Auszüge aus Viviane Forrester's
"Die Diktatur des Profits"

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Kapitel 1

Täglich erleben wir das Fiasko des Ultraliberalismus. Täglich beweist dieses ideologische System, das sich auf das Dogma (oder das Phantasma) einer Selbstregulierung der sogenannten Marktwirtschaft stützt, seine Unfähigkeit, sich selbst zu verwalten, zu kontrollieren, was es hervorruft, zu beherrschen, was es entfesselt. Und zwar in einem solchen Maße, daß seine Initiativen, welche die Gesamtheit der Bevölkerung mit aller Härte treffen, sich als Bumerangeffekt schließlich gegen dieses System selbst richten, das sich unfähig zeigt, in all seinen andauernden Zwangsmaßnahmen auch nur ein Mindestmaß an Ordnung herzustellen.

Woher kommt es, daß dieses System mit immer der gleichen Arroganz weiteragieren kann, daß seine eigentlich so hinfällige Macht wächst und wächst und seine Vormachtstellung sich immer weiter vergrößert? Woher kommt es vor allem, daß wir immer stärker den Eindruck haben, mitten im Einflußbereich einer verhängnisvollen "weltweiten", "globalisierten" Macht gefangen zu sein, die so groß ist, daß es vergeblich wäre, sie in Frage zu stellen, sinnlos, sie zu analysieren, absurd, sich ihr entgegenzustellen, und wahnsinnig, auch nur davon zu träumen, sich von einer solchen Allgewalt zu befreien, die angeblich mit der Geschichte selbst eins sein soll? Woher kommt es, daß wir nicht reagiert, sondern nachgegeben haben, ja, daß wir sogar ständig wieder zustimmen und einwilligen, wie gelähmt, wie in einen Schraubstock gespannt, von repressiven, diffusen Kräften umgeben, die sich auf alle Gebiete auszubreiten drohen?

Es ist Zeit, aufzuwachen und uns klarzumachen, daß wir nicht unter der Herrschaft eines unausweichlichen Schicksals leben, sondern – viel banaler – unter einem neuen politischen System, das nicht eingesetzt und ausgerufen wurde und dennoch international, ja weltweit regiert und das sich vor aller Augen, aber trotzdem unbemerkt breitgemacht hat, nicht unterschwellig, sondern hinterhältig, anonym, ein System, das um so weniger wahrgenommen wird, als seine Ideologie das Prinzip des Politischen ausschließt und seine Handlungsfähigkeit nicht der politischen Macht und ihrer Institutionen bedarf. Dieses System regiert nicht, es verachtet – besser, es ignoriert, was und wen es zu regieren hätte. Die klassischen Instanzen und politischen Aufgaben sind in seinen Augen zweitrangig, sie interessieren es nicht: Im Gegenteil, sie würden es nur stören, würden es vor allem der allgemeinen Aufmerksamkeit aussetzen und damit zu einer Zielscheibe werden lassen. Damit würde es möglich, seine Machenschaften aufzuspüren, es als Ursache und Motor weltweiter Dramen zu erkennen, in deren Zusammenhang nicht genannt zu werden diesem System gerade gelungen ist; denn wenn es auch die eigentliche Führung des Planeten übernommen hat, so überträgt es doch den einzelnen Regierungen die Durchführung dessen, wofür es steht. Und was die jeweilige Bevölkerung angeht, so nimmt es diese nur manchmal wahr, nur dann, wenn sie sich empört, wenn sie ihre Zurückhaltung, jenes ungebrochene Schweigen aufgibt, das ihr vermeintlich zukommt.

Es geht diesem System nicht darum, eine Gesellschaft zu organisieren und in diesem Sinne Machtstrukturen zu schaffen, sondern darum, eine fixe Idee, man könnte sagen, eine wahnsinnige Idee zu verwirklichen: die Obsession, dem widerstandslosen Spiel des Profits den Weg zu bahnen – und zwar dem Spiel eines immer abstrakteren, immer virtuelleren Profits. Die Obsession zuzusehen, wie der Planet zu einem Spielfeld ausschließlich einer Triebkraft wird, die zwar sehr menschlich ist, von der man aber nicht gedacht hatte, daß sie zum einzigen herrschenden Element, zum Endziel des erdumspannenden Abenteuers werden sollte – zumindest sieht es danach aus: dem Gefallen am Anhäufen, dieser neurotischen Gewinnsucht, dieser Verlockung des Profits, des puren Gewinns, der eine Bereitschaft zu allen Verheerungen weckt und das gesamte Territorium unter seine Herrschaft bringt oder besser: den gesamten, nicht nur geographisch definierten Raum. Einer der besten Trümpfe, eine der besten Waffen auf diesem Raubzug war die Einführung eines perversen Begriffs, des Begriffs der "Globalisierung", der den Zustand der Welt vermeintlich benennt, ihn in Wirklichkeit aber verschleiert, und der – als unscharfes Kürzel ohne wirkliche, zumindest aber ohne präzise Bedeutung – Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur einschließt, sie verschwinden läßt, um sich an deren Stelle zu setzen und dieses Amalgam der Analyse wie auch jeder sachlichen Bestandsaufnahme zu entziehen. Die reale Welt scheint mitgerissen, hineingezogen in diesen virtuellen Globus, der als Realität ausgegeben wird. Und wir haben den Eindruck, ebenfalls im Mittelpunkt dieses Globus gefangen zu sein, in einer Falle ohne Ausweg.

Gerade eben hat ein Journalist im Radio erklärt (im Zusammenhang mit Unternehmen, die jene heute alltäglich gewordenen, zu Massenentlassungen führenden Entscheidungen verkünden – in diesem Fall ging es um eine Fusion): "Die Globalisierung zwingt sie dazu ..." Ach wirklich? Wozu dann eigentlich noch weitermachen? Warum nicht einfach warten, bis man ausgelöscht wird? Und für alle, denen es dazu an Entschlossenheit fehlt, hier noch ein wirklich schlagendes Argument: "Die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit erfordert, daß ..." Und doch hat "die" Globalisierung hier keine Bedeutung. Was zur Fusion (und dadurch zu Entlassungen) "zwingt", ist ausschließlich die "Notwendigkeit" der Profitmaximierung. Man wird einwenden, daß dieser Profit allen zugute kommt und für alle erforderlich ist, daß vom Aufschwung der Unternehmen, jenen Hennen, die goldene Eier legen, die Schaffung von Arbeitsplätzen abhängt, der Rückgang der Arbeitslosigkeit und folglich das Schicksal der großen Masse. Aber das hieße zu vergessen, daß das betroffene Unternehmen bereits blühte, solange es all jene beschäftigte, die es jetzt hinauswirft. Nicht seinen Umsatz möchte es jetzt erhöhen, sondern – eben gerade, weil es blüht – den Gewinn, den es erwirtschaftet und den seine Aktionäre aus diesem Umsatz ziehen. Und das erreicht es nicht, indem es Arbeitsplätze schafft, sondern indem es Angestellte auf die Straße setzt!

Es hieße ferner, zu vergessen, daß in der ganzen Welt unter dem Klang der offiziellen Leier "Beschäftigung hat Vorrang" die (in den meisten Fällen sehr profitablen) Unternehmen, die mit großem Schwung entlassen, sofort –und zwar aus eben diesem Grund – erleben, wie ihr Börsenkurs pfeilschnell in die Höhe schießt, während ihre Entscheidungsträger verkünden, daß ihre Lieblingsdirektive die Senkung der Arbeitskosten sei, also Massenentlassungen. Täglich gibt es neue Beispiele. Genannt seien hier nur ein paar, nur aus dem Monat März 1996:

  • Am 7. wird die Höhe des Einkommens von Robert Allen, dem Vorstandsvorsitzenden von ATT (einem amerikanischen Telekommunikationsriesen), der zwei Monate zuvor 40.000 Entlassungen angekündigt hatte, in der Presse veröffentlicht: Mit 16,2 Millionen Dollar, also etwa 32 Millionen DM (ein Drittel davon in Stock-options) hat sich sein Gehalt seit dem Vorjahr fast verdreifacht. Dem steht keinerlei Gewinn gegenüber, nur jene 40.000 Entlassungen ...
  • Am 9. kündigt Sony die Streichung von 17.000 Stellen an; der Börsenkurs steigt – bei einem sonst sehr ruhigen Markt – am selben Tag um 8,41, am nächsten Tag um 4,11 Punkte.
  • Am 11. verkündet Alcatel (bei 15 Milliarden Franc Gewinn) 12.000 Entlassungen, was die Zahl der Entlassungen in vier Jahren auf insgesamt 30.000 steigen läßt, und am 19. kündigt die privatisierte Deutsche Telekom 70.000 Entlassungen in den kommenden drei Jahren an.
  • Am 25. beschließt Akai 154 bis 180 Entlassungen in seiner Fabrik in Honfleur, in der 484 Angestellte beschäftigt sind. Das Motiv: Die Verlagerung der Produktion nach Großbritannien und Thailand.
  • Am selben Tag entläßt die Swissair nach einem ersten Schub von 1600 Entlassungen weitere 1200 Arbeiter und Angestellte. Das Ziel: die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit und Einsparungen in Höhe von 500 Millionen Schweizer Franken.
  • France Télécom stellt nicht ein (bei 15 Milliarden Franc Gewinn) usw.

Nach diesen wenigen praktischen Beispielen, die sich fortführen ließen, erkennt man die Absurdität von Aussagen wie: Die Beschäftigung ist abhängig vom Wachstum, das Wachstum von der Wettbewerbsfähigkeit; die Wettbewerbsfähigkeit vom Umfang, in dem Arbeitsplätze gestrichen werden können. Das läuft auf die Aussage hinaus: Im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit gibt es kein besseres Mittel als Entlassungen!

"Die Globalisierung zwingt ...", "Die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit erfordert ..." Göttliche Stimmen! Es handelt sich nicht mehr um Argumente, sondern um Verweise auf die Doktrin, um Dogmen, die gar nicht mehr ausgesprochen werden müssen: Auf sie anzuspielen sollte ausreichen, jegliche Anwandlung von Widerstand für nichtig zu erklären. "Globalisierung" gehört zu jenem wuchernden Vokabular, das sich aus Begriffen zusammensetzt, die – verfälscht und zum Zwecke einer wirksamen Propaganda immer wieder eingebleut – die Gabe haben, auch ohne eine wirkliche Argumentation zu überzeugen. Ihr schlichtes Aussprechen ermöglicht eine meisterliche Manipulation der Menschen, denn wenn diese Begriffe sich einmal in die gängige Sprache eingeschlichen haben und schließlich selbst von ihren Gegnern verwendet werden, scheinen sie das, was die Propaganda erst durchsetzen will, was sie aber nur schwerlich belegen könnte, als offensichtlich, sicher und gegeben zu bestätigen. Erwähnen wir unter diesen zahlreichen Ausdrücken nur den berühmten "freien Markt", der frei ist, unbeschränkt Profit zu machen; die "Umstrukturierungen", die die Zerschlagung von Betrieben bezeichnen oder zumindest die Auflösung ihrer Belegschaft. Massenentlassungen vorzunehmen, also eine dramatische Beschädigung der Gesellschaft zu betreiben, heißt nun, "einen ›Sozialplan‹ ausarbeiten". Wir sind aufgefordert, "öffentliche Defizite" zu bekämpfen, die in Wirklichkeit jedoch Gewinne für die Öffentlichkeit darstellen: Die als überflüssig, ja schädlich angesehenen Ausgaben haben keinen anderen Nachteil als den, daß sie nicht unmittelbar rentabel und somit für die Privatwirtschaft verloren sind, da sie einen für diese unerträglichen Gewinnausfall darstellen. Nun sind diese Ausgaben für wesentliche Bereiche der Gesellschaft aber lebensnotwendig, vor allem für das Erziehungs- und das Gesundheitswesen. Sie sind nicht "nützlich" und nicht "notwendig": Sie sind unverzichtbar, von ihnen hängen die Zukunft und das Überleben jeglicher Zivilisation ab.

Das eigentliche Meisterwerk aber – ein wahres Juwel, ein Triumph! – bleibt die "Globalisierung". Allein ihr Name, reduziert auf dieses eine Wort, umfaßt alle Gegebenheiten unserer Epoche und schafft es, die Hegemonie eines politischen Systems, des Ultraliberalismus, zu tarnen – der in diesem Amalgam nicht mehr zu identifizieren ist und der, ohne offiziell an der Macht zu sein, über all das bestimmt, worüber die Regierungen zu herrschen haben, und infolgedessen über eine den ganzen Planeten umfassende Allmacht verfügt.

Das Betreiben der Globalisierung erfolgt auf der Basis dieser politischen Entscheidung, der Entscheidung für eine ultraliberale Ideologie. Ist das ein Grund, die Globalisierung mit der Ideologie zu verwechseln, von der sie betrieben wird, mit der sie aber nicht identisch ist? Diese Verwechslung unterläuft uns jedoch, und damit verleihen wir dem Ultraliberalismus die Irreversibilität, die Unabwendbarkeit auch der technologischen Fortschritte, welche die Globalisierung, nicht aber den Liberalismus definieren. Vor allem aber vergessen wir, daß die Globalisierung keine ultraliberale Führung erfordert und daß letztere nur eine (übrigens unglückliche) Methode unter anderen möglichen darstellt. Kurz, die Globalisierung ist vom Ultraliberalismus zu unterscheiden – und umgekehrt. Trotzdem ist es, wenn wir die eine erwähnen, unbewußt der andere, auf den wir uns beziehen, und wir übertragen auf letzteren die Vorstellung der Schicksalhaftigkeit, die der ersteren innewohnt. Dabei hat doch der Ultraliberalismus selbst nichts Schicksalhaftes.

Was uns als das Ergebnis einer Globalisierung verkauft wird, die so allgegenwärtig ist, daß sie alles einschließt, und was wir auch als deren Ergebnis empfinden, ist nur das Ergebnis einer bewußten Politik, die weltweit betrieben wird, die aber trotz ihrer Macht nicht unabwendbar, nicht gewissermaßen vorherbestimmt ist, sondern im Gegenteil konjunkturbedingt, vollständig analysierbar und durchaus strittig. Sie ist es, die die Globalisierung betreibt und dieser ihr Diktat aufzwingt. Es handelt sich hier um die Wahl einer bestimmten Form der Führung, die mit dieser Politik aufs engste verbunden ist. Aber es gibt tausend andere und zweifellos vorzuziehende Formen der Führung. Die aktuelle Wahl ist keineswegs schicksalhaft, wiederholen wir das.

Nicht die "Globalisierung" – ein vager Begriff – ist es, die schwer und unverrückbar auf der Politik lastet und sie lähmt. Es ist vielmehr eine präzise Politikform, der Ultraliberalismus, der sich die Globalisierung im Dienst einer Ideologie untertan macht und die Wirtschaft unterwirft. Es handelt sich um eine Politik, die ihren Namen nicht nennt, die auch gar nicht vor hat zu überzeugen, die zu keinerlei wirklicher Zustimmung aufruft, nicht danach strebt – wir haben es bereits gesagt –, irgendeine offizielle Macht auszuüben, und die sich um so weniger brüstet, ihre Prinzipien zu verkünden, als diese sich nur auf ein einziges Ziel richten, das kaum Chancen hätte, die Massen zu begeistern: für die Privatwirtschaft immer schnellere und phänomenalere Megaprofite zu erreichen, und das um jeden Preis.

Diese nicht sichtbare, alles in allem korporatistische Politik begnügt sich damit, die irrsinnigen Freizügigkeiten, die Anarchie einer Geschäftswelt und einer Marktwirtschaft, die in eine Wirtschaft der reinen Spekulation abgeglitten sind, zu stützen und zu banalisieren; die Deregulierungen und Produktionsverlagerungen sowie Kapitalfluchten für rechtmäßig zu erklären, eine geradezu religiöse Verehrung der Währungen ebenso auszuspielen wie deren Sabotage, wie auch die Umleitung von Finanzströmen und mafiose Entwicklungen. So entsteht der Rahmen oder besser die Sackgasse, innerhalb deren es anscheinend keinen anderen Ausweg gibt, als sich den Bedingungen des Profits, die nicht die der großen Masse sind, "anzupassen". Eine Sackgasse, in der das Theater der Politik, die von der Hilfe und Vermittlung der offiziellen Macht profitiert, nun gehalten ist, diese "Anpassung" zu organisieren und es dabei bewenden zu lassen.

Man sieht hier, wie die Globalisierung als Bemäntelung für das wahnsinnige Ausmaß einer politischen Wirkkraft dient – oder besser, wie der Ultraliberalismus, die derzeit herrschende Ideologie, die Grundlage eines oligarchischen Systems, sich unter dem Deckmantel der Globalisierung versteckt.

Welch ein Betrug! Denn wenn auch die Tatsache der Globalisierung, eines historischen Phänomens, nicht rückgängig zu machen ist, da sie aus einer nicht zu verändernden Vergangenheit hervorgeht, so sind ihre Potentiale doch nicht im Protokoll der Vergangenheit festgeschrieben: Ihre Zukunft ist völlig offen und hängt von unterschiedlichen Dynamiken ab, von verschiedenen Projekten und Intentionen, die in der Lage sind, die Globalisierung zu mobilisieren, vor allem aber von der breiten Palette möglicher politischer Strategien, um sie zu steuern. Der Ultraliberalismus ist nur eine dieser möglichen Steuerungskräfte, und er ist nicht identisch mit dem Phänomen, dessen Eigenschaften er zu usurpieren versucht, um selbst als irreversibles Faktum zu erscheinen, um die Geschichte in unserer Epoche enden zu lassen (oder den Glauben zu verbreiten, sie habe dort geendet), einer Epoche, die eigentlich nur eine Phase, eine Episode der Geschichte darstellen dürfte, der wie anderen vor oder nach ihr nur eine mehr oder weniger lange Dauer gegeben ist. In Wirklichkeit ist der Liberalismus – weit davon entfernt, ein Synonym dieses historischen Phänomens zu sein – nichts anderes als ein einfaches Element der Geschichte, genau wie andere wahrscheinlich dazu bestimmt, nicht zu dauern.

Dennoch gelingt es ihm, ein präzises ideologisches System und dessen vorsätzliche Praktiken als natürliche Phänomene gelten zu lassen, so irreversibel und unerbittlich wie der Urknall, denen genausowenig entgegenzusetzen ist wie den Gezeiten, dem Wechsel von Tag und Nacht oder der Tatsache, daß wir alle sterblich sind. Es geht also gar nicht mehr darum, mit dem Ultraliberalismus einverstanden zu sein oder nicht, da er – ob das nun wünschenswert ist oder bedauerlich – als gegebenes Faktum gilt, auf das hin der Lauf der Geschichte stets ausgerichtet war. Widerstand? Wäre ungebührlich und grotesk! Wer würde es wagen, die Spitzentechnologien abzulehnen, den Handel in Echtzeit und so viele andere wirklich beachtliche Errungenschaften, die ihm ohne viele Umstände, aber zu Unrecht zugeschrieben werden? Wer könnte wohl so unwissend sein, daß er nicht wüßte, daß es sich hier um Grundpfeiler unserer Geschichte handelt?

Nun sind diese Fortschritte der Spitzentechnologien untrennbar mit der Globalisierung verbunden, nicht aber mit der Ideologie, die vorgibt, mit ihr identisch zu sein. Wenn diese Technologien dem Liberalismus auch seinen Triumph ermöglicht haben, so sind sie doch etwas von ihm völlig Getrenntes. Er ist von ihnen abhängig, benutzt sie, manipuliert sie; sie hängen nicht von ihm ab und haben in ihm auch nicht ihren Ursprung, sie könnten sehr gut von ihm unterschieden werden, ohne sich dadurch im geringsten zu verändern. Im Gegenteil, auf diese Weise würden sie für andere Arten der Verwendung verfügbar, wären nicht mehr mit Beschlag belegt; dann könnten sie endlich der Masse der Menschen nutzen, statt ihr zum Verhängnis zu werden.

Halten wir fest, daß Ultraliberalismus und Globalisierung keine Synonyme sind.

Wenn wir glauben, von Globalisierung zu sprechen (einer passiven und neutralen Definition des aktuellen Zustands der Welt), so ist fast immer von Liberalismus die Rede (einer aktiven, aggressiven Ideologie). Eine ständige Konfusion, die es erlaubt, jegliche Ablehnung dieses politischen Systems, seiner Unternehmungen und ihrer Konsequenzen für die Ablehnung der Globalisierung und des Amalgams auszugeben, auf dem sie beruht und von dem die Fortschritte der Technologie nur ein Teil sind. Den Vorbetern des Liberalismus fällt es also leicht, achselzuckend oder mit spöttischer Miene ihre Gegner zu widerlegen, sie als beklagenswert provinziell hinzustellen, als lächerliche Menschen, die willenlos in ihrer Rückständigkeit verharren und hartnäckig die Geschichte leugnen. Und den Fortschritt erst recht.

Ein entscheidender Kunstgriff, die List hinter diesem beliebig dehnbaren Vokabular, das sehr verbreitet ist und sich täglich weiter ausbreitet und zu dem der Begriff "Gbbalisierung" gehört: Es kommt so weit, daß man die wunderbaren Errungenschaften der neuen Technologien, ihre nicht rückgängig zu machende Entwicklung mit dem politischen Regime verwechselt, das sie nutzt. Als ob es selbstverständlich wäre, daß das riesige Potential an Freiheit und gesellschaftlicher Entwicklungsfähigkeit, das der gesamten Menschheit durch Forschung, Erfindungen und neue Entdeckungen zur Verfügung steht, sich schließlich in ein Desaster verwandelt, ein Gefängnis für die Menschen.

Man beginnt übrigens allmählich, die Dauer der Geschichte auf etwas zu übertragen, was nur eine ihrer Phasen darstellt. Nun ist die Geschichte aber gerade der Motor einer ständigen Veränderung; diese ewige Bewegung definiert sie; sie könnte also niemals für immer auf einen ihrer Abschnitte fixiert bleiben. Vergessen wir niemals: Wir erleben nicht das "Ende" der Geschichte. Auch wenn es Teil der gegenwärtigen Strategien ist, uns vom Gegenteil überzeugen zu wollen, werden wir zu Zeugen ihrer lebhaftesten Ausschläge, die jedoch keine gesellschaftlichen Krisen mehr begleiten, sondern den Wandel einer Zivilisation, die sich bislang auf Beschäftigung gründete – welche aber im Widerspruch zur heute vorherrschenden spekulativen Wirtschaft steht. Das bedeutet Arbeitslosigkeit und Formen des Ersatzes für Arbeitsplätze, eingefrorene oder zurückgehende Löhne und Gehälter, und vor allem jene (sehr zahlreichen) Gehälter, die nur Pseudo-Gehälter darstellen, weil niemand davon leben kann. Zu alldem haben die hartnäckigen Bemühungen geführt, die Statistiken zu verbessern, nicht aber das soziale Leben, das jedes Mal auf einem noch niedrigeren Niveau neu ansetzt und sich jedes Mal noch etwas verschlechtert hat.

Anstatt sich klar von einer vergangenen Gesellschaft zu verabschieden, um eine neue zu schaffen, in der wir auf anderen Grundlagen leben, versucht jeder, ob Profiteur oder Opfer, genau dies zu vermeiden. Dadurch fällt es der Propaganda nur um so leichter, die quasi religiöse Überzeugung zu nähren, daß wir gelähmt sind, in einer ausweglosen Falle stecken, für immer inmitten einer Welt ohne Makel gefangen, die Überzeugung, daß alles bereits entschieden ist, so daß jeder Anflug von Widerstand nur auf lokale, vor allem aber unnütze Donquichotterie hinausliefe. Als könnten wir uns nur noch vergeblich ins Gefecht werfen, als Gefangene unzerstörbarer Strukturen und eines grenzenlosen Zerfalls zugleich – immer im Bewußtsein, daß es zu spät ist, wie uns unaufhörlich eingetrichtert wird. Als ob alle Auswege verschlossen wären oder in andere, noch endgültigere Sackgassen hineinführten.

Es ist eine wirkungsvolle Propaganda, denn wenn wir uns dieses Jochs, unter das geradezu der gesamte Planet gezwungen wird, auch nicht ausreichend bewußt sind, so phantasieren wir uns doch – da wir es mit getrübtem Blick betrachten – ein um so genaueres Bild von ihm – ohne es jedoch zu analysieren – und weichen mit einem Gefühl der Ohnmacht zurück, Ohnmacht angesichts dessen, was wir uns fälschlicherweise als zu schwer, unüberwindlich und dauerhaft vorstellen.

Es ist wahr, wir erleben den Triumph des Ultraliberalismus, der vielleicht um so triumphaler ist, als er mit seinem eigenen Scheitern einhergeht – und nicht einmal das vermag ihn zu erschüttern. Ein Triumph, der um so triumphaler ist, als die durch seine Mißerfolge bedingten Verheerungen seine Arroganz noch zu nähren scheinen und zu bestätigen, daß er seine wirklichen Ziele erreicht hat, die auf diese Weise offenbart wurden.
Doch ein solcher Sieg ist niemals endgültig – und noch weniger gesichert. Wie viele Imperien und Regime, die festgemauert schienen, die sich unerschütterlich glaubten und auch so wirkten, sind schon in sich zusammengebrochen! Allerdings wurden sie als das wahrgenommen, was sie waren: politische Regime, die folglich angreifbar waren. Die Stärke des jetzt herrschenden Regimes (es ist eine Herrschaft von weltweitem Zuschnitt) liegt darin, daß es anonym, unsichtbar ausgeübt wird – und dadurch unantastbar ist und um so stärkeren Zwang ausübt. Wenn wir uns davon befreien wollen, ist es dringend an der Zeit, es sichtbar zu machen.
Wissen wir heute denn überhaupt, unter welcher Herrschaft wir in diesen Zeiten der globalisierten Einheitspolitik leben? Spüren wir, daß es ein politisches Regime ist, und wissen wir, um welche Politik es sich handelt? Fragen wir uns nicht, welche Rolle die für die Demokratie unerläßliche Vielfalt unterschiedlicher Gruppierungen noch spielen kann, wenn – immer offener – eine einzige, ständig wiederholte und keinen Widerspruch duldende Behauptung regiert (die auch nur zu diskutieren schon Blasphemie scheint), wonach die Marktwirtschaft das einzig mögliche Gesellschaftsmodell ist?
"Es gibt keine Alternative zur Marktwirtschaft": Ein nicht nur unsinniges, sondern künftig jeder Grundlage entbehrendes Diktum, denn hinter der Marktwirtschaft verbirgt sich eine ausschließlich spekulative Wirtschaft, welche die Marktwirtschaft verdrängt und zerstört, wie sie auch alles andere zerstört! Und selbst, wenn dem nicht so wäre, so wäre die Behauptung, es gebe nur ein einziges Gesellschaftsmodell ohne Alternative, nicht nur absurd, sondern geradezu stalinistisch – unabhängig davon, wie das vorgeschlagene Modell aussieht. Eine solche Rede ist diktatorisch, und sie definiert genau den Raum, in den wir heute eingeschlossen sind: einen Raum, der in unseren Augen von keinem politischen Regime mehr abhängt, da keines jener sogenannten "wirtschaftlichen" Souveränität widerstanden zu haben scheint, die uns davon überzeugen will, daß sie allein regiert und daß sie allein uns unter Druck setzt, da die Wirtschaft schließlich über die Politik gesiegt habe.
Doch das ist falsch. Die Wirtschaft hat nicht über die Politik triumphiert. Das Gegenteil ist wahr.
Wenn die Globalisierung so gänzlich und so zwangsläufig mit der Wirtschaft und nicht mit der Politik assoziiert scheint, so ist nicht von Wirtschaft die Rede, sondern von der Welt der Geschäfte, der Welt des Business, das sich selbst in Spekulation verwandelt hat.
Dagegen ist es eine bestimmte politische Richtung, der Ultraliberalismus, der auf diesem Weg – zur Stunde erfolgreich – versucht, sich jeder wirklichen wirtschaftlichen Betätigung zu entledigen, ja sogar die Bedeutung des Begriffs "Wirtschaft" zu verändern, welcher bislang mit dem Leben der Bevölkerung eng verbunden war, doch jetzt nur noch das Wettrennen um Profit bezeichnet.
Wir erleben nicht die Aneignung der Politik durch die Wirtschaft, sondern, im Gegenteil, das Ende unserer Vorstellung von Wirtschaft. Eine bestimmte Politik ersetzt sie aggressiv durch das Diktat einer Ideologie: des Ultraliberalismus.
Das offensichtliche Verschwinden der Politik hat seinen Ursprung in Wahrheit in einem übersteigerten politischen Willen, der, ganz im Gegenteil, noch eine Ausweitung dieser Aktivitäten fordert. Ein politischer Wille, ein politisches Handeln im Dienste der allmächtigen Privatwirtschaft, die unter dem züchtigen und beruhigenden Etikett der "Marktwirtschaft" einer dominanten und zunehmend rein spekulativen Wirtschaft als Schutzschild dient, die sich zur Casino-Wirtschaft entwickelt hat und den realen Aktiva gleichgültig gegenübersteht.
Eine virtuelle Wirtschaft, die keine andere Funktion hat als die, der Spekulation und ihren Profiten den Weg zu ebnen, Profiten, die aus immateriellen Produkten, aus "Derivaten" hervorgehen, bei denen mit dem gehandelt wird, was nicht existiert. Dazu gehört der Ankauf virtueller Risiken, die mit einem noch im Projektstadium befindlichen Vertrag verbunden sind, dann der Risiken, die durch den Ankauf dieser Risiken eingegangen wurden, die wiederum selbst jeweils tausenderlei weitere Risiken einschließen, die ebenfalls virtuell sind und ihrerseits Gegenstand weiterer, ebenfalls virtueller Spekulationen sind – von Wetten und weiteren Wetten auf diese Wetten, die zu den "wirklichen" Objekten der Märkte geworden sind ...
Zu derlei unkontrollierbaren Spielen führt die gegenwärtige Wirtschaft, eine angebliche "Marktwirtschaft": zur Spekulation auf die Spekulation, auf "Derivate", die selbst wiederum aus anderen Derivaten hervorgegangen sind, und auf lebenswichtige Kapitalströme; zur Spekulation auf die mutmaßlichen Veränderungen der Wechselkurse, auf manipulierte, verfälschte Kreisläufe wie noch auf viele weitere Derivate, die ebenso künstlich sind. Eine anarchische, mafiose Wirtschaft, die sich mit Hilfe eines Alibis – der "Wettbewerbsfähigkeit" – verbreitet und einnistet. Eine Pseudo-Wirtschaft, gegründet auf Produkte ohne Realität, die sie nach den Bedürfnissen des spekulativen Spiels erfindet, das selbst von jeglichen realen Aktiva, von jeglicher faßbaren Produktion abgespalten ist. Eine hysterische, wirkungslose Wirtschaft, auf Luft gegründet, Lichtjahre von der Gesellschaft und damit von der realen Wirtschaft entfernt, denn diese existiert nur im Bezug auf die Gesellschaft und hat nur Sinn, wenn sie mit dem Leben der Menschen verbunden ist.
Ein Beispiel für eine solche Verdrängung der wahren Wirtschaft und für diese anmaßende Ineffizienz: das so sehr gerühmte, immer wieder als unbestreitbare Rechtfertigung des Ultraliberalismus zitierte triumphale "asiatische Wunder" – und sein Scheitern, die brutale Metamorphose des Wunders in ein Fiasko.
Ein inzwischen klassisches Szenario: Man will ein Wirtschaftssystem exportiert haben, allerdings ohne Ansehen der Bevölkerungen auf beiden Seiten und unter alleiniger Berücksichtigung des Profits. So kam es in ganz ungeeigneten Regionen zur brutalen, quasi kolonisatorischen Ansiedlung von Märkten, die nach almosenhaften Lohnkosten verlangen, nach dem Wegfall jedes "Schutzes der Arbeit" und überhaupt jeder Form des sozialen Schutzes, welche als "rückständig" angesehen werden; Märkte, die nach jener von den Anhängern des Liberalismus so gepriesenen "Freiheit" verlangen; einer "Freiheit", die es ermöglicht, die Freiheit der anderen abzuschaffen, indem man einigen wenigen alle Rechte über die große Masse gibt. Eine "Freiheit", die in manchen Gegenden des Globus erlaubt, was der als "rückständig" bezeichnete soziale Fortschritt anderswo verbietet.
Das Ergebnis: rasante Profite in Rekordzeit und – ebenfalls in Rekordzeit – der absolute Zusammenbruch, der jämmerliche Untergang jener asiatischen Apotheose, dieses Modells des liberalen Traums. Es bleiben gigantische, anmaßende und leere Riesenstädte, die dort nicht hinpassen, sowie das gesteigerte Elend der jeweiligen Bevölkerung, während die heldischen Kämpfer dieses Epos – unfähig, das Desaster zu kontrollieren oder es auch nur zu verstehen, und gleichgültig gegenüber den Menschen, die geopfert werden – sich einzig darum sorgen, Finanzkurse mit ihren unkontrollierbaren Launen zurechtzuflicken. Und die kümmerlichen Überbleibsel dieser verramschten Länder entweder zurückzulassen oder billig aufzukaufen.
Wieder einmal hat der Ultraliberalismus hier so getan, als betriebe er Wirtschaft, und hat nur Geschäfte gemacht. Er hat so getan, als machte er Geschäfte, und hat nur spekuliert.
Die Konsequenzen – sie waren vorauszusehen – sind bekannt.
Aber wir verwechseln nicht nur die Wirtschaft mit den Vorgängen des Business oder das Business mit der Spekulation oder auch die Globalisierung mit ihrer Steuerung durch den Ultraliberalismus: Wir verwechseln die Abschaffung der Wirtschaft mit jener der Politik. Vor allem verwechseln wir politische Macht mit wirtschaftlicher Stärke. Dabei übersehen wir die Tatsache, daß, wenn letztere erstere ausschaltet, dies nicht bedeutet, daß erstere verschwunden wäre, sondern daß letztere sie sich einverleibt hat und an ihrer Stelle regiert. Dabei sorgt sie sich nicht um die reale Ökonomie, sondern nur um verrückt spielende Finanzströme.
Was ist die Wirtschaft? Die Organisation oder Verteilung der Produktion im Hinblick auf die Bevölkerung, unter Berücksichtigung ihres Wohlbefindens? Oder die Ausnutzung bzw. das Abservieren der Menschen mit Blick auf anarchische finanzielle Fluktuationen, die in keinerlei Verbindung zu ihnen stehen, sondern zum Nachteil der Menschen ausschließlich auf den Profit ausgerichtet sind? Befinden wir uns hier in einer richtigen Wirtschaft oder – im Gegenteil – in deren Negation?
Bei solchen Verwirrungen, bei solchen Täuschungen kann sich (unbemerkt, darauf verwendet sie viel Sorgfalt) auch eine Politik entfalten, die andere politische Strategien zerstört und die, nachdem sie diese alle ausgeschaltet und sich an ihre Stelle gesetzt hat, so tun kann, als gäbe es keine andere mehr, nicht einmal die, die sie selbst verkörpert und die jetzt herrscht, eine einheitliche und verdeckte, die keine Opposition fürchten muß.
Die Politik dergestalt auszuschalten, zeugt von einer gesteigerten politischen Entschlossenheit, die sich nur durch politisches Handeln im Sinne der erbitterten Propaganda durchsetzen kann, mit dem Ziel eines Einheitsregimes, also eines totalitären Regimes, das über ein politisches Vakuum herrscht. Jegliche Form von Politik wird dadurch in die Unterwerfung unter vollendete (oder als solche ausgegebene) Tatsachen eingebunden, die auf diese Weise zum gar nicht mehr genannten, als selbstverständlich unterstellten Ausgangspunkt jeglicher Maßnahme, jeglichen Engagements, jeglicher Initiative, kurz, des gesamten Räderwerks werden.
Wir sehen jetzt Konturen eines autoritären Regimes, das in der Lage ist, Zwänge aufzuerlegen, die durch seine Finanzmacht gefordert und ermöglicht werden, ohne dabei einen Apparat hervorzubringen oder auch nur die geringsten Auswirkungen, hinter denen man das despotische System vermuten könnte, das eingeführt wurde, um seine herrische Ideologie zu verbreiten. Eine Politik, die sich auf "Realismus" beruft, während sie zugleich der Realität gegenüber verblüffend gleichgültig ist.
Eine Einheitspolitik, die zur Trennung von der Demokratie durchaus bereit ist, die aber jetzt schon mächtig genug ist, um an dieser Trennung gar kein Interesse zu haben. Wollen wir sagen: eine Politik? Eher ist es ein neues Regime, das sich hinter angeblichen wirtschaftlichen "Sachzwängen" verbirgt und das von der Gesellschaft um so weniger wahrgenommen wird, als diese sich noch immer im allgemeinen Klima, vor der Kulisse und innerhalb der Strukturen der Demokratie bewegt und wahrnimmt. Das ist nicht wenig, im Gegenteil, und muß um jeden Preis bewahrt werden, solange noch Zeit ist, um uns von jenem Regime zu befreien, von jener seltsamen Diktatur, die glaubt, sich den Luxus eines demokratischen Rahmens zu erlauben, mächtig wie sie ist.

Kapitel 2

Das Dringlichste? Sich aus dem Halseisen der Propaganda befreien. Die Geduld haben, die falschen Fragen, welche die wahren Probleme kaschieren, aufzuspüren. Es ablehnen, sich mit den überholten Fakten zu beschäftigen – unter der Aufsicht von Leuten, die das ausnutzen und die sie auf den Tisch bringen – und auf diese Weise das Spiel mitzuspielen, das man eigentlich bekämpft; und nicht aus dem Wunsch, schnell und um jeden Preis Lösungen zu finden, in die Falle tappen und die vom Gegner vorgesehenen und diktierten Lösungen übernehmen.

Priorität hat also die Weigerung, sich von jenen verfälschten, endlos wiedergekäuten Fragen faszinieren zu lassen, welche die Wirklichkeit verschleiern – und allererste Priorität hat die Tatsache, daß es bereits problematisch ist, diese Fragen für berechtigt und für die einzig berechtigten zu halten. Manchmal wird dadurch sogar das eigentliche Problem erzeugt.

Wer in Unkenntnis der wahren Probleme lebt, läßt keine andere Möglichkeit zu, als sie auf genau die Weise zu erleiden, die jene bestimmt haben, die sie geschaffen haben und sich auf diese Weise ihres Weiterbestehens versichern. Wir diskutieren und mühen uns auf der Basis verfälschter, weitschweifiger Darstellungen, die von Leuten aufgebracht wurden, die ein Interesse daran haben, die Ursprünge der Situation unsichtbar zu machen und sie durch ihre eigenen postulierten Schlußfolgerungen zu ersetzen, so daß wir jetzt auf der Basis dieser Postulate Probleme abhandeln, die längst hinfällig sind. Eines dieser Postulate, ganz ohne Zweifel das wichtigste, dekretiert den Vorrang des Profits; dessen Vormachtstellung scheint sich derart von selbst zu verstehen, daß er, der stets maßgebliche, niemals erwähnt wird. Von ihm ist keine Rede mehr, aber bei jeder Äußerung und jeder Gelegenheit müssen die Bedingungen geschaffen werden, die ihn begünstigen; sie werden als unerläßlich für andere Anliegen ausgegeben, für genau jene nämlich, die sich durch diese Bedingungen verschlechtern, wie etwa der Arbeitsmarkt.

Jedes Problem, das der Profit verursacht, wird gelöst, indem man vom Dogma seiner Notwendigkeit und von der Behauptung ausgeht, daß die Gesamtheit der Menschen von ihm abhängig ist, daß sie von den maßlosen Profiten (die faktisch an einige wenige gehen) profitiert, daß sie ohne diese ihren Ruin erleben würde. Man kann sich vorstellen, welcher hinterhältigen und anhaltenden Propagandaarbeit es bedarf, derlei konditionierte Reflexe zu schaffen und in uns allen zu verankern! Der Profit selbst wird nie offen genannt, es sei denn in einer altruistischen Rolle, als rettende Vorsehung (zum Schutze jener, die er in Wahrheit zugrunde richtet). Er wird niemals diskutiert, niemals in Frage gestellt, im Gegenteil: Alle Kräfte werden zu seinen Gunsten mobilisiert, ihm voll und ganz dienstbar gemacht.

Wir sind gefesselt von diesen unausgesprochenen Zusammenhängen, leben in einer Politik, die mit dieser alles beherrschenden, unausgesprochen hingenommenen Voraussetzung aufs engste verbunden ist und mit Argumentationen arbeitet, die um so schwerer anzugehen sind, als sie sich wieder daraus ergeben und nicht mehr bewiesen werden müssen. Da die Ursache der Probleme auf diese Weise geschickt ausgespart wird, gewahren wir nur ihre Konsequenzen, nämlich die, gegen die wir protestieren; die Konsequenzen werden zu unseren einzigen Bezugsgrößen und damit auch die berühmten "vollendeten Tatsachen", an denen wir bestenfalls noch die Art ihres Funktionierens kritisieren können. Wer diese Konsequenzen beklagt, muß sie für bedauerlich, aber unvermeidlich halten, da sie von jener unausgesprochenen Voraussetzung herrühren, die als endgültig und unerschütterlich angesehen wird. Geradezu als heilig.

Die ursprünglich gestellten Fragen weichen solchen, die genau von jener Politik diktiert werden, die man in Frage stellen wollte; sie beschränken sich jetzt auf den Bereich, für den es keine andere Lösung gibt als das fortzusetzen (und häufig noch zu verschärfen), was Probleme hervorgerufen hat, die sich gar nicht gestellt hätten und denen man sich jetzt nur anpassen kann – womit man sich dazu verurteilt, passiv zu bleiben.

Sich anpassen: Das ist die Generalanweisung! Sich wieder und wieder (und für immer) anpassen. Sich den gegebenen Tatsachen, den wirtschaftlichen Sachzwängen, den Konsequenzen dieser Sachzwänge anpassen, als ob die Konjunktur an sich schicksalhaft wäre, die Geschichte abgeschlossen und die Epoche endgültig erstarrt. Sich der Marktwirtschaft anpassen, das meint eigentlich: der Spekulationswirtschaft. Sich den Folgen der Arbeitslosigkeit anpassen, das bedeutet übersetzt: ihrer schamlosen Ausbeutung. Sich der Globalisierung anpassen heißt mit anderen Worten: der ultraliberalen Politik, die sie steuert. Sich der Wettbewerbsfähigkeit anpassen bedeutet: der Opferung aller mit dem Ziel, einen Ausbeuter den Sieg über einen anderen Ausbeuter davontragen zu lassen, beide Spieler desselben Spiels. Sich dem Kampf gegen die öffentlichen Defizite anpassen bedeutet: der systematischen Zerstörung der wesentlichen Infrastrukturen und sozialen Errungenschaften. Sich den geradezu aufrührerischen wirtschaftlichen Deregulierungen anpassen, Elementen einer reaktionären und regressiven Revolution – die sich aber in aller Ruhe, mit offizieller Duldung, wenn nicht sogar Ermunterung ausgebreitet haben, während sie doch jegliches Gesetz aufheben, das der spekulativen Willkür Grenzen setzt; während sie doch ungestraft gegen Gesetze verstoßen, welche geschaffen waren, um die Ungerechtigkeit in Schranken zu halten und ohne die die Tyrannei triumphiert. Sich dem Zynismus der zulässigen mafiosen Verhaltensweisen anpassen, die schon mehr als vertraut geworden sind: nämlich traditionell. Sich so der Produktionsverlagerung, der Kapitalflucht, den Steueroasen, der anarchischen Deregulierung, den menschenverachtenden Fusionen, der kriminellen Spekulation anpassen, die hingenommen werden, als ob sie Naturgesetzen gehorchten, gegen die sich aufzulehnen nutzlos wäre. Sich selbstverständlich der Arroganz der Dummheit, ihren göttlichen Hoheitsrechten anpassen ...

Mehrere Seiten würden nicht ausreichen, diese Liste zu vervollständigen.

Sich in Wahrheit jenem dumpfen Klima der Repression anpassen, in dem man nur kämpfen kann, wenn man auf das verzichtet, wofür man kämpft, auf das, was an dessen Ursprung steht und was sich durch einen Taschenspielertrick zum allgemeinen Ziel gewandelt zu haben scheint, zum Hauptpostulat, das im Hintergrund bleibt, aber implizit als wünschenswert und legitim gilt – auf jeden Fall aber als unumgänglich. Dann bleibt nur noch, die Antworten hinzunehmen, die uns von jenen, die sich weigern, Fragen zuzulassen, eingehämmert werden.

Der Profit, zentrales Kriterium jeglicher Kritik des gegenwärtigen Systems, wird ständig ausgespart, er wird so energisch vergessen, daß er niemals erwähnt wird, daß selbst dieses Verschwindenlassen unbemerkt erfolgt. Diese Kritik, dieser so wichtige Prozeß gegen den Profit, wird also nie in die Wege geleitet, ja nicht einmal in Aussicht genommen. Man kann vom Profit sagen, daß er nicht nur verschleiert, sondern regelrecht aus dem Bewußtsein verdrängt wird. Man kann auch sagen, daß er, wie Der stibitzte Brief von Edgar Allen Poe, wohl zu offensichtlich, zu deutlich sichtbar ist, um wahrgenommen zu werden – um so leichter kann er der unerkannte, unbewußt hingenommene und auf zynische Weise akzeptierte Kern der Situation bleiben.

Er ist das Prinzip selbst, auf dessen Basis, um das herum und zugunsten dessen das gesamte gegenwärtige System funktioniert, ohne daß man sich je darauf berufen, erst recht, ohne daß man es je in Frage gestellt hätte. Es geht also nicht mehr darum, sich der gegenwärtigen historischen Situation zu stellen, die der Profit beschleunigt und – als ihr unsichtbarer, heiliger Kern – beherrscht, sondern sich mit den Methoden zu arrangieren, die von dieser Situation zu seinen Gunsten profitieren: zum Profit des Profits. Es geht nur noch darum, sich mit dem erdumspannenden Regime abzufinden, das sich ununterbrochen um diesen offiziell als vorrangig anerkannten, mit allen Rechten ausgestatteten sowie über alles Weltgeschehen erhabenen Profit anordnet.

Von einer kleinen Gruppe abgesehen, fällt es wohl den meisten Menschen schwer, sich vorzustellen, daß der Profit, dieser klägliche, erbärmliche Faktor – jedenfalls in der Form, wie er erzeugt wird –, zum (nach der Vorstellung seiner Anhänger einzigen) Motor des Wunders der menschlichen Existenz geworden ist. Bei näherer Überlegung erscheint dieser Gedanke lächerlich, zu kindisch, um wahr zu sein. Nichts jedoch ist wirklicher. Es ist genau dieser Drogeneffekt, dieses Suchtgefühl, dieses alberne persönliche Geltungsbedürfnis, das Wettrennen um immer virtuellere Besitztümer, es ist diese besessene, auf alles Überflüssige zielende Gier, was den Sinn unzähliger Leben zerstört und jenes unsägliche Leiden schafft, das die Schicksale entstellt und ruiniert, Schicksale, von denen jedes einzelne von einem Individuum, einem einzigartigen Bewußtsein, durchlebt wird.

Es herrscht also eine fixe Idee, aus einer atavistischen Regung hervorgegangen, die auf den Besitz, auf die Anhäufung von Gütern ausgerichtet war, heute aber fehlgeleitet ist, denn sie strebt nicht wie früher nach greifbaren Besitztümern, nach Vorgängen auf der Basis realer oder zumindest symbolischer Aktiva, sondern zielt auf die virtuellen Schwankungen der Spekulation und jener irrsinnigen Wetten.

Heute beruht Reichtum nicht mehr auf dem Besitz von mit Händen zu greifenden Werten wie Gold oder auch Geld: Er hat eine andere Richtung genommen, ist heute unbeständig, immateriell und bewegt sich – abstrakt und verstohlen – im Umfeld spekulativer Transaktionen und inmitten ihrer Flüchtigkeit. Er entspringt sehr viel stärker dem spekulativen Auf und Ab selbst als den Gegenständen der Spekulation. Diese Gier, vom Rausch der Virtualität immer weiter entfacht, ist es, was das Verschlingen von allen und allem durch einige wenige verursacht – sie will universell, autonom und frei von jeglicher Kontrolle sein, und dabei kann sie sich nicht einmal selbst beherrschen.
Es ist diese dumpfe, zu wahnsinnigen Operationen führende Obsession, die das Schicksal des Planeten lenken möchte und die dieses Schicksal bedroht. Ein rohes, primäres, unsinniges Verlangen, weniger den Besitz zu genießen als den Besitzerinstinkt – zum Schaden von allem, was sich ihm in den Weg stellt oder ihn zu begrenzen droht.
Die Diktatur des Profits, die zu anderen Formen der Diktatur führt, verbreitet sich mit beunruhigender Leichtigkeit. Ihre Mittel sind von solcher Schlichtheit! Das unentbehrlichste unter ihnen, die Heimlichkeit, ist ihr von vornherein zugebilligt: Selbst wenn der Profit der Schlüssel zu allem und allgegenwärtig ist, so wird seine Allgegenwart offiziell immer ignoriert. So außer Zweifel steht, daß sie definitiv ist und im Grunde ganz gewöhnlich, daß darauf noch anzuspielen überflüssig scheint, daß es vor allem aber für beschränkt, rückständig, äußerst toricht und plump und geradezu vorsintflutlich marxistisch gehalten würde.

Das Recht auf Profit, immer im Hintergrund präsent, wird stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzt: als absolut, unwiderlegbar, im Grunde ein göttliches Recht. Während dieser Profit, noch immer in der Rolle der unerläßlichen Quelle des Überflusses und der Beschäftigung – der einzigen, die er akzeptiert –, nur der Pflicht zu genügen, besser noch, nur in aller Stille bescheidene Opfer zu bringen scheint. Diejenigen, die derart selbstlos von ihm profitieren, sind scheu, sie bleiben anonym und wachen darüber, niemals genannt zu werden. Größte Diskretion umgibt sie, wahrend im Gegenzug die schamlosen Wichtigtuer, die berüchtigten Schnorrer als die wahren Profiteure angeklagt und angeprangert werden: die Angestellten des öffentlichen Dienstes und ihre skandalösen Privilegien oder auch die Arbeitslosen, jene Nichtstuer, die Blutsauger der Nation, die Schande aller Statistiken, die den arbeitsamen Bürger verhöhnen und sich auf Staatskosten in der Sicherheit ihrer Beihilfen suhlen. Neben den Einwanderern, die uns das Fell abziehen, werden kaum weitere Nutznießer des Profits benannt, der übrigens gar nicht mehr auf den Namen "Profit" hört, noch weniger auf "Gewinn", sondern auf die Bezeichnung "Wertschöpfung".

Da sind sie also, die berühmten "Wertschöpfungen", die angeblich ihre Schätze ohne weiteres der gesamten Menschheit zuführen. Mit welcher Befriedigung, welcher Dankbarkeit, welchem Respekt wird von ihnen gesprochen, von jenen Wundern, die dank ihrer "Schöpfer" erschienen sind, der Führer der Privatwirtschaft, die sich plötzlich in wahre Zauberer verwandelt haben! Man denkt an den Zauberstab der Fee, an die Höhle von Ali Baba. Um was für Schöpfungen, um was für Werte handelt es sich? Um eine Bereicherung der Menschheit? Um wissenschaftliche, gesellschaftliche Fortschritte, gewaltige Werke? Um wesentliche Dinge, kostbare Gegenstände oder solche von großem Nutzen? Nein, sondern um Gewinne, die aus einer als rentabel angesehenen Produktion gezogen wurden. Um nichts anderes. Reale "Werte", die aber allein die "Unternehmer" und ihre Aktionäre bereichern. "Profitschöpfungen" wäre angemessener.

Schlagen sich diese Profite wenigstens in mehr Beschäftigung nieder? Werden diese "Werte" verteilt? Das wird doch unaufhörlich und spektakulär verkündet. Aber diese Bestimmung derartiger Gelder ist gründlich überholt: Die Unternehmen mit den größten Gewinnen entlassen munter drauflos; ihre Entscheidungsträger haben einen unwiderstehlichen Hang zur Senkung der Arbeitskosten. Warum in Beschäftigung investieren, entlassen bietet viel mehr Vorteile! Wir haben es gesehen, die Börse liebt das. Und was sie liebt, ist Gesetz.

Folglich gewinnt die Spekulation, versteckt, aber von den Märkten gehegt, die Oberhand. Wir haben gesehen, daß sich auf der Grundlage dieser "Wertschöpfungen" oder allein durch die Aussicht darauf tausend und eine wahnsinnige Spekulation entwickeln können, die für keine andere Produktion als die von eingebildeten, verrückten Kreisläufen, abgelöst von der Gesellschaft und jedem nicht-neofinanziellen "Wert", Interesse zeigt. Es sind ebenso virtuelle wie flüchtige "Wertschöpfungen", Spekulationen oder eher unsinnige Wetten, die die Grundlage für das bilden, was man weiterhin für die Wirtschaft hält, die immer als "Marktwirtschaft" bezeichnet wird – die in Wahrheit aber eine Pseudo-Wirtschaft ist, die Galaxien von der Sphäre der materiellen oder der geistigen Wertschöpfung entfernt liegt, von einem Reichtum, den Menschen brauchen und von dem sie zu Recht träumen.

Wenn diese virtuellen Reichtümer immer weniger menschliche Arbeit erfordern, immer weniger aus realen Vermögenswerten hervorgehen und immer weniger in diese investiert werden, so stehen ihre "Schöpfer", die Entscheidungsträger der Privatwirtschaft oder die Spekulanten (häufig sind sie identisch), doch nicht weniger im Ruf, zum Wohle aller sagenhafte Schätze entstehen zu lassen, die vermeintlich einen wahren Segen (im Sinne von Arbeitsplätzen) bedeuten und wie ein mächtiger Strom die Unternehmen nähren. Staatliche Vertreter aller Seiten aus allen Ländern feiern diese Wohltäter als die "dynamischen Kräfte der Nation", als die einzigen, die "Dynamik", "Mut" und "Phantasie" inmitten einer satten und zufriedenen Bevölkerung an den Tag legen, die sich auf der Sicherheit ihrer Sozialhilfe, ihres Arbeitslosengeldes, ihrer Dumping-Löhne ausruht, während unsere furchtlosen "dynamischen Kräfte" es allein "wagen", "Risiken einzugehen".

Welche Risiken denn? könnten bösartige Geister versucht sein zu fragen. Das Risiko, noch kolossalere Gewinne zu erzielen? Oder womöglich gar – wir erzittern! – ein bißchen weniger kolossale? Aber vergessen wir nicht die Risiken, die diese Perlen der Nation eingehen, wenn sie ihre Unternehmen vom Territorium ihres Staates verlagern oder ihr Kapital in ferne Länder transferieren!

Vergessen wir auch nicht das Risiko, das Schicksal der meisten anderen Lebewesen der Erde zu verderben und ihr Leben zu beschädigen, ihnen Sorge und Demütigung aufzubürden – ein Risiko, das gelegentlich sogar so weit geht, daß man diese anderen Wesen im wörtlichen Sinne auf die Straße wirft oder sie damit bedroht. Vergessen wir schließlich nicht das mit demselben schöpferischen Elan eingegangene Risiko, das allgemeine Elend zu vergrößern und die Hölle auf Erden zu schaffen. Aber all dies sind Herausforderungen, vor denen unsere schöpfungsfreudigen Kreuzritter niemals weichen würden. Sie halten sich fest im Sattel ...

Gelobt seien sie, die Ritter des Wettbewerbs, die Kämpen der Selbstregulierung, der Deregulierung, deren Kompetenz wir nur täglich preisen können! Die dankbare Nation ihren "dynamischen Kräften" ...

Profit? Sagten Sie Profit?

So müssen die Heimlichkeit des Profits, seine Herrschaft, seine Berechtigung nicht mehr begründet werden: Das ist von vornherein abgemacht, geregelt und wird auch von vornherein verschwiegen. Der überall unsichtbar präsente Profit ist doch überall unausgesprochen, wird überall ignoriert, operiert dabei aber im Zentrum aller Dinge – und ohne daß irgendeine bewußte Zustimmung dazu ausgesprochen würde oder auch nur erforderlich wäre. Er ist beherrschend wie ein heiliges Prinzip und regiert – nie benannt – als die Existenzberechtigung der Ideologie, die das Regime und dessen Obsessionen stützt.

Ein Beispiel für diese Obsessionen ist die Frage der Wettbewerbsfähigkeit. Unter den Behauptungen, die wie hieb- und stichfeste Argumente und in keinen Widerspruch duldendem Ton geäußert werden – in der Gewißheit, auf allgemeine, fraglose Zustimmung zu stoßen, da ihre Konsequenzen niemals überprüft werden –, ist sie eine der am häufigsten und auch am unbekümmertsten ins Feld geführten, denn Existenz, Einfluß und vermeintliche Konsequenzen dieser Wettbewerbsfähigkeit sind seit langer Zeit anerkannt.

"Die Wettbewerbsfähigkeit erfordert ...", "Die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit erlaubt nicht ...". Wie viele Entlassungen, Produktionsverlagerungen, abgesenkte oder eingefrorene Löhne, Personalbestandsreduzierungen, welche Verwüstungen der Arbeitsbedingungen, wie viele verhängnisvölle und perverse Entscheidungen sind nicht damit scheinbar gerechtfertigt worden! Und stets nur betrübte Stimmen, die ihr Bedauern darüber ausdrücken, diese radikalen Entscheidungen fällen zu müssen, die leider, leider die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit erfordert.

Was aber bedeutet dieses Wort eigentlich? Die Frage ist nie gestellt worden. Wer ist im Wettbewerb? Um welche Kämpfe handelt es sich? Um welche Rivalitäten? Worum geht es dabei? Wie stark, wie notwendig ist sie eigentlich, daß sie eine derartige Autorität besitzt, daß sie zugleich als schicksalhaft, unvermeidlich und als Schlüsselfaktor für die Marktwirtschaft ausgegeben werden kann, die wiederum als unerläßlicher Beweis der Demokratie angeführt und auch beansprucht wird? Welche Eigenschaft bewirkt, daß ihre von vornherein als beherrschend angesehene Rolle nie ausdrücklich benannt, nie analysiert wird, so daß die alleinige Nennung dieses Begriffs "Wettbewerbsfähigkeit" ausreicht, jede Diskussion, jede Infragestellung zu verhindern oder zu beenden? So daß alles ausschließlich in Abhängigkeit von ihr geplant, organisiert oder reformiert wird, ohne daß je die Rede davon wäre, sie selbst in Frage zu stellen? So daß wir im unklaren bleiben und das auch ganz normal finden und die Wettbewerbsfähigkeit schließlich mechanisch als Selbstzweck hinnehmen, als ein Gebilde, demgegenüber es keinerlei andere mögliche Reaktionen gibt, als sich ihrer Erhaltung zu unterwerfen? So daß am Ende die nächste Gewißheit auf der Hand liegt – nicht als Angebot, sondern als Gebot: Es ist zwingend notwendig, der eigenen Opferung zuzustimmen. Aber fragen wir noch einmal: warum und wozu? Mit welchem Ziel?

Eine Titanenschlacht scheint hier im Gange zu sein, ein gigantischer Malstrom der Unternehmen und Länder, die gegeneinander kämpfen, aber um was? Um patriotische Interessen oder Gefühle? Keineswegs: Die besagten Unternehmen sind zumeist Teile transnationaler Gesellschaften, manchmal gehören sie zu Gruppen desselben Landes, die dennoch wiederum einer größeren multinationalen Gruppe angehören und untereinander rivalisieren. Es kann sich auch um rivalisierende Gesellschaften innerhalb derselben Gruppe handeln. Die Art der Rivalität unter den Wettbewerbern wird übrigens kaum je näher benannt oder kommentiert: Jedes Mal wird ein einziges Unternehmen herausgestellt, nämlich dasjenige, das die dem allgemeinen Interesse entgegenstehenden, aber für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit unerläßlichen Maßnahmen ergreifen muß. Wenn es darum geht, umfassende politische Maßnahmen unter dem Vorwand der Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit zu verkünden und in die Wege zu leiten, so wird kein Unternehmen genannt, keinerlei Information über das, worum es geht, preisgegeben: Die Autorität des Begriffs reicht aus. Die fraglichen Gesellschaften verlieren sich dann in perfekter Wolkigkeit, und mangelnde Präzision wetteifert mit Intransparenz.

Geht es also vielleicht darum, die Bedingungen der menschlichen Existenz zu verbessern, sie zu stimulieren, vor allem die der Beschäftigung? Auch nicht. Das verbissene Opfern von Arbeitsplätzen erfolgt sehr häufig im Namen der Wettbewerbsfähigkeit, die willig den Vorwand für die Zerstörung sozialer Errungenschaften, für die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, für die Schließung von Betrieben und für die Zunahme, Fortführung und Intensivierung anderer negativer Maßnahmen liefert.
Geschieht es also, um mit dieser lästigen Wettbewerbsfähigkeit, deren Sicherung vielleicht nur eine einfache Phase, eine vorübergehende Krise darstellt, Schluß zu machen und sie überhaupt zu überwinden? Soll man sie opfern, um sie zu besänftigen, sie außer Kraft zu setzen? Soll man systematisch einer der rivalisierenden Gesellschaften zum Sieg verhelfen, um diese sinnlosen Rivalitäten ein für allemal zu beseitigen? Muß man erst erleben, wie sie alle zu einer einzigen fusionieren? Denn darum geht es! – und das ist die zentrale Frage: Wie soll man entscheiden, wer unter den Wettbewerbern der "Böse" ist, wenn man nicht selbst zu den Konkurrenten gehört? Und muß man dann den anderen "gut" finden? Wie soll man entscheiden, wer zu verteidigen ist, und wissen, welchem Lager man sich anschließen soll? Welchem scheint oder versucht jeder einzelne von uns anzugehören? Welche Seite ist die richtige für uns, wenn der Wettbewerb eine solche Rolle für das Geschick eines jeden spielt, aber gar nicht unter uns stattfindet? Werden diese Fragen je berücksichtigt? Über welche Informationen verfügen wir, um Antworten darauf zu finden? Werden die Namen, die Besonderheiten der Wettbewerber je erwähnt oder verglichen? Und die Unterschiede zwischen ihnen? Kurz, liefert man uns die Information, die eine Wahl erlauben oder einzelne Entscheidungen rechtfertigen würde?

Nein, denn es geht nicht um Wettbewerbsfähigkeit, sondern um die Wettbewerbsfähigkeit, ein ganz und gar selbstbezügliches Treiben. Die Wettbewerber sind gesichtslos, die Lager austauschbar. Ihr gegenseitiges Überbieten scheint sie eher zu verbinden; sie bilden untereinander eine Kaste. Die Ergebnisse ihrer Kämpfe haben nur auf ihre eigenen Interessen Einfluß, nur auf ihre privaten Wirtschaftskreisläufe. Wenn es verschiedene Lager geben soll, so gehört die Gesamtbevölkerung jedenfalls zu keinem, sie ist ihnen fremd, wie sie auch jener Wettbewerbsfähigkeit fremd ist, unter der sie leidet und deren Ziele ihr in Wahrheit feindlich sind. Die Wettbewerbsfähigkeit gilt unter Vertrauten, unter privaten Mächten, unter sich und im gemeinsamen Interesse der Rivalen. Sie bleibt ohne Verbindung zum Publikum, für das sie ohne Konsequenzen wäre, wenn die Kämpfer solcher Turniere diese nicht benutzten, um gegen das Publikum vorzugehen.

Aber, so wird man einwenden, haben diese Turniere nicht Konsequenzen für die allgemeine Wirtschaft, von der die Arbeitsplätze abhängen? Ja, die Pseudo-Wirtschaft steht auf dem Spiel, aber sie ist nicht mehr die Henne, die goldene Eier legt, die normale, fruchtbare Quelle der Beschäftigung, die von ihrem Wachstum abhängt. Wir haben es gesehen: Ihre Philosophie des Profits bringt sie im Gegenteil dazu, um so mehr Arbeitsplätze zu streichen, je mehr sie blüht. Blicken wir der Tatsache ins Auge, daß diese Arbeitsplätze für sie nicht mehr so unerläßlich sind wie noch vor kurzem, nicht einmal nützlich oder notwendig. Schlimmer noch, die Anwärter stören. Die verbleibenden Arbeitsplätze aber werden den glücklichen Gewinnern wie Manna gewährt, oder wie ein Almosen für Notleidende, wie eine Hoffnung, die sie das Inakzeptable akzeptieren läßt und sie ausgeliefert, unterworfen, ausbeutbar in ihrer Gewalt hält. Und sie betteln um Ausbeutung.

Unterbezahlte, "flexibel" gestaltete, in unsichere Tätigkeiten aufgesplitterte und in andere Länder verlagerte Arbeitsplätze: Sie sind ein Gral, der vorzugsweise den Fügsamsten angeboten wird, etwa den Bewohnern jener Länder, in denen man – noch immer erlaubterweise – mittelalterliche, barbarische Lebensbedingungen beobachten kann, Bedingungen, die von unseren Unternehmensführern erhalten und als vernünftig angesehen werden. Vor lauter Barmherzigkeit lassen sie in weit entfernten Regionen Kinder für sich arbeiten. Teure (aber nicht kostspielige) blonde Köpfchen, häufiger noch dunkelhaarige (hier wird einmal niemand rassistisch ausgegrenzt – eher einbezogen!), aus deren Arbeit sie in Regionen Nutzen ziehen, wo man unser lächerliches Getue nicht kennt, diese überholten Vorbehalte gegen die Kinderarbeit; eine wahrlich rückständige Sorge, mit der die "dynamischen Kräfte", die Vorkämpfer der Modernität, sich nicht belasten! Eine Avantgarde, die Gebräuche praktiziert, die aus dem Mittelalter stammen, und die sich bisweilen kühn bis ins 19. Jahrhundert wagt, jedoch alle, die sich einmischen und derlei Rückschritte verurteilen, der Rückständigkeit beschuldigt!

Denn worüber beklagen wir uns? Über Beschäftigungsmangel? Das ist ein Scherz! Zweihundertfünfzig Millionen Kinder müssen arbeiten, gebeugt unter schweren Lasten, sie erblinden beim Teppichweben mit kaum erkennbaren Fäden, zwängen sich in die schmalen Stollen von Bergwerken, müssen sich prostituieren. Sie sind erschöpft, von Armut gezeichnet. Wir empören uns bequem in unseren Sesseln, wenn wir auf unseren Bildschirmen das grauenhafte Leben von Kindern unserer Zeit sehen, denen die Kindheit geraubt wurde und die aufgegeben haben – ihr späteres Erwachsenenleben kann diese sinnlose Ungerechtigkeit nur verlängern (übrigens ein ausgezeichnetes Schauspiel, das den Zuschauer im Innersten erschüttert, bevor er sich die nächste Quiz- oder Unterhaltungssendung ansieht).

Solche Zwangsarbeit ist ebenfalls das Ergebnis von Entscheidungen, die die Entscheidungsträger privater Unternehmen getroffen haben. "Wettbewerbsfähigkeit" verpflichtet. Ob sie es auch in diesem Falle wagen, von einer "Notwendigkeit" zu sprechen? Ob sie es wagen, auf die Forderungen ihrer Aktionäre hinzuweisen? Aber genau das bedeutet "sich anpassen"! Und wir, was tun wir, außer es hinzunehmen? Außer als Konsumenten von der Arbeit dieser Kinder zu profitieren, die keine andere Kindheit gekannt haben werden als diese? Wie kommt es, daß wir – gerade aus dem egoistischen Blickwinkel – nicht merken, daß es sich dabei um die Bedingungen unserer eigenen Zukunft handelt und daß die Zukunft aller Kinder der kommenden Generationen bedroht ist?

Die Wettbewerbsfähigkeit dient als Vorwand für die unzähligen Exzesse, die in ihrem Namen begangen werden, und darüber hinaus für die ebenso brutalen, wenn auch weniger spektakulären Verschlechterungen der allgemeinen Arbeits- und Lebensbedingungen. Sie dient dazu, Ausbeutung als logisch, unerläßlich und – selbst in den Augen der Ausgebeuteten übrigens – vorteilhaft durchgehen zu lassen. Bei ihr geht es um nichts anderes als um Profit – den Profit um jeden Preis, dessen Rolle stets ungenannt bleibt, während die Gesamtbevölkerung sich mit seinen Interessen unbewußt zu verbünden und ihm recht zu geben scheint, und all das unter dem Deckmantel der Wettbewerbsfähigkeit, die absolute Priorität genießt und der sich zu beugen zugleich zwingend und ausweglos ist.

Unter dem Deckmantel der Konkurrenz geht es noch einmal darum, ein Wettrennen um unbeschränkte Gewinne anzufeuern, darum, die geringste Weigerung für unmöglich, das geringste Zögern für lächerlich zu halten. Und sich in das, was einen bedrängt, zu fügen, sich damit abzufinden, ja es sogar zu fordern. Es geht darum, als Zuschauer jenen Wettkämpfen beizuwohnen, wo jeder Kämpfer auf dem Kampfplatz die anderen übertreffen muß, bevor er selbst in der Ausbeutung der großen Masse übertroffen wird – mit dramatischen Auswirkungen: sozialen Tragödien, weltweiter Regression, dem Verlust jeder Vorstellung von Zivilisation, die zunächst geleugnet wird, dann völlig vernichtet zu werden droht.

Hier zeigt sich der allgemeine Betrug: Man sieht deutlich, daß zwischen den rivalisierenden Clans keine wirklichen Konflikte bestehen, sondern eine "Entente cordiale" [herzliches Abkommen]. Der Wettbewerb reduziert sich auf einen einfachen Wettstreit, der von den Privatclubs unter ihren Mitgliedern organisiert wird, innerhalb des Clubs und ohne jede Konsequenz auch außerhalb. Sicher, jeder gibt sich der Sache mit Überzeugung hin, im Gewinnfieber, aber das, worum es geht, ist vertraut, jeder bleibt in Wahrheit mit allen innerlich verbunden, und alle blicken in dieselbe Richtung. Die Wettstreiter sind durch die gemeinsame Zugehörigkeit zum Club untereinander verbündet. Der Club funktioniert um so besser, als diese Konkurrenzen, deren Ergebnisse keinerlei Auswirkungen auf das Gleichgewicht oder Ungleichgewicht ringsum haben, zu den wesentlichen Bedingungen seines guten Funktionierens gehören.

Der Wettbewerb ist nur ein abgekartetes Spiel zwischen denen, die vorgeben, er sei ihnen aufgezwungen, wobei jeder versichert, daß er ihm von genau jenen aufgezwungen wird, mit denen er sich in Wahrheit gut versteht – auch darin, daß weitergemacht wird. Das Wesentliche ist für sie, das zu erreichen, was ihnen, wie sie sagen, auferlegt wird: abwechselnd die Initiative zu jenen unsozialen Maßnahmen zu ergreifen, die weitere auf seiten ihrer Rivalen auslösen, die sie dann wiederum überbieten müssen; in Wahrheit könnte den Wettstreitern nichts gelegener kommen, da sie alle denselben Weg gehen, den einer permanenten ultraliberalen Politik, die ausschließlich eine Politik des Profits zu Lasten der Menschen verfolgt, denen sie ihrer Meinung nach überlegen sind.

All das sind die ultraliberalen Vorlagen, um die herum die anonymen Massen sich aufstellen sollen. Die Wettbewerbsfähigkeit, so wird ihnen eingeflüstert, sei ein äußerer Zwang, den die Privatwirtschaft erleide, welche ganz gegen ihren Willen dazu gezwungen sei, diesen allem und jedem feindlichen, aber unwiderstehlichen Zwang auf die Öffentlichkeit abzuwälzen. Alle, Mächtige wie Arme, seien aufgerufen, sich gemeinsam "anzupassen".

Daher die Aufforderung an das niedere Volk, sich den Mitgliedern des Clubs anzuschließen, zu staunenden Zuschauern ihrer Spiele zu werden und das Spiel als Schlachtenbummler sogar mitzuspielen, sich für ihre internen Auseinandersetzungen zu begeistern und – vor allem – sich mit Dankbarkeit ihrer Sache zu unterwerfen, die als eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses dargestellt wird, aber im Interesse des Profits allein liegt.

Man sieht, wie die gängige Methode funktioniert: als sicher ausgeben, was nicht bewiesen ist, aber Schweigen über das durchsetzen, was sicher ist.
Wesentlich hierbei ist, die Rolle des Profits zu verbergen, die Rolle der Politik, die er bewirkt, ihn bis hin zu seiner Existenz selbst vergessen zu machen, während er doch immer aufdringlicher wird, immer merklicher wirkt und Allmacht erlangt. In dieser Absicht werden die unangenehmen Risiken der Beschäftigung – Entlassungen, Flexibilisierung, Niedriglöhne und anderes – der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit zugerechnet, die als Vorwand dient, aber für die Beschäftigungssituation insgesamt kaum eine Rolle spielt. Ob der eine oder der andere der entlassenden Betriebe auf dem Turnierplatz den Sieg davonträgt, wird keinen Einfluß auf die Gesamtzahl der Arbeitsplätze haben, es sei denn, es handelt sich um eine Fusion oder eine Übernahme. Einfluß hat vielmehr die Propaganda, die um die Wettbewerbsfähigkeit gemacht wird, um damit leichter die Zustimmung zu einer zerstörerischen Beschäftigungspolitik zu erhalten, die zu einem völligen Verfall der Gesellschaft führt.

Eine bestimmte Art der Propaganda verschiebt die Gegnerschaft jener, die – in Wahrheit – das Joch des Profits erdulden, auf diese Rivalitäten und geht so weit, sie zu überzeugen, Partei zu ergreifen, von ihrem natürlichen Ziel abzulassen, um sich den Interessen des einen oder anderen ihrer Gegner und deren inneren Kämpfen anzuschließen. Das ist eine der Stärken dieser Methode, nämlich heimlich all jene in das System zu integrieren, die das System ausbeutet und die ihre Kräfte konzentrieren müßten, um sich gegen es zu stellen; jene, die man gleichzeitig auf Gedeih und Verderb ausliefern wird, davon zu überzeugen, daß es sich hierbei um ein natürliches Schicksal handelt. Sie zum leichtgläubigen (oder scheinbar leichtgläubigen – was nicht besser ist) Publikum wirtschaftlicher Wettkämpfe zu machen, die auf ihre Kosten zwischen Komplizen ausgetragen werden, die sich nur als Gegner ausgeben. Zwischen Gegnern also, die in Wirklichkeit verbündet und damit beschäftigt sind, diejenigen, die sie ausbeuten, dazu zu bringen, das Programm ihrer Ausbeuter nicht nur hinzunehmen und zu erleiden, sondern es auch noch zu unterstützen.

Denn die Bevölkerung dieses Planeten ist letztlich nur sehr schwer zu unterwerfen; es ist nicht leicht, sie dazu zu bringen, Dinge zu ertragen, die sie ruinieren, und auf das zu verzichten, was in langen Kämpfen errungen wurde; es ist nicht leicht, sie sich zurückentwickeln und derartige Zwänge erdulden zu lassen, ohne daß es zu einem explosiven Ausbruch kommt. Unter einem Regime, das sich noch auf die Demokratie beruft, muß man mit dieser Bevölkerung leben – und eine Frage unterdrücken, die, einmal ausgesprochen, vermutlich lauten würde: "Wie werden wir sie los?"

...

Kapitel 12

Widerstand leisten bedeutet zunächst: sich weigern. Dringlichkeit liegt heute in dieser Weigerung, die nichts Negatives hat, die ein unerläßlicher, ein lebenswichtiger Akt ist. Das Vorrangigste aller vorrangigen Dinge: den Terror der Ökonomie abzulehnen, sich aus der Falle zu befreien und dann Schritte nach vorne zu tun.

Dringlich ist nicht die unmittelbare Lösung von falschen Problemen, dringlich ist vielmehr, unmittelbar die wahren Probleme zu zeigen und gegen ihre Ursachen vorzugehen, ohne deshalb unbedingt bereits darüber entschieden zu haben, was dem, was man ablehnt, folgen wird. Die "Lösung" besteht nicht im Vorschlag eines anderen Modells, in einem fertigen Ersatzteil-Set, im Versprechen einer ganz neuen, sauberen, garantiert schlüsselfertigen Gesellschaft – wir wissen heute, was solche Modelle wert sind ...
Es geht auch nicht um ein Rezept, eine Gebrauchsanweisung, die für den Erfolg dieser Gegnerschaft bürgt, sondern darum, das Risiko einzugehen, das Nicht-Hinnehmbare abzulehnen. Versprechungen zu fordern, bevor man Widerstand leistet, bedeutet, der Idee des Widerstands selbst Widerstand zu leisten und das Spiel der bestehenden Macht mitzuspielen.

Wir kennen die tausend und eine Lösung, die jeden Tag, jede Woche, jeden Monat mit den bekannten Ergebnissen vorgeschlagen werden. Und jene Lösungen, die auf Probleme antworten, die so gestellt oder erfunden werden, daß sie der ihnen zugedachten Lösung entsprechen.

Nicht Antworten auf Fragen an das System, die das System selbst nahelegt oder stellt, sind unverzüglich zu finden, sondern vielmehr muß die Falle gesehen werden, die diese Antworten darstellen. Die Postulate und Weisungen, auf deren Grundlage sie formuliert werden – womit sie bereits im vorhinein legitimieren, worum gestritten wird – gelten nämlich bereits als Antworten.

Jeder Widerstand beginnt zunächst damit, daß dieser Teufelskreis erkannt und durchbrochen wird, denn aus dem Inneren dieses Systems ist keine Sichtweise außer seiner eigenen monomanischen, obsessiven möglich, die seine Propaganda verbreitet.

Eine Form dieser Propaganda versucht uns darauf zu konditionieren, die Aufdeckung des Terrors eher abzulehnen als den aufgedeckten Terror, versucht uns zu überzeugen, für jede angeprangerte Situation eine Patentlösung zu fordern oder zumindest gesicherte Heilmittel und Rezepte. Man denkt, wir seien empört über jede Feststellung, jede Kritik, die sich erlauben würde, gründlich und genau eine reale, nicht erfundene Wirldichkeit zu dokumentieren, die sich von jener beruhigenden Wirklichkeit unterscheidet, die uns ständig vorgekaut wird (damit wir uns nur keine Sorgen machen), indem man uns von der Sorge erzählt, die man sich um uns macht. Es herrschen offenbar erschwerende Umstände, wenn eine nüchterne Bestandsaufnahme nicht von Tröstungen, Wundermitteln und trügerischen Versprechungen begleitet wird, auf die wir vermeintlich nicht verzichten können.

All das sind Tricks, die entweder die sofortige Ersetzung des angeprangerten Modells durch ein anderes verlangen, das uns ebenso gebieterisch aufgezwungen wird; oder irgendwelche Notlösungen, die mit dem Ausmaß und dem Wesen des Übels nicht vereinbar sind, aber als ausreichend ausgegeben werden, oder die nach langen Fristen verlangen, die mit dem Nachdenken und der unerläßlichen demokratischen Konsensbildung über jeden Vorschlag notwendig einhergehen. Die Folge der Propaganda ist dabei – unter dem Deckmantel einer angeblichen Ungeduld –, alles, und sei es der Schatten einer wirklichen Reaktion auf die drohende Gefahr der Barbarei, zu verzögern, wenn nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag zu verschieben.

Diese Propaganda setzt auf die natürliche, aber ebenso kindische wie gefährliche Neigung, immer jenen dankbar in die Arme zu sinken, deren Lösungen unsere Sorgen beiseitewischen und das Problem gleich mit. Als wären wir unfähig, eine Übergangszeit zu überstehen, während der man die Last einer quälenden Frage tragen und erleiden muß, ohne sie bereits gelöst zu wissen; als wären wir außerdem unfähig, Partei zu ergreifen, ohne im voraus bereits die Garantie auf Durchsetzung unserer Ziele zu haben. Es handelt sich um eine Propaganda, die auf die individuelle Unlust setzt, sich einzubringen, sich verantwortlich für das zu fühlen, was man wünscht, sowie für das, was man ablehnt, und die sich hinter der Forderung verschanzt, erst alles über die Zukunft nach dem Terror wissen zu müssen, bevor man ihn ablehnt.

Nun geht es aber im Angesicht des Nicht-Hinnehmbaren nicht darum, bereits alle Strategien gefunden zu haben, die geeignet sind, der Sache Herr zu werden, und noch weniger darum, präzise eine für alle akzeptable Zukunft vorzuschreiben. Die erste mögliche Tat besteht, um es noch einmal zu sagen, in einer Weigerung. Und das bedeutet nicht, sich ins Blaue hinein zu bewegen, naßforsch Existierendes abzulehnen, ohne irgendwelche anderen Vorschläge zu machen. Der Vorschlag existiert: Er besteht darin, das Nicht-Hinnehmbare abzulehnen. Das Nicht-Hinnehmbare der "Welt, wie sie ist". Es geht darum, sich umzusehen und zu begreifen, wo wir stehen, wohin wir geführt werden könnten, in welchem Maße und wie schnell die Aufweichung aller Gesetze und die offiziell bewilligten Verirrungen heute den Sieg davontragen.
Wenn ein Brand schwelt oder ausbricht, denkt man dann schon über die Reparaturen nach, zeichnet die Pläne eines neuen Hauses, bevor man das Feuer löscht?
Es geht nicht darum, Luftschlösser zu bauen. Auch nicht darum, Projekte zu improvisieren, denn sie müssen zahlreich sein, aus verschiedenen Richtungen kommen und demokratisch vorgeschlagen werden, um dann ausführlich unter dem Gesichtspunkt unterschiedlicher "Empfindlichkeiten" und offen für Meinungsdifferenzen diskutiert zu werden. Es handelt sich um eine langsame, keinesfalls kurzfristige Arbeit.

Nun geht es aber darum, der Allmacht eines uniformen, weltweiten Regimes ohne Gegenmacht, das sich jeden Tag durch seine Räubereien, seine mehr oder minder verschleierten Gewaltstreiche stärkt und sich aus seinen eigenen Erfolgen nährt, unverzüglich entgegenzutreten. Dieses Regime ist bereits zu weit gegangen, und wenn es sich weiterentwickelt, besteht die Gefahr, daß es uns zu jenem Schlimmsten treibt, auf das es uns geradezu abrichtet, indem es alles, was dorthin führt, alltäglich erscheinen läßt.
Man kann es gar nicht oft genug wiederholen: Es hinzunehmen, daß Menschen als überflüssig angesehen werden und daß sie selbst so weit kommen, sich als störend zu empfinden, bedeutet zuzulassen, daß sich die Voraussetzungen für die schlimmstmögliche Entwicklung ausbreiten. Es ist keineswegs lächerlich zu behaupten, daß am Anfang aller Totalitarismen diese Verweigerung von gegenseitigem Respekt steht; sie ist es, die allen Faschismen den Weg ebnet; und auf diesem Wege breiten sie sich aus.

Überall und zu allen Zeiten haben potentielle Diktatoren gelebt, die nie in Erscheinung getreten sind oder nicht an die Macht gekommen, ja, ihr nicht einmal näher gekommen sind. Einer der Faktoren, die es ihnen erlaubt haben – einer winzigen Zahl unter ihnen –, Gestalt anzunehmen, hervorzutreten und, mit finanzieller Unterstützung, die Macht zu übernehmen und sie (niemals für lange Zeit) zu behalten, ist ein gewisses Klima gedankenloser Gleichgültigkeit, stillschweigender Zustimmung sowie der von vielen Menschen – solchen, die gern klein beigeben – geteilte Eindruck, nicht betroffen zu sein. Vielleicht auch das allgemeine Verlangen nach einer sofortigen Lösung, die andere ausführen werden.

Die Massen mögen hysterisch werden, wenn sie einmal vor vollendeten Tatsachen stehen – aber es ist nicht die vorgefaßte oder allmählich entstehende Überzeugung irgendwelcher Leute, die dem Totalitarismus erlaubt, Fuß zu fassen, es ist vielmehr die fehlende Überzeugung jener, die ihn identifizieren und ablehnen könnten.
Den Völkermord virtuell abzulehnen ist nicht genug. Er ereignet sich nicht aus heiterem Himmel: Er benötigt einen bereiteten Boden; und man muß ihm bereits im Vorfeld Widerstand leisten.

Wer duldet, daß irgend jemand offiziell oder halboffiziell, im Zuge der Verwaltung oder nach gewissen unausgesprochenen Codes diskriminiert wird, läßt damit Bedingungen zu, die zum Völkermord führen können.

Wer duldet, daß wem auch immer nur ein Haar gekrümmt wird, billigt bereits den Völkermord.

Ein Vorspiel zum Schlimmsten ist aber auch, wenn man es für belanglos hält, daß ein System Millionen und Abermillionen von Menschen, die unterhalb der Armutsschwelle leben, wenn nicht umbringt, so doch durch bewußtes Aufgeben zugrunde gehen läßt.

Die verschont bleiben können sich nicht vorstellen, was es hieße, im Körper jener zu leben, die leiden und immer nur leiden, ohne Aussicht auf anderes als weiteres Leiden – und nicht, weil sie es akzeptieren, sondern weil es akzeptiert wird. Es ist ihnen auch nicht wirklich klar, daß jede "Einheit", die die Zahl der Arbeitslosen oder der Armen in den Statistiken anwachsen läßt, ein Mensch ist. Daß die Menschen, die jene Zahlen darstellen, nicht an und für sich "Arme", "Hungernde", "Obdachlose", "Opfer" sind; daß es nicht ihre Aufgabe ist, dies zu sein, sowenig wie es die Aufgabe von irgend jemandem ist. Daß sie vielmehr jeder ein wirkliches Leben zu leben versuchen, vielleicht das Schwierigste überhaupt.

Niemand kann wirklich ausgeschlossen werden, aber die Vorstellung selbst beruhigt; sie hilft, die Hartnäckigkeit derer zu vergessen, die da weiter existieren in ihrer eigenen Welt, einer Welt, von der nur eine Art sozialer Wahnsinn behaupten kann, sie auf ihren Platz verwiesen zu haben. Das ist die Ausrede derjenigen, die diese Apartheid zulassen – und sei es ungewollt und eher mit einer Neigung zum Mitleid –, eine Ausrede, die letztlich aus der Illusion besteht, der Verbannte sei in gewisser Weise leidensunfähig und gegen alle Übel immun, die ihm in einer Welt angetan werden, zu der er offenbar nicht mehr gehört und deren Verwerfungen ihm fremd sind.
Es gibt immer gute, tugendhafte, vernünftige Gründe, grausam zu sein. Wie viele sanftmütige Menschen waren schon immer und überall von der Legitimität des Terrors überzeugt!

"Sie denken doch wohl nicht ...", sagen sie oder sagten sie im liebenswürdigen Ton, führen Sie ohne lange zu fragen als verirrtes Schaf zur Herde zurück und weigern sich, Sie für verdammenswert halten zu müssen. "Sie werden doch wohl nicht denken ..." – während Sie doch sehr wohl denken, und diese Möglichkeit sogar beanspruchen! "Sie werden doch wohl nicht denken, wir müßten all diese Einwanderer hier dulden?" Dies nun weniger im Ton einer Frage als in dem eines noch nachsichtigen Befehls, mit dem Unglauben, der Ihnen noch eine Chance läßt – aber die letzte –, nicht etwa Ihren Standpunkt zu äußern, sondern sich von allen möglichen Verirrungen loszusagen. Es geht vor allem darum, Ihnen zu verstehen zu geben, daß es nichts mehr zu diskutieren gibt, daß die Frage geklärt ist. Daß "die Welt, wie sie ist" sich schon um alles kümmert.

Es gibt sehr viel brutalere Sätze, Verbote, Handlungen und Grausamkeiten, aber dieser Satz entstammt einer so sanftmütigen Selbstgefälligkeit, daß er den Terror zementiert.
"Sie denken doch wohl nicht ..." Wie viele haben ihn, bequem eingerichtet in ihrer Selbstsicherheit, leutselig und gebieterisch zugleich in ihrer Gewißheit, im Alleinbesitz der Wahrheit zu sein, ausgesprochen – und waren dabei nicht nur überzeugt, sich nicht zu irren, sondern ihre Meinung in Übereinstimmung mit der Macht und der Voxpopuli noch für Jahrhunderte herrschen zu sehen.

Die Mehrheit und die Mächtigen in den Vereinigten Staaten waren sicher, man werde doch wohl nicht denken, daß die Schwarzen ein Anrecht auf dieselben Rechte haben wie die Weißen und daß die Verweigerung dieser Rechte nicht zur natürlichen Ordnung gehört; die reine realistische Menschlichkeit verbot es doch wohl zu denken, daß ... Manche haben es dennoch gedacht und die Sklaverei abgeschafft.

Aber nicht die Rassentrennung! "Sie denken doch wohl nicht ..." – ging es weiter – "daß die Kinder von Negern die Schulen von Weißen besuchen könnten, daß die Schwarzen womöglich ..." Streiks, Märsche, Boykotts, Demonstrationen und Weiße, die sich den Schwarzen anschlossen, haben bewiesen, daß man sehr wohl denken kann, daß ... "Ich hatte einen Traum", hat jemand gesagt, und es schien durchaus in die Kategorie der Träume zu gehören, die davon handeln, die Erkenntnis des Martin Luther King in die Realität umzusetzen, gemeinsam mit immer mehr anderen Menschen, häufig auch Weißen. Nun, heute ist diese Erkenntnis Gesetz, ist verbreitet und gültig. Diese Gültigkeit wurde ohne Gewalt gegen die Arroganz der Stärkeren erworben, die sich ihres guten Rechts ganz sicher waren und über alle Macht verfügten, was für die seit so langer Zeit von der Mehrheit unterdrückte Minderheit nie anfechtbar schien.

Die Abschaffung der Apartheid in Südafrika läßt das Ende des häufig so düsteren 20. Jahrhunderts in hellem Licht erstrahlen. Es ist ein vor kurzem errungener Sieg, wurde Nelson Mandela doch erst 1990 aus der Haft entlassen, nachdem er bereits 18 Jahre einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe im Gefängnis verbracht hatte. Im selben Jahr erreichte er die Aufhebung der Rassentrennung. Drei Jahre später machten ihn demokratische Wahlen, an denen sich nicht mehr wie zuvor nur eine Rasse beteiligen durfte, zum Staatschef, zum Führer seines Landes, aber auch zum Präsidenten seiner weißen Landsleute, die ihn und die Seinen lange Zeit als Untermenschen betrachtet und behandelt hatten und die jetzt gesetzlich zur selben Gruppe von Menschen gehörten.

Oft wurden im Zusammenhang mit der auch von Weißen angefochtenen Apartheid diese Worte gesagt: "Sie denken doch wohl nicht, daß ..." Aber ja doch, man kann sehr wohl denken! Und wissen, daß es, wenn auch nichts von vornherein jemals gewonnen oder verloren ist, gute Chancen gibt, das Nicht-Hinnehmbare zu beseitigen – allerdings nur, wenn es zuvor mit Überzeugung und ein wenig Vertrauen konstatiert und verworfen wurde.

Das Nicht-Hinnehmbare beginnt nicht erst mit dem Völkermord, der vielmehr eine seiner Konsequenzen darstellt, sondern weit früher. Alles andere ist eine abscheuliche Entschuldigung, nämlich die der Nazi-Kollaborateure, die sich freizusprechen glaubten, indem sie erklärten, nichts von der "Endlösung" gewußt zu haben. Damit haben sie es also normal gefunden, es normal gefunden zu haben, daß Männer, Frauen, Greise und Kinder den gelben Stern tragen mußten, daß sie von der Bevölkerung beschimpft und mißhandelt wurden, daß sie Razzien zum Opfer fielen, daß sie massenhaft in Lastwagen, Autobusse oder Eisenbahnwaggons geworfen, in Lager gesperrt, vertrieben und deportiert wurden. Die Kollaborateure fanden es normal, daß sie das als nicht ungewöhnlich empfanden, als eine Sache unter anderen, über die man sich erst ab dem Moment hätte empören müssen, als Menschen umgebracht wurden, und auch nur, wenn dies einer großen Anzahl von ihnen geschah.

Es geht hier selbstverständlich nicht darum, die heutige Zeit mit der NS-Zeit zu vergleichen. Es geht aber darum zu sehen, wie weit Blindheit gegenüber dem Schicksal anderer führen kann, wo die Ausreden enden, die man sich ausdenkt, um die schlimmsten Dinge rasch in die Kategorie der Nicht-Ereignisse einzuordnen. Das Schlimmste ist dabei übrigens nicht immer der Tod, sondern das in den Lebenden mißhandelte Leben.

Es geht darum, daran zu erinnern, daß angesichts der Dogmen, der Arroganz, der Überzeugungsmöglichkeiten der herrschenden Macht und ihrer Diener und Adepten, angesichts ihrer Gewißheit, auf ewig an der Macht zu sein und den Planeten in ihr eigenes Denkmal verwandelt zu haben, daß gerade gegenüber Diktaturen jede Form von Widerstand immer unvernünftig, verrückt und außerdem wie eine zugleich naive wie kriminelle und unnütze Irrlehre gewirkt hat. Und es soll daran erinnert werden, wie wesentlich es ist, sich immer das Recht zu nehmen, "wohl zu denken, daß ...". In der Demokratie wie unter der Diktatur. Der Beitrag der Demokratie und der Menschenrechte ist sehr wichtig, aber er hat nicht verhindert, daß der Kolonialismus als ein selbstverständliches Recht offiziell abgesegnet wurde und als solches einen integralen Bestandteil der allgemeinen politischen Weltsicht darstellt. Er verhindert nicht die gegenwärtigen Versuche, den gesamten Planeten zu kolonisieren.

Wir werden nie wachsam genug sein. Es gibt keine Grenzen für das, was kommen kann, wenn sich die reinen Seelen Absolution erteilen, um an den einen zu begehen, was sie bei den anderen nicht wagen würden, und wenn sie sich das Recht zubilligen, einen Teil der Menschheit für minderwertig zu halten. Wenn es keine Ethik gibt, gelten keine Grenzen mehr. Und auch dann nicht, wenn man es hinnimmt, daß auch nur einem Menschen auch nur ein einziges seiner Rechte verweigert wird. Und auch nicht, solange – unter dem übernommenen Begriff "Globalisierung" – jene ultraliberale Diktatur herrscht, die den Profit über die Menschen stellt.

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