Auszüge aus Christoph Butterwegge, Bettina Lösch, Ralf Ptak
"Kritik des Neoliberalismus"

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Einleitung

"Neoliberalismus" steht für eine seit den 1930er-Jahren entstandene Lehre, die den Markt als Regulierungsmechanismus gesellschaftlicher Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse verabsolutiert. Es handelt sich um eine breite geistige Strömung mit unterschiedlichen historischen wie länderspezifischen Erscheinungsformen, Strategievarianten und Praktiken. Eigentlich müßte man von "Neoliberalismen" sprechen, die sich auf verschiedene theoretische Ansätze und Konzepte zur Umsetzung stützen. Das gesellschaftspolitische Projekt des Neoliberalismus strebt nach einem Kapitalismus ohne wohlfahrtsstaatliche Begrenzungen.

Die meisten Repräsentanten des Neoliberalismus verwenden diesen Terminus nicht zur Selbstetikettierung, weil sie darin einen politischen Kampfbegriff oder ein Schimpfwort sehen. Auch unter seinen Kritiker(inne)n sind die Einfluß- und Handlungsmöglichkeiten des Neoliberalismus umstritten: Manche hielten sein Ende schon für gekommen, bevor er in der Bundesrepublik zur vollen politischen und gesellschaftlichen Wirkungsmächtigkeit gelangte. Bis heute bestimmt der Neoliberalismus die Tagespolitik, die Medienöffentlichkeit und das Massenbewußtsein hierzulande jedoch so stark wie keine andere Weltanschauung.

Träger und führende Akteure des neoliberalen Projekts sind allerdings schwierig auszumachen, weil sich höchstens ein kleiner, aber politisch einflußreicher Personenkreis dieser Denkrichtung zuordnet. Dabei verfügt der Neoliberalismus über prominente Vordenker – fast ausschließlich Männer –, die unterschiedliche Theoriestränge ausgebildet und mehrere Denkschulen begründet haben. Allein acht führende Vertreter dieses Spektrums erhielten zwischen 1974 und 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft. Das neoliberale Konzept wird auch von einflußreichen Meinungsmachern vertreten, die nicht nur unter den Marktradikalen von Unternehmerverbänden, des CDU-Wirtschaftsrates oder der FDP-Industrielobby zu finden sind. Selbst in Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und anderen sozialen Organisationen hat der Neoliberalismus überzeugte Anhänger/innen. Typisch für die gegenwärtige Situation ist, daß man neoliberale Argumentationsmuster im Einzelfall vertreten kann, ohne bewußter Parteigänger dieser Strömung zu sein.

Das neoliberale Denken ist in fast alle Lebensbereiche eingedrungen und seine Hegemonie, d.h. die öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus, deshalb nur schwer zu durchbrechen. Trotzdem regt sich immer häufiger Protest, weil die innere Widersprüchlichkeit des Neoliberalismus klarer zutage tritt und seine negativen Konsequenzen für die Gesellschaft, den Wohlfahrtsstaat und die Demokratie inzwischen unübersehbar sind.

In dem vorliegenden Buch setzen wir uns mit den theoretischen Grundlagen des Neoliberalismus auseinander und analysieren die wichtigsten Denkrichtungen. Darüber hinaus werden seine praktischen Auswirkungen im Hinblick auf die Verfaßtheit der Bundesrepublik beleuchtet. Ökonomie, (Sozial-) Politik und Demokratie stehen dabei im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit dieser Veröffentlichung wenden wir uns nicht nur an ein Fachpublikum, sondern auch an politisch Interessierte, die an einer kritischen Einführung in den Neoliberalismus, überzeugenden Gegenargumenten und alternativen Denkansätzen interessiert sind.

Um die Konsequenzen des neoliberalen Paradigmas zu verdeutlichen, haben wir einen Beitrag zur Privatisierung in den Band aufgenommen. Schließlich stellt die Forderung nach Liberalisierung und Deregulierung unterschiedlicher Handlungsfelder ein Kernelement der neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik dar. Die lange Liste der Privatisierungsobjekte reicht mittlerweile von Kindergärten über (Hoch-) Schulen bis zu Krankenhäusern und Altenheimen, von kommunalen Wohnungsbeständen über Nahverkehrsbetriebe bis zu Museen sowie von der Flugsicherung über Haftanstalten bis zum Gerichtsvollzieherwesen, läßt also selbst traditionelle Hoheitsaufgaben des Staates nicht mehr unangetastet. Vormals gemeinwirtschaftlich organisierte Sektoren, die Beschäftigung sichern, Versorgungssicherheit gewährleisten und soziale Schieflagen ausgleichen sollten, werden ebenfalls Strategien der privaten Gewinnmaximierung unterworfen.

Herzlich bedanken möchten wir uns bei Tim Engartner, der das zuletzt genannte Thema abgehandelt, bei Martin Ohliger, der die notwendigen Recherchearbeiten erledigt, sowie bei Frank Engelhardt, der uns als Lektor mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Karen Ehrhardt wiederum kümmert sich verlagsseitig mit großem Engagement um die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für das Buch. Anerkennung gebührt auch jenen nicht namentlich erwähnten Personen, die uns in anderer Weise unterstützt haben.

Grundlagen des Neoliberalismus

Zweifellos ist "Neoliberalismus" einer der schillerndsten Begriffe unserer Zeit. In der internationalen Diskussion steht er für die Kritik und das Unbehagen gegenüber einer entwurzelten Ökonomie im globalen Maßstab. Diese negative Deutung ist noch ein relativ junges Phänomen, obwohl der Neoliberalismus auf eine 70-jährige Geschichte zurückblicken kann. Zwar diskutierte man schon in der "alten" Bundesrepublik während der 50er-und 60er-Jahre über die marktoptimistischen Positionen der neoliberalen Stichwortgeber von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard. Auch das neoliberale Wirtschaftsprogramm des chilenischen Diktators Augusto Pinochet fand zusammen mit seiner Verfassung der Freiheit um die Mitte der 1970er-Jahre internationale Beachtung. Formuliert hatten es die "Chicago-Boys", eine Gruppe radikaler neoliberaler Wirtschaftswissenschaftler um den Nobelpreisträger Milton Friedman an der Universität in Chicago, die das lateinamerikanische Land unter diktatorischen Bedingungen zum ersten realen Großversuch des Neoliberalismus werden ließen. Gleichwohl blieb der Neoliberalismus damals im Kern ein Spezialthema wenig einflußreicher akademischer Zirkel.

Das änderte sich in den 90er-Jahren, als die Folgen jenes internationalen Politikwechsels offen zutage traten, der zu Beginn der 70er-Jahre eingeleitet worden war. Die Liberalisierung der Finanzmärkte und die Flexibilisierung der Wechselkurse der nationalen Währungen, die Intensivierung des Freihandels, der massive Rückbau der Sozialstaaten sowie eine Wirtschaftspolitik, die auf die einseitige Verbesserung der Angebotsbedingungen von Unternehmen zielt, hatten die Konturen einer neuen Wirtschafts- und Sozial(un)ordnung geformt und sichtbar werden lassen. Überall auf der Welt waren und sind die Auswirkungen des neuen Paradigmas zu spüren – wenngleich in unterschiedlicher Qualität und Quantität. Mit der neoliberalen Globalisierung vollzog sich insofern nicht nur eine Verallgemeinerung der sozialen und ökonomischen Probleme, sondern auch eine Internationalisierung der Diskussionen über die Ursachen dieser Neuordnung der Welt.

Am Ende des 20. Jahrhunderts avancierte der Neoliberalismus zur dominanten Ideologie des Kapitalismus, deren Leitsätze international den Referenzrahmen für die Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik vorgeben. Dabei ist der Machtanspruch des Neoliberalismus total und universell – total im Sinne einer umfassenden Entpolitisierung des Gesellschaftlichen und universell im Hinblick auf seinen globalen Geltungsanspruch. Wider diese Totalität hat sich im zurückliegenden Jahrzehnt eine breite internationale Bewegung gegen das Vordringen neoliberaler Politiken formiert – der Neoliberalismus wurde zum negativen Inbegriff des entfesselten, global agierenden Kapitalismus. Für die Gegner der Kritiker, etwa den Leiter des Wirtschaftsressorts der Zeit, Uwe Jean Heuser, ist deshalb "der Begriff des Neoliberalen (...) hoffnungslos politisiert und seiner ursprünglichen Bedeutung entfremdet" worden. In seiner als "Einführung" ausgegebenen Verteidigung des Neoliberalismus spricht Gerhard Willke gar vom "Elend der Neoliberalismuskritik", um diese als völlig unangemessen erscheinen zu lassen.

Tatsächlich hat die Popularisierung des Begriffs "Neoliberalismus" diesen zu einem politischen Schlagwort werden lassen, dem heute verschiedenste Bedeutungen zugewiesen werden. Die einen sehen darin eine rein ideologische Bewegung, andere verstehen darunter ausschließlich die expansionistische Politik der US-amerikanischen Supermacht, und wieder andere erkennen im Neoliberalismus einen allgemeinen Trend zur Ökonomisierung der Gesellschaft. Diese Bedeutungsvielfalt ist allerdings charakteristisch für ein politisches Schlagwort und sagt zunächst nichts über die Qualität der Kritik am Neoliberalismus aus, wie dessen Verteidiger suggerieren wollen. Sie kennzeichnet auch andere Schlüsselbegriffe, z.B. die "Soziale Marktwirtschaft", welche ihrem theoretischen Ursprung nach ein Konzept des deutschen Neoliberalismus der 1940er-Jahre war und heute im Bewußtsein der Bevölkerung mit unterschiedlichsten wohlfahrtsstaatlichen Arrangements verbunden wird.

Um ein tieferes Verständnis des Neoliberalismus zu gewinnen, bedarf es einer mehrschichtigen Betrachtung. Der folgende Überblick der historischen und theoretischen Grundlagen des Neoliberalismus beginnt mit einer Beleuchtung seiner Ursprünge. Die historische Einordnung zeigt, daß der Neoliberalismus kein abstraktes theoretisches Projekt, sondern aus spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen heraus entstanden ist und unter veränderten Bedingungen immer wieder modifiziert und erweitert wurde. Im nächsten Schritt werden die zentralen Aspekte der neoliberalen Theorie vorgestellt, die im Kern allerdings ebenso unumstößlich sind wie das ihr zugrunde liegende Menschenbild. Abschließend widmen wir uns dem Neoliberalismus als Projekt der (Regierungs-) Praxis, seinem konkreten Programm wie seiner Strategie und Taktik.

Daß die 70-jährige Geschichte des Neoliberalismus hier nur exemplarisch und nicht in all ihren räumlichen und theoretischen Facetten diskutiert werden kann, versteht sich von selbst. Ziel ist es, wichtige Grundpositionen herauszuarbeiten, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung des deutschen Neoliberalismus gerichtet ist. Diese spezifische Strömung, welche durch die wirtschaftlichen Aufbauerfolge der frühen Bundesrepublik in den 50er- und 60er-Jahren lange Zeit großen Einfluß im neoliberalen Spektrum hatte, wird aufgrund der gegenwärtigen Dominanz der angloamerikanischen Strömung oft unterschlagen oder als völlig eigenständiger Ansatz betrachtet. Zu Recht hat der ehemalige FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff jüngst eine neoliberale Zuschreibung für Ludwig Erhard als herausragender politischer Persönlichkeit dieser Zeit reklamiert:

Wie eng sich Erhard mit den sittlichen Grundlagen liberalen Ordnungsdenkens verbunden fühlte, hat er wohl am eindrucksvollsten in seinem Bekenntnis zum "Neoliberalismus" ausgesprochen.

Unsere Analyse der neoliberalen Originalliteratur berücksichtigt insbesondere die Arbeiten Friedrich August von Hayeks, der von 1899 bis 1992 lebte: zum einen, weil er über ein halbes Jahrhundert lang eine Schlüsselfigur des Neoliberalismus war, und zum anderen, weil er wie kein anderer Wissenschaftler die intellektuelle Gesamtheit des neoliberalen Projekts verkörpert.

Die Ursprünge des Neoliberalismus

Neoliberalismus bedeutet neuer Liberalismus. Aber was ist daran eigentlich neu? Und worin besteht der Bezugspunkt, der das Neue vom Alten abgrenzt? Seine Feinde sind eindeutig: der Wohlfahrtsstaat in all seinen Erscheinungsformen und mehr noch alle Spielarten des Sozialismus, der aus neoliberaler Sicht die Mutter allen Übels der Moderne ist. Sein Bezugspunkt ist der alte Liberalismus in Gestalt des Wirtschaftsliberalismus, der allerdings auch kein Freund von Staat, Politik und Sozialreformen war. Zu ihm pflegt der Neoliberalismus eine Art Haßliebe. Einerseits stützt sich der Neoliberalismus auf wesentliche Annahmen der ökonomischen Klassik, etwa im Hinblick auf die innere Funktionsweise des Marktmechanismus oder das individualistische Menschenbild. Andererseits zieht der Neoliberalismus seine Legitimität gerade aus der Abgrenzung zum alten Liberalismus eines Adam Smith, Bernhard de Mandeville oder David Hume. Seine Kritik hebt in erster Linie auf die unzureichende institutionelle Umrahmung und Sicherung des marktwirtschaftlichen Prozesses ab, die erst durch die Krisen des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sichtbar wurden. Die langfristige Durchsetzung und dauerhafte Stabilisierung der Marktgesellschaft ist deshalb das Kernanliegen des Neoliberalismus. Er stellt in diesem Sinne keine neue Erscheinung, sondern eine modernisierte und erweiterte Variante des Wirtschaftsliberalismus in der Tradition von Klassik und Neoklassik dar.

Die Weltwirtschaftskrise 1929/32 als Geburtsstunde des Neoliberalismus

Der Erste Weltkrieg steht nicht nur für den Beginn einer barbarischen Verteilungsschlacht um die ökonomische, politische und militärische Vorherrschaft in der Welt, sondern markiert auch das Ende eines wirtschaftsliberalen Zeitalters, das (besonders in Deutschland und Japan) von der Dynamik nachholender Industrialisierung und außenwirtschaftlich von einer Phase intensiver Globalisierung geprägt war. In dieser Periode stieg Deutschland seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer der führenden, weltmarktorientierten Wirtschaftsmächte auf. Seine innere sozioökonomische Struktur hatte sich dabei grundlegend gewandelt, weg von der autoritär-liberalen hin zu einer ordnungspolitisch neu ausgerichteten korporativen Marktwirtschaft. Der Wandel wurde deutlich an der Herausbildung neuer Institutionen, die vor allem in der Etablierung eines ersten Systems sozialer Sicherung seit den 1880er-Jahren und der Regulierung marktwirtschaftlicher Prozesse durch wirtschaftspolitischen Interventionismus bestand. Mit der Entstehung der Weimarer Republik 1918/19 wurde dieser Trend im Rahmen der ersten deutschen parlamentarischen Demokratie noch einmal verstärkt. Damit verschoben sich die politischen Kräfteverhältnisse. In der Folge wurden die sozialen Rechte ausgeweitet und erhielten erstmals Verfassungsrang. So wurde die (gesamt-) wirtschaftliche und betriebliche Mitbestimmung rechtlich verankert und damit ein Stück Wirtschaftsdemokratie geschaffen.

Diese Veränderungen, bestehend aus dem allgemeinen Trend zur Korrektur unerwünschter Marktergebnisse und der prinzipiellen politischen Option, über den Parlamentarismus Einfluß auf die Ökonomie zu nehmen, bestimmten nachhaltig die wirtschaftswissenschaftlichen und -politischen Debatten der 1920er-Jahre. Hinzu kam, daß die reale ökonomische Entwicklung der Zwischenkriegszeit – verstärkt durch die Folgen des Weltkrieges (v.a. Kriegsschulden und Reparationszahlungen) – von tiefgreifenden Krisen und drastischen Inflationsraten geprägt war. Unter dem Eindruck des neuen Phänomens der Massenarbeitslosigkeit wandten sich die Staaten zunehmend vom liberalen Ideal einer weltmarktorientierten Volkswirtschaft ab und richteten den Blick auf binnenwirtschaftliche Fragen. In England unter der Führung von John Maynard Keynes, aber auch unter deutschen Wirtschaftswissenschaftlern formierte sich eine neue Schule des systematischen, makroökonomisch fundierten Interventionismus, welche darauf abzielte, die krisenhafte kapitalistische Ökonomie aktiv durch Prozeßpolitik zu stabilisieren. Das mußte die liberal orientierten Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler auf den Plan rufen, von denen einige schon seit den 1920er-Jahren begonnen hatten, erste Konturen eines neuen Liberalismus zu umreißen.

Vor dem Hintergrund der Großen Depression seit Ende der 1920er-Jahre, die selbst zeitgenössische Ökonomen in dieser Wucht überraschte, vollzog sich dann endgültig ein Paradigmenwechsel in den Wirtschaftswissenschaften und der Wirtschaftspolitik. Der zeitgenössische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Emil Lederer schrieb 1932:
Der Kapitalismus bewältigt nicht mehr die ihm von der Entwicklung gestellten Aufgaben. (...) Damit ist der Augenblick nahegerückt, in dem eine planmäßige Ordnung der gesellschaftlichen Produktivkräfte unvermeidbar wird. Eine solche ist heute – als Aufgabe – durchaus lösbar.

Die Weltwirtschaftskrise zwischen 1929 und 1932 bildete also nicht nur den sozialökonomischen Hintergrund des politischen Zerfalls der Weimarer Republik, sondern sie beendete auch den seit der Klassik herrschenden Marktoptimismus in der Ökonomie. Insofern ist von einer "Epochenbedeutung der Weltwirtschaftskrise" zu sprechen, in deren Gefolge die politische Gestaltung und Intervention in den Markt zur allgemeinen Richtschnur fast aller kapitalistischen Staaten wurde, die sich in der Wirtschaftspolitik ab 1936 vornehmlich auf Keynes’ "General Theory" stützten.

Ein wesentlicher Grundgedanke dieser paradigmatischen Verschiebung war ein verändertes Krisenerklärungsmuster. Seither ging man in Wissenschaft und Politik mehrheitlich von der Annahme aus, daß endogene, in der Struktur des entwickelten Kapitalismus begründete Faktoren für die Instabilitäten des Wirtschaftssystems verantwortlich sind und nicht in erster Linie exogene Faktoren, wie es die neoklassische Annahme eines an sich störungsfreien Verlaufs der Marktökonomie unterstellt. Damit war ein Analyserahmen vorgegeben, demzufolge der Kapitalismus in seiner ausgereiften Form aus sich selbst heraus zur Stagnation neigt, d.h. das Wirtschaftswachstum langfristig abflacht und möglicherweise vollständig zum Erliegen kommt. Oder anders ausgedrückt: Der Kapitalismus ist ohne umfangreiche wie systematische wirtschaftspolitische Eingriffe nicht in der Lage, das ihm zur Verfügung stehende Produktionspotential auszuschöpfen.

Durch diese Entwicklung geriet die bis dahin von der Neoklassik und der subjektiven Wertlehre dominierte Wirtschaftstheorie unter massiven Druck. Ihre Analyse eines normalen, wenn auch besonders ausgeprägten Verlaufs der Konjunktur in der Weltwirtschaftskrise, der sich in einem schmerzhaften Anpassungs- und Reinigungsprozeß selbstregulierend auf ein neues wirtschaftliches Gleichgewicht zubewegen würde, konnte vor dem Hintergrund der Zähigkeit dieser Krise, ihrer politischen Folgen sowie der theoretischen Verschiebungen in der Nationalökonomie kaum mehr aufrechterhalten werden. Der britische Historiker Eric Hobsbawm:

Denn die Lektion, daß der liberale Kapitalismus der Vorkriegsjahrzehnte tot war, wurde fast überall in der Epoche der beiden Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise selbst von denen begriffen, die sich weigerten, ihm ein neues theoretisches Etikett anzuhängen. Seit den frühen 30er Jahren waren die geistigen Wortführer einer reinen Marktwirtschaft 40 Jahre lang eine isolierte Minderheit, einmal abgesehen von vielen Geschäftsleuten, deren Horizont es schon immer schwergemacht hat, das wohlverstandene Interesse ihres Systems insgesamt zu sehen.

Allerdings, so ließe sich ergänzen, war die fundamentale Niederlage des Wirtschaftsliberalismus zugleich der Ausgangspunkt einer langfristig ausgerichteten Gegenbewegung der Marktradikalen, die sich nun endgültig als Neoliberalismus zu formieren begann.

Erste Formierungen des Neoliberalismus

Die Entstehung des Neoliberalismus ist insofern auch eine Reaktion auf den global aufblühenden Keynesianismus, der in den westlichen Industrienationen vornehmlich als sozialdemokratische Reformpolitik Verbreitung fand. Die Antwort der liberalen Kritiker orientierte sich an Altbekanntem. Auf das offensichtliche Scheitern des Wirtschaftsliberalismus reagierte der neue Liberalismus mit einer erweiterten Neuauflage der exogenen (neo) klassischen Krisenerklärung, nach der allein äußere Faktoren – und nicht der Marktmechanismus selbst – für die Krise verantwortlich seien. Statt Marktversagen wurde die These vom Staats- und Politikversagen ins Zentrum der Analyse gerückt, die zur Kernaussage des neoliberalen Programms werden sollte. Diese Bewegung läßt sich gerade an der Entwicklung in Deutschland beispielhaft verdeutlichen. Dort formierte sich der Neoliberalismus, später aufgrund seiner ordnungspolitischen Präferenzen als "Ordoliberalismus" bezeichnet, in offener Gegnerschaft zur Weimarer Republik.

Ein scharfer Angriff der wirtschaftsliberalen Ökonomen Walter Eucken und Alexander Rüstow auf die Weimarer Republik bildete den Gründungsakt des deutschen Neoliberalismus. Eucken führte die Weltwirtschaftskrise in einem 1932 erschienenen Aufsatz maßgeblich auf den Einfluß der "chaotischen Kräfte der Masse" in Staat und Gesellschaft zurück. Dieser Einfluß habe, so die Argumentation, den Interventionsstaat heraufbeschworen und damit die Kräfte des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs zum Erliegen gebracht. Verantwortlich für die Erlahmung der Wirtschaft und die Massenarbeitslosigkeit sei die Entwicklung zu einem Staat, der zur "Beute" von "gierigen Interessenhaufen" werde. Auch Alfred Müller-Armack, später Staatssekretär von Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, sah im "interventionistische(n) Parteienstaat" der Weimarer Republik die eigentliche Ursache des Verfalls der gesellschaftlichen Ordnung.

Als Lösung des Problems favorisierten die neoliberalen Protagonisten in Deutschland – wohlgemerkt: 1932, vor dem Hintergrund des Aufstiegs der NSDAP – einen "starken Staat", der mir großer Machtfülle ausgestattet einem übergeordneten Gesamtinteresse Geltung verschaffen sollte, um so den Einfluß der Parteien und Gewerkschaften zurückzudrängen. Rüstow erwog gar die Außerkraftsetzung der gerade erst geschaffenen Demokratie, indem er in Anlehnung an den führenden Staatsrechtler im Nationalsozialismus, Carl Schmitt, "eine befristete Diktatur" empfahl, "sozusagen eine Diktatur mit Bewährungsfrist." Zweck dieses starken Staates sollte es sein, den Einflußbereich des Parlaments durch eine Trennung der beiden Sphären Wirtschaft und Gesellschaft massiv zu begrenzen und so wirtschaftspolitische Eingriffe zur Beeinflussung der Marktprozesse und ihrer Ergebnisse zu unterbinden. Sieht man einmal von der offenen Sympathie für ein (befristetes) diktatorisches Element ab, hat diese Art der Krisenanalyse bis in die Gegenwart Gültigkeit für die deutschen Neoliberalen. Die Kritik am ausufernden und fehllenkenden Interventionssaat ist eine allgegenwärtige Grundfigur der neoliberalen Ideologie, die eng mit der Kritik an der parlamentarischen Demokratie verknüpft ist. Aber dazu später mehr.

Nachdem zu Beginn der 1930er-Jahre erste Problemstellungen des neuen Liberalismus aus einer staatstheoretischen, demokratiekritischen und kulturpessimistischen Perspektive benannt waren, formierte sich der deutsche Ordoliberalismus während des Nationalsozialismus allmählich zu einer wirtschaftswissenschaftlichen Richtung, die sich das Ziel setzte, allgemeingültige Ordnungsgrundsätze für eine Wirtschaftspolitik in der Marktwirtschaft zu formulieren – durchaus mit Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Der Kreis um Eucken wurde zum Ausgangspunkt und theoretischen Rückgrat des deutschen Ordoliberalismus. Da sein räumliches Zentrum in Freiburg (Breisgau) lag, ging er als "Freiburger Schule" in die ökonomische Theoriegeschichte ein. Während die "Freiburger" in den 1930er-Jahren die Grundlagen einer Theorie der Wettbewerbsordnung entwickelten, arbeiteten Alfred Müller-Armack sowie die Exilanten Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke am Programm einer "widergelagerten Gesellschaftspolitik" zur Stabilisierung der Marktwirtschaft. Obwohl in dieser Entstehungsphase nur wenig unmittelbare personelle Verbindungen zwischen den verschiedenen Strängen des Ordoliberalismus bestanden, gelang es den Kreisen um Eucken, Röpke und Müller-Armack doch, sich und ihre Ideen nach 1945 als eine recht homogene Richtung zu präsentieren. Tatsächlich hat der deutsche Ordoliberalismus das erste relativ geschlossene marktwirtschaftliche Programm des Neoliberalismus vorgelegt. Nicht zuletzt deshalb war er nach 1945 in Westdeutschland so erfolgreich.

Der Neoliberalismus war allerdings von Beginn an eine internationale Bewegung, die sich über die entwickelten kapitalistischen Staaten ab den 1960er-Jahren auch in Entwicklungs- und Schwellenländern ausbreitete. Neben Deutschland formierten sich erste neoliberale Strömungen während der 1930er-Jahre vor allem in Österreich, England, Frankreich und den USA. 1937 erschien vom liberalen US-amerikanischen Publizisten Walter Lippmann mit An Inquiry into the Principles of the Good Society, kurz als "Good Society" bezeichnet, ein Buch, das Grundzüge eines erneuerten Liberalismus umriß und international viel Beachtung fand. Lippmann war auch der Namensgeber eines ersten internationalen Kolloquiums 1938 in Paris, das maßgebliche Vertreter der neuen Richtung versammelte, darunter die später führenden Köpfe des angloamerikanischen Neoliberalismus, Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises, aber auch die Ordoliberalen Röpke und Rüstow. Im Mittelpunkt ihrer Diskussionen stand die Aufarbeitung der Krise des (Wirtschafts-) Liberalismus, also letztlich die Frage, ob und wie sein Niedergang zu stoppen ist. Konkrete Themen waren u.a. das Problem der Monopole, die Folgen von Spekulationen auf Märkten, der Einfluß der Gewerkschaften und die Aufgaben des liberalen Staates. Im Rahmen des Kolloquiums wurde dann der Begriff des Neoliberalismus im heutigen Verständnis eingeführt.

Die Bemühungen um eine internationale Vernetzung und Formulierung einer ersten Agenda des Neoliberalismus wurden zunächst durch den Krieg unterbrochen. Im Frühjahr 1947 gründete sich unter der Führung von Hayek die nach ihrem Schweizer Tagungsort benannte Mont Pèlerin Society (MPS), die als Verein in den USA (Illinois) eingetragen ist. Die MPS entwickelte sich in der Folge zum bedeutendsten neoliberalen Elitenetzwerk der Welt mit gegenwärtig an die 1000 Mitgliedern aus allen Kontinenten und etwa 100 vernetzten Denkfabriken. Als knappe programmatische Grundlage diente das 1947 vereinbarte "Statement of Aims", das neben wirtschaftsliberalen Prinzipien wie Privateigentum, Wettbewerb und individueller Freiheit die Notwendigkeit einer neuen Rolle des Staates betont, aber auch die Rückbesinnung auf das liberale Verständnis von Rechtsstaatlichkeit (in Abgrenzung zum Interventionsstaat) beinhaltet. Bernhard Walpen resümiert in seiner umfangreichen Untersuchung zur MPS:

Das vom britischen Ökonomen Lionel Robbins verfaßte Statement ist die breiteste Plattform des Neoliberalismus. Es fand die Zustimmung der bedeutendsten Vertreter, sogar der beiden inhaltlich am weitesten auseinander liegenden Theoretiker Alexander Rüstow und Ludwig von Mises.

Das neoliberale Selbstverständnis

Was Walpen hier andeutet, verweist auf die große programmatische wie strategisch-taktische Bandbreite des Neoliberalismus. Entgegen der gerade in Europa verbreiteten Annahme, der Neoliberalismus kennzeichne eine bestimmte Form des angloamerikanischen Kapitalismus, ist er weder eine rein US-amerikanische Erfindung noch eine neue Erscheinung. Im Gegenteil liegen die Wurzeln für eine Modernisierung des Liberalismus – wie gezeigt wurde – in verschiedenen Ländern, nicht zuletzt in Europa und hier vor allem in Österreich und Deutschland. Daraus entwickelten sich verschiedene Hauptströmungen des akademischen Neoliberalismus, die als theoretische Stichwortgeber bis in die Gegenwart von Bedeutung sind: zum einen die durch die "Österreichische Schule" (auch "Wiener Schule" genannt) um Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek sowie die "Chicago School" um Milton Friedman geprägte angloamerikanische Variante; zum anderen die "Freiburger Schule" und der Ordoliberalismus, die einen deutschen bzw. kontinentaleuropäischen Weg des Neoliberalismus prägen konnten. Im Laufe der Jahre kamen neue Strömungen hinzu, etwa die Theorie kollektiver Entscheidungen (Public-Choice-Ansatz), die Theorie rationaler Entscheidungen (Rational-Choice-Ansatz) oder die Theorie der Eigentumsrechte (Property-Rights-Ansatz).
Insofern kann man weder von dem Neoliberalismus noch von einer geschlossenen theoretisch-ideologischen Konzeption des Neoliberalismus sprechen. Vielmehr haben sich vor dem Hintergrund unterschiedlicher staatstheoretischer Leitbilder, verschiedener Traditionen des Liberalismus sowie länderspezifischer Entwicklungen in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften nationale und auf den Zeitgeist abgestimmte Richtungen herausgebildet, die in bestimmten historischen Situationen nach Maßgabe der jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen mit unterschiedlichem Erfolg Einfluß auf Regierungsentscheidungen zu nehmen versuchten. Hayek hat diese Wandlungsfähigkeit des Neoliberalismus, die Teil seiner evolutionären Betrachtung von Gesellschaft und Wirtschaft ist, bereits 1944 hervorgehoben:

Die Grundsätze des Liberalismus enthalten keine Elemente, die ihn zu einem starren Dogma machten, und es gibt keine strengen Regeln, die ein für allemal festständen. Das Hauptprinzip, wonach wir uns in allen Stücken so weit wie möglich auf die spontanen Kräfte der Gesellschaft stützen und so wenig wie möglich zu Zwangsmaßnahmen greifen sollten, kann in der Anwendung unendlich variiert werden.

Insgesamt stellt der Neoliberalismus eine durchaus heterogene internationale Strömung der Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie dar, deren verbindendes Ziel, eine zeitgemäße Legitimation für eine marktwirtschaftlich dominierte Gesellschaft zu entwerfen und durchzusetzen, unter verschiedenen politischen und ökonomischen Bedingungen verfolgt wurde und wird. Es zeigt sich, "daß der Neoliberalismus selbst kein Singular, sondern ein Plural ist, der über einer Basis gemeinsamer Grundbestandteile sehr vielfältige Ausprägungen kennt. (...) Er bildet ein widersprüchliches Ensemble von wissenschaftlichen, insbesondere ökonomischen Theorien, staatlichen und zivilgesellschaftlichen Politikformen, Konzernstrategien und Selbst-Praktiken." Gerade diese Flexibilität hat sich historisch als große Stärke des neoliberalen Projekts erwiesen.

Ein weiteres Kernelement des neoliberalen Selbstverständnisses ist sein ausgeprägtes Freund-Feind-Denken. Mises hatte schon Anfang der 1920er-Jahre begonnen, mit scharfer Polemik die sowjetische Planwirtschaft und gemeinwirtschaftliche Ansätze in den westlichen Industrieländern gleichermaßen zu attackieren. In der Nachkriegszeit sollte diese antisozialistische Grundhaltung zum Fixpunkt der neoliberalen Formierung werden, bei der vor allem Röpke und Hayek die Leitlinien im Kampf gegen den "Kollektivismus" vorgaben. Für die Neo- und Ordoliberalen, ausgestattet mit dem Selbstverständnis einer militärischen Formation, verlief hier die entscheidende Frontlinie im Kampf um die zukünftige Wirtschaftsordnung im Nachkriegsdeutschland:

So befinden wir uns in der Lage einer Armee, die einen Teil ihrer Schützengräben im Angesicht des Feindes ausbauen muß – eine Lage, die uns höchste Eile und Arbeitsintensität zur Pflicht macht.

In seinem berühmten Buch Der Weg zur Knechtschaft, dem wichtigsten neoliberalen Werk der Nachkriegszeit, sprach Hayek vom "ideologischen Krieg", in dem "wir die anständig gesinnten Elemente in den feindlichen Ländern für uns gewinnen wollen".

Im Mittelpunkt des politisch-ideologischen Angriffs stand die als Kampfbegriff verwendete Formel des "Kollektivismus". Darunter faßte Röpke praktisch die Gesamtheit der politischen und ideologischen Bewegungen und Phänomene des 20. Jahrhunderts, die er für die wirtschaftlichen Krisen ebenso verantwortlich machte wie für die beiden Weltkriege, wie er 1948 in einem diffusen Definitionsversuch schreibt:

Die Verantwortung für das Wirtschaftsleben dem Staate anvertrauen, heißt: Kollektivismus.

Der "Kollektivismus" stand begrifflich insoweit für ein völlig indifferentes Bündel gesellschaftlicher und politischer Erscheinungen, einzig und allein zusammengeführt durch die Negation des Individualismus. Die ideologische Funktion war dafür umso deutlicher, ging es doch darum, Nationalismus und Sozialismus in unmittelbare Beziehung zueinander zu setzen. Die sozialistische Planwirtschaft wurde ebenso wie die keynesianische Vollbeschäftigungspolitik mit der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft identifiziert.

Gesamtwirtschaftliche Planung – in welcher Form auch immer – mußte zwangsläufig, so lautet(e) die Botschaft aller Neoliberalen, in einer Gesellschaft voller Unfreiheit, Gewalt und Zwang, letztlich in einer Diktatur enden. "Kollektivistische Wirtschaft kann immer nur Kommandowirtschaft und nichts anderes sein, daran ist nichts zu rütteln." Darin sah Röpke zugleich den "schlechthin entscheidende(n) Einwand gegen jeden Kollektivismus: Er bedeutet unerträgliche Staatsallmacht, gerade weil es an der notwendigen Allwissenheit des Staates fehlt, und er ist mit einer liberal-demokratischen Struktur der Gesellschaft schlechthin unvereinbar, so sehr, daß er nur mit Hilfe eines totalitären, autokratischen Staates zu verwirklichen ist." Dies ist auch gemeint, wenn Hayek vom "Weg zur Knechtschaft" spricht und das Buch den "Sozialisten in allen Parteien" widmet.

Schon hier wird deutlich, daß der "Kollektivismus"-Vorwurf von Röpke und Hayek letztlich für die Übertragung des Totalitarismus-Ideologems (der Gleichsetzung von sozialistischen Bewegungen bzw. Parteien und Nationalsozialismus) auf den wirtschaftspolitischen und -wissenschaftlichen Raum, gewissermaßen für "die ökonomische Variante der Totalitarismustheorie",33 stand. Den Neoliberalen ging und geht es nicht um eine rationale wissenschaftliche Debatte, sondern um die Herabsetzung und Diskreditierung des Gegners an der politisch-ökonomischen Front. Seine Dynamik und einen beträchtlichen Teil seiner Identität bezieht der Neoliberalismus, so der emeritierte Berliner Ökonom Hajo Riese,

aus seiner Opposition gegen wesentliche Zeitströmungen (...). Diese Frontstellung erklärt sein kämpferisches Element.

Die Neoliberalen betrachten sich als einsame, unerschrockene Kämpfer gegen die Skeptiker und Kritiker des freien Marktes. Viele der originären neoliberalen Publikationen zeugen von einem Selbstbezug, der bisweilen autistische Züge annimmt. Zu Recht weist der katholische Sozialethiker Egon Edgar Nawroth in seiner fundierten Untersuchung zu den wirtschafts- und sozialphilosophischen Grundlagen des Neoliberalismus darauf hin,

daß es den Neoliberalen nicht so sehr um eine ernsthafte Diskussion der aufgeworfenen Probleme, sondern mehr oder weniger um ein Gespräch zwischen den eigenen vier Wänden geht, das sich im wesentlichen darin erschöpft, die eigenen Thesen ständig zu wiederholen und grundsätzliche Einwände mit Schweigen zu übergehen.

Aus dieser kämpferischen und gleichermaßen dogmatischen Haltung folgt ein weiteres Moment, das für das Verstehen des Neoliberalismus von Bedeutung ist: seine disziplinübergreifende und langfristige Orientierung. Neoliberalismus ist mehr als eine Wirtschaftstheorie, die ökonomische Vorgänge aus einer marktwirtschaftlichen Perspektive beobachtet, analysiert und prognostiziert. In ihm bündeln sich – ausgehend vom ökonomischen Zentrum – philosophische, rechts- und politikwissenschaftliche, soziologische und historische Stränge zu einem strategischen Projekt der Durchsetzung einer individualistischen Marktgesellschaft. Hier haben die Neoliberalen von Beginn an Realismus bewiesen, indem sie ihr Projekt auf Jahrzehnte anlegten. Das erforderte nicht nur die Entwicklung einer glaubhaften Utopie im Sinne von Lippmanns "Good Society", sondern auch eine Strategie zur langfristigen Beeinflussung von Staat und Öffentlichkeit. Aber widmen wir uns zunächst dem theoretischen Rahmen des Neoliberalismus.

Markt, Staat und Wettbewerb in der neoliberalen Theorie

Um den Neoliberalismus theoretisch einordnen zu können, ist es zunächst wichtig, einen kurzen Blick auf sein Verhältnis zur Klassik und zur Neoklassik zu werfen. Für die Glaubwürdigkeit eines neuen Liberalismus war es unabdingbar, ein theoretisches Programm zu entwerfen, das sich von seinen Vorläufern unterscheidet. Der schmale Grat, auf dem sich der neu formierte Liberalismus bewegen konnte, wurde von Wilhelm Röpke schon 1942 klar umrissen:

Der Kampf gegen den Kollektivismus (...) hat ja nur dann greifbare Erfolgsaussichten, wenn es uns gelingt, das liberale Prinzip so zu reaktivieren, daß wir für alle heute offenbaren Schäden, Ausfallerscheinungen und Fehlleistungen des historischen Liberalismus und Kapitalismus befriedigende Lösungen finden, ohne damit die innere Struktur des marktwirtschaftlichen Konkurrenzsystems und die Funktionsfähigkeit unseres Wirtschaftssystems anzutasten.

Klassischer Wirtschaftsliberalismus

Neoklassik und Neoliberalismus

Gegenüber dem klassischen Wirtschaftsliberalismus grenzt sich der Neoliberalismus in erster Linie durch seine Kritik am Laissez-faire-Grundsatz ab. Der von den Erfindern des Wirtschaftskreislaufes, den französischen Physiokraten, im Absolutismus geprägte Begriff "Laissez-faire" steht für eine freie Entfaltung des wirtschaftlichen Geschehens ohne jedwede staatliche oder sonstige Eingriffe. Man solle die Dinge einfach laufen lassen, hieß es. Dieses Bild, das sich an ersten Erkenntnissen der Naturwissenschaft über die Eigenschaften des Blutkreislaufes orientierte, prägte das Denken der liberalen Klassiker in Bezug auf ihr Verhältnis von Staat und Wirtschaft. Sie bezeichneten die freie Marktwirtschaft in Anlehnung an Gottfried Wilhelm Leibniz als eine "prästabilierte Harmonie". Dennoch akzeptierten auch die Klassiker in der Praxis bestimmte Staatseingriffe. So kam das harmonische Bild einer Marktwirtschaft bei Adam Smith nicht ohne staatliche Regulierungen aus, denn auch sein begrenzter "Nachtwächterstaat" mußte über Steuern finanziert werden, um die Aufgaben der Verwaltung, Rechtsstaatlichkeit (zur Sicherung des Eigentums), Sicherheit und Bildung zu gewährleisten.

Aber für das Gros der Neoliberalen – eine Ausnahme bildet der einflußreiche Ludwig von Mises – unterschätzte die Klassik die ordnende Lenkung des Staates für das Funktionieren und die Stabilisierung des Marktmechanismus. Selbst der Mises-Schüler Friedrich August von Hayek sieht hierin einen Fehler:

Nichts dürfte der Sache des Liberalismus so sehr geschadet haben wie das starre Festhalten einiger seiner Anhänger an gewissen groben Faustregeln, vor allem an dem Prinzip des Laissez-faire.

Mit noch deutlicherem Akzent kritisierten die deutschen Neoliberalen die Zurückhaltung des Staates bei der Gestaltung des Marktes, wie es bei Walter Eucken heißt:

Wir wissen, daß sowohl die Wirtschaftspolitik im Zeitalter des Laissez-faire als auch in der folgenden Epoche der Experimente die Bedeutung und die Schwierigkeit des Problems, dem Wirtschaftsprozeß eine zureichende Lenkung zu geben – ein Problem, das mit der Industrialisierung in ein ganz neues Stadium eintrat – unterschätzte.

In seiner 1950 in der Zeitschrift ORDO erschienenen Hommage an den verstorbenen Kollegen Eucken bezeichnete es Franz Böhm, der später zu einem der einflußreichsten Wirtschaftspolitiker der CDU wurde, als den "entscheidendste(n) Fehler der Klassiker", daß sie "den Anteil der bewußten Kulturleistung an der Entfaltung der vorgegebenen Ordnungsmöglichkeiten weit unterschätzt" hätten. Alexander Rüstow, der am weitesten sozialliberal ausgerichtete deutsche Neoliberale, warf den Klassikern zudem vor, von einer sich selbst realisierenden sozialen Harmonie der Marktwirtschaft auszugehen, weshalb er die Klassik abfällig als "Paläoliberalismus" bezeichnete. So konnte der Neoliberalismus sein Konzept als "Dritten Weg" zwischen Laissez-faire-Liberalismus und kollektivistischem Sozialismus präsentieren.

Auch mit der Neoklassik, der bis heute standardmäßigen Lehrbuchökonomie, verbinden den Neoliberalismus sowohl weitreichende Übereinstimmungen als auch deutliche Distanz. Die Neoklassik hat sich ursprünglich von der Klassik dadurch abgesetzt, daß sie deren (Arbeits-) Wertlehre ablegte und auf Grundlage der Grenznutzenschule den subjektiven Nutzen der Konsument(inn)en im Angebot-Nachfrage-Modell ins Zentrum rückte. Damit liegt der Schwerpunkt ihrer Analyse auf dem Mechanismus des Austauschs ökonomischer Güter (in einem sehr weit gefaßten Sinne) zwischen voneinander unabhängigen individuellen Entscheidungseinheiten – im Gegensatz zur klassischen Ökonomie, die sich in erster Linie auf das Problem der Produktion und Verteilung des "Wohlstand(s) der Nationen" (Adam Smith) konzentrierte. Vereinfacht könnte man von einer Theorie des Tausches sprechen, in der mit strengen mathematischen Methoden optimale Marktzustände in Gestalt von Gleichgewichtsmodellen konstruiert werden. Der perfekte Zustand einer Marktwirtschaft ist das Konstrukt einer vollständigen oder auch vollkommenen Konkurrenz, in der vielen Nachfragern viele Anbieter gegenüberstehen, die dabei über optimale Informationen und damit Markttransparenz verfügen, sodaß ein gleichgewichtiges, effizientes Marktergebnis zustande kommt.

Der Charme dieser "Markt-Märchen" liegt darin, die Ökonomie als ein abstraktes, quasi neutrales Feld zu präsentieren, das ohne Bezug auf Zeit und Raum Universalität suggeriert und die Wirtschaftswissenschaft zu einer entpolitisierten Zone werden läßt. Ihr Realitätsbezug ist – zurückhaltend formuliert – gering, weshalb Michael Krätke der Neoklassik zu Recht Züge einer modernen Religiosität attestiert. Scheinbare Exaktheit und der hohe Grad an Formalität sollen das Modell unangreifbar machen, nicht zuletzt, weil es durch die stringente Mathematisierung selbst für viele Wissenschaftler/innen und Wirtschaftspraktiker/innen nur schwer nachvollziehbar ist. Manche Neoliberale – nicht zuletzt die Ordoliberalen – haben diese Vorstellung eines perfekten Wettbewerbs lange Zeit geteilt.

So benennt Walter Eucken in seinen Grundsätzen der Wirtschaftspolitik, die bis heute als Lehrbuch im deutschsprachigen Raum große Verbreitung finden, als erstes konstitutives Prinzip der zu verwirklichenden Wettbewerbsordnung, daß "die Herstellung eines funktionsfähigen Preissystems vollständiger Konkurrenz zum wesentlichen Kriterium jeder wirtschaftspolitischen Maßnahme gemacht wird." Dabei war Eucken natürlich bewußt, daß die vollständige Konkurrenz lediglich ein theoretisches Ziel ist, dem man sich in der realen Wirtschaftspolitik nur begrenzt annähern kann, was ihn allerdings nicht daran hinderte, den neoklassischen Idealzustand von Wettbewerb zum Orientierungspunkt zu erklären. Seit den 1970er-Jahren haben die meisten Neoliberalen von dieser mechanischen Vorstellung eines perfekten Wettbewerbs jedoch Abstand genommen und sich dem angloamerikanischen Konzept eines dynamischen Wettbewerbs angeschlossen. Schnittpunkte zwischen Neoliberalen und Neoklassikern bestehen neben der grundsätzlichen Übereinstimmung im Hinblick auf die positive Lenkungswirkung der Marktwirtschaft in weiteren Grundfragen, so in der Konzentration auf die Analyse von Tauschvorgängen oder in der Preisbestimmung durch die relative Knappheit der Ressourcen.

Ein Widerspruch zwischen den beiden Lehren besteht dagegen in der Legitimation des Marktes. Im neoklassischen Denken wird die Überlegenheit der Marktwirtschaft mit ihrer technisch-organisatorischen Effizienz begründet. Die Marktwirtschaft sei deshalb eine ideale Wirtschaftsform, weil sie durch die optimale Kombination der Produktionsfaktoren für das bestmögliche Ergebnis unter der Bedingung relativer Knappheit sorgen kann. Dieses Effizienz-Argument beruht im Ursprung auf einem utilitaristischen (d.h. nutzenorientierten) Verständnis menschlichen Handelns. Demnach sind Menschen stets ihren individuellen Nutzen maximierende Wesen, die mit einer in sich konsistenten wie statischen Präferenzstruktur ausgestattet sind. In der Theorie wird so aus dem Homo sapiens der "Homo oeconomicus", der sich seiner Präferenzen und Interessen bewußt ist und stets danach handelt, weil er über die rationalen Fähigkeiten einer effektiven Umsetzung verfügt. Aus der Summe aller Einzelnutzen ergibt sich dann ein gesellschaftlicher Gesamtnutzen, dessen Maßstab die berühmte Grundregel des Utilitarismus von Jeremy Bentham ist: "das größte Glück der größten Zahl".
Der Neoliberalismus steht in zweifacher Hinsicht im Widerspruch zum neoklassischen Effizienzverständnis:

1.       will er das Kosten-Nutzen-Kalkül nicht auf die ökonomische Sphäre begrenzt wissen, sondern es auf alle Bereiche des menschlichen Verhaltens ausdehnen. Dieser "ökonomische Imperialismus" findet sich im Rational-Choice-Ansatz, der insbesondere durch die Arbeiten des Nobelpreisträgers Gary S. Becker geprägt wurde. Danach sind selbst private zwischenmenschliche Beziehungen letztlich nichts anderes als ein Tauschverhältnis. Ökonomischer Imperialismus – der Begriff stammt von Becker selbst – steht für ein Denken, das den Menschen und seine sozialen Beziehungen vollständig ökonomisiert und damit Marktverhältnisse totalisiert. Eine weitere Radikalisierung des Ökonomischen erfolgt im Rahmen des Public-Choice-Ansatzes. Darin wird das politische System in Gestalt der Demokratie als eine marktähnliche Institution aufgefaßt, in der die Interessen der Politiker/innen einerseits und der Wähler/innen andererseits in einer Angebots-Nachfrage-Konstellation zueinander stehen. Mit dieser Analyse der Politik als Quasi-Marktbeziehung erweitern die Neoliberalen die alte wirtschaftsliberale These vom Staatsversagen. Zugleich richtet sich der Neoliberalismus damit gegen die von der Neoklassik eingeräumte Möglichkeit eines Marktversagens, das ggf. durch staatliche Akteure beseitigt werden muß. "In der 'Marktversagens'-Lehre wird der Staat, verkörpert durch das demokratische Gemeinwesen, als die Institution angesehen, die 'Marktversagen' korrigiert", schreibt der Neoliberale Christian Watrin. "Dabei wird übersehen, daß unter realistischen Annahmen im demokratischen Prozeß selbst externe Effekte entstehen." Insofern könne "der politische Prozeß einzelnen Bürgern Kosten auferlegen, die in Analogie zu denjenigen zu sehen sind, die sich auf dem Markt als externe Effekte ergeben." Wenn aber die (staatliche) Politik dieselben Defekte hat wie ein Markt, ist es aus neoliberaler Sicht in jedem Fall sinnvoller, auf den Marktmechanismus zurückzugreifen, da er als effizientes Informationssystem die relativ beste Option zur Koordinierung gesellschaftlicher Belange darstellt.

2.       widerspricht das Verständnis einer technischen Effizienz von Marktwirtschaft der (sozial) philosophischen Einbettung der Ökonomie, die ein konstitutives Moment des Neoliberalismus bildet. Schließlich ist die neoklassische Effizienz an eine gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion gebunden, die sich an konkreten wirtschaftlichen Ergebnissen (Output) orientiert, die meßbar sein müssen. Das ist schon methodisch ein Problem und selbst mit erheblicher mathematischer Abstraktion nicht lösbar. Wichtiger noch: Was gemessen werden kann, wäre auch überprüfbar (Soll und Haben), wenn etwa im Sinne "des größten Glücks der größten Zahl" ein möglichst großer Wohlstand für alle eingefordert würde. Das von Hayek geprägte neoliberale Marktverständnis versucht nun aber gerade die (Ergebnis-) Offenheit der Marktwirtschaft ins Zentrum der Analyse zu rücken. Hayek bezeichnet die Marktwirtschaft deshalb als eine "spontane Ordnung", mit der wir uns noch ausführlicher beschäftigen werden. Zudem widerspricht ein allgemein formulierter Nutzen etwa im Sinne gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt der strikten liberalen Auffassung, wonach das Individuum unantastbar ist, mithin auch diejenigen Individuen, die nicht in "der größten Zahl" enthalten sind. Aber gerade dieser Individualismus ist die wichtigste Säule im neoliberalen Menschenbild.

Aus neoliberaler Sicht stößt die Neoklassik dort an Grenzen, wo sie mit der ihr eigenen Konzentration auf technisch-mathematische Details abstrakter Marktmodelle zwar eine formal geschmeidige reine Theorie artikulieren, nicht aber die gesellschaftliche Bedingtheit ökonomischer Prozesse erklären kann. Die reale Welt landet bei der Neoklassik in exogenen, außerhalb ihrer Modelle liegenden Annahmen und verkommt so zu einer abstrakten Datenwelt. Damit vernachlässigt die Neoklassik in sträflicher Weise eine Auseinandersetzung mit der normativen Dimension liberaler Wirtschaftstheorie, wie sie noch in der Klassik, insbesondere bei den schottischen Moralphilosophen, formuliert worden ist. Der Markt, so lautet die neoliberale Botschaft, ist nicht nur effizient, sondern mehr noch ein werteorientiertes, ethisches Prinzip. Die reine Theorie der Neoklassik taugt deshalb nicht für das Kernanliegen des Neoliberalismus, eine schlüssige Weltanschauung zur Verteidigung des freien Marktes zu formulieren.

Antrieb und Steuerung der Gesellschaft: Markt, Staat und Wettbewerb

Die neoliberale Rechtfertigung einer unbeschränkten Marktgesellschaft, die von einer Herauslösung und Verselbstständigung der Ökonomie gegenüber der Gesellschaft gekennzeichnet ist, kann man aus einer historischen Perspektive in zwei unterschiedlichen theoretischen Zugängen erfassen. Diese bilden gewissermaßen die Pole in der neoliberalen Theorie, ohne deshalb einen grundlegenden Gegensatz zu begründen:

1.       Der deutsche Neoliberalismus, der seine theoretischen Grundlagen unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Herrschaft geschaffen hat, will mit Hilfe der Macht eines starken Staates eine tatsächlich funktionsfähige, d.h. wettbewerbsintensive Marktwirtschaft organisieren. Aus der Marktwirtschaft soll eine "Veranstaltung" (Leonhard Miksch) des Staates werden. Obwohl dieser Ansatz unter den Bedingungen der 1930er-Jahre entwickelt wurde, ist er mehr als nur eine Fußnote der ökonomischen Theoriegeschichte. Das Bestreben, die Dynamik und Stabilität einer Marktwirtschaft durch die ordnende Hand des Staates zu gewährleisten, bildet ein Fundament der Ordnungspolitik, die in der deutschen und europäischen Wirtschaftspolitik auch in der Gegenwart großen Einfluß hat. In der populären Übersetzung wird dann von der Aufgabe der Wirtschaftspolitik gesprochen, die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen.

Damit ist gemeint, daß die Maßnahmen der Wirtschaftspolitik allein darauf ausgerichtet sein sollen, die Konstituierung und Sicherung von Märkten zu bewerkstelligen, nicht aber eigenständige Ziele wie beispielsweise Vollbeschäftigung zu formulieren und umzusetzen. Es handelt sich hier also keineswegs um einen Primat der Politik, denn Eingriffe in den Marktprozeß (z.B. die Korrektur von Marktergebnissen) selbst sind – zumindest vom theoretischen Ansatz her – nicht vorgesehen. Da der starke Staat in diesem Ansatz eine herausragende Position innehat, handelt es sich in seiner ursprünglichen Form eher um das Konzept einer autoritären Marktwirtschaft.

2.       Der andere, insbesondere durch Friedrich August von Hayek geprägte Ansatz konstruiert demgegenüber das Bild einer spontanen Ordnung von Märkten. Er baut auf eine sich selbst verstärkende Dynamik von Märkten, die sich historisch als überlegenes System herausgeschält hätten. Auch hier spielt der Staat durchaus eine Rolle, allerdings in wesentlich zurückhaltenderer Form, vor allem in Gestalt eines auf die Kernfunktionen beschränkten liberalen Rechtsstaates. Hayek fokussiert auf das Problem der Machbarkeit wirtschaftlicher Steuerung. Seine Verteidigung freier Märkte stützt sich in erster Linie auf die erkenntnistheoretische Annahme, wonach die Menschen aufgrund beschränkter Vernunft und mangelnden Wissens nicht in der Lage sind, komplexe wirtschaftliche Vorgänge erfolgreich zu lenken. Für Hayek sind Märkte weniger eine von Menschen geschaffene spezifische Ordnung als vielmehr – aufgrund ihrer überragenden Koordinierungs- und Steuerungsfunktionen – ein Selektionsergebnis der Evolution. Märkte sind überlegen, weil sie die Begrenztheit des Wissens überwinden können, und zugleich alternativlos, weil sie sich als menschengerechter, anonymer Mechanismus im evolutionären Prozeß durchgesetzt haben.

Der Markt als staatliche Veranstaltung

Es scheint auf den ersten Blick paradox zu sein, daß sich ausgerechnet Wirtschaftsliberale auf den Staat stützen. In der Tat ist das Verhältnis der Neoliberalen zum Staat zwiespältig, was sich in besonderer Weise bei den Ordoliberalen zeigt. Um die zwei Seiten des ordoliberalen Staatsverständnisses nachzuvollziehen, lohnt sich ein Blick auf den rechtskonservativen Staatsrechtler Carl Schmitt, auf den sich die frühen Ordoliberalen der Weimarer Republik immer wieder beriefen. Schmitt hatte 1933 in seinem berühmten Vortrag "Starker Staat und gesunde Wirtschaft" vor rheinischen und westfälischen Industriellen zwischen zwei Typen des "totalen Staates" differenziert. Zuerst nannte Schmitt jenen, der "ein besonders starker Staat" sei: "Er ist total im Sinne der Qualität und der Energie, so wie sich der faschistische Staat einen 'stato totalitario' nennt (...)." Die zweite Variante des "totalen Staates" war für Schmitt einer, "der sich unterschiedslos auf alle Sachgebiete, alle Sphären des menschlichen Daseins begibt, der überhaupt keine staatsfreie Sphäre mehr kennt, weil er überhaupt nichts mehr unterscheiden kann. Er ist total in einem rein quantitativen Sinne, im Sinne des bloßen Volumens, nicht der Intensität und der politischen Energie. Das ist allerdings der deutsche Parteienstaat. (...) Der heutige deutsche Staat ist total aus Schwäche und Widerstandslosigkeit, aus der Unfähigkeit heraus, dem Ansturm der Parteien und der organisierten Interessen standzuhalten."

Abzulehnen wäre folglich nur jener im Grunde schwache "totale Staat", der zum damaligen Zeitpunkt für den demokratischen Sozialstaat der Weimarer Republik stand, in dem Parteien und Gewerkschaften ihre demokratischen Interessen artikulieren und ggf. auch durchsetzen konnten. Der wirklich starke Staat – "total im Sinne der Qualität und der Energie" – wäre dagegen ein autoritärer Staat, der sich auf die Führung durch Eliten stützt und mit aller Macht eine liberale Wirtschaftsordnung verteidigt. An diesem Leitbild orientierte sich das Staatsverständnis der frühen Ordoliberalen. In einem Diskussionsbeitrag vor der Dresdner Tagung des Vereins für Socialpolitik 1932 hob Alexander Rüstow hervor:

Die Erscheinung, die Carl Schmitt im Anschluß an Ernst Jünger den "totalen Staat" genannt hat (...), ist in Wahrheit das genaue Gegenteil davon: nicht Staatsallmacht, sondern Staatsohnmacht. Es ist ein Zeichen jämmerlichster Schwäche des Staates, einer Schwäche, die sich des vereinten Ansturms der Interessentenhaufen nicht mehr erwehren kann. Der Staat wird von den gierigen Interessenten auseinandergerissen.

Die Ordoliberalen zogen daraus gerade nicht den Schluß der Entstaatlichung, sondern forderten im Gegenteil einem starken Staat, der das Gemeinwohl artikulieren und durchsetzen sollte. Dieser Staat habe die Aufgabe, so Walter Eucken, einem "einheitlichen Gedanken und Willen" folgend das "reine Staatsinteresse" zu repräsentieren.

Rüstow brachte diese Vorstellungen auf den Punkt:

Der neue Liberalismus (...) fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten.

Für liberale Toleranz blieb in dieser Frage kein Platz, denn "wer sich zu diesem starken Staat bekennt, muß liberale Wirtschaftspolitik wollen, und wer liberale Wirtschaftspolitik für richtig hält, muß den starken Staat wollen. Eines bedingt das andere." Während hier deutlich wird, daß das "reine Staatsinteresse" nur in einer liberalen Wirtschaftsordnung bestehen kann, blieb die Frage, wer darüber in der Gesellschaft eine Entscheidung treffen soll, unbeantwortet.

Aber für wen oder was sollte der starke Staat seine Macht einsetzen? Und wie ließ sich dies mit der scharfen liberalen Kritik am Weimarer Interventionismus vereinbaren? Die Lösung lag in einer Formel, die wiederum auf Rüstow zurückgeht. Er kam auf den genialen Gedanken, dem "punktuellen Interventionismus" der Weimarer Republik einen "liberalen Interventionismus" entgegenzusetzen. Diese neue Form des staatlichen wirtschaftspolitischen Eingriffs sollte "nicht entgegen den Marktgesetzen, sondern in Richtung der Marktgesetze" erfolgen und damit "zur Beschleunigung des natürlichen Ablaufs" beitragen. Damit hatte Rüstow tatsächlich eine neue Botschaft formuliert, wurde doch deutlich, daß sich der neue Liberalismus nicht mehr allein auf die Selbstregulierung des Marktes verlassen wollte, selbst wenn der Glaube an den "natürlichen Ablauf" unerschüttert blieb.

Aus diesem Grundgedanken entwickelte die Freiburger Schule noch in den 1930er-Jahren ihr Konzept einer organisierten Wettbewerbswirtschaft, das in der Schriftenreihe "Ordnung der Wirtschaft" veröffentlicht wurde. "Die Wettbewerbspolitik des Staates, deren Bedeutung die Klassiker nicht oder nicht genügend erkannt haben, rückt in den Mittelpunkt", formulierte Leonhard Miksch, führender Wettbewerbstheoretiker der "Freiburger", welcher in der frühen Nachkriegszeit zum wichtigsten Mitarbeiter und Berater Ludwig Erhards wurde: "Aus der 'Naturordnung' wird eine staatliche Veranstaltung." Weiter schrieb er: "Wir wissen heute (...), daß es unter allen Umständen die Aufgabe des Staates ist, die Wirtschaft zu ordnen, und zwar durch eine einheitliche und widerspruchsfreie Wirtschaftsverfassung. Ordnen heißt aber keineswegs zentral lenken und regulieren. Die freie, selbstverantwortliche Entscheidung der im Wirtschaftsprozeß tätigen Personen bildet den stärksten Kraftquell des Fortschritts."

Der Staat soll also die Marktwirtschaft "veranstalten", um ihr reibungsloses Funktionieren zu ermöglichen. Im Zentrum dieser staatlichen Aktivität steht dabei die Durchsetzung und Überwachung ordnungspolitischer Grundsätze als Aufgabe der Wirtschaftspolitik. Um den staatlichen Eingriffen eine systematische Grundlage zu geben, forderten die Ordoliberalen eine ordnungspolitische Gesamtentscheidung auf der Basis einer Wirtschaftsverfassung (durch Einzelgesetze oder als Teil der allgemeinen Verfassung). Die Idee einer Wirtschaftsverfassung, erstmals von Franz Böhm in die Diskussion gebracht, verdeutlicht eine zentrale Säule des deutschen Neoliberalismus: die institutionelle Absicherung des freien Marktes. Die theoretische Begründung dieser Absicherung durch eine ordnungspolitische Gesamtentscheidung lieferte Walter Eucken. Er entwickelte die Formel von der "Interdependenz der Ordnungen", nach der nicht nur eine Abhängigkeit zwischen den einzelnen ökonomischen Indikatoren, sondern auch zwischen der Wirtschaftsordnung sowie der politischen und sozialen Ordnung besteht. Eben deshalb muß für Eucken "vor jeder einzelnen wirtschaftspolitischen Maßnahme Klarheit darüber bestehen, welche Wirtschaftsverfassung im ganzen realisiert werden soll. (...) Mag es sich um eine sozialpolitische, eine handelspolitische oder sonst eine ordnungspolitische Maßnahme handeln: Jeder Akt kann nur dann einen Sinn gewinnen, wenn er im Rahmen einer Politik erfolgt, die auf Herstellung und Erhaltung einer gewissen Gesamtordnung ausgerichtet ist."

Wer wollte schon gegen eine solche Politik aus einem Guß sprechen? Schließlich bestätigt die Wirklichkeit tagtäglich, daß in einer dynamischen Ökonomie mit intensiver internationaler Arbeitsteilung bei permanenter Entwicklung der Produktivkräfte durch immer neue technologische Prozesse eine Vielzahl miteinander verwobener Probleme entstehen, deren wechselseitige Wirkungen auch bei einzelnen Maßnahmen berücksichtigt werden müssen. Diese Erkenntnis ist an sich einleuchtend. Erst wenn man sich das eigentliche Ziel der ordoliberalen Gesamtordnung vergegenwärtigt, erschließt sich der doktrinäre Charakter des Interdependenz-Postulates. Zwar erhebt Eucken in seinem 1940 erschienenen Hauptwerk Grundlagen der Nationalökonomie den Anspruch, eine unabhängig von Zeit und Raum gültige Theorie der Wirtschaftsordnungen zu entwickeln, um "das Ordnungsgefüge und damit den Aufbau der Wirtschaftsordnung einer jeden Epoche und eines jeden Volkes zu erkennen" sowie "ein geeignetes Werkzeug" zu besitzen, "um den konkreten wirtschaftlichen Alltag (...) einer jeden konkreten wirtschaftlichen Ordnung" zu erkennen. Aber im Ergebnis zeigt sich, daß die Gegenüberstellung der zwei möglichen Grundsysteme wirtschaftlicher Ordnung – Zentralverwaltungswirtschaft (Planwirtschaft) einerseits und freie Verkehrswirtschaft (Marktwirtschaft) andererseits – keineswegs eine offene Frage darstellt.

Gerade unter Hinweis auf die "Interdependenz der Ordnungen" stellt Eucken klar, daß es eine grundsätzliche Entscheidung nur zugunsten der Marktwirtschaft geben kann, weil ausschließlich sie mit menschlicher Zivilisation und ökonomischem Fortschritt vereinbar sei, sodaß die theoretische Alternative der Planwirtschaft eine nur scheinbare bleibt. Man kann deshalb Hajo Riese ohne Einschränkung zustimmen, wenn er feststellt, "daß Eucken nicht die Absicht hatte, eine Theorie der Funktionsweise von Wirtschaftsordnungen zu entwickeln, sondern daß er seine Ordnungstheorie schuf, um das Fundament der Rechtfertigung der freien Verkehrswirtschaft zu legen."

Letztlich ist die ordoliberale Formel von der "Interdependenz der Ordnungen" die erste theoretische Grundlage für die dann in den 1990er-Jahren popularisierte neoliberale Behauptung, daß eine freie, demokratische Gesellschaft nur mit einer freien Marktwirtschaft und privater Eigentumsordnung vereinbar sei.

Euckens Ordnungstheorie ist ein rein normatives Schema zur Verwirklichung einer ordnungspolitisch geformten Wettbewerbswirtschaft, die als "ORDO" bezeichnet wird.

Obwohl ihrer Meinung nach nur diese Ordnung "der Vernunft oder der Natur des Menschen und der Dinge" entspricht, zweifeln die Ordoliberalen an der allgemeinen Zustimmung zur freien Marktwirtschaft. Deshalb suchen sie nach institutionellen Regelungen, welche die Gesellschaft im Allgemeinen und die staatlichen Institutionen im Besonderen auf die Grundsätze einer Marktwirtschaft verbindlich festlegen. Die ordoliberale Idee einer eigenständigen Wirtschaftsverfassung zielt darauf ab, den Spielraum staatlicher Wirtschaftspolitik zu begrenzen und die übrigen Akteure des Wirtschaftsprozesses auf ein Handeln im Rahmen des Marktes zu verpflichten. Politik gegen den Markt soll auf institutionellem Weg ausgeschlossen werden.

Die Verteidigung der wirtschaftlichen Freiheit wurde im ersten ordoliberalen Programm so zu einer ausgeprägten Zwangsveranstaltung, "denn auch das Recht der freien Marktwirtschaft anerkennt die Freiheit nur im Rahmen der Ordnung." Franz Böhm ließ in der ersten programmatischen Schrift des Ordoliberalismus keinen Zweifel aufkommen, daß "bei einem Konflikt zwischen Freiheit und Ordnung dem Gesichtspunkt der Ordnung unbedingter Vorrang zu(kommt)." Das Maß und "die Möglichkeit, Freiheit zu gewähren", hingen "notwendig von der effektiven psychologischen Wirksamkeit der Ordnungseinrichtungen ab." Das Paradoxe daran war, daß die Ordoliberalen zwar eine Freiwilligkeit in den Marktbeziehungen anstreb(t)en – als notwendige Voraussetzung für die viel beschworene Innovationsfähigkeit und Leistungsbereitschaft einer dynamischen Wirtschaft –, aber wenig Vertrauen hatten, daß die "Wirtschaftssubjekte" die notwendigen Spielregeln der Wettbewerbswirtschaft tatsächlich akzeptieren und freiwillig einhalten würden.

So mutierte der Wettbewerb als Kernelement der ordoliberalen Wirtschaftsordnung zu einer Institution, die ohne Androhung staatlichen Zwangs nicht auszukommen schien.
Es (ist) da, wo sich der Staat der unmittelbaren Marktlenkung nicht bedient, Pflicht aller Beteiligten, sich dem Wettbewerb zu unterziehen. (...) Die Teilnehmer an einem freien Wettbewerb sind jedenfalls nicht berechtigt, auf Kosten anderer Wirtschaftsgruppen unter sich gegenseitig kollegiale Rücksicht zu nehmen und sich über eine Abschwächung des gegenseitigen Leistungskampfes zu verständigen, sondern es ist umgekehrt ihre Pflicht der Gesamtwirtschaft gegenüber, in den angespanntesten Leistungswettbewerb miteinander zu treten.

Zuwiderhandlungen müßten aus der Sicht Böhms eigentlich "als Sabotage oder Komplott" bezeichnet werden, wenngleich er beklagte, daß man im Bereich der Wirtschaftswissenschaften dafür so harmlos anmutende Begriffe wie "Kartelle, Marktregelung, genossenschaftliche Selbsthilfe" usw. erfunden habe.

Als eine Art Gegenleistung verspricht der originäre Ordoliberalismus eine Befreiung der Gesellschaft von wirtschaftlicher Macht (Monopole, Kartelle) in einer perfekt organisierten Marktwirtschaft. Denn, so behauptet Eucken, "nur in einer einzigen Marktform fehlt das Phänomen der wirtschaftlichen Macht fast völlig: nämlich bei der Verwirklichung der vollständigen Konkurrenz. (...) Oder – anders formuliert: Jeder hat nur eine so kleine Portion an Macht, daß sie unbeachtlich ist. Das Problem der ökonomischen Macht würde in einem solchen Lande praktisch nicht existieren." Dieses Freiheitsversprechen entpuppt sich jedoch als Trugbild, denn Eucken geht es nicht etwa um die öffentliche Kontrolle wirtschaftlicher Macht auf betrieblicher oder gesamtgesellschaftlicher Ebene und schon gar nicht um Sozialisierungen oder eine Einkommenspolitik, die Verteilungsungleichheit eindämmt oder große Vermögen belastet. Wirtschaftliche Macht ist bei Eucken von ihren gesellschaftspolitischen Folgen losgelöst und im Kern ein Problem mangelhafter Marktorganisation, die dazu führt, daß insbesondere durch (staatliche wie private) Monopole ungerechtfertigter Einfluß auf die Preisbildung genommen wird. Wenn aber im Rahmen einer funktionsfähigen Wettbewerbsordnung der Preismechanismus seine eigentliche Dynamik entfalten kann, erfolgt gewissermaßen automatisch die Nivellierung wirtschaftlicher Macht, weil die Preise dann zum Gleichgewicht tendieren.

Damit bestätigt der Ordoliberalismus im Prinzip das klassische Ideal einer "natürlichen Ordnung", die im Verständnis der "Freiburger" allerdings nicht das Produkt übersinnlicher Kräfte oder eines Naturgesetzes ist, sondern per wirtschaftspolitischer Gesamtentscheidung auf den Weg gebracht und durch konsequente Ordnungspolitik realisiert wird. Die Umsetzung soll durch eine Politik der Wettbewerbsordnung erfolgen, die Eucken nach "konstituierenden" und "regulierenden" Prinzipien unterscheidet. Während die konstituierenden Prinzipien (funktionsfähiges Preissystem vollständiger Konkurrenz, währungspolitischer Stabilisator, offene Märkte, Privateigentum, Vertragsfreiheit, Haftung, Konstanz der Wirtschaftspolitik) den Rahmen der Wirtschaftsverfassung festlegen, stellen die regulierenden eine Art Sicherung dar gegen "gewisse systemfremde Ordnungsformen" sowie "Mängel und Schwächen, die der Korrektur bedürfen", was auch bei "strenge(r) Befolgung der konstituierenden Prinzipien" nicht ganz auszuschließen sei. Das impliziert neben einer Monopolaufsicht die Option auf eine sehr begrenzt definierte Einkommenspolitik und bei einem – kaum erwarteten – anomalen Verhalten auf dem Arbeitsmarkt im äußersten Notfall die Festsetzung eines Mindestlohnes.

Aus heutiger Sicht ist der originäre Ansatz der deutschen Neoliberalen zumindest als geschlossenes Konzept gescheitert. Zwar haben wichtige Elemente wie das Instrumentarium der Ordnungspolitik, die Notwendigkeit starker Institutionen zur Absicherung der Marktwirtschaft und das Theorem von der "Interdependenz der Ordnungen" sowohl Einzug in die neoliberale Theorie als auch in den Mainstream der allgemeinen Wirtschaftswissenschaft gehalten. Aber das charakteristische Moment einer autoritären Struktur, die dem ordoliberalen Ansatz zugrunde liegt, konnte trotz vielfacher Modifikationen nicht überwunden werden. Das haben selbst Vertreter der nachfolgenden Generationen von Ordoliberalen wie etwa der Kölner Hans Willgerodt als Gefahr erkannt. Willgerodt, der den ordoliberalen Staat in der Rolle eines Schiedsrichters gegenüber den wirtschaftlichen Akteuren sieht, gibt zu bedenken, daß "ein Staat, der stark und funktionsfähig genug ist, die liberale Schiedsrichterfunktion auszuüben, auch stark genug sein kann, die Freiheit aller aufzuheben." Und Nils Goldschmidt, Forschungsreferent des Walter Eucken Instituts in Freiburg, stellt in einem Resümee zum Wirken der frühen Ordoliberalen fest:

Freiheit kann sich also erst in der Ordnung richtig entfalten – ein Blickwinkel, der eher der scholastischen Tradition entspricht denn der Freiheitsphilosophie Kants.

Zudem ist das Wettbewerbskonzept als Modell einer "veranstalteten" und zugleich freien Marktwirtschaft aufgrund seiner idealtypischen Annahmen in vielfacher Hinsicht angreifbar, abgesehen davon, daß schon rein logisch zwischen frei und veranstaltet ein eklatanter Widerspruch besteht. In diesem Punkt schadet dem originären Ordoliberalismus seine Nähe zur Neoklassik, denn die Verwirklichung der (oder Annäherung an die) vollkommene(n) Konkurrenz ist in der Realität jederzeit überprüfbar. "Wen können diese Modelle davon überzeugen, daß die reale Marktwirtschaft eine schlaue Sache ist?", fragt deshalb der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt und antwortet: "Tatsächlich sind sie doch Waffen in den Händen der Kritiker der Marktwirtschaft."

Obwohl auch die deutschen Neoliberalen den Wettbewerb und die freie Preisbildung vergöttern, haben sie in einem sehr grundlegenden Punkt Realismus bewiesen: Eine Marktwirtschaft muß politisch organisiert werden. "Die Marktwirtschaft", so Wilhelm Röpke, "wird zu einem Objekt ständiger aktiver Politik, was den Wortführern des neuen Liberalismus das Recht gibt, sich gegen eine Verwechslung mit den Vertretern des Laissez-faire zu verwahren."74 Demgegenüber setzt der evolutionäre Erklärungsansatz Hayeks auf eine vollständige Entpolitisierung des Marktes.

...

Gesellschaft und Menschenbild im Neoliberalismus

Die folgende Diskussion der neoliberalen Vorstellungen von Mensch und Gesellschaft stützt sich wie im Abschnitt zur spontanen Ordnung des Marktes überwiegend auf Texte von Hayek. Das hat einen einfachen Grund: Sein Werk bietet auch auf diesem Feld den umfassendsten Einblick in neoliberales Denken und ist eine Grundlage der darauf basierenden Weltanschauung. Methodisch wird hier ein exemplarisches Vorgehen gewählt, das diese Kernposition anhand einzelner Schlüsseltexte herausarbeiten will. Das beginnt mit Hayeks Theorie der kulturellen Evolution, in welcher er den Gedanken der Spontaneität als Ordnungsprinzip von der ökonomischen Sphäre auf die Gesellschaft als ganze überträgt. Zwar ist seine Vorstellung einer evolutionären Herausbildung von Markt und Gesellschaft im neoliberalen Lager nicht unumstritten.

Genannt sei nur James M. Buchanan, der sich einer vertragstheoretischen Konzeption verschrieben hat und damit die vernunftgeleitete Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Prozesse in gewissen Grenzen zugesteht. Gleichwohl bildet die Hayek’sche Position den maßgeblichen Referenzpunkt im Neoliberalismus. Das gilt in ähnlicher Weise für die neoliberale Interpretation von Individualismus und Freiheit, die nichts mehr mir den ursprünglichen Werten der liberalen bürgerlichen Bewegung gegen den Spätfeudalismus und den Absolutismus gemeinsam hat. Im letzten Abschnitt des Kapitels wird dann deutlich, daß das konkrete, an der Realität orientierte neoliberale Leitbild von Gesellschaft allein aus negativen Kategorien besteht: gegen den Interventions- und Wohlfahrtsstaat, gegen eine "unbeschränkte" Demokratie und gegen den Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit.

Der akademische Neoliberalismus welcher Schattierung auch immer hat zwar einzelne normative Vorstellungen, aber keine geschlossene Gesellschaftstheorie entwickelt. Das ist insofern erstaunlich, als der Anspruch, die Gesellschaft (i.S. der Realisierung einer Marktgesellschaft) zu gestalten, ein Kernanliegen des neoliberalen Projekts ist, und umso mehr, als dieser Anspruch während der vergangenen drei Jahrzehnte in beträchtlichem Maße Realität geworden ist. Dabei verfolgt der angewandte Neoliberalismus eine politische Praxis, deren Folgen den Zusammenhalt und die Lebensgrundlagen der Gesellschaft bedrohen oder zerstören. Zugespitzt formuliert, stellt der Neoliberalismus ein Projekt zur Auflösung der politisch organisierten Gesellschaft dar. Sein Thema ist allein die Ökonomie in einem weit gefaßten Sinne. Im Zentrum jedweder Analyse stehen fast götzenhaft der Markt, seine Struktur, seine Bedingungen und bestenfalls noch das ihn umgebende Umfeld. Insofern existiert die Gesellschaft im neoliberalen Weltbild nur als Rahmenbedingung des Marktes, als exogene Größe oder gar als Synonym für den Markt. Im neoliberalen Denken ist die Gesellschaft keine eigenständige Kategorie.

Am ehesten hat sich noch der deutsche Neoliberalismus konkreten gesellschaftspolitischen Fragen gewidmet. Sowohl Wilhelm Röpkes Idee einer sozialen "Strukturpolitik" als auch Alexander Rüstows Vorstellung von einer "Vitalpolitik" kennzeichnen diese Bemühungen zwischen den 1940er- und 1960er-Jahren. Aber auch wenn Röpke und Rüstow in ihren Hauptwerken mit klaren Worten Kultur- und Gesellschaftskritik am klassischen Wirtschaftsliberalismus üben, liegt der Fokus ihrer gesellschaftspolitischen Analyse doch darauf, gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu finden, die zur Stabilisierung der marktwirtschaftlichen Ordnung beitragen können. In seiner bis heute viel beachteten Anklage des Wirtschaftsliberalismus plädiert etwa Rüstow für ein "Gegengewicht starker umrahmender Integrationskräfte", und Röpke konstatiert an anderer Stelle:

Die Marktwirtschaft bedarf also eines festen Rahmens, den wir der Kürze halber den anthropologisch-soziologischen Rahmen nennen wollen.

Auffallend ist der bereits weiter oben diskutierte konservativ-autoritäre Zug im Menschen- und Gesellschaftsbild des Ordoliberalismus. In der ordoliberalen Vorstellung gleicht die gesellschaftliche Struktur einer Pyramide, an deren Spitze eine Führerschicht steht. Die Einteilung der Menschen in eine irrationale Masse, die (mißbräuchlich) über die Demokratie Marktkorrekturen erzwingt, und eine geistige Elite, welche die Führung übernehmen muß, um den interventionistischen Verfall von Wirtschaft und Gesellschaft zu stoppen, zeugt nicht nur von tiefem Kulturpessimismus und wenig Vertrauen in die Individualität der Menschen. Sie bringt den Ordoliberalismus auch in unmittelbaren Konflikt mit demokratischen Grundsätzen.

Demgegenüber wirkt Hayeks Verteidigung liberaler Grundwerte wie Individualismus und Freiheit in seinen umfangreichen sozialphilosophischen Schriften geschmeidiger. Das tiefsitzende konservative Element wie auch der autoritäre Charakter werden durch Hayeks permanente Selbstinszenierung als Hüter liberaler Werte auf den ersten Blick verdeckt. Aber schon seine Herleitung der Marktwirtschaft als spontaner Ordnung begründet ein Verhältnis struktureller Gewalt, denn Spontaneität steht hier für nichts anderes als die universelle Umschreibung unverrückbarer objektiver (Sach-) Zwänge. Diese Gewalt ist nicht (oder nur in Ausnahmefällen) der offene äußere Zwang einer autoritären Regierung oder eines (wohlmeinenden) Diktators. Sie ist nicht personell identifizierbar, weil sie durch die unpersönlichen Kräfte des Marktes ausgeübt wird, denn es sind die "anonymen Märkte", die soziale Einschnitte einfordern oder Massenentlassungen erzwingen. Dies hat den Vorteil, daß die dahinter liegenden Partikularinteressen der Reichen und Mächtigen überdeckt werden. Hayek baut auf die Verinnerlichung der Zwänge in den Subjekten, die sich den unverrückbaren Gegebenheiten anpassen sollen. Hayeks Individualismus steht deshalb für einen Prozeß der Anpassung, seine Vorstellung von Freiheit für Demut und Unterwerfung gegenüber den Marktverhältnissen.

Entsprechend umreißt Hayeks Definition von Gesellschaft gleichermaßen die herausgehobene Stellung des Marktes wie darauf begründete Zwangsverhältnisse. Die Gesellschaft

ist keine handelnde Person, sondern eine geordnete Struktur von Handlungen, die sich daraus ergibt, daß ihre Mitglieder gewisse abstrakte Regeln beachten. Wir alle verdanken die Wohltaten (der Marktwirtschaft, R.P.) (...) nicht irgendjemandes Absicht, sie uns zukommen zu lassen, sondern der Tatsache, daß die Mitglieder der Gesellschaft im allgemeinen gewissen Regeln gehorchen, Regeln, die die Regel einschließen, daß niemand auf andere Zwang ausüben darf, um sich (oder dritten Personen) ein bestimmtes Einkommen zu sichern. Das erlegt uns die Verpflichtung auf, die Resultate des Marktes auch dann zu akzeptieren, wenn er sich gegen uns wendet.

Wer also ein Managergehalt in Millionenhöhe bezieht, erhält ein den (Spiel-) Regeln des Marktes entsprechendes Einkommen, ohne dabei Zwang auszuüben. Wer sich dagegen zusammenschließt, um durch öffentliche Protestaktionen und Streiks lebenswerte Mindestlöhne gegen sittenwidrige Niedriglöhne durchzusetzen, akzeptiert eben nicht die Ergebnisse des Marktes und übt damit einen Zwang aus, der nach Hayek nicht mit den überlieferten Regeln der Gesellschaft vereinbar ist.

Der Mensch als Objekt der Geschichte: Hayeks Theorie der kulturellen Evolution

Weit vor Hayeks Theorie der kulturellen Evolution hatte Alfred MüllerArmack – späterer Namensgeber der Sozialen Marktwirtschaft – mit den "Entwicklungsgesetze(n) des Kapitalismus", die als einer der Gründungstexte des deutschen Neoliberalismus gelten, eine Studie zur Dynamik des Kapitalismus vorgelegt. Diese Dynamik umschrieb Müller-Armack mit dem Begriff der "Selbstrealisierung", einer Vokabel, die er bereits in seinen konjunkturtheoretischen Arbeiten zu verwenden begann und nun auf den Kapitalismus als historische Formation ausweitete. Müller-Armack charakterisierte die Selbstrealisierung als "Grundvorgang der Geschichte" oder auch als "primäre Kategorie der Geschichte", die im Unterschied zum Geschichtsmaterialismus und historischen Idealismus allein dazu befähige, geschichtliche Vorgänge zu erfassen und Entwicklungen zu begreifen. Voraussetzung dafür sei es, "den spontanen Charakter kultureller Entwicklung" zu akzeptieren, denn "Spontaneität und Freiheit sind die wesentlichen Attribute der Selbstrealisierung."

Müller-Armack leitete aus seiner These einer Selbstgenerierung des Kapitalismus genau das ab, was Hayek dann mit seiner Evolutionstheorie in einem anthropologischen Rahmen begründete: die Alternativlosigkeit der freien Marktwirtschaft – der Kapitalismus als "geschichtliches Monopol". Spontaneität steht schon bei Müller-Armack für ein Entwicklungsverständnis, nach dem die kapitalistische Gesellschaft eben nicht bewußt durch die Vorgabe bestimmter wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Ziele geschaffen wurde und auch nicht geschaffen werden kann, denn "nicht im Rationalismus liegt die Errungenschaft des Kapitalismus". Vielmehr sei "das ganze System rationaler äußerer Ordnung und innerer Haltungen nur zu verstehen als ein Antizipationsschema für den ökonomischen Fortschritt." Die Herausbildung des Kapitalismus ist gewissermaßen eine geschichtliche Eigenbewegung, deren Dynamik weder einer spezifischen Entwicklungslogik noch bestimmten Interessen folgt.

Die Kernaussage von Hayeks Theorie der kulturellen Evolution besteht darin, daß moderne gesellschaftliche Institutionen wie Gesetze, Recht, Sprache, Geld und Markt – oder genauer, der Grad an menschlicher Zivilisation, der in ihnen enthalten ist – nicht das Ergebnis eines beabsichtigten Prozesses sind. Es handelt sich um einen Prozeß der unbewußten Herausbildung, Ansammlung und Weiterreichung von Erfahrungswissen und Handlungspraktiken in Form von Tradition und Moral, nicht jedoch um das Produkt bewußten menschlichen Gestaltens und Eingreifens in seine natürliche und soziale Umwelt. Wie die Märkte als spontane Ordnung, so sind auch Zivilisation und Gesellschaft nicht aktiv durch den Menschen geschaffen.

Um diese Entwicklung (die Geschichte der Zivilisation, R.P.) verstehen zu können, müssen wir uns vollkommen von der Auffassung freimachen, der Mensch sei deshalb imstande gewesen, Kultur zu entwickeln, weil er mit Vernunft begabt gewesen sei.

Hayek zufolge gibt es drei Wurzeln bzw. Träger menschlicher Entwicklung, die er auch als die Quellen der menschlichen Wertbildung bezeichnet: Instinkte, Tradition und Vernunft. Während Instinkte ein Merkmal der biologischen oder genetischen Evolution sind, werden Tradition und Vernunft im Zuge der kulturellen Evolution entwickelt. In beiden Evolutionsformen erfolgt der Prozeß der Anpassung an die unbekannte, äußere Umwelt in Form eines beständigen Wettbewerbs, der sich auf ein grundlegend identisches Selektionsschema gründet: Bestehen oder Untergehen. Was im Bereich der biologischen Evolution das physische Überleben ist, bedeutet in der kulturellen Evolution einen Produktivitätsvorsprung als Kriterium erfolgreicher Selektion im Wettbewerb mit Konkurrenten, die eine optimale Anpassung des Menschen an die äußeren Bedingungen erlaubt. Hier wie dort geht es – wenngleich auf unterschiedlichen Stufen – um das Problem einer sinnvollen Nutzung von Ressourcen für die bestmögliche Überlebens-Strategie. Biologische wie kulturelle Evolution sind der Prozeß eines permanenten trial and error, ein stetiges unbewußtes Experimentieren zur Anpassung an die sich verändernde Umwelt und deshalb weder vorhersehbar noch steuerbar.

Mir dieser Analogie zwischen biologischer und kultureller Evolution bewegt sich Hayek am Rande einer biologistischen Evolutionstheorie. Andererseits konzediert er, daß es einen maßgeblichen Unterschied gibt, da die kulturelle Evolution nicht genetisch vorbestimmt ist. Die Informationen, die im Verlauf kultureller Evolution selektiert und weitergereicht werden, sind nicht angeboren, sondern vermittels historisch überlieferter Verhaltensregeln in Gestalt von Moral und Tradition erlernt. Hayek sieht in der kulturellen Evolution eine langsame Befreiung des Menschen von seiner Gebundenheit an triebhafte Instinkthandlungen durch die Schaffung kultureller Regeln und gesellschaftlicher Institutionen, die diese Instinkte unterdrücken und produktivere Formen des Zusammenlebens in größerer Zahl ermöglichen. Kulturelle Evolution ist in diesem Sinn ein Synonym für den Prozeß menschlicher Zivilisierung von einfachen Stammesgesellschaften zu hoch entwickelten arbeitsteiligen Massengesellschaften. Sie setzt in der menschlichen Entwicklung sehr viel später ein als die genetische Evolution, aber

da sie, im Gegensatz zur genetischen Evolution, auf der Weitergabe erworbener Eigenschaften beruht, läuft sie sehr schnell ab und wenn sie einmal vorherrschend geworden ist, drängt sie die Bedeutung der genetischen Evolution in den Hintergrund.

Vom Tier unterscheidet den Menschen seine Fähigkeit, erfolgreiches Verhalten nachzuahmen, das Erlernte weiterzugeben und auf Basis dieser Erfahrungen allgemeine Verhaltensregeln zu formulieren, die eine Form akkumulierten menschlichen Wissens darstellen. Aus der Sicht Hayeks ist jedoch entscheidend, daß dieses Erfahrungswissen nicht durch vernunftgeleitetes Denken oder logische Schlüsse gewonnen wird, sondern durch die häufig unfreiwillige Unterordnung unter bzw. Anpassung an vorherrschende Sitten, Bräuche und Traditionen. Deshalb spielen Einsicht und Zustimmung der Individuen in Hayeks kultureller Evolution keine Rolle. Das Weiterleben von Instinkten, die doch eigentlich im Prozeß der kulturellen Evolution überwunden werden, ist in Gestalt von unbewußter Unterwerfung zugleich ihre Voraussetzung.

Der Mensch nahm nicht neue Verhaltensregeln an, weil er intelligent war. Er wurde intelligent dadurch, daß er sich neuen Verhaltensregeln unterwarf. (...) Die elementaren Werkzeuge der Zivilisation – Sprache, Moral, Recht und Geld – sind alle die Ergebnisse spontanen Wachstums und nicht eines Entwurfs.

Solche gesellschaftlichen Verhaltensregeln entstehen in einer frühen Entwicklungsphase als ein eher sprachloses Regelwerk, bis es zu einem verbindlichen institutionellen Rahmen wird, der sich in Form negativer Vorschriften manifestiert. Denn im Hayek’schen Entwicklungsverständnis lernt der Mensch nicht auf der Grundlage von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, sondern allein aus vergangenen Fehlern. Die Entwicklung der Verhaltensregeln erfolgt dabei in Stufen unterschiedlicher Verbindlichkeit. Während die persönlichen Wertvorstellungen des Individuums keiner allgemeinverbindlichen Verpflichtung unterliegen, stellen die Traditionen und Sitten bereits eine verbindlichere Stufe gesellschaftlicher Verhaltensmaßstäbe dar. Das gesetzte, kodifizierte Recht bildet die höchste Form allgemeinverbindlicher Verhaltensregeln. Sie gelten ohne Ausnahme für alle Gesellschaftsmitglieder und sind durch allgemein anerkannte Institutionen, die selbst Bestandteil des Regelwerks sind, erzwingbar. Am Ende der kulturellen Evolution steht somit der liberale Rechtsstaat, der dem Individuum einen überschaubaren Handlungsrahmen zuweist, in dem es seine eigenen Interessen verfolgen kann. Das ist Hayeks Variante des "Endes der Geschichte" (Francis Fukuyama).

Damit ist die Voraussetzung zur Formierung moderner Großgesellschaften geschaffen, in denen die Individuen nicht mehr wie in den Stammesgesellschaften in einem notwendigen Verhältnis der Kooperation miteinander stehen, um die (wenigen) Gemeinschaftsziele zu verwirklichen. Auf diese Weise wird es möglich, im Rahmen der von Moral und Tradition gesetzten Grenzen einen beständigen Wettbewerb um die Realisierung jeweils individueller Ziele zu bestreiten. Nun kann der Einzelne eine Vielzahl von Zielen verfolgen, ohne auf die Gruppe Rücksicht nehmen zu müssen. Es ist also ein Prozeß der Ausdifferenzierung von Moralität, die durch den Übergang von kollektiver zu individualistischer Moralität auf gesellschaftlicher Ebene gekennzeichnet ist. Ursprüngliche Gruppeninstinkte überleben lediglich auf der privaten Mikroebene, während auf der Makroebene ein Übergang von unbedingter Kooperation zu (geregelter) Konkurrenz stattfindet – das aus den existenziellen Notwendigkeiten geborene Kleinkollektiv wird durch die offene Gesellschaft ersetzt. So ist das Ergebnis der kulturellen Evolution für Hayek ein doppeltes: Sie eröffnet erstens die Möglichkeit zur friedlichen Nutzung des Wettbewerbs und gestattet eine intensivierte Arbeitsteilung mit ständig steigender Produktivität; und sie schafft zweitens durch die Vervielfachung der Zieloptionen die Grundlagen für individuelle Freiheit.

Auch die Gesellschaft ist also wie der Markt eine spontane Ordnung (nur umfassender) – spontan deshalb, weil sie weder genetisch bedingt ist noch durch menschliche Vernunft geschaffen wurde. Sie ist das Ergebnis kultureller Evolution. Aber welche Rolle spielt die Vernunft im Hayek’schen Denkgebäude? Sie hat eine nachrangige Bedeutung, denn die in der kulturellen Evolution herausgebildeten Verhaltensregeln enthalten "wahrscheinlich mehr 'Intelligenz' als das Denken des Menschen über seine Umwelt." Vernunft ist – wie die verschiedenen Stufen der Moral selbst – ein Produkt der Evolution und kann daher nicht gestaltend auf die Entwicklung der Ordnung einwirken. Hayek argumentiert hier unter Bezugnahme auf die Soziobiologie:

Das Gehirn ist ein Organ, das uns befähigt, Kultur aufzunehmen, aber nicht sie zu entwerfen.

Damit ist nicht gesagt, daß Vernunft für die Gestaltung von Gesellschaft ohne Bedeutung wäre. Sie hat im Gegenteil sogar eine wichtige Funktion, wenn es darum geht, die Traditionen, Wertvorstellungen und moralischen Orientierungen in allgemeines Recht zu transformieren und die spontane Ordnung durch die Entwicklung adäquater Organisationen (z.B. eine Firma, eine Aktiengesellschaft, Verbände, öffentliche Einrichtungen oder eine Regierung) zu ergänzen. Vernunft findet ihre Anwendung also im Entdecken und Übertragen des bereits vorhandenen Wissens und in der Auswahl derjenigen Aspekte, die für das Bestehen der "Großen Gesellschaft" von Bedeutung sind. Wissenschaften, vor allen Dingen die Sozialwissenschaften, finden genau darin ihre Aufgabe, dürften allerdings in ihrer gestaltenden Funktion nicht überfrachtet werden.
Die hilfreiche Einsicht, die die Wissenschaft zur Leitung der Politik beisteuern kann, besteht in einem Verständnis der allgemeinen Natur der spontanen Ordnung und nicht in irgendeiner Kenntnis der besonderen Umstände einer konkreten Situation, die sie nicht besitzt und nicht besitzen kann.

Hayeks Theorie der kulturellen Evolution mündet in Fatalismus. Da die spontane Ordnung sich unbewußt entwickelt hat und von den Menschen nicht verstanden wird, ist es unmöglich, sie grundlegend zu verändern. Die Botschaft, daß die kapitalistische Gesellschaft unumstößlich sei, begründet Hayek aber nicht mit einem Loblied auf den freien Kapitalismus, wie dies andere Neoliberale tun, sondern mit den Vorgaben und Festlegungen von Jahrtausenden der Evolution, deren Entwicklung die Beschränkung menschlicher Vernunft aufgezeigt habe. So werden aus der einen "unsichtbaren Hand" Adam Smiths bei Hayek zwei unsichtbare Hände – die unsichtbare Hand der ökonomischen Koordination und die unsichtbare Hand der gesellschaftlichen Organisation.

Vom Niedergang liberaler Grundwerte: Individualismus und Freiheit

Das Verhältnis des Neoliberalismus zum Individualismus als einem der herausragenden Grundwerte des Liberalismus ist ambivalent. Einerseits verfechten die Neoliberalen einen rigorosen, übersteigerten Individualismus, wie er sich im konzeptionellen Ansatz des methodologischen Individualismus niederschlägt. In diesem ökonomischen Denkansatz sind Handlungen von Gruppen und Kollektiven allein auf die Ziele, Einstellungen und das Verhalten von Individuen zurückzuführen. Eine eigenständige Handlungs-Orientierung von Kollektiven ist ausgeschlossen. Die fortwährenden Angriffe des Neoliberalismus auf sämtliche Formen des "Kollektivismus" zeugen von solchem Denken.

Dieser radikal individualistischen wie ökonomistischen Konstruktion des menschlichen Seins steht eine Sicht gegenüber, die sich aus den diskutierten neoliberalen Vorstellungen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung ergibt: die unabdingbare Gebundenheit des individuellen Daseins. Trotz einiger Unterschiede im Detail ist den neoliberalen Erklärungsansätzen doch gemeinsam, daß das Individuum nicht (oder nur sehr begrenzt) aktiv den historischen Prozeß gestalten und beeinflussen kann. Die Freiheit des Individuums, eigenständig Ziele festzulegen und geeignete Wege ihrer Umsetzung zu suchen, ist beschränkt auf die Sphäre des Marktes, in der es sich als Marktteilnehmer zwischen der Rolle als Konsument und Produzent bewegen kann. Der Markt gilt als eine gewachsene Ordnung, der sich das Individuum zu unterwerfen hat. Er ist aus neoliberaler Sicht, wie wir gesehen haben, historisch oder evolutionär determiniert.

Zwar hat der deutsche Neoliberalismus einen weitergehenden Gestaltungsanspruch von Wirtschaft und Gesellschaft, wenn beispielsweise Eucken die Wirtschaftsordnungen in "traditionell gewachsene und rational nach Ordnungsprinzipien geschaffene" einteilt." Aber zum ORDO als ordnungspolitischem Leitbild der Gesellschaft, das "dem Wesen des Menschen und der Sache entspricht", gibt es für das Individuum ebenso wenig eine echte Alternative wie in Hayeks Rigorismus. Für Hayek bedeutet Individualismus in erster Linie die Unterwerfung und Anpassung des Einzelnen gegenüber den sozialen Prozessen der gesellschaftlichen Evolution.

Der Individualismus ist daher eine Haltung der Demut angesichts dieses sozialen Prozesses und der Duldsamkeit gegenüber anderen Meinungen. Er ist das genaue Gegenteil jener intellektuellen Hybris, in der das Verlangen nach einer umfassenden Lenkung des sozialen Prozesses wurzelt.

In einem grundlegenden Aufsatz zu Bedeutung und Inhalt des Individualismus unterscheidet Hayek zwischen wahrem und falschem Individualismus. Dabei handelt es sich um eine für den Neoliberalismus typische, in diesem Fall begriffliche Freund-Feind-Gegenüberstellung, in der sich die Neoliberalen wie selbstverständlich stets auf der Seite des Richtigen, Wahren oder Guten wähnen. Genau genommen und in Anwendung der Hayek’schen Erkenntnistheorie wäre die Feststellung eines wahren Individualismus gar nicht möglich, weil die Feststellung von Wahrheiten aufgrund der Begrenzungen menschlicher Vernunft und gesellschaftlichen Wissens kaum möglich sein sollte. Aber für die neoliberalen Denker gilt offensichtlich die Ausnahme von der Regel, die man sich als selbsternannte Elite zugesteht.

Hayeks duale Konstruktion des Individualismus entspricht seinen Hypothesen aus der Theorie der kulturellen Evolution. Während der "wahre" Individualismus einem behaupteten realistischen, antirationalistischen Menschenbild folgt, verortet Hayek den "falschen" Individualismus auf der Seite eines überzogenen Rationalismus in der Tradition insbesondere der französischen Aufklärung, der die Vernunft zum zentralen Element menschlicher Entwicklung erhebt. Dieser "Pseudo-Individualismus, der (...) zum Kollektivismus führt", stützt sich auf einen übersteigerten Glauben an das vernunftbegabte Individuum, das die Wirklichkeit vollständig durchdringt und auf dieser Grundlage planvoll die Gesellschaft gestaltet. Der "falsche" Individualismus "will sich von nichts leiten lassen, das er nicht voll versteht, will im einzelnen und besonderen Fall auf Grund der Einsicht in alle Folgen entscheiden dürfen, was zweckmäßig ist; er will nicht Regeln gehorchen, sondern bestimmte Ziele verfolgen."

Dagegen sieht Hayek das Individuum in einer weitgehend passiven Rolle gegenüber den gesellschaftlichen Prozessen, deren Entwicklung eben gerade nicht der bewußten Gestaltung erwächst, weil der Mensch mit zunehmender Komplexität moderner Gesellschaften die Welt immer weniger versteht und auch nicht verstehen kann. Er kann letztlich nur den in der kulturellen Evolution unverrückbar gewachsenen allgemeinen Regeln gehorchen: d.h. für die Ebene der Gesellschaft, die überlieferten Traditionen und moralischen Normen sowie Recht und Gesetz hinzunehmen, und für die Sphäre der Wirtschaft, die Spielregeln des Wettbewerbs auf dem Markt bedingungslos zu akzeptieren. Der "wahre" Individualismus entspringt dem Bewußtsein, "daß dem individuellen Verstand Grenzen gezogen sind, ein Bewußtsein, das zur Demut vor den unpersönlichen und anonymen sozialen Prozessen führt, durch welche die einzelnen mithelfen, Dinge zu schaffen, die größer sind, als sie selbst wissen." Diese Begrenzung ist bei Hayek weit gefaßt, denn "der einzelne (muß) bei seiner Teilnahme an sozialen Prozessen bereit und willig sein, sich Änderungen anzupassen und Konventionen zu unterwerfen, (...) auch dann, wenn deren Berechtigung in dem besonderen Fall nicht erkennbar sein mag und die ihm selbst oft unverständlich und irrational erscheinen werden."

Hayek unterstellt dem "falschen" Individualismus zudem ein idealisiertes Menschenbild, welches allein das Gute im Menschen sieht. Wir kennen das aus aktuellen sozioökonomischen Reformdebatten, in denen mit zynischem Unterton vom "Gutmenschen" gesprochen wird, wenn Werte wie Mitgefühl, Solidarität oder soziale Gerechtigkeit verteidigt werden. Das angeblich realistische Menschenbild, das der Neoliberalismus für sich in Anspruch nimmt, ist allerdings in seinem Kern nicht nur geprägt von der Ohnmacht und Passivität des Subjekts, sondern gründet auf tiefsitzendem Pessimismus gegenüber dem Individuum. Der neoliberale Individualismus "(stellt) ein System dar, in dem schlechte Menschen am wenigsten Schaden anrichten". Als tragende Säule erweist sich allein das Streben nach Eigennutz, den die Neoliberalen gegen jedwede Kritik verteidigen.

Für Hayek ist Eigennutz nicht mit kaltem Egoismus gleichzusetzen, da der "wahre" Individualismus durchaus Kleingruppen wie die Familie oder den Freundeskreis mit einschließt. Er hat also durchaus eine soziale Dimension, die sich allerdings auf die freiwillige Einbeziehung von Kleingruppen beschränkt. So sieht das auch Milton Friedman, langjähriger Kopf der Chicagoer Schule:

Als Liberale sehen wir in der Freiheit des Individuums und vielleicht noch in der Freiheit der Familie das höchste Ziel aller sozialen Einrichtungen.

Das Verfolgen eigennütziger Interessen als Grundprinzip des neoliberalen Individualismus ist aus Hayeks Sicht überdies ein Ergebnis der Beschränkung des Individuums selbst, die darin liegt,

daß alles, was der Geist des Menschen wirklich erfassen kann, die Tatsachen des engen Kreises sind, dessen Mittelpunkt er ist, und daß (...) die Bedürfnisse, für die er wirksam Sorge tragen kann, nur einen verschwindenden Bruchteil der Bedürfnisse aller Glieder der Gesellschaft ausmachen.

Insofern entspricht der familiär eingebettete Egoismus den realen Möglichkeiten des Individuums in der spontanen Ordnung, während der "falsche" Individualismus die Menschen der Selbstüberschätzung preisgibt und einem kollektiven Machbarkeitsglauben unterliegt.

Was also bleibt vom Individualismus als höchstem Wert des Liberalismus? Im neoliberalen Wertekanon wird aus dem Menschen ein Objekt der von ihm nicht beeinflußbaren gesellschaftlichen Entwicklung – es ist ein Dasein der Unterordnung unter den permanenten Sachzwang. Aus der liberalen Befreiung von der Obrigkeit der feudalen Gesellschaft wird das Individuum in die neoliberale Zwangsjacke der spontanen Ordnung (= Zivilisation) gesteckt, der es sich bedingungslos ergeben muß und die seine Handlungsspielräume stark eingeschränkt. Ja, das Individuum ist nicht einmal von Geburt an frei, denn die spontane Ordnung gilt als höchste Form menschlicher Entwicklung und damit als Endpunkt der Geschichte. Die Anwendung der Vernunft beschränkt sich auf die Einsicht in die Notwendigkeit zur Demut und zur Unterwerfung unter die Prozesse der spontanen Ordnung, abgesehen von jenen wenigen Ausnahmeindividuen einer Spitzenelite, die Hayek als "original thinkers" bezeichnet – dazu später mehr. Die Freiheit des Individuums ist nicht mehr die Freiheit von gesellschaftlichen und materiellen Zwängen, sondern die Freiheit von einem überzogenen menschlichen Vernunftglauben, der die Gesellschaft bewußt und planend gestalten will. Was bleibt, ist ein dem Eigennutz verpflichtetes, armseliges Wesen, das bestenfalls seine eigene Situation versteht und die persönlichen Lebensbedingungen nur in einem eng begrenzten Rahmen anonymer Regeln beeinflussen kann.

Diese Regeln der spontanen Ordnung sind zugleich auch die Begrenzungen der allgemeinen Freiheit. In der Hayek’schen Sozialphilosophie ist Freiheit ein dem Individuum zur Verfügung gestellter Handlungsrahmen, der deshalb Freiräume für die einzelnen Menschen schaffen kann, weil er ihnen durch ein allgemein akzeptiertes Regelwerk bestimmte Grenzen setzt. Das ist eine logische Folge des Verständnisses von Freiheit als Produkt der kulturellen Evolution, die für Hayek immer nur das selektiert, was sich im Prozeß der Verarbeitung alltäglicher Erfahrungen als negativ erwiesen hat und damit in Zukunft zu vermeidende Handlungen begründet.

Freiheit wurde möglich durch die allmähliche Evolution der Disziplin der Zivilisation, die auch zugleich die Disziplin der Freiheit ist. (...) Wir verdanken unsere Freiheit Beschränkungen der Freiheit.

Das beinhaltet auch ein Bekenntnis zu einer stabilen gesellschaftlichen Ordnung, was Hayek von noch radikaleren "Anarcho-Liberalen" wie Murray Rothbard unterscheidet. In ähnlicher Weise hatten bereits die frühen deutschen Neoliberalen den Gedanken einer unauflösbaren "Einheit von Freiheit und Bindung" formuliert, der sich in Texten von Alfred Müller-Armack, Ludwig Erhard, Franz Böhm und Walter Eucken findet.

Freiheit wird hier verstanden als negative, als Freiheit von etwas, nicht aber als positive Freiheit zu etwas. Freiheit legitimiert sich allein aus der Abwesenheit von Zwang. Es geht, so heißt es im ersten Satz von Hayeks Verfassung der Freiheit, um einen

Zustand der Menschen, in dem Zwang auf einige von seiten anderer Menschen so weit herabgemindert ist, als dies im Gesellschaftsleben möglich ist.

Dieses Freiheitsverständnis hat mit der Bereitstellung materieller oder politischer Voraussetzungen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit nichts gemeinsam. Es steht in der Tradition der Wirtschaftsfreiheit des klassischen Liberalismus und ist eine Säule der neoliberalen Ethik, wie sie auch Milton Friedman in seinem Werk Kapitalismus und Freiheit vertritt. Hayek stellt lediglich einen erweiterten Begründungszusammenhang zur Verfügung, indem er auch den Wert der Freiheit aus den Bedingtheiten der gesellschaftlichen Evolution ableitet. Was aber bedeutet im neoliberalen Denken die Abwesenheit von Zwang?

Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, sich noch einmal mit dem neoliberalen Staatsverständnis zu befassen, denn die Ausübung von Zwang obliegt allein dem Staat. Wie wir gesehen haben, ist der neoliberale Staat ein Minimalstaat, wenn es um die soziale Sicherheit und andere Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge geht. Er ist allerdings ein starker Staat nach innen wie nach außen, wenn es um die Durchsetzung und Sicherung der marktwirtschaftlichen Ordnung geht. Jedoch ist auch der Staat ein Produkt der spontanen Ordnung und insofern dieser untergeordnet. Die Regierung kann also nicht beliebig Gesetze einbringen, sondern ist im Hayek’schen Sinne stets an die Einhaltung der gewachsenen allgemeinen Regeln gebunden.

Die Herrschaft des Gesetzes ist daher nicht eine Regel des Rechts, sondern eine Regel darüber, was Recht sein soll, ein metagesetzliches Prinzip oder ein politisches Ideal. Es wird nur insofern wirksam sein, als der Gesetzgeber sich daran gebunden fühlt. In einer Demokratie bedeutet das, daß es nicht erfüllt werden wird, wenn es nicht zur moralischen Tradition der Gemeinschaft gehört.

Aus dieser Logik heraus darf es keine Gesetzgebung geben, die z.B. das Gemeineigentum oder die Kooperation und dezentrale Planung zu wichtigen Institutionen des Wirtschaftsprozesses erklärt, da die spontane Ordnung wie gesehen auf Wettbewerb, Konkurrenz und Selektion gründet.

Der Staat kann zur Durchsetzung des Rechts – und nur dazu – Zwang anwenden. Zwang und Macht sind für Hayek nicht identisch. Der Nobelpreisträger grenzt die beiden Begriffe vielmehr deutlich voneinander ab, indem er Macht als positive Eigenschaft verstanden wissen will, als "die Fähigkeit, das Erstrebte zu erreichen." Damit wird Freiheit nur durch Zwang, nicht aber durch Macht begrenzt. Insofern bestätigt sich eindrucksvoll die Negativität von Freiheit: Physische Gewalt beispielsweise stellt eine Bedrohung der Freiheit dar, weil sie eine Form des Zwangs ist. Die Unmöglichkeit, legitime Eigeninteressen zu verfolgen, also die ungenügende Macht, etwas zu erreichen (z.B. durch mangelnde Verfügung über Einkommen oder Kapital), bedeutet dagegen keine Unfreiheit.

Macht kollidiert für Hayek dann mit Freiheit, wenn sie mittels (staatlichen) Zwangs zur Veränderung der Marktergebnisse (z.B. durch eine nachhaltig wirkende Vermögensteuer) benutzt werden soll.

Diese Konfusion von Freiheit als Macht mit Freiheit im ursprünglichen Sinn führt unvermeidlich zu einer Gleichsetzung von Freiheit und Wohlstand; und das macht es möglich, die Anziehungskraft des Wortes "Freiheit" zur Unterstützung der Forderungen nach einer Umverteilung der wirtschaftlichen Güter auszunützen.

Auch die ökonomische bzw. unternehmerische Macht, Menschen von ihren Grundbedürfnissen (z.B. Arbeit, Wohnung oder Gesundheitsversorgung) auszuschließen, stellt in dieser Logik keinen Verlust der Freiheit dar, da "die bloße Macht der Verweigerung eines Vorteils keinen Zwang (bedeutet)." Demnach wäre der Verlust der Wohnung eines "Hartz IV"-Empfängers, der nach gültiger Rechtslage durchaus als Zwangsräumung erfolgen kann, aus neoliberaler Perspektive kein Zwang:

Solange die Handlung, die seine Schwierigkeit verursacht hat, nicht bezweckte, ihn zu bestimmten Handlungen oder Unterlassungen zu zwingen, solange die Absicht der Handlung, die ihn schädigt, nicht ist, ihn in den Dienst der Ziele eines anderen zu stellen, ist ihre Wirkung auf seine Freiheit keine andere als die einer Naturkatastrophe – eines Feuers oder einer Überschwemmung, die sein Heim zerstören, oder eines Unfalls, der seine Gesundheit schädigt.

Wenn aber die Bedrohung der persönlichen Freiheit nicht oder zumindest nicht strukturell aus den Machtverhältnissen der ökonomischen Sphäre kommen kann, bleiben nur die politischen Akteure wie Parteien, Verbände und andere Interessengruppen der Zivilgesellschaft, die durch ihre Initiativen über den eingreifenden Staat Zwang ausüben können. Zwang liegt also im neoliberalen Verständnis nur dann vor, wenn es kollektiven Akteuren gelingt, in die ökonomischen Macht- und Verteilungsverhältnisse einzugreifen.

Die neoliberale Freiheit fußt auf einem zutiefst instrumentellen Freiheitsverständnis, in dem das Problem ökonomischer Macht und die Notwendigkeit materieller Voraussetzungen zur Entfaltung der persönlichen Freiheit ausgeblendet werden. Freiheit beschränkt sich allein auf die Nichtdiskriminierung der Marktteilnahme. Durch diese einseitige Gleichsetzung von Freiheit mit wirtschaftlicher Freiheit entfernt sich der Neoliberalismus von den emanzipatorischen Wurzeln des bürgerlichen Liberalismus: Die politische Freiheit – einst die wichtigste Säule der bürgerlichen Revolutionen – wird zur Bedrohung der Marktgesellschaft. Dies ist der Punkt, an dem der Neoliberalismus ins Autoritäre kippt. Da macht es sich Milton Friedman zunächst einfach, wenn er schreibt:

Die wirtschaftliche Organisationsform, die unmittelbar für politische Freiheit sorgt, nämlich der Wettbewerbskapitalismus, sorgt auch für politische Freiheit, da sie die wirtschaftliche Macht von der politischen Macht trennt und es beiden Mächten ermöglicht, sich gegenseitig zu neutralisieren.

Dann aber heißt es weiter:

Die Geschichte lehrt jedoch nur, daß der Kapitalismus eine notwendige Voraussetzung für politische Freiheit ist. Eine hinreichende Bedingung ist er freilich nicht.

Hier nähern wir uns der Realität. Die offene Unterstützung der Chicagoer Schule für die an die Macht geputschte Regierung von Augusto Pinochet im Chile der 1970er-Jahre zeugt von der möglichen Verbindung zwischen Diktatur und freier Marktwirtschaft. Erst durch die brutale Unterdrückung der demokratisch gewählten Regierung von Salvador Allende und der Gewerkschaften wurden die Voraussetzungen für den neoliberalen Modellversuch der chilenischen Gesellschaft geschaffen.

Schon 1933 hatte Wilhelm Röpke, nach dem Zweiten Weltkrieg engster wirtschaftspolitischer Berater der Regierung Adenauer, mit aller Deutlichkeit erklärt, "daß Wirtschaftsfreiheit sehr wohl mit einem illiberalen Wirtschaftssystem vereinbar ist." Einige Jahre später brachte der Ordoliberale die bemerkenswerte Unterscheidung zwischen einer (akzeptierbaren) "Diktatur" und einer (abzulehnenden) "Tyrannis" in die Diskussion, die in den folgenden Jahrzehnten zu einer regelmäßig wiederkehrenden Denkfigur neoliberaler und neokonservativer Kräfte werden sollte. Schließlich, so Röpke,

(enthält) jeder festgefügte Staat ein mehr oder weniger starkes hierarchisch-autoritäres Element, und es würde zu nichts Gutem führen, eine besonders ausgeprägte Form der autoritären Herrschaft, wie sie die Diktatur kennzeichnet, für das Merkmal der modernen ochlokratischen Gewaltherrschaften zu halten.

Der "wohlmeinende" Diktator wird – wenn nötig –zur Durchsetzung des neoliberalen Wettbewerbsstaates akzeptiert, die Herrschaft der "Masse" gilt dagegen als entartete Demokratie.

Das neoliberale Leitbild der Gesellschaft: Eindämmung des Interventionsstaates, Begrenzung der Demokratie und Diskreditierung der sozialen Gerechtigkeit

Wir haben gesehen, daß die gesellschaftliche Entwicklung in der neoliberalen Lehre ein Prozeß unbewußter Anpassungsleistungen der Menschen ist. Das menschliche Sein gründet sich demnach auf den Selektionsmechanismus des Wettbewerbs, der die freie Marktwirtschaft als höchste Form der Zivilisation hat entstehen lassen. Darin wurde der Mensch zum Individuum, weil er sich diesen Prozessen in Demut unterworfen, und nicht, weil er die Entwicklung gestaltet hat. Eigennutz ist das ethische Fundament des neoliberalen Individualismus, der alles Kollektive (mit Ausnahme der Familie) als angebliches Relikt vormoderner Gesellschaften ablehnt. Das neoliberale Freiheitsverständnis beschränkt den Spielraum der Individuen auf die Teilnahme am Markt, wobei strukturelle und ökonomische Macht ausgeblendet werden. Wer das nicht akzeptieren will, muß mit der harten Hand des Wettbewerbsstaates rechnen.

Diese Vorstellungen von Mensch und Gesellschaft haben primär einen legitimatorischen Zweck, sollen sie doch die grundsätzliche Alternativlosigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsform mit scheinbar wissenschaftlicher Argumentation begründen. Sie umreißen den Rahmen einer (negativen) neoliberalen Utopie, die allerdings mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit nach 1945 zunächst wenig zu tun hatte. In den westlichen Industriestaaten entstanden bekanntlich gemischte Wirtschaftsformen, die marktwirtschaftliche und politische Lenkung in unterschiedlicher Weise miteinander kombinierten. Der Markt galt eher als ein – wenn auch zentrales – wirtschaftliches Instrument denn als dogmatischer Grundsatz und wurde um das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit erweitert. Im Ergebnis entstand ein sozial regulierter Kapitalismus, der verschiedene Typen des Wohlfahrtsstaates hervorbrachte. Durch den Befreiungskampf der ehemaligen Kolonien verschob sich auch das globale Kräfteverhältnis zwischen dem Norden und dem Süden. Die jungen Nationalstaaten wurden zu unabhängigen politischen Akteuren und forderten von den reichen Industrieländern (mehr) Unterstützung für eine nachholende Entwicklung. Damit wurde die Frage sozialer Gerechtigkeit auch im Weltmaßstab aufgeworfen.

Vor diesem Hintergrund verstärkten die Neoliberalen seit den 1960er-Jahren ihre Angriffe auf alle gesellschaftlichen Institutionen (wie auch Denkrichtungen), die den Markt in seinem Wirkungsbereich begrenzen und seine Verteilungsergebnisse beeinflussen können. Das Hauptangriffsziel ist bis heute ein handlungsfähiger sozialer Interventionsstaat, der die Macht hat, ein allgemeines gesellschaftliches Wohlfahrtsinteresse durchzusetzen. Aus neoliberaler Sicht ist es grundsätzlich problematisch, daß der Staat – noch dazu legitimiert durch demokratische Institutionen – über die Zwangsmittel verfügt, um in Marktprozesse einzugreifen. "Die fundamentale Bedrohung der Freiheit", folgt Friedman seinem Mitstreiter Hayek, "kommt gerade durch die Macht, Zwang ausüben zu können (...). Die Bewahrung der Freiheit verlangt die Eliminierung solcher Machtzusammenballung soweit es nur geht." Dann wird Friedman deutlicher:

Indem er (der Markt, R.P.) die Organisation der wirtschaftlichen Aktivitäten der Kontrolle der politischen Instanzen entzieht, eliminiert der Markt zugleich die Quelle der Macht, Zwänge auszuüben.

Hayek bezeichnet dieses Kernanliegen des Neoliberalismus als "Entthronung der Politik".

Wie wir gesehen haben, ist der neoliberale Staat jedoch kein schwacher Staat. Die neoliberale Staatskritik zielt nicht auf die Zerstörung der staatlichen Macht als solcher, sondern will die Neuausrichtung der staatlichen Aufgaben durchsetzen. Es ist noch nicht einmal gesagt, daß der neoliberale Wettbewerbsstaat insgesamt weniger Aktivitäten entfaltet, denn mit der in Kauf genommenen Zuspitzung gesellschaftlicher Widersprüche steigen Aufwand und Kosten zur Sicherung der Einkommens- und Eigentumsverhältnisse. Die hohen Ausgaben der führenden kapitalistischen Staaten (v.a. der USA) für die innere und äußere Sicherheit belegen dies eindringlich. Zudem erfordert die Transformation des Wohlfahrtsstaates zum Wettbewerbsstaat ein hohes Maß an regulierenden staatlichen Eingriffen. Das zeigen die bisherigen Erfahrungen z.B. der Privatisierungspolitik seit den 1970er-Jahren. Aus dieser Perspektive ist die Hayek’sche Rede von der "Entthronung der Politik" irreführend, denn auch der neoliberale Staat betreibt Politik, allerdings in erster Linie zwecks Ausbaus und Sicherung der Marktgesellschaft.

Zwar sind Ziel und Zweck dieser Transformation des Staates ein verbindendes Kernelement des neoliberalen Projekts, aber die konkreten Positionen zu Aufgaben und Reichweite des Staates sind im neoliberalen Spektrum uneinheitlich. So vertritt Robert Nozick in seinem Buch Anarchie, Staat und Utopia ein rigoroses Minimalstaatskonzept, wonach sich der Staat ausschließlich auf die Durchsetzung von Verträgen und den Schutz vor Raub, Gewalt und Betrug zu beschränken hat. Damit wird die Sicherung der Eigentumsordnung in einer freien Marktwirtschaft letztlich als einzige Staatsaufgabe akzeptiert. Staatliche Tätigkeit, die auf die Herstellung distributiver Gerechtigkeit abzielt, läßt sich aus der vertragstheoretischen Perspektive Nozicks nicht rechtfertigen. Für ihn ist deshalb eine Politik steuerlicher Umverteilung (z.B. durch eine progressive Einkommensteuer) "mit Zwangsarbeit gleichzusetzen".

Mit einem anderen Akzent plädierte auch James M. Buchanan in den 1970er-Jahren für einen neuen Gesellschaftsvertrag, ausgehend von der These, daß die westlichen Wohlfahrtsstaaten zu einem modernen Leviathan verkommen seien. In Anlehnung an die im 17. Jahrhundert von Thomas Hobbes für den allmächtigen und entmündigenden Staat geprägte Figur des Leviathans fordert Buchanan eine grundlegende Abkehr vom sozialen Interventionsstaat. Buchanans Vorstellungen gehen allerdings über das – eher fundamentalistische – Minimalstaatsverständnis Nozicks hinaus. Er unterscheidet einen Rechtsschutzstaat (protective state), der einem Minimalstaat gleichkommt, und einen Leistungsstaat (productive state), der öffentliche Güter bereitstellen kann. Insoweit ist Buchanans Analyse eher für die praktische politische Ökonomie gedacht, wobei auch seine Vorstellungen eines neuen Gesellschaftsvertrages letztlich nur ein Ziel haben: die Macht des Leviathans zu beschränken, also deutlich zu machen, daß "die Regierungstätigkeit verfassungsmäßigen Beschränkungen und Kontrollen unterworfen werden (muß)."

Nozicks und Buchanans Arbeiten waren wichtige Stichwortgeber einer publizistischen Welle neoliberaler Staatskritik (Entwicklung der These vom systematischen "Staatsversagen"), die während der 1970er- und mehr noch während der 1980er-Jahre international politischen Einfluß erlangte. Die Neoliberalen machten sich die immer sichtbarer werdende Wachstums- und Strukturkrise in den entwickelten Industrieländern zunutze, um einen Kausalzusammenhang zwischen Staatstätigkeit und ökonomischer Krise zu behaupten. Die Angriffe reichten von einer Kritik an der überbordenden Bürokratie und mangelnder Effizienz der staatlichen Aktivitäten über den Vorwurf der systematischen öffentlichen Verschwendung bis zur These von den fehlenden Leistungsanreizen eines angeblich überversorgenden Wohlfahrtsstaates. Die Public-Choice-Theorie verfeinerte zudem das alte Argument aus neoliberalen Gründungszeiten, nach dem der demokratische Wohlfahrtsstaat nicht das allgemeine Interesse der Gesellschaft (Gemeinwohl) zum Ausdruck bringt, sondern durch die Eigeninteressen von Politiker(inne)n und mehr noch von mächtigen Interessengruppen bestimmt wird. Im Unterschied zur früheren neoliberalen Argumentation standen jetzt allerdings nicht mehr menschliche Unzulänglichkeiten (z.B. die "gierigen Interessenhaufen" bei Rüstow) im Mittelpunkt der Analyse, sondern die Ausweitung der Gültigkeit marktwirtschaftlicher Prinzipien auf die politischen Strukturen des Wohlfahrtsstaates. Die politischen Akteure könnten gar nicht in einem allgemeinen Interesse handeln, weil sie auch im Gemeinwesen stets als eigennutzorientierte und interessengeleitete Individuen agierten. Deshalb bleibt nur ein Weg: die Beschränkung der Demokratie selbst. "Die Demokratie kann", so Buchanan, "zu ihrem eigenen Leviathan werden, wenn nicht konstitutionelle Schranken aufgestellt und durchgesetzt werden."

Damit ist Buchanan nicht allein. Für die Neoliberalen bildet die Demokratie insoweit eine potentielle Bedrohung, als zumindest theoretisch die Möglichkeit besteht, daß die Mehrheit gewillt und in der Lage wäre, die Grundpfeiler der marktwirtschaftlichen Ordnung, Privateigentum und Wettbewerb, in ihre Schranken zu verweisen oder gar zu überwinden. Entsprechend ist das neoliberale Demokratieverständnis von Skepsis bis hin zu offener Feindschaft geprägt. Demokratie ist aus neoliberaler Sicht so lange akzeptabel, wie der Marktprozeß in seiner Substanz unangetastet bleibt. "Wenn der Liberalismus daher die Demokratie fordert", schrieb Wilhelm Röpke schon 1947, "so nur unter der Voraussetzung, daß sie mit Begrenzungen und Sicherungen ausgestattet wird, die dafür sorgen, daß der Liberalismus nicht von der Demokratie verschlungen wird." Das Hauptaugenmerk der neoliberalen Demokratiediskussion gilt deshalb der Rechtfertigung und Durchsetzung einer "beschränkten Demokratie", also einer Entkernung der Demokratie von ihrem materiellen Gehalt und ihrer sozialen Substanz unter Beibehaltung ihrer legitimatorischen Funktion. Erich Hoppmann, neben Hayek ein weiterer Nachfolger Euckens in Freiburg, umreißt die neoliberale Vorstellung einer eingedämmten Demokratie ohne Umschweife:

Die Machthaber müssen gehindert sein, spezifische, diskriminierende Maßnahmen zu ergreifen. Persönliche Freiheit und ökonomische Effizienz erfordern notwendigerweise die Evolution einer Ordnung im Sinne einer beschränkten Demokratie. Eine immerwährende Aufgabe ist es, die Art ihrer Beschränkung zu analysieren.

Aber worin sollen diese Begrenzungen und Sicherungen der Demokratie bestehen? Erstens in der Selbstbeschränkung der Regierung – neoliberale good governance bedeutet das Akzeptieren der spontanen Ordnung des Marktes oder doch zumindest die Einsicht in den marktwirtschaftlichen Sachzwang. Zweitens in institutionellen Beschränkungen der Demokratie, damit die Akteure erst gar nicht in Versuchung geraten, das "süße Gift" staatlicher Interventionen in Anspruch zu nehmen. Das können allgemeine verfassungsmäßige Normen im Sinne Buchanans oder Hayeks sein (etwa durch die Verpflichtung der Wirtschaftspolitik auf die Realisierung einer freien Marktwirtschaft wie im gescheiterten EU-Verfassungsvertrag vom 29. Oktober 2004) oder auch fiskalpolitische Beschränkungen durch die Konstruktion "unabhängiger" Institutionen wie die Europäische Zentralbank. Und drittens in der ideologischen Formierung der Gesellschaft im Sinne einer massenhaften Mobilisierung marktoptimistischer Positionen und Denkweisen in der Bevölkerung. Für den Fall, daß diese Vorkehrungen versagen, behält sich der Neoliberalismus – wie wir gesehen haben – eine autoritäre Option zur Durchsetzung marktwirtschaftlicher Freiheit vor, die für den "Notfall" auch eine Diktatur nicht ausschließt.

Im neoliberalen Denken ist die Marktwirtschaft allerdings selbst schon ein demokratisches Verfahren, gewissermaßen eine Alltagsdemokratie, die sich über die Tauschbeziehungen des Marktes vermittelt. "Die sogenannten Marktgesetze sind", so der führende Ordoliberale Franz Böhm, "nichts anderes als eine aufs Äußerste getriebene, technisch aufs Raffinierteste vervollkommnete tägliche und stündliche plebiszitäre Demokratie, ein das ganze Jahr hindurch vom Morgen bis in die Nacht währendes Volksreferendum, die technisch idealste Erscheinungsform von Demokratie, die überhaupt existiert." Damit wird politische Teilhabe zur Souveränität der Konsument(inn)en degradiert, und der Citoyen degeneriert zum Wirtschaftssubjekt.

Zugleich offenbart die Gleichsetzung von Marktwirtschaft und Demokratie das neoliberale Verständnis von Gerechtigkeit, die dann besteht, wenn niemand daran gehindert wird, an Marktprozessen teilzunehmen. Allgemein gesprochen geht es um formelle Gerechtigkeit, die explizit von materieller Gerechtigkeit abgegrenzt wird. Wie die Freiheit ist auch die Gerechtigkeit in der neoliberalen Lehre eine negative Kategorie, die allein rechtliche Diskriminierungen ausschließen soll, aber keine positiven Normen beinhaltet. Für den neoliberalen Philosophen und Leiter des neoliberalen Think Tanks Centre for the New Europe, Hardy Bouillon,

(gründen) ungleiche Verteilungsergebnisse in der Natur der Knappheit und spontanen Ressourcenverteilung und sind im Rahmen der traditionellen Gerechtigkeitsidee gerecht, solange sie nicht anderweitig Regeln verletzen, zum Beispiel in Form von Marktzutrittsverwehrungen.

Wenn es um Gerechtigkeit und Gleichheit geht, argumentieren Neoliberale häufig mit dem Rückgriff auf natürliche Zustände. So spricht auch James M. Buchanan, ausgehend von einem ursprünglichen "Naturzustand (...), in dem die Menschen nicht gleich sind", von der Grundsituation "natürliche(r) Verteilung" und eines "natürlichen Gleichgewichtes". Eine Rechtsordnung dient nach neoliberaler Lesart allein der gesellschaftlichen Befriedung der ursprünglichen Verhältnisse, nicht aber der Angleichung individueller Verteilungspositionen.

Aus neoliberaler Sicht ist soziale Gerechtigkeit eine "Fiktion" (Hardy Bouillon) oder gar eine "Fata Morgana" (Friedrich A. von Hayek), weil aufgrund einer fehlenden wissenschaftlichen Grundlage niemand in der Lage sei, eine konkrete positive Definition des Begriffs vorzunehmen. Die Vorstellung, daß eine demokratische Gesellschaft im kollektiven Aushandlungsprozeß ein grundlegendes Verständnis sozialer Gerechtigkeit formulieren und ggf. unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen modifizieren kann, schließt das neoliberale Weltbild aus. Soziale Gerechtigkeit gilt demnach als Kampfformel, die auf die Verteilung nicht leistungsgerecht erworbener Einkommen abzielt. Aus neoliberaler Sicht ist der Begriff des Sozialen eine ideologische Figur, die bewußt oder unbewußt die Marktwirtschaft (und damit auf lange Sicht die gesamte moderne Gesellschaft) untergräbt. "Die neue Moral des Sozialen, wenn wir das Wort sozial wörtlich als 'das Gefüge einer Gesellschaft fördernd' nehmen", so Hayek, "ist das Gegenteil dessen, was sie vorgibt. Sie ist im Wesentlichen ein willkommener Vorwand für den Politiker geworden, Sonderinteressen zu befriedigen. Das Soziale bezeichnet kein definierbares Ideal, sondern dient heute nur mehr dazu, die Regeln der freien Gesellschaft, der wir unseren Wohlstand verdanken, ihres Inhalts zu berauben."

Gemäß der neoliberalen Evolutionstheorie wird die soziale Gerechtigkeit dann als ein Rückfall in die Zeiten kollektiver Zwangsgemeinschaften gedeutet, da sie auf die Korrektur individueller Verteilungspositionen am Markt drängt. Wer eine sozial gerechte Verteilung der Einkommen fordert, bei dem sei "die lange Zeit unterdrückter Urinstinkte wieder an die Oberfläche gekommen. Die Forderung nach gerechter Verteilung, bei der eine organisierte Macht jedem das zuteilen soll, was er verdient, ist somit genaugenommen ein Atavismus, der auf Uremotionen beruht." In der Übersetzung in die neoliberale Alltagssprache der Gegenwart sind die für höhere Löhne oder Arbeitszeitverkürzungen streikenden Gewerkschaften deshalb unmoderne, rückschrittliche Organisationen, welche die Funktionsmechanismen der modernen, auf Individualismus und Markt gegründeten Großgesellschaft nicht begriffen haben.

Zur Gerechtigkeit gehört auch der Wert der Gleichheit, der sich im klassischen Liberalismus zunächst auf die Abschaffung feudaler Privilegien bezog, aber mit der Erwirtschaftung großer Überschüsse im Kapitalismus auch eine verteilungspolitische Komponente bekam. Egalität bedeutet dabei nicht Gleichmacherei der Individuen, sondern neben der Schaffung gleicher Startvoraussetzungen (Chancengleichheit) eine Verteilungspolitik, in der die Einkommensunterschiede auf Grundlage politisch-moralischer Kollektiventscheidungen begrenzt werden. So verstandene Egalität bildet in dreifacher Hinsicht einen fundamentalen Gegensatz zum neoliberalen Modell: erstens, weil sie eine kollektive Kategorie voraussetzt, nämlich eine gesellschaftspolitische Verabredung über einen gewünschten Zustand, wie auch immer dieser aussehen mag; zweitens, weil Egalität den direkten Gegensatz zu Konkurrenz und Wettbewerb bildet, also jenen Prinzipien, die das Grundgerüst der neoliberalen Marktgesellschaft ausmachen; und drittens, weil Egalität eine ökonomische Dimension hat, die auf die Korrektur der Marktergebnisse abzielt und eine gerechte Verteilung des Produktivitätsfortschritts anstrebt. Insofern ist es nur folgerichtig, wenn Hayek von der "fundamentalen Sittenlosigkeit eines jeden Egalitarismus" spricht.

Gerade im aggressiven Antiegalitarismus der Neoliberalen verschwimmt schnell die Grenze zum offenen Sozialdarwinismus. Man kann dem Nobelpreisträger Hayek fast dankbar sein, daß er die Grundzüge des neoliberalen Wertesystems so unverhohlen preisgibt: "Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig", heißt es einleitend in einem von Stefan Baron für die Wirtschaftswoche geführten Interview mit Hayek, der seine Argumentation im Hinblick auf den Nord-Süd-Konflikt zuspitzt:

Für eine Welt, die auf egalitäre Ideen gegründet ist, ist das Problem der Überbevölkerung (...) unlösbar. Wenn wir garantieren, daß jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu erfüllen. Gegen diese Überbevölkerung gibt es nur die eine Bremse, nämlich daß sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können.

Das war die offene Antwort des führenden Neoliberalen auf die damalige Forderung der Länder des Südens nach einer neuen, gerechten Weltwirtschaftsordnung.

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