die überwältigende Mehrheit ihrer Wähler. Diese Wahrnehmungsdiskrepanz hatte Bundespräsident Johannes Rau im Sinn, als er in seiner letzten Berliner Rede im Frühjahr 2004 das Ausmaß des Vertrauensschwunds zwischen den Bundesbürgern und ihren Politikern als "lebensgefährlich" für die Demokratie in Deutschland bezeichnete:

Besonders schädlich ist es, wenn sich immer mehr das Gefühl breit macht: "Die da oben können es nicht – und zwar auf allen Ebenen und auf allen Seiten."

Tatsächlich signalisiert der verächtliche Zweifel an der fachlichen Kompetenz der politisch Verantwortlichen – nicht "nur" an ihrer ethischen Vorbildlichkeit – eine neue Qualität von Politikverdrossenheit. Es gibt zwischen den politischen Profis, den Medien und Otto Normalbürger kaum noch Konsens über die Lebenswirklichkeit in Deutschland.

Natürlich muß ich mich als Medienmensch angesprochen fühlen. "Journalisten sollen die Wirklichkeit abbilden", hat der Bundespräsident auch gefordert, und dagegen ist im Prinzip nichts zu sagen. Außer, daß Wirklichkeitsabbildungen oft sehr irreführend sein können, weil sich nicht immer ganz einfach herausfinden läßt, was eigentlich die Wirklichkeit ist. Unvergeßlich bleibt mir eine Szene aus dem Bundestagswahljahr 1994 mit Rudolf Scharping auf dem Bodensee-Linienschiff "Austria". Lässig lehnte der SPD-Kanzlerkandidat da in Hemdsärmeln an der Reling und blinzelte in die Sonne. Der Wind zauste an seinen Haaren, der Schlips flatterte ihm über die Schulter. Unten zogen Segelschiffe vorbei, aus der Ferne grüßten die Alpen. Postkartensommer. Nein, sagte der Kandidat aufgeräumt ins Funktelefon, während er lächelnd Ruderern zuwinkte, Urlaub könne man das nicht nennen, was er hier betreibe. Gerade habe er mit dem Schweizer Bundespräsidenten und dem österreichischen Bundeskanzler in Bregenz konferiert. Gleich werde er die Dornier-Werke in Friedrichshafen besuchen. Auch wenn es so aussehen mochte – Rudolf Scharping telefonierte keineswegs mit seiner Frau Jutta daheim, sondern er gab einem ihm unbekannten Moderator eines Lokalsenders ein Interview. Dabei wurde er gefilmt von einem TV-Team, was wiederum Fotographen festhielten, worüber sich der mitreisende Wort-Reporter Notizen machte.

Was war nun wirklich an dieser Szene? Was gar "die" Wirklichkeit? Nur daran, daß Scharping an jenem Sommertag auf der "Austria" telefonierte, würde ich jeden Zweifel ausschließen, das hatte ich – wie auch andere – selbst gesehen. Daß dieses Telefonat ein Interview war, mußte ich glauben, weil der Kandidat es mir erzählte. Ich habe jedoch nicht mitgehört. Aus der Ferne wirkte das Gespräch eher wie ein Telefonflirt. Aber wäre mir Rudolf Scharping als Person anders erschienen, wenn ich gewußt hätte, daß er mit seiner Frau telefoniert? Oder mit dem amerikanischen Präsidenten? Und hätte er sich beim Telefonieren anders verhalten, wenn ihm entgangen wäre, daß das Fernsehen ihn filmte? Hätte er den Ruderern zugewinkt, wäre er nicht im Wahlkampf gewesen?

Ich wußte, als ich Rudolf Scharping an jenem Tag im Wahlkampf beobachtete, weit mehr, als ich sah – sah ich auch, was ich wußte? In den Umfragen war der Sozialdemokrat abgesackt, seine Parteifreunde machten sich über ihn lustig, meine Kollegen begannen, ihn kritischer zu beurteilen. War das nicht wirklicher als der inszenierte Frohsinn auf dem Bodensee? Gab es Gesten, Zitate, Tonfärbungen, bewußte oder unbewußte Gefühlsäußerungen, mit denen er auf diese Situation reagierte? Ich war dabei, mir ein eigenes Bild von diesem Kandidaten zu machen, eines, das nicht identisch war mit dem, das seine Berater malten, und nicht mit dem, was seine Kritiker seit Jahren verbreiteten. Dafür bediente ich mich natürlich auch der Fernsehbilder, deutete sie, empfand manche als irreführend, andere als aufschlußreich. Ich mußte mit Fakten rechnen, an denen nicht zu rütteln war. Und ich hatte mich auf Wahrnehmungs-Routinen von Fernsehzuschauern einzustellen, die nur solche Scharping-Bilder für gelungen hielten, in denen sie entdeckten, was ihnen ohnehin schon bekannt war.

All diese Eindrücke, dazu meine eigenen Empfindungen, hatte ich in einen Zusammenhang zu bringen, um ein faires und halbwegs realitätsnahes Porträt zeichnen zu können, das Scharping gerecht werden würde und dem Leser helfen könnte bei seiner politischen Entscheidung für oder gegen diesen Kandidaten. Welche Details paßten zu welchen Eindrücken? Was entstand woraus? Was führte wohin? Die Fähigkeit, "das Grundmuster einer menschlichen Situation aufnehmen zu können, die Art und Weise, wie bestimmte Dinge zusammenhängen", kennzeichnet laut Isajah Berlin den "Wirklichkeitssinn" von Journalisten wie Politikern.

Das Fernsehen hat dafür gesorgt, daß solche ohnehin schon vielschichtigen Grundmuster noch viel komplexer geworden sind. Auf den ersten Blick scheinen wir besser Bescheid zu wissen als früher. Denn mit Hilfe einer klischeehaften Bilderzeichensprache haben die elektronischen Medien der Welt einen Augenschein von Verläßlichkeit verpaßt. Der Kameraschwenk über den Kabinettstisch bedeutet Regieren, die anrollenden Staatskarossen mit Polizeieskorte signalisieren Staatsbesuch, der Händedruck des Bundespräsidenten mit einer exotischen Dame heißt Neujahrsempfang. Diese Rituale kennt jeder aus der "Tagesschau". Nur daß die Bilder eben in Wahrheit nicht zeigen, was sie behaupten. Regiert wird im Kabinett erst, wenn die Kameraleute und Fotographen den Raum verlassen haben; der Staatsbesuch besteht aus vielerlei Ritualen und Gesprächen hinter verschlossenen Türen, der diplomatische Austausch beim Neujahrsempfang meidet die Mikrofone.

Umgekehrt kommen die klassischen Abläufe des politischen Geschäfts, die bis zu sechzehnstündigen Arbeitstage mit unzähligen Sitzungen, Telefonaten, Gremienberatungen und Aktenlektüre im Fernsehen so gut wie nicht vor. Selbst die prominentesten Politiker verbringen nur den allergeringsten Teil ihrer Zeit vor Mikrofonen und Kameras, in Pressekonferenzen oder Talkshows. Noch immer gehört es zu ihrem Handwerk, Pläne zu entwickeln, für Mehrheiten zu sorgen, Entscheidungen zu treffen und die dafür nötige Macht zu organisieren. Und noch immer entscheiden taktisches Geschick, Einfühlungsvermögen, politische Kompetenz, fachliches Know-how, sowie Überzeugungs- und Durchhaltekraft über den Erfolg. Jeder Abgeordnete des Deutschen Bundestages hat 2003 im Zusammenhang mit der aktuellen Gesetzgebung 40.000 Seiten Papier zugesandt bekommen – SPD-Fraktionschef Müntefering hat es nachgerechnet. Kohls langjähriger Berater Peter Radunski ist sicher: "Keiner kommt ganz nach oben, nur weil er in den Medien eine gute Figur macht."

Mit anderen Worten – der Blick der Öffentlichkeit auf die Lebenswelt der Politiker ist genauso eingeschränkt wie die Realitätswahrnehmung der Polit-Profis. Die gegenseitige "Sehstörung" wird von den Medien, vor allem von den elektronischen, eher bewirkt als beseitigt. Es gehört zu den Merkmalen der Telekratie, daß die visuellen Eindrücke – Bilder, Ereignisse, Bewegungen – wie Spiegelungen der unmittelbaren Realität wirken. Fernsehbilder, ganz gleich ob sie inszeniert sind oder Realität dokumentieren, wirken wie wirklichste Wirklichkeit. Politische Ereignisse und ihre Akteure dringen über den Bildschirm in unsere Wohnzimmer ein und lassen uns das Geschehen miterleben. "Guten Tag, Herr Schröder", sagte vor Jahren ein junger Mann, der sich zu dem damaligen niedersächsischen Oppositionsführer in einem Gartenlokal an den Tisch setzte, "wir kennen uns ja vom Fernsehen." Er meinte das nicht als Witz. "Viele glauben ja immer, weil ich so oft in ihren Wohnzimmern bin, müßte ich sie auch kennen", hat Schröder erfahren.

Volksvertreter

Nichts deutet darauf hin, daß sich an den Grundvoraussetzungen dieser Situation in absehbarer Zeit etwas ändert. Die politische Klasse wird sich auch in Zukunft vorrangig damit beschäftigen, ihre Probleme der Machterlangung und Machtbehauptung zu lösen und den Kontakt zur Gesellschaft vernachlässigen. Und die "Menschen draußen im Lande" werden weiter über "die da oben" maulen.

Parlamentsreform? Verfassungsreform? Entmachtung der Parteien? Veränderte Rekrutierungsbedingungen für die Aufnahme in die politische Klasse? Ich glaube keinen Augenblick daran. Die Rede von der Politikverdrossenheit ist alt und blieb folgenlos, die Vorschläge zur institutionellen und organisatorischen Veränderung von Parteien und Parlament stapeln sich in den Archiven. Eine neue Medienethik? Rückkehr zu Argumenten statt Unterhaltung durch visuelle Eindrücke? Programmatische Diskurse statt Personalisierung? Verzicht auf symbolische Show-Veranstaltungen zugunsten von politischer Aufklärung? Keine Chance. Das Wechselspiel zwischen Politik und Medien hat den politischen Betrieb und auch den Charakter unseres demokratischen Systems unrevidierbar verändert. Medienpräsenz ist heute die wichtigste Legitimationsgrundlage für politische Entscheidungen.

Die Politik wird auch ihren Drogen-Charakter nicht verlieren. Im Gegenteil, mein Eindruck, daß der politische Betrieb immer mehr zu einem Suchtprozeß entartet, hat sich in den letzten Jahren verstärkt. In dieser Hinsicht betrachte ich die Politiker als wahre Repräsentanten ihrer Wähler. Denn ich habe wenig Zweifel, daß wir heute eine Suchtgesellschaft sind – eine Gesellschaft, die ihr Bedürfnis nach Sinn, Glück und vor allem nach Sicherheit vorwiegend mit Ersatzmitteln befriedigt. Zumindest in den entwickelten Industrieländern erscheint mir Sucht als die zentrale Krankheit der Zeit.

Das ist die schlechte Nachricht: Ich weiß kein wirksames Rezept gegen die gegenwärtige Misere der politischen Kultur, ich kenne auch niemanden, der glaubwürdig eines verspricht. Es macht also wenig Sinn, in das allgemeine Lamento einzufallen und dem legendären demokratischen Urgestein der angeblich idyllischen Bonner Republik nachzutrauern. Gewiß waren viele ältere Politiker durch historische Ereignisse, die in ihren seelischen Innenbereich eingedrungen sind und das private Denken und Fühlen geprägt haben, gegen die Deformationen des politischen Betriebs resistenter. Und ohne Zweifel verfallen jüngere Jahrgänge – aus Mangel an authentischen Erfahrungen – nur allzu leicht den Wichtigkeitsdrogen der Politik. Je weniger Schicksal sie real zu verkraften hatten, desto verführbarer sind sie durch Pseudo-Bedeutsamkeiten des sich verselbstständigenden politischen Betriebs und der virtuellen Wirklichkeit der Medien. Aber das sind Trends, abgeleitet aus persönlichen Erfahrungen, keine Zwangsläufigkeiten.

Die gute Nachricht klingt banal, verlangt aber viel: Ob jung oder alt – letztlich liegt es nach wie vor in der Verantwortung jedes einzelnen Politikers, sich aus eigener Kraft gegen den Sog des politischen Betriebs zur Deformation zu stemmen und die eigene humane Substanz zu verteidigen. An Beispielen, daß und wie das möglich ist, fehlt es nicht – durch Glauben an und Einsatz für eine bessere Gesellschaftsordnung, wie Erhard Eppler; durch schmerzhafte Enttäuschungen, wie Andrea Fischer; durch bewußt gepflegte vertrauensvolle Nähe zu Menschen außerhalb der Szene, wie Christine Bergmann; durch Konzentration auf Sachgebiete, wie Hermann Bachmaier; vor allem aber – wie Rudolf Seiters – durch Verzicht auf allzu aufdringliche öffentliche Selbstdarstellung im Glanz der Medienscheinwerfer. Als Hoffnungsträger der politischen Szene gelten gemeinhin die jungen, schnellen Smarties der Mediengesellschaft, die am Morgen schon ihr drittes Interview mit flotten Sprüchen schräg zur offiziellen Parteilinie abgesondert haben, wenn die Kollegen noch beim Frühstück sitzen. Aber Individualismus muß ja nicht Egozentrik sein. Hoffnung auf eine ernsthafte politische Zukunft verkörpert erst wirklich, wer ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst gewonnen, Beziehungen zu anderen gewahrt und eine politische Sensibilität für die gesellschaftlichen Verhältnisse entwickelt hat.

Es ist natürlich kein Zufall, daß mir als Beispiel für gelungenen Widerstand gegen den selbstzerstörerischen Trend zum Realitätsverlust durch politische Machtpositionen als erster Richard von Weizsäcker einfällt. Auf Weizsäcker verfallen alle, die sich Gedanken darüber machen, ob Politik nicht auch anders ginge. Selbstverständlich gibt es viele Argumente, seine positive Erscheinung als extremen Sonderfall zu beschreiben. Hat nicht ein Bundespräsident im wahrsten Sinne des Wortes gut reden? War nicht der silberhaarige Freiherr eine Art demokratischer Ersatzkaiser, eine nostalgische Märchenfigur? Was weiß denn so einer schon von den Niederungen der Tagespolitik? Und was versteht ein Privilegierter wie er – Adliger, Diplomatensohn, Ex-Offizier, Jurist, erfolgreicher Wirtschaftsmanager, hofierter Unionspolitiker und evangelischer Laien-Führer – überhaupt vom richtigen Leben?

Tatsächlich erscheint er mir nicht wegen, sondern trotz seines überparteilichen Amtes, seiner Herkunft und seiner strahlenden Erscheinung beispielhaft. Denn an sich war Richard von Weizsäcker perfekt dafür gerüstet, sich das Leben vom Leibe zu halten. In der Familie, in die er am 15. April 1920 in Stuttgart hineingeboren worden war, galten Form, gute Manieren, Selbstdisziplin und Selbstkontrolle als hohe Tugenden. Das Präsidentenamt verlangt geradezu nach nobler Überparteilichkeit und Verzicht auf Machtspiele. Und so wie der CDU-Politiker als Bundespräsident auftrat und aussah, mußte "Ritchie", wie ihn die jungen Deutschen nannten, einfach zum Medienstar werden. Aussehen, Name und Stil verschafften ihm während seiner Amtszeit ein Image, das offenbar dem volkstümlichen deutschen Ideal von Politik und Politikern nahekam – nämlich edel, hilfreich und gut. Nur war er gar nicht so – nicht so abgeklärt, nicht so unverletzt, nicht so operettenhaft edel und ganz und gar nicht unpolitisch. Richard von Weizsäcker kam auch als Bundespräsident dem richtigen Leben näher als viele seiner früheren Kollegen aus dem Parlament.

Davon habe ich allerdings noch nicht viel gemerkt, als ich im September 1974 Richard von Weizsäcker in seinem kleinen Büro im siebten Stock des alten Bonner Bundestagshochhauses zum ersten Mal gegenübersaß. Damals war er Bundestagsabgeordneter und – als chancenloser CDU-Präsidentschaftskandidat – eine Berühmtheit für Insider. Mir erschien er sympathisch, doch kamen mir seine politischen Vorstellungen ziemlich vage vor. Mit begrifflichen Klassifizierungen ließ er sich nicht einfangen: "Konservativ, restaurativ, progressiv – das halte ich für keine Erleuchtungsmittel." Allerdings trafen wir uns schnell in einer Art Grundgefühl. Ich war – sozusagen zum Eingewöhnen – für eine Woche aus Washington an den Rhein gekommen und empfand das Leben hier bürokratisch entsinnlicht. Weizsäcker nannte Bonn "eine Art Phantomstadt".

Eine unverwechselbare Stufe der Identität, die über seine makellose äußere Form hinausging, erreichte Richard von Weizsäcker für mich erst als Bundespräsident. Mit seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 wurde deutlich, daß es diesem Mann gelungen war, seine natürlichen Fähigkeiten und anerzogenen Haltungen, die persönlichen und beruflichen Erfahrungen, die Familientraditionen und Überzeugungen mit den Erfordernissen und Möglichkeiten des Amtes und der politischen Situation in seltener Harmonie zu verbinden. So konnte er an diesem Tag von sich selbst sprechen, und jeder war zur Identifikation herausgefordert. "Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich", sagte der Bundespräsident gegen eine Mauer steinerner Gesichter im Deutschen Bundestag. Und wie durch Zauberspruch zerfiel die unbeweglich schweigende Menge in lauter Einzelne – in Alte und Junge, Geduckte und Aufrechte, vom Leben Bestrafte und dem Leben windschnittig Entschlüpfte.

Die intensiven Vorarbeiten zu dieser ersten großen Rede des Bundespräsidenten hatte ich aus einiger Nähe mitverfolgen können. In den gut zehn Jahren seit meiner ersten Begegnung mit Richard von Weizsäcker mußte ich – wie schon berichtet – selbst mein Leben verstehen und verändern, um nicht nur weiterleben, sondern auch in meinem Beruf sinnvoll arbeiten zu können. Dazu bedurfte es einer schmerzhaften Inventur meiner Erfahrungen. Und bei dem Versuch, mein individuelles Erleben in einem größeren Kontext zu verankern, halfen mir die Überlegungen des französischen Philosophen Michel Foucault zur "Ethik der Existenz" und über "Technologien des Selbst". Nach seiner Auffassung entdecken wir unsere Identität nicht, indem wir – wie Freud lehrte – verborgene frühkindliche Erlebnisse als Schlüssel für das Verständnis späteren Verhaltens aufdecken, sondern dadurch, daß wir unsere erinnerten Erfahrungen unablässig prüfen, bewerten und ordnen.

"Zu den wichtigsten Praktiken der Sorge um sich selbst", die Foucault als Maxime antiker Lebenskunst für die Gegenwart aktualisierte, "gehörte es, daß man Aufzeichnungen über sich selbst machte, in der Absicht, sie später wieder einmal zu lesen; daß man Abhandlungen und Briefe an Freunde schickte, die ihnen helfen sollten; daß man Tagebuch führte, um die Wahrheiten, deren man bedurfte, für sich selbst reaktivieren zu können." So ähnlich versuchte ich selbst mit mir ins Reine zu kommen, und so erlebte ich auch Richard von Weizsäcker in der Vorbereitung der Rede zum 8. Mai.

Das Echo war überwältigend, weil Richard von Weizsäcker absolut authentisch wirkte. Von seinen Erfahrungen mit dem Unrecht der Nazi-Zeit konnte der Präsident reden, auch von Zweifeln, Schwächen, Schuld und Irrtümern. Von seiner Erschütterung, seiner Achtung vor den Opfern durfte er sprechen und von seinem Bedürfnis nach Versöhnung. Ihre Überzeugungskraft gewann die Rede daraus, daß der Mann, der sie vortrug, dies alles durchlebt und durchlitten hatte. Richard von Weizsäcker war als Person so glaubwürdig wie seine Sätze. Das ist bei Präsidenten keine Selbstverständlichkeit. Bei einem Mann von dieser Herkunft schon gar nicht.

Wie bei vielen Deutschen war auch bei den Weizsäckers die hergebrachte Ordnung mit dem Kriegsanbruch 1939 völlig durcheinandergeraten. Das Leben zerbrach die Stützen des traditionellen Wertesystems und stellte alle Selbstverständlichkeiten in Frage. In einem "schrecklichen Schnellkochverfahren", so Bruder Carl Friedrich, wurde der Student Richard zu einem "erwachsenen, gereiften Mann". Daß er die schlimmen Erfahrungen dieser Jahre später nicht verdrängte, sondern als Auftrag zum demokratischen Engagement verstand, machte ihn zum populären Politiker. Richard von Weizsäcker, der neunzehn Jahre alt war, als der Krieg begann, mußte schon am zweiten Tag Totenwache für seinen gefallenen Lieblingsbruder Heinrich halten. Er hat, wie von Weizsäckers publizistische Wegbereiterin, Marion Gräfin Dönhoff, vor zwanzig Jahren in der Zeit schrieb, "mit vielen seiner Generation das Schicksal geteilt, sehr jung – viel zu jung – vor immer neuen Abgründen zu stehen". Ein Faible für die Nazis hatte Weizsäcker nie gehabt, aber im Verlauf des Krieges wurde sein Abstand zu Haß. Daß viele seiner Freunde im Offizierswiderstand umkamen, gehörte zu seinem Schicksal. Sein Verdienst aber war es, daß er nicht die Augen verschloß vor den Verbrechen, die er sah, daß er die Nazis hassen lernte, wie er bekannte. Doch es ist wohl der überzeugendste Teil seiner Lebensleistung, daß er sich – als Verteidiger seines Vaters – gegen die bittere Erfahrung der Schuld nicht sperrte.

Ernst von Weizsäcker, der die Nazis verachtete, hatte sich gleichwohl als Staatssekretär Ribbentrops ins Auswärtige Amt berufen lassen. Mit riskanten Unternehmungen versuchte er, durch Kontakte mit London quasi im Alleingang den Krieg zu verhindern. Dabei scheiterte er nicht nur, sondern er geriet in eine Situation, die ihn zum Mitläufer und Dulder von Nazi-Verbrechen machte. "Mein Verhalten ab Herbst 1939 ist unrühmlich", bekannte der konservative Patriot später. Ein alliiertes Militärgericht in Nürnberg verurteilte von Weizsäcker zu fünf Jahren Haft, aus der er freilich schon nach kurzer Zeit entlassen wurde.

Für den Sohn Richard, der als Jura-Student während des Prozesses eineinhalb Jahre für die Verteidigung seines Vaters mitgearbeitet hatte, wurden die Nürnberger Gerichtsmonate zu einer Lebensphase, die ihn am meisten "aufregte und innerlich umtrieb". Als einer der ersten Deutschen erhielt er dort Akten-Einsicht in das Ausmaß der Nazi-Greuel. Am 8. Mai 1985 formulierte er als Bundespräsident das Ergebnis seines eigenen Entwicklungsprozesses in seiner Rede: "Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird." Es bedurfte wohl derart bitterer und ehrlicher Selbstüberprüfungs- und Trauerprozesse, um das äußere Geländer aus soldatischen Tugenden und verinnerlichten preußisch-protestantischen Pflichtkatalogen in ein inneres Geländer demokratisch-toleranter Lebensinhalte zu verwandeln.

In diesem Sinne beschloß Richard von Weizsäcker, die Familientradition des Dienstes am Staat fortzusetzen – aber nicht als Beamter, da er deren "Isolierung und begrenzte Sicht" am Beispiel seines Vaters erkannt zu haben glaubte. So uneingeschränkt der Sohn die in Nürnberg eingenommene Verteidigungslinie Ernst von Weizsäckers weiter vertrat – der sich als Christ vor Gott schuldig bekannte, seine Schuld nach dem Recht der Alliierten aber bestritt –, so deutlich distanzierte er sich von der Verachtung, die sein Vater für die demokratischen Politiker der Weimarer Zeit empfand. Erschrocken über die Folgen, die dessen hochmütiger Abstand von praktischer Politik hatte, entschied sich der Sohn zur aktiven Einmischung.

Spätestens mit seiner Bereitschaft, sich 1981 in Westberlin der Wahl zum Regierenden Bürgermeister zu stellen, machte Richard von Weizsäcker deutlich, daß er sich keineswegs als den "Antityp des Politikers" betrachtete, als den Mitarbeiter der CDU-Zentrale ihn sahen. In der innerparteilichen Arena, lernte er, spielten sich oft die erbittertsten Kämpfe ab. Verwerflich fand er das nie. Die Tricks und Spielchen, mit denen um die Macht gerangelt wird, hatte er schon in Bonn kennengelernt. "Die Macht ist ein knappes Gut", sagte er später, "also wird um sie gekämpft" – nicht selten um ihrer selbst willen. Politiker und Funktionäre, so Richard von Weizsäcker, "sind weder bessere noch schlechtere Menschen als wir alle".

Die geborenen Schurken oder Deppen der Gesellschaft, wie Volkes Stimme gern behauptet, sind Politiker natürlich ohnehin nicht. Im Parlament, hat Joschka Fischer auf dem Wege seiner Verbürgerlichung entdeckt, findet sich "genau wie in der Bevölkerung" alles: Großartigkeiten und Gemeinheiten, Intelligenz und Dummheit, Heiliges und Perverses, Ganoven und ganz und gar durchschnittliche Leute mit Stärken und Schwächen. Fischer: "Das sind im wahrsten Sinne Volksvertreter." Allerdings arbeiten sie in einem Umfeld und unter Bedingungen, deren deformierende Kräfte ungleich stärker und zwingender sind als die im Leben von Lehrern, Krankenschwestern oder Ingenieuren. Politik verdirbt nicht den Charakter, aber sie birgt die Gefahr, Menschen seelisch und emotional zu verkrüppeln.

Versüchtelung

Auch Bundespräsidenten bleiben dieser Gefahr ausgesetzt. Denn was der Pforzheimer SPD-Oberbürgermeister Joachim Becker in einem Sammelband zu der von Weizsäcker später angestoßenen Diskussion über die Qualität der Demokratie in der Bundesrepublik schrieb, traf auch für das Staatsoberhaupt selbst zu:

Das Leben eines Politikers ist seine Arbeit. Fast alles wird dem Beruf untergeordnet.

Eine Trennung von beruflichem und privatem Leben gebe es so wenig wie freie Tage, denn auch die Wochenenden seien ausgefüllt. Kurz:

Das Leben für die Politik und von der Politik ist ein Leben ständiger Überforderung, mit einem kontinuierlichen Mangel an Schlaf und Bewegung.

Weizsäcker war sich dessen allerdings deutlicher bewußt als die meisten seiner Vorgänger und Nachfolger. Er war vierundsiebzig Jahre alt, als seine zweite Amtszeit endete. Doch als sein tschechischer Kollege Václav Havel ihn neun Jahre später bat, ihm beizubringen, "wie es ist, ein ehemaliger Präsident zu sein", erschreckte ihn der Deutsche, der im Alter nicht bescheidener geworden ist, mit den Worten:

Einige Jahre im Ruhestand haben mich zur Einsicht gebracht, daß ich ein bequemeres Leben hatte, als ich noch im Amt war.

Anders als viele seiner Kollegen hatte Richard von Weizsäcker allerdings immer einen wachsamen Kontrollblick auf die eigene Gesundheit. Wer sein persönliches Alarmsystem überhört, den hat die Sucht bereits fest im Griff, weiß der frühere Gesundheitsminister Horst Seehofer heute – eine Erkenntnis, die für ihn fast zu spät kam. Drei Wochen lag der CSU-Abgeordnete auf der Intensivstation des Klinikums in seiner Heimatstadt Ingolstadt und sah zu, wie der Monitor, der seinen Kreislauf sichtbar machte, verrückt spielte. Daß er knapp am Tode vorbeischrammte, kam als ein Schock. Mindestens ebenso bestürzt war der frühere Gesundheitsminister aber, als ihm seine elfjährige Tochter Susanne am Krankenbett gestand, daß sie zwar um seine Gesundheit bange, insgeheim aber auch ein bißchen glücklich sei über seine Krankheit:

Jetzt können wir endlich mal reden. Sonst bist du ja nie da.

Da wußte der bayerische Recke Seehofer, Jahrgang 50, daß mehr aus dem Takt geraten war in seinem Politikerleben als nur sein Herzschlag. Die Überzeugung, daß er die Welt aus den Angeln heben und ihn nichts dabei umwerfen könne, hatte zu seinem politischen Image gehört. Systematisch – erst lässig, dann in einer "Mischung aus Angst und Verdrängung" – ignorierte der Bayer deshalb Erkältungen und Erschöpfung, Schwächeperioden und Schlaflosigkeit, bis ihn eine virale Herzmuskelentzündung niederstreckte. "Da war es gewissermaßen fünf Minuten vor zwölf", sagt Seehofer heute.

Bis zuletzt sperrte er sich gegen das Aufgeben. "Ich hatte Angst, mich in die Hände eines Arztes zu begeben, weil ich dann meine ganze Entscheidungshoheit an Dritte hätte abgeben müssen", bekannte er hinterher. Aber am Ende sagte er seiner Frau den schweren Satz: "Ich muß kapitulieren." Dabei hatte er noch – als er sich schon zum Stehen zu schwach und unfähig zum Liegen fühlte – darauf beharrt, seine sozialpolitischen Vorschläge für die Wahlplattform der CSU auf dem traditionellen Treffen der Landesgruppe in Kreuth persönlich vorzutragen. Seehofer hat es dann gerade noch im Sitzen geschafft, dann war Schluß. "Du schaust aus wie der leibhaftige Tod", sagte ihm der erschrockene Theo Waigel. Aber Seehofer, der die Diagnose Lungenkrebs fürchtete, hielt krampfhaft an seiner Behauptung fest, er habe eine Grippe. Den als Nächstes vorgesehenen Vortrag vor Zahntechnikern in Frankfurt mußte er dann doch streichen. Den Flug dahin hätte er schon nicht mehr bei Bewußtsein erlebt, versicherten ihm die Ärzte –wenn er ihn denn überhaupt noch erlebt hätte. Erst danach akzeptierte er "die Güterabwägung", entweder Politik oder "mein eigenes Leben".

2002 war ein Wahljahr. Seehofer sollte Stoibers Mann für Gesundheit und Soziales sein. Stattdessen lag er monatelang darnieder. Doch kaum konnte er wieder aus dem Bett krauchen, registrierte er, "wie es kribbelte, wie es mich zurückdrängte zu den Berliner Geschäften". Seither steht für Horst Seehofer fest, daß Politik eine Sucht ist. Er hat sich entschlossen, mit dieser Einsicht weiterzumachen – demütiger als zuvor und selbstverantwortlicher. Was für "armselige Geschöpfe wir in Wahrheit sind, wenn der innere Mechanismus stottert", sei ihm ebenso schmerzlich bewußt geworden wie die Tatsache, daß draußen "alles weiterläuft – ohne uns". Mit diesen Einsichten versucht er, sein politisches Engagement neu zu dosieren. "Sie können, wenn Sie wissen, daß Sie süchtig sind, die Dosis bestimmen", glaubt er und behauptet: "Ich bin jetzt stärker Herr des Verfahrens als früher." Seine Parteifreunde irritiert er seither durch eine störrische Unabhängigkeit.

Ist ausgerechnet Horst Seehofer ein Sucht-Typ? Der gradlinige, kraftvolle Mann ist so anfällig wie jeder. Offenbar sind die private Lebensumwelt und der gesellschaftliche und berufliche Kontext eines Menschen so bedeutsam für seine Gefährdung durch süchtige Entgleisungen wie seine persönliche Geschichte und seine Zukunftsperspektiven.

Bisher ist es der Forschung nicht gelungen, ein halbwegs verläßliches Profil der so genannten Suchtpersönlichkeit zu ermitteln. Auch die Frage nach einem genetischen Ursprung von Sucht sei noch lange nicht geklärt, schreibt der Frankfurter Psychologe Werner Gross. Sicher ist aber, daß nicht Genetik und Konstitution allein, sondern vielfältige psychosoziale Lernprozesse zur Sucht führen.

Sicher erscheint mir überdies, daß Sucht-Strukturen – wenn sie sich in einer Person erst einmal verfestigt haben – nicht zu tilgen sind. Seit achtundzwanzig Jahren trinke ich nun keinen Alkohol mehr, aber daß ich trotzdem ein durch und durch süchtiger Mensch geblieben bin, ist mir bewußt. Sucht, das weiß ich heute aus eigener Erfahrung, ist eine Lebenshaltung. Mir ist inzwischen gleichgültig, ob sie angeboren oder angelernt ist. Auch ob ich diese spezielle Eigentümlichkeit als Krankheit, Defizit, Charakterfehler oder Schicksal definiere, macht letztlich keinen Unterschied. Entscheidend bleibt allein, daß ich sie als Teil meine Identität wahrnehme und akzeptiere. Mit anderen Worten: Ich leugne nicht meine immer in mir lauernde Neigung, alles, was ich betreibe, so maßlos zu steigern, daß es am Ende zum Selbstzweck wird und mich abhängig macht. Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist nicht immer erbaulich. Doch nur so kann ich versuchen, mich gegen die Gefährdungen des Rückfalls oder der Suchtverlagerung zu wappnen. Überall gilt, was Erhard Eppler in der Politik gelernt hat:

Je perfekter die Deformation, desto geringer das Bewußtsein davon.

Wahr ist, daß mir die Welt erst besoffen vorkommt, seit ich nicht mehr trinke. Die Sucht – und die Angst davor – lauern offenbar in jedem. "Sie ist das Unheimliche in uns", hat der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer einmal gesagt. Als das Explosive, Triebhafte, Bedrohliche, Irrationale gefährdet sie unsere bis ins Kleinste geordneten und geregelten Verhältnisse, in denen möglichst alle Risiken versichert sind und Abenteuer als Pauschalreisen angeboten werden oder als Fernseh-Shows. Als Betäubung und Flucht ist sie eine Reaktion auf fehlende Geborgenheit, mangelndes Vertrauen in Autoritäten und spirituelle Leere.

Hinter jeder Sucht ist eine Sehnsucht hat der Suchtexperte Werner Gross sein Buch genannt, in dem er eine zunehmende "Versüchtelung" der Gesellschaft diagnostiziert. Von diesem Lebensrisiko erscheint mehr oder minder jeder bedroht. Immer mehr Menschen reagieren mit immer extremeren Ausflüchten auf die unlösbaren Herausforderungen, die bitteren Enttäuschungen und schmerzhaften Konflikte des modernen Lebens. Der Süchtige – unfähig, unwillig und unerfahren, sich der unübersichtlichen Wirklichkeit und ihren Risiken aus eigener innerer Kraft angemessen zu stellen – erscheint als eine Extremvariante des dominierenden Typus unserer Gesellschaft.

Von Sucht zu reden bedeutet immer, Kultur und Körper zusammenzudenken. "Es geht um den Kampf des Menschen gegen die Dynamik des von ihm selbst geschaffenen kulturellen Käfigs", schreibt der Berliner Kulturanthropologe Alexander Schuller:

Wieviel Wildnis braucht der Mensch und wie viel Metaphysik?

Es ist diese doppelte Wirksamkeit – als kulturelles Massenphänomen und auch als verbreitetes psychosomatisches Leiden –, die Sucht heute zur dominierenden Zeitkrankheit macht. In einem eher noch bedrohlicheren Ausmaß übernehmen die Süchte in Deutschland die Rolle, die der Bielefelder Historiker Joachim Radkau der "Nervosität" im frühen 20. Jahrhundert zuschreibt. Auf allen Ebenen der wilhelminischen Gesellschaft – auch in der Politik – wurde damals eine kollektive reizbare Verunsicherung durch Erschöpfung der Nerven deutlich, die auf aggressive Entladung drängte. Die Neurasthenie galt vor allem als Krankheit der geistigen Führer. Radkau:

Viele litten an einer Gebrochenheit und Unentschiedenheit der Gefühle und sehnten sich nach einer starken Leidenschaft, die alle Energie in eine Richtung bündelt. Gerade dadurch entstand die politische Brisanz der "nervösen" Weltdeutung.

Heute kennzeichnet eine quälende depressive Lähmung die Stimmungslage der Deutschen.

Das Wort "Sucht" hat von Anfang an eine körperliche und geistige Störung bezeichnet. Im Mittelalter stand es meist für eine religiöse oder moralische Verirrung, zur Goethezeit wurde aus diesem moralischen Wertbegriff ein Wort der beschreibenden Seelenkunde. Die Verengung auf die Abhängigkeit von chemischen Mitteln ist ein medizinischer Sonderterminus, der sich erst im vergangenen Jahrhundert durchsetzte. Bis zum späten Mittelalter hatten die Menschen ein Gefühl für die Ganzheit des Lebens und erkannten in der Sucht einen Mangel, der Körper und Seele gleichermaßen betraf. Dieses Wissen ging verloren. Erst heute greifen Suchtexperten darauf zurück.
Ihnen dürfte es nicht als Zufall erscheinen, daß vor allem jene Politiker vergleichsweise unbeschädigt den Machtbetrieb überleben und den Abschied aus ihren privilegierten Ämtern verkraften, die sich als Christen verstehen oder sich auf andere Weise dem Glauben an eine Sache verpflichtet fühlen, die größer ist als sie selbst. "Im Grunde geht es immer um Transzendenz", hat Norbert Blüm einmal gesagt. "Das Glück als Ziel unserer Sehnsüchte liegt außerhalb von uns." Heiner Geißler und Ute Vogt, Andrea Fischer und Richard von Weizsäcker, Antje Vollmer und Markus Meckel, Theo Waigel und Johannes Rau – so unterschiedlich ihre privaten Biographien und ihre politischen Ziele sein mögen, ihre christliche Grundüberzeugung verhilft ihnen allen zu einer – bisweilen sogar heiteren – Gelassenheit, die ihnen im hektischen politischen Gerangel einen eigenen Lebensrhythmus bewahrt. Jeden Morgen hat Johannes Rau als Bundespräsident das Bibelwort der Herrenhuther Brüdergemeinde gelesen, nicht als politische Handlungsanweisung, sondern als Lebenshilfe: "Es ist einfach der Versuch, das Geländer nicht zu verlieren."

Als Jürgen Schmude im Mai 2003 nach achtzehn Jahren sein Amt als Präses der Evangelischen Kirche Deutschlands aufgab, überraschte der allseits geachtete nüchterne Jurist mit einem befremdlichen Wunsch: "Vielleicht legt meine Traumfabrik jetzt einen neuen Film ein." Doch das scheint eine unerfüllte Hoffnung zu bleiben. Schmude, in der Regierung Schmidt Bildungs- und Justizminister, danach bis zu seinem Ausscheiden aus dem Bundestag 1994 stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, träumt noch immer von der Politik. Noch immer geistern unbehagliche Situationen aus Parlament und Kabinett durch seine Nächte. "Ich dachte, ich hätte das hinter mir", sagt der Ruheständler heute.

Der fromme protestantische Preuße Jürgen Schmude pflegte in Bonn bis in die Nächte hinein zu arbeiten, aber nie ließ er sich von politischen Ambitionen überwältigen. "Immer, wenn ich ein neues Amt antrat, habe ich mir überlegt, wie ich da heil wieder rauskomme", erzählt Schmude. Für ihn, der zum Kreis um Gustav Heinemann gehörte, war sein Glaube nie bloße Privatangelegenheit, sondern immer auch Verpflichtung zum politischen Engagement. Als Person nötigten ihm die öffentlichen Ämter aber umso größere Zurückhaltung auf: "Wer mit dem Amt verwächst, kriegt es nicht wieder los."

Der Bremer Bürgermeister Henning Scherf, Jahrgang 38, hat sich ein Vierteljahrhundert lang in regierender Funktion dagegen gewehrt, als Politiker wahrgenommen zu werden. "Der Henning", wie ihn zu seiner Genugtuung die Bremer nennen, geht zu Fuß durch seine Stadt oder fährt mit dem Fahrrad, und keine Oma ist davor geschützt, von ihrem SPD-Bürgermeister umarmt und getätschelt zu werden. "Tach auch", begrüßt er breit lächelnd seine Mitmenschen, "kennen Sie mich? Ich bin hier der Bürgermeister." Die Tür zu seinem Arbeitszimmer steht immer offen. Scherf, der liebe, nette Mensch von nebenan, klopft bei Pressekonferenzen jedem Journalisten persönlich auf die Schulter, seine privaten Marotten sind jedermann in der Hansestadt geläufig.

Natürlich ist diese Haltung, die der harmoniesüchtigen Natur des über zwei Meter großen Christenmenschen absolut entspricht, auch Kalkül. Scherf braucht die Nähe zu seinen Mitmenschen, auch den körperlichen Kontakt, als "Hilfe gegen den Totalitätsanspruch des Politikbetriebs". Das Ehepaar Scherf wohnt in einer Hausgemeinschaft mit fünf Parteien, die er als Wohngemeinschaft bezeichnet. Der enge Kontakt zu dieser Gruppe von Freunden und der zu seiner Familie ist für Scherf ein Widerlager zum Verschleiß im Amt, von dem er gleichwohl nur schwer loskommt. In seiner WG bedrängen ihn alle, sich endlich in den Ruhestand zurückzuziehen. "Ich bin der Exot und ständig in Erklärungsnot, warum ich nicht aufhöre." Inzwischen schwant ihm, daß er mehr aufgeben muß als nur ein Amt.

Lebendige, offene Kontakte zu Menschen außerhalb der politischen Szene sind Barrieren gegen den süchtig machenden Sog der Wichtigkeiten im täglichen Betrieb der Politik. Kaum jemand bemerkt selbst, wann die Deformation beginnt, wann die Vorräte an persönlichen Überzeugungen und das Polster an Lebenserfahrung aufgebraucht und abgenutzt sind, das eigene Leben zur Fassade wird. Erst als er nicht mehr Minister war und auch nicht CSU-Chef, dazu – mit der strahlenden Ski-Heldin Irene Epple – wieder glücklich verheiratet, fand Theo Waigel zu seinem Witz und seiner christlichen Gelassenheit zurück. Wenn er dann am Montagmorgen die Wahl hatte, zur CSU-Vorstandssitzung nach München oder zur Fraktionssitzung der Union nach Berlin zu fahren, entschied er sich oft mit Vergnügen für einen "Kompromiß": Er ging mit seiner Frau in die Berge. Ohne Karriere-Ambitionen konnte er sich das leisten.

Umgekehrt hatte der frühere Bundesminister und Frankfurter SPD-Oberbürgermeister Volker Hauff, Jahrgang 40, erst, als seine Ehe kriselte, gemerkt, daß er "im Rausch der öffentlichen Wirkung" unterzugehen drohte:

Ich war am Ende, ich hab nur noch geheult.

Plötzlich wußte er:

Du verlierst nicht nur deine Partnerin, du verlierst dich auch selbst.

Er fand Hilfe, doch es sollte noch zehn Jahre dauern, bis er 1991 den endgültigen Absprung schaffte. Staunend schrieb Peter Glotz zwei Jahre später über ihn:

Hauff ist ruhig, sicher, er wirkt fast abgeklärt. "Was ist mit dir?", fragte ich ihn. "Es war eine schwere Zeit", sagte er. "Da lernt man."

Heute ist Volker Hauff wirtschaftlich selbständig und beobachtet in Berlin das politische Geschäft mit teilnehmender ironischer Distanz.

Ute Vogt, Jahrgang 64, ist erst seit zwei Jahren parlamentarische Staatssekretärin der SPD im Bundesinnenministerium, doch mit Besorgnis bemerkt sie, wie mit den repräsentativen Aufgaben ihre Isolierung zunimmt. Als Abgeordnete im Wahlkreis hatte sie die Chance, immer aufs Neue mit höchst unterschiedlichen Leuten Kontakt aufzunehmen. Nicht ohne Grund mahnt Parlamentspräsident Thierse die Abgeordneten, sie sollten "nicht aufhören, in ihren Wahlkreisen unterwegs zu sein, um soziale Alltagsrealität wahrzunehmen". Als Staatssekretärin ist Ute Vogt zwar auch ständig in Aktion, aber sie hat weder ausreichende Chancen zum Nachdenken, noch kommt sie intensiv mit normalen Menschen ins Gespräch. Die grüne Abgeordnete Claudia Roth, Jahrgang 55, nennt die Freunde, die ihr aus ihrer kulturellen Vorzeit im Theater- und Popmusikmilieu geblieben sind, ein gut funktionierendes "Frühwarnsystem". Immer mal wieder kämen sie unangemeldet vorbei, um zu testen, ob die Frau Abgeordnete noch zuhören kann, ob sie noch fähig ist, die Probleme anderer Menschen zu erkennen und sich davon berühren zu lassen. Bisher hat sie sich diesen Prüfungen noch immer gewachsen gefühlt.

Gesichtsverdrossenheit

Für Claudia Roth war der theatralische Aspekt des Politikerberufes immer eine Selbstverständlichkeit. "Du wirst engagiert für eine bestimmte Spielzeit, und du hast eine Rolle zu spielen", sagt sie. Und nur für diejenigen, die nicht wüßten, daß sie "als Rolle wahrgenommen werden", die also ihr ganzes Leben zur Politik machen, werde es bedrohlich. Die Grüne hat es erlebt, als sie den Parteivorsitz abgeben mußte. Sofort wurde sie daraufhin aus der Christiansen-Talkshow und dem Morgenmagazin ausgeladen, und sie mußte sich selbst klar machen, daß sie damit nicht als Frau in Frage gestellt sei, sondern nur in ihrer politischen Bedeutung. Roth:

Du bist nur wer, wenn du im Fernsehen bist. Aber dann bist du auch richtig wichtig.

Kein Wunder, daß der Bildschirm-Auftritt die Politikdroge Nummer eins ist. Wer als Politiker im Fernsehen auftaucht, ist prominent und hat es in die erste Reihe geschafft. Das Medium nutzen zu können, ohne ihm zu verfallen, ist heute eine Überlebensfrage, zumindest für jeden Spitzenpolitiker. Die mediale Präsenz verschafft den Akteuren eine eigene Wirklichkeit, die als Aura realer ist als ihr tatsächliches Handeln und ihre sozialen Verhaltensweisen. Aber so, wie die durch Bildproduktionen erzeugte Welt der Medien für den Empfänger zu einem prägenden Element seiner Lebenserfahrung wird, wachsen auch die Darsteller – in diesem Falle die Politiker – in eine Phantomexistenz hinein: Sie sind gleichzeitig Subjekt und Objekt der Darstellung, sie müssen "authentisch" sich selbst verkörpern.

Natürlich wissen sie, daß sie unter permanenter elektronischer Beobachtung stehen, unter dem Verdacht, daß ihre Rede, ihr Schweigen, ihr Körper, ihr Gesicht etwas verraten – von sich, von anderen, über einen Sachverhalt. Jeder öffentliche Auftritt wird zum politischen Indizienbeweis, permanent werden die Akteure auf ausdeutbare Signale abgesucht. Sind sie starr oder locker, müde oder straff, wie bekleidet und warum gerade so? "Das bedient den Narzißmus", sagt Rezzo Schlauch, heute Staatssekretär der Grünen im Berliner Wirtschaftministerium, "darin sind wir ja alle gut."

Für Erhard Eppler ist Narzißmus, die eitle Verliebtheit in die eigene Person, das schlimmste Laster der Politik. Es ist eine vorwiegend männliche Schwäche – und sie betrifft nur zu einem geringen Teil das äußere Erscheinungsbild. Was in der Politik zählt, ist das "Standing", das Gewicht und die Bedeutung innerhalb der politischen Klasse. Eppler:

Der eitle Politiker ist davon überzeugt, daß ihm, zumindest in der Sparte der Politik, in der er sich hochgearbeitet hat, niemand das Wasser reichen kann.

Und er sorgt dafür, daß das so bleibt. Damit gerät er leicht in einen teuflischen Kreislauf – die Leute werden seiner ständigen Präsenz auf dem Bildschirm und seines Gelabers in Talkshows überdrüssig. Der TV-Experte Klaus Kreimeier bezeichnet die Übersättigung mit immer denselben Politiker-Gesichtern als einen Hauptgrund für Politikverdrossenheit.

Als mich Herlinde Koelbl für ihren Film über die Presse-"Meute" in Berlin fragte, ob ich mich nicht auch ein bißchen mächtig fühlen würde als Journalist, weil ich doch so nahe dran sei an den Mächtigen, konnte ich das ohne Zögern verneinen; schon deshalb, weil ich keiner der Fernsehmenschen bin, die das permanente Getümmel herstellen. Es sind eben nicht mehr so sehr die fragenden und sachorientierten Journalisten, auf die sich die politischen Karrieristen einstellen und deren Macht sie fürchten, es sind die Produzenten und Manager der Medien, die für sie zählen. Denn die sorgen in den Blättern und vor allem in den TV-Sendern für die Bühnen, auf denen die Politiker ihre eigenen Wirklichkeiten herstellen.

Deshalb belügt sich selbst, wer nur durch oberflächliche Betrachtung der Medien ein Bild zu haben glaubt von der gesellschaftlichen und politischen Realität. Mir scheint, wir verlassen uns ein bißchen zu sehr darauf, daß die Realität auflösbar sei in austauschbare Bilder und Zeichen. Wer wollte bestreiten, daß die Konturen der Welt tatsächlich zu verschwimmen beginnen im beliebigen Nebeneinander von Facts und Fiction, Vergangenheit und Zukunft, Pop und Politik. Und wer könnte unseren journalistischen Anteil an dieser Entwicklung leugnen. Die Medien, so heißt es, hätten das Leben austauschbar gemacht, also bedeutungslos. Was blieb, war Mode. Oder nur was Mode war, blieb.

Aber sind wir alle – Politiker, Journalisten, Bürger – diesem Trend wehrlos ausgeliefert? Der Schriftsteller György Konrád, der vor dem Fall des Eisernen Vorhangs als ungarischer Dissident Jahrzehnte unter staatlicher Bevormundung gelitten hat, behauptet:

Jetzt ist es nicht mehr die Geheimpolizei, die bei den Bürgern Gehirnwäsche betreibt, sondern die als Abfolge von Moden dahinwogende Oberflächlichkeit.

Wer sich dagegen schützen will, muß sich seiner selbst und seines Urteils sicher sein, er braucht einen verantwortlichen, bewußten Umgang mit der eigenen Subjektivität. Erfahrung zählt, Erfahrung verändert.

Sich dem Leben zu öffnen und Erfahrungen zu sammeln – das ist nicht nur eine für Politiker wichtige Abwehr gegen das Abgleiten in die Sucht, das sollte auch für jeden Journalisten selbstauferlegte Pflicht sein, um sich durch reflektierte Erinnerung eine Haltung zu erwerben, eine für ihn ganz persönlich charakteristische bewegliche Beharrlichkeit im Umgang mit dem Leben. In seiner Haltung hat die Freiheit des Journalisten ihren Rückhalt. Wie er auf Ereignisse und auf Menschen reagiert, wie er sich zur Macht und gegenüber Mächtigen verhält, das ist nicht nur individuell relevant, sondern das hat auch politische Folgen. Für mich enthält eine Gedichtzeile von Peter Rühmkorf eine Wegweisung: "Bleib erschütterbar und widersteh."

Daß ich nach meinem persönlichen Zusammenbruch, den ich zugleich als eine politische und journalistische Krise erlebt habe, gezwungen war, mich intensiv mit mir selbst, meinen Prägungen, Gefühlen und Erfahrungen zu befassen, hat auch mein Schreiben verändert und meinen Blick auf die Politik. Ich hätte mich als Journalist sowieso auf Porträts der Akteure konzentriert, um komplexen Sachverhalten ein Gesicht zu geben und Repräsentanten von Staat und Parteien persönlich in Haftung zu nehmen. Jetzt fügte sich diese Art der politischen Betrachtung glücklich in die neuen Erfordernisse der Medienzeit. Personalisierung? Aber sicher. Ich fühle mich durch politische Inszenierungen auch nicht zwangsläufig entmündigt oder als Bürger mißachtet. Allerdings sollte sich Aufklärung heute – anstatt darüber zu lamentieren, daß Politik in der Mediengesellschaft inszeniert wird – darauf konzentrieren, für diese Lage neue Kriterien bereitzustellen. Wir brauchen eine neue Medienpädagogik, ein Erkennungssystem, mit dessen Hilfe die Öffentlichkeit Macht und Machart der medial vermittelten Bilder zu durchschauen lernt.

Im Kampf um die Deutungsmacht ist das Verhältnis zwischen Politikern und der "plappernden Zunft", wie Joschka Fischer die Journalisten abschätzig nennt, in Berlin zunehmend gespannter geworden. "Jagdfieber" nannte die Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen im Sommer 2004 ein Forum zum Thema "Journalisten und Politiker in der Berliner Republik". Immerhin setzte sie noch ein Fragezeichen hinter die herbe Charakterisierung. Viele der eingespielten Selbstverständlichkeiten zwischen diesen beiden Flügeln der politischen Klasse haben sich verflüchtigt, der Ton wurde wechselseitig aggressiver, ja verächtlich. Das unverkennbare Bedürfnis, es einander wenigstens einmal heimzahlen zu können, läßt nicht nur auf vergangene Kränkungen schließen. Es signalisiert einen Machtkampf. Denn auch die Medienleute inszenieren ja politisches Geschehen, indem sie komplexe Sinnzusammenhänge in Mini-Dramen zerlegen, durch Personen verkörpern oder in symbolischen Schlüsselszenen gipfeln lassen. Damit geraten sie nahezu unausweichlich in Konflikte mit den Politikern um die Deutungshoheit. "So dürfen Sie das nicht sehen", bleibt die Standard-Mahnung von Politikern an Journalisten.

Die Kluft zwischen den Darstellungen, die Politiker – vor allem die jeweils verantwortlichen – von der Welt und den aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Problemen geben, und den Bildern, die Medienmenschen dagegensetzen, wird zunehmend tiefer. Es entstehen getrennte Welten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. "Die Langsamkeit der Politik liefert wenig sichtbare Gestaltungskraft", sagt Wolfgang Thierse. Im hektischen Tempo der Medienwelt nehmen die Bürger das selbst dann als Unfähigkeit wahr, wenn ihre eigene Erwartung oder die von den Medien suggerierte ganz und gar absurd ist.

Lebensamateure

In der Woche nach der letzten Bundestagswahl geriet die Schar der vor dem Berliner Reichstag wartenden Kameraleute und Reporter bei der Ankunft einer 19-jährigen Abiturientin mit blau gerandeter Brille so hysterisch in Bewegung, als sei der Bundeskanzler im Anmarsch. Es war aber Anna Lürmann aus Hofheim im Taunus, auf die sie zustürzten, die jüngste deutsche Volksvertreterin aller Zeiten, die für die Grünen ins Parlament einrückte. Anna Lürmann wollte herausfinden, "warum denn das Verhältnis zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern so verkorkst" sei. Doch bevor sie sich an ihr Vorhaben machen konnte, mit Spaß die Welt zu verändern, mußte sie zunächst einmal sich selbst der Welt im Fernsehen vorführen – von Johannes B. Kerner bis Stefan Raab, von Harald Schmidt bis zur "Tagesschau".

"Meine Generation denkt in Kategorien von: Was bringt das?", beschreibt Anna Lürmann die ego-taktische Haltung ihrer Altersgefährten. Sie gehört zu den 64 Abgeordneten des 15. Deutschen Bundestages, die jünger sind als 38 Jahre, die zehn jüngsten haben noch nicht einmal das dritte Jahrzehnt vollendet. Zählt man die ab 1961 geborenen Volksvertreter hinzu, erhöht sich die Zahl der jüngeren Abgeordneten auf 121. Nur noch drei unter den insgesamt 603 Gewählten sind älter als 65. Ist das nun die berühmte Generation Berlin? Oder die Generation Golf – eins oder zwei, womöglich schon drei? Die Generation "Z"? Die Erben-Generation? Die Konsumkinder? Die Fernseh-Kids?
Die Flut der Deutungsversuche für die Jahrgänge, die nach den 68ern kommen, schwillt weiter an: Generation Spar? Generation Bankrott? Generation Arbeitslos? Oder am Ende doch Generation Reform? "Angesichts der schweren Krise, in der Deutschland steckt, wacht eine fast schon verloren geglaubte Generation wieder auf und erkennt, daß sie Verantwortung für ihre eigene Zukunft übernehmen muß", schreibt der Bremer Historiker Paul Nolte, Jahrgang 63.

Es sieht tatsächlich so aus, als könnte die plötzliche Begrenzung von Lebenschancen und Aufstiegsmöglichkeiten zum verbindenden Merkmal dieser Kinder des Wohlfahrtsstaates werden, denen bisher alle Errungenschaften der Bundesrepublik selbstverständlich erschienen waren. Doch noch haben die Jahrgänge der zwischen 1960 und 1980 geborenen Deutschen – ob in Ost oder West – keine gemeinsame Physiognomie, sie ähneln einander allenfalls in ihrer ironisch-larmoyanten Selbstbespiegelung. Florian Illies machte diesen Mangel an generationeller Originalität, das fehlende Schicksal selbst, zum zentralen Merkmal der Beschreibung:

Wir sind wahrscheinlich die erste Generation, die ihr Leben nicht mehr als authentisch empfindet, sondern als ein einziges Zitat.

Der Soziologe Heinz Bude äußerte sogar die Sorge, daß diese Generation am Ende einfach wegzudenken sein könnte:

Sie ist ganz geschickt, ganz reflexiv, gar nicht blöd – aber spurlos.

Gemeinsam ist allen Politikern dieser Altersgruppe eine herzhafte, parteiübergreifende Abneigung gegenüber der jetzt regierenden Generation, die sie als 68er verabscheuen. Ob Anna Lürmann oder Guido Westerwelle, Freiherr zu Guttenberg (CSU) oder Matthias Berninger (Grüne), vom kessen JU-Vorsitzenden Philipp Mißfelder, Jahrgang 79, bis zum abgewählten SPD-Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel, vom Chef der Jungen Liberalen, Daniel Bahr, bis zum zeitweiligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz – alle tragen sie gemeinsam die Hoffnung, die Renommiertruppe der ewig Jung-sein-Wollenden endlich in Rente zu schicken. "Die Achtundsechziger habe ich immer für Spinner gehalten", bekannte Merz. Auch die christdemokratischen Veteranen der Jungen Union – Roland Koch, Christian Wulff und Peter Müller – sind gegen den Zeitgeist der 68er politisch aktiv geworden. In der SPD sammeln sich die Jungen in einem "Netzwerk Berlin", in dem nach der Schilderung des Abgeordneten Hans-Peter Bartels "68er-Bashing" zum Grundton gehört. Bisher ersparten sich jedoch alle die Mühe, ihre eigene Position in der Berliner Republik zu bestimmen.

Nicht zuletzt deshalb sind für ältere Bundesbürger die Unterschiede der Nachrücker zu den 68ern schwer auszumachen. Sind die Jüngeren etwa nicht – wie der grüne Staatssekretär Matthias Berninger, Jahrgang 71 – auf eine schnelle Laufbahn bedacht? Sind sie etwa nicht auch auf ihren brutalst möglichen Pragmatismus stolz, wie der hessische Ministerpräsident Roland Koch, Jahrgang 58? Produzieren sie sich nicht auch – wie FDP-Chef Guido Westerwelle, Jahrgang 61 – in allen Lebenslagen vor den Fernsehkameras? Lassen sie sich etwa nicht – wie der Regierende SPD-Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, Jahrgang 53 – als unermüdlich tanzende Helden der Spaßgesellschaft bewundern?

Jugend allein trägt noch keine Hoffnung. Cem Özdemir, frisch gewählter Europa-Abgeordneter der Grünen, hat es in einem brutalen Auf und Ab während der vergangenen zwei Jahre erlebt. Bis zum Juli 2002 war der gut aussehende, freundliche, türkischstämmige Schwabe, Jahrgang 65, einer der Stars der Berliner Bundestagsfraktion. Daß er in der nächsten Legislaturperiode Staatssekretär, wenn nicht gar Minister werden würde, galt bei vielen Journalisten als ausgemacht. Stattdessen trat er am 26. Juli 2002 kreidebleich vor die Presse und verlas seine Rücktrittserklärung:

Ich hatte meine finanziellen Verhältnisse leider nicht mit der Sorgfalt im Griff, die dem Anspruch an meine Person und Partei gerecht wird.

Aus. Trauer, Wut, Ärger über sich und andere warfen den ehrgeizigen jungen Mann von einem Augenblick zum anderen vollkommen aus der Bahn. In einer Nacht wickelte er sein Berliner Büro ab, plötzlich war alles anders. Die politischen Nachrufe hörten sich für ihn an, als ob er gestorben sei. So fühlte er sich auch. "Ich wollte nichts mehr mit der Politik zu tun haben", sagte er später, "nie mehr im Leben." Noch eineinhalb Jahre danach beutelt die Erinnerung Cem Özdemir so, daß seine Stimme zittert. Wir sitzen bei einem Italiener in Berlin, unmittelbar neben dem Innenministerium, das sein früherer Freund Otto Schily leitet. Özdemir hat den Treffpunkt vorgeschlagen; nun – da er vom Abend des Schreckens und seiner Scham redet – scheint es fast, als gehöre die Wahl dieses Lokals noch zu seinem Selbstbestrafungsprogramm.

Eine Rückkehr in den Bundestag kann er sich noch immer nicht vorstellen. Dabei wären wohl die wenigsten Abgeordneten in Özdemirs Situation zurückgetreten. Zwei "große Dummheiten" wirft er sich vor – zur Begleichung einer Steuernachzahlung hatte sich der junge Abgeordnete einen zinsgünstigen Kredit in Höhe von 80.000 Mark vom umstrittenen PR-Berater Moritz Hunzinger geben lassen. Und dienstlich erworbene Lufthansa-Bonusmeilen hatte er nicht, wie verpflichtet, dem Bundestag zur Verfügung gestellt, sondern privat genutzt. Und obgleich er sowohl das Darlehen als auch die Flüge zurückgezahlt und dazu noch eine Spende als Wiedergutmachung geleistet hatte, hielt er sich für moralisch gescheitert. "Ich hatte natürlich keinen Plan B für solche Fälle", erklärt er jetzt, "auch keinen Berater. Wir sind doch alle Amateure."

Lebensamateure. Der türkische Junge aus Bad Urach, der über die Realschule und den zweiten Bildungsweg Sozialpädagogik studierte und Erzieher wurde, trat mit 15 Jahren den Grünen bei. Mit 18 Jahren erwarb er die deutsche Staatsangehörigkeit, mit 23 wurde er in den baden-württembergischen Landesvorstand gewählt, mit 28 war er Bundestagsabgeordneter. Fast zwangsläufig verfiel er den Versuchungen seiner politischen Prominenz. Schon in Bonn nach 1994, aber mehr noch in Berlin geriet er in die Rolle eines Popstars. Als Dressman für Männermoden, Party-Held, Talkshow-Schmuckstück ließ sich der Abgeordnete, dessen sachliche Arbeit nach wie vor geschätzt wurde, herumreichen. Sein Lebensstil und seine Eitelkeit begannen seine Musterrolle als grüne Integrationsfigur zu überlagern. Die Sicherheitsbeamten, die er nach Drohungen aus der rechten türkischen Szene zugeteilt bekam, wurden immer mehr zu Statussymbolen. "Polit-Komet" nannten ihn die Zeitungen, schillernd, blendend, leichtgewichtig. Und als er wegen seiner Fehler kritisiert wurde, reagierte er panisch:

Mich sollte keiner zum Abgang drängen müssen. Ich wollte nicht erst abtreten, wenn alle fragen: Wann geht er endlich?

Was er danach hätte werden wollen, wußte er nicht. Politikberater? Freier Journalist? Seine Talente, sich den Menschen angenehm zu machen, galten plötzlich als windig. Nun ist er doch wieder in der Politik – als Europa-Abgeordneter der Grünen. Ein längerer Stipendienaufenthalt in den USA hatte sein Leben stabilisiert; geheiratet hat Özdemir auch. Er wirkt ernsthafter, entschiedener, ja, erwachsener. Ob ihn der Schock geändert hat, wird sich zeigen, erschüttert hat er Cem Özdemir auf jeden Fall:

Ich hatte doch noch gar nicht richtig gelebt.

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