Auszüge aus Hans Herbert von Arnim's
"Das Europa-Komplott"

Wie die EU-Funktionäre unsere Demokratie verscherbeln

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Vorwort

Die Idee, dieses Buch zu schreiben, kam mir bei Studien im Forschungsinstitut der Hochschule Speyer über die "Selbstversorgung" Brüsseler Politiker. Dazu gehören:

  • der seit Jahren andauernde "legalisierte Spesenbetrug", mit dem sich Europaabgeordnete riesige steuerfreie Zweiteinkommen erschleichen;
  • groteske Doppelversorgungen;

  • ein völlig inakzeptables europäisches Diätengesetz, das kurz vor der Europawahl 2004 aufgrund meiner Analysen scheiterte, dann aber im Sommer 2005 doch noch zustande kam;

  • ein Parteiengesetz, das europäischen Pseudoparteien Subventionen verschafft, die alle vernünftigen Maßstäbe sprengen;

  • überzogene finanzielle Privilegien, die europäische Beamte und Kommissare in schöner Eintracht mit ihren Richtern und Rechnungshofmitgliedern genießen, und

  • die scheinbar grenzenlose Aufblähung sämtlicher Organe der EU: vom Parlament bis zu den Gerichten.

Die Auswüchse, mit denen sich ein großer Teil dieses Buches beschäftigt, sind derart krass, daß sich die Frage aufdrängt, wie es dazu eigentlich kommen konnte. Warum konnten die Verantwortlichen selbst massivste Kritik unbeeindruckt aussitzen? Warum glaubten sie, Kritiker ungestraft verleumden zu können? Organisation und Entscheidungsverfahren der EU gerieten so fast zwangsläufig in den Fokus. Ihre Analyse macht einen weiteren Teil des Buches aus. Dabei geht es nicht um eine Gesamtdarstellung der EU, sondern um exemplarische Teilbereiche. Die Untersuchung ergibt: Die europäische Politikfinanzierung und die Aufblähung der Pfründen, die alle für die Bürger geltenden Grundsätze auf den Kopf stellen, sind nur der sichtbare Ausdruck eines Demokratie- und Kontrolldefizits, das kennzeichnend ist für die Europäische Union insgesamt. Nirgendwo sonst kommen die extreme Bürgerferne der EU und der Expansionsdrang ihrer Organe derart unverblümt zum Vorschein wie in den Regeln, die die politische Klasse sich in eigener Sache gegeben hat. Abhilfe kann nur eine grundlegende Neuordnung schaffen, die demokratische Mindeststandards wie politische Gleichheit und Gewaltenteilung einhält und eine "Regierung durch und für Bürger" ermöglicht. Die Behebung der Demokratiemängel in der EU ist vielleicht nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts.

Speyer, im Dezember 2005, Hans Herbert von Arnim

Einführung

Das Scheitern der EU-Verfassung nach dem französischen Non und dem niederländischen Nee im Jahre 2005 bedeutet wie jede Krise auch eine Chance, die Chance nämlich, unvoreingenommen Bilanz zu ziehen. Die Ergebnisse der Abstimmungen hatten gewiß viele Gründe. Klar aber ist, daß die große Mehrheit der Bürger – und hier sprachen die Franzosen und Niederländer auch für ihre Mitbürger in anderen EU-Ländern – gegen den anscheinend unaufhaltsam dahinrasenden Erweiterungszug revoltierten. 1992 bestand Europa noch aus zwölf Mitgliedstaaten, seit dem 1. Mai 2004 sind es 25, bald sollen es 27, ja schließlich 30 und noch mehr werden. Neben den vielen Problemen, die dieses rasche Anwachsen mit sich bringt, und den tief sitzenden Ängsten, die es bei den Menschen auslöst, stellt sich die Frage, wie ein solches Europa eigentlich noch zu steuern sei? Voraussetzung für die Erweiterung sind institutionelle Reformen, die der Verfassungsvertrag, zumindest zum Teil, bringen sollte. Das war allgemeine Überzeugung. Aus diesem Grund wollte man nach dem kläglichen Ergebnis von Nizza eine europäische Verfassung schaffen.

Nach ihrem Scheitern ist nun die Vorbedingung für die Erweiterungen entfallen. Schon aus diesem Grund ist ein Innehalten das erste Gebot, das aus den Volksabstimmungen folgt. Das ließe sich auch durchaus bewerkstelligen, selbst in Bezug auf Bulgarien und Rumänien. Die Kommission und der Rat müssen nur die Bedingungen ernst nehmen, die für den Beitritt gelten. Doch darauf verzichteten sie bereits bei dem Beitritt der Zehn im Jahre 2004. Die Bürger fühlen sich über den Tisch gezogen und haben den Glauben an die Unvoreingenommenheit der EU-Organe verloren.

Hier zeigt sich exemplarisch das Zentralproblem der EU, das sie das Vertrauen der Bürger gekostet hat: Sinn, Ziel und Grenzen dieses wunderbaren und zugleich monströsen Projekts Europa sind nur noch hinter Nebelschwaden zu erahnen. Klare Konturen fehlen. Das hält die Europamaschinerie aber nicht auf, ja es scheint sie gerade im Gegenteil zu veranlassen, immer weiter und immer schneller zu laufen, auch wenn die Richtung immer weniger überzeugt. Bewegung wird zum Selbstzweck. Innehalten erscheint den Akteuren bereits als Rückschritt. Das erinnert an Mark Twains Bemerkung über eine Gruppe von Menschen, die sich im Urwald verirrt hatten: "Als sie die Richtung verloren hatten, verdoppelten sie die Geschwindigkeit."

So gewinnt der Bürger den Eindruck eines Aktionismus, der vor allem bezweckt, von den vielen Mängeln und Fehlentwicklungen der EU abzulenken: der Überbürokratisierung, der Verschleuderung von Milliarden für eine unsinnige Agrarpolitik und eine zweifelhafte Strukturpolitik, dem Sumpf von Betrug und Korruption, gegen deren Aufdeckung sich der Brüsseler Korpsgeist mit allen Mitteln zur Wehr setzt. Vor allem aber steht die EU für die Aufweichung überkommener Prinzipien, die Grundanforderungen an alle öffentliche Gewalt markieren: Das viel beschriebene Demokratiedefizit der EU sehen wir heute in einem neuen Licht. Hinzu kommt die Erosion der Rechtsstaatlichkeit, wie sie sich etwa im europäischen Haftbefehl zeigt, den das Bundesverfassungsgericht entschärfen mußte. Die Beeinträchtigung jener Prinzipien schien noch nicht wirklich gravierend, solange Europa sich im Aufbau befand, keine großen Kompetenzen besaß und zudem in den Mitgliedstaaten Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum herrschten, so daß selbst zweifelhafte europäische Lasten tragbar erschienen. Doch diese Zeiten sind Geschichte.

Heute betreffen die Auswirkungen europäischer Verordnungen und Richtlinien Unternehmen und Bürger immer und überall. Die Lasten drücken immer mehr, vor allem natürlich die sogenannten Nettozahler, zu denen Deutschland gehört. Umso mehr fällt ins Gewicht, daß die Mängel nicht durch entsprechende Vorteile aufgewogen werden. Deutlich wird das etwa beim Fehlen einer effektiven gemeinsamen Außenpolitik der EU, wie sich besonders eklatant erst im Kosovo-Konflikt, dann in der Irak-Krise zeigte. Vielmehr verstärkt sich der Eindruck, es ginge den europäischen Akteuren vor allem um ihre eigenen Interessen an Macht, Posten und Geld. Die Besetzung der europäischen Pfründen und die Versorgung von europäischen Amtsträgern, Abgeordneten und Beamten, einschließlich der Finanzierung von Parteien und Fraktionen, erteilt hier regelmäßigen Anschauungsunterricht.

Das Nein bei den Volksabstimmungen und das anschließende Desaster beim Brüsseler Gipfel vom Juni 2005 haben mit einem Schlag für jedermann deutlich gemacht, daß etwas faul ist in der Europäischen Union. Europa ist in schlechter Verfassung. Das Kernproblem besteht darin: In der europäischen Politik hat bisher eine kleine Zahl von Politikern über die Köpfe der Bürger hinweg entschieden. Die Bürger aber haben ein untrügliches Gespür dafür, daß die politische Klasse dabei zuallererst an ihre eigenen Belange denkt und nicht an die Interessen, Wünsche und Ängste der Menschen. Die Durchsetzung der Eigeninteressen wird durch die für Europa typische mangelnde öffentliche Kontrolle erleichtert. Ob die für einen zusammenwachsenden ganzen Kontinent erforderliche europäische Identität in den Herzen der Menschen vorhanden ist oder ob das zarte Identitätspflänzchen nicht gerade durch überstürzte Erweiterungen mit Völkern ganz unterschiedlicher geschichtlicher, politischer und kultureller Erfahrungen, durch Überregulierung und die Selbstbedienung aus EU-Töpfen aufs Höchste gefährdet wird, dieser Grundfrage ist die europäische Elite bisher ausgewichen. Über der fortschreitenden Erweiterung nach außen und Vertiefung nach innen wurde das erforderliche demokratische Pendant sträflich vernachlässigt: die Erweiterung um die Menschen und die Vertiefung in den Köpfen und Herzen der Bürger Europas.

Die europäische Idee ist zwar nach wie vor bestechend. Doch hat die Sicherung des Friedens nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Ende der politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Spaltung Europas in den Augen der Menschen an Dringlichkeit verloren. Der Beginn der europäischen Einigung war auch eine Antwort auf den Ost-West-Konflikt und bezog daraus einen guten Teil ihrer Legitimation. Natürlich stellt Frieden auch heute noch ein hohes Gut dar. Aber es ist nicht mehr klar, warum man dazu ein immer größeres und bürokratischeres Europa braucht. Auch die andere große Verheißung, mehr Wohlstand, bringt man – angesichts der Massenarbeitslosigkeit – schwerlich in einen positiven Zusammenhang mit Europa, zumal dafür ohnehin die nationale Politik die Hauptverantwortung trägt. Alle diese Ziele sind zweifellos wichtig. Doch erscheinen eben dafür viele Pläne und Aktionen der europäischen Organe völlig überflüssig.

Die heutigen Probleme der Europäischen Union kann man letztlich nur vor dem Hintergrund ihrer Entwicklungsgeschichte verstehen. An der Wiege der Europäischen Gemeinschaften stand die Vorstellung Pate, das Ziel der europäischen Einigung sei unbestritten gut, weil es Frieden, Wohlstand und erfolgreiches Sichbehaupten gegenüber dem kommunistischen Imperialismus versprach. Ein vereinigtes Europa bildete ein politisches Axiom, einen nicht mehr in Frage zu stellenden übergeordneten Lehrsatz, der, dem politischen Streit entzogen, keines Beweises mehr bedarf – auch keiner demokratischen Legitimation. Bei diesem Ausgangsverständnis kam es offenbar nur auf die möglichst wirksame Entfaltung und Durchführung jenes Axioms an. Das wiederum schien eine vornehmlich technokratische Aufgabe zu sein, zu deren Durchführung Expertengremien benötigt wurden, die unabhängig und nur der europäischen Idee verpflichtet sein sollten: die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof (und später die Europäische Zentralbank). Ideologisch untermauert wurde dieser Ansatz durch bestimmte wissenschaftliche Theorien, nach denen das geistig-kulturelle Zusammenwachsen der Menschen zu einer wirklichen Gemeinschaft, die Entstehung eines europäischen Wir-Gefühls und einer europäischen Identität, sich als Folge des gemeinsamen wirtschaftlichen Marktes und der Nationen übergreifenden Aktivitäten europäischer Organe quasi von selbst einstellen würde.

Ein Parlament erschien ebenso überflüssig wie ein Volk. Das Parlament wurde als eher störend empfunden, weil man befürchtete, es würde nationalen Belangen und Gruppeninteressen zu großen Einfluß verschaffen, also das Ziel beeinträchtigen, dessentwegen die Kommission ja gerade als unabhängiges Expertengremium installiert worden war. Dementsprechend war das Europäische Parlament, das im EWG-Vertrag von 1957 noch als bloße "Versammlung" bezeichnet worden war, bis 1979 gar kein von den Bürgern gewähltes Parlament und hatte praktisch keine Entscheidungsbefugnisse. Die scheinbar völlige Unangefochtenheit der europäischen Einigungsidee rückte den einen Fundamentalsatz der Demokratie, das Regieren für das Volk, fast zwangsläufig derart in den Vordergrund, daß die beiden anderen Fundamentalsätze, das Regieren des Volkes durch das Volk, im Dunkel des Hintergrundes praktisch verschwanden. Es kam scheinbar nur auf die erwünschten politischen Resultate an. Ob das Volk daran mitgewirkt hatte, ja ob ein europäisches Volk überhaupt existiert, erschien nebensächlich.

So war es auch nur konsequent, daß man die eigentliche Regierungsmacht – neben der Kommission – am besten in der Hand des Rates, eines allein aus den Regierungen der Mitgliedstaaten bestehenden Gremiums, aufgehoben sah. Europa wurde also anfangs ganz gezielt rein gouvernemental organisiert.

Das Volk kam genauso wenig vor wie bei Friedrich dem Großen oder irgendeinem anderen Monarchen des aufgeklärten Absolutismus. Friedrichs Ausspruch "Ich bin der erste Diener meines Staates", den etwa auch Otto von Bismarck unterschrieben hätte, paßt in vollem Umfang auch auf die Kommission, die nach ihrem Selbstverständnis, ganz analog, als erste Dienerin Europas fungiert, unabhängig und nur dem Wohl der Europäischen Union verpflichtet. Und der Bundesrat Bismarcks, in dem die monarchischen Regierungen saßen, ohne deren Zustimmung kein Reichsgesetz verabschiedet werden konnte, besitzt durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Europäischen Rat, nur daß dieser noch mächtiger ist, weil er zusätzlich auch noch Regierungsfunktionen wahrnimmt, ihm kein gleichwertiges Parlament gegenübersteht und er sich nicht gegenüber einem europäischen Volk verantworten muß.

Hinter diesem Ausblenden des Volkes als eines politischen Akteurs stand ein paternalistisches Grundverständnis, das anfangs die Bundesrepublik Deutschland genauso beherrschte wie das Frankreich der V. Republik, also die beiden wichtigsten Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaften. Die Väter des Grundgesetzes meinten, der bundesrepublikanische Staat müßte geradezu vor dem deutschen Volk geschützt werden – man erinnere sich an das berühmt-berüchtigte Wort von Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat: "cave canem", womit er das Volk meinte –, weil man ihm die Schuld an der Machtergreifung Hitlers in die Schuhe schob. In Wahrheit waren es die politischen Parteien gewesen, die am 23. März 1933 im Reichstag das Ermächtigungsgesetz mit großer Mehrheit beschlossen hatten und damit Hitler "ganz legal" an die Macht brachten. In ähnliche Richtung gingen die Vorstellungen de Gaulles und seiner Mitstreiter, der Inspiratoren der Verfassung der V. Republik von 1958, die ausgesprochen gouvernemental konstruiert ist. Bei diesem Ausgangsverhältnis meinte man bei der Konzeption Europas ebenfalls, man könne das Volk außen vor lassen, zumal die Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften und ihrer Organe zunächst ja auch ziemlich begrenzt waren.

Dem Verzicht auf ein europäisches Volk und eine europäische Identität konnte in den Augen der Europamacher sogar noch eine positive Seite abgewonnen werden. Identität impliziert stets auch die Gefahr der Ausgrenzung von Nichtidentischem. Der Mangel an Identität erleichtert es, alle und jeden in die Gemeinschaft aufzunehmen. Die technokratische Ausgestaltung schien es der EU zu ermöglichen, sich unbegrenzt zu erweitern – nach innen wie nach außen.

Auch als dem Europäischen Parlament allmählich neue, zusätzliche Befugnisse gegeben wurden, blieb das europäische Gemeinschaftsgefühl, das sich durch den staatenübergreifenden gemeinsamen Markt und die 1979 eingeführten sogenannten Direktwahlen entwickeln sollte, unterbelichtet. Die Aufwertung des Parlaments erfolgte zwar im Namen des Demokratieprinzips. Doch unterschlug man dabei, wie wenig das Parlament eigentlich für eine demokratische Europapolitik legitimiert ist: Das Parlament wird nach inzwischen 25 von Staat zu Staat höchst unterschiedlichen Wahlsystemen gewählt, und das Stimmengewicht der Bürger zeichnet sich durch extreme Ungleichheit aus. Jeder Luxemburger hat praktisch elfmal so viele Stimmen wie ein Deutscher und kann auch die Auswahl der Abgeordneten mitbestimmen, die ihn im Europäischen Parlament repräsentieren sollen, während deutsche Wähler nur die eine oder andere Partei ankreuzen und damit nur die Zahl ihrer Mandate mitbestimmen können, nicht aber die Personen, auf die sie entfallen. In dieser institutionellen Weichenstellung wurzelt eine fundamentale europäische Fehlentwicklung: das Mißverhältnis zwischen der transnationalen Konzeption und Funktion des Europäischen Parlaments einerseits und seiner nationalen Legitimation andererseits. Angesichts der rein national organisierten Wahlen werden auch die Wahlkämpfe von nationalen Themen dominiert. Europäische Fragen kommen beinahe nie zur Sprache. Dementsprechend gering ist auch die Legitimation des Parlaments für die ihm eigentlich obliegende Europapolitik. Der Charakter der Wahlen als eurodemokratischer Integrationsakt, den sie eigentlich haben sollten, wird durch das Wahlsystem selbst unterminiert. So konnten sich weder wirkliche Europaparteien noch eine europaweite Öffentlichkeit entwickeln.

Erst die niederschmetternden Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden über den Verfassungsvertrag im Jahre 2005 haben dem überkommenen Ausgangsverständnis einen Schuß vor den Bug gesetzt, indem sie unübersehbar signalisierten, daß die ganze bisherige Konzeption brüchig geworden war. Die vernachlässigten und ausgeblendeten Völker, über deren Köpfe hinweg man bisher Europa konstruiert hatte, meldeten sich unüberhörbar zu Wort.

In Wahrheit hatte das ungebremste europäische Weiter-so schon vorher an Gewißheit verloren. Bloß schenkte man dem anschwellenden Strom der Indizien nicht die gehörige Beachtung: Die Unterstützung für die europäische Integration bricht seit Ende der achtziger Jahre ein, auch wenn die Kommission versucht, mit methodisch zweifelhaften Umfragen ein geschöntes Bild zu zeichnen. Die Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament geht seit Jahrzehnten zurück und erreichte 2004 ein historisches Tief. Europagegner haben starke Stimmengewinne zu verzeichnen. Begünstigt wurde der Übergang zu einem selbstbewußt-kritischeren Verständnis auch durch den Wandel der politisch-wirtschaftlichen Großwetterlage: Nach dem Wegfall des Ost-West-Gegensatzes war die Legitimation des "europäischen Monsters" vermehrt in Frage gestellt worden. Das gilt umso mehr, als viele behaupten, Europa sei für die vorherrschende Arbeitslosigkeit und das nachlassende Wirtschaftswachstum mit verantwortlich, was insofern nicht ganz falsch ist, als der Anspruch des Lissaboner Gipfeltreffens vom März 2000, Europa zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, bisher kaum mehr als eine Fata Morgana geblieben ist.

Das Entstehen einer selbstbewußt-kritischen Haltung beruht letztlich auf dem gleichen Effekt, der auch innerstaatlich etwa in Deutschland zu beobachten ist und dazu geführt hat, daß wir die Schwachstellen unserer eigenen Demokratie mit größerer Klarheit erkennen und ihr deshalb kritischer gegenüberstehen. Nur sind die Schwachstellen der Europäischen Union noch sehr viel größer.

Europa ist von Anfang an ein Geschöpf der Eliten. Sie waren es auch, die mit ihrer allezeit zur Schau gestellten Europaeuphorie, zumindest in Deutschland, lange jede Kritik an Europa als politisch inkorrekt unterdrückt haben. Das gilt nicht nur für die politische Klasse und die Wirtschaft, sondern auch für die Wissenschaft, vor allem für die Politikwissenschaft und die Europarechts-Wissenschaft. Es gilt darüber hinaus in starkem Maße auch für die Journalisten in Brüssel und Straßburg, also diejenigen, die die veröffentlichte Meinung über Europa weitgehend prägen. Das Zusammenwirken der Eliten beim Abblocken von Kritik an Europa zeigte sich beispielhaft auch vor der Volksabstimmung in Frankreich: Die Regierung, das Gros der Parteien in der Nationalversammlung, die Wirtschaft, alle landesweiten Medien und hochrangige Politiker anderer Mitgliedstaaten warben für ein "Oui" – trotz allem am Ende vergeblich. Und nun plötzlich entdeckten auch die Politiker, zumindest für einige Zeit, die Bürger wieder, allen voran Tony Blair in seiner Antrittsrede als Ratspräsident vor dem Europäischen Parlament am 1. Juli 2005:

Es ist an der Zeit zu erkennen, daß Europa seine Stärke, seine Relevanz, seinen Idealismus und damit auch seinen Rückhalt in der Bevölkerung nur wieder gewinnt, wenn es sich verändert. Und wie immer sind die Bürger den Politikern voraus.

Die europäische Pseudodemokratie

Tatort Europa

Dieses Buch ist dazu bestimmt, eine öffentliche Diskussion über den Sinn und den Unsinn der Europäischen Union (EU) zu entfachen. Nicht nur in Deutschland, sondern europaweit. Die EU ist – bei Lichte besehen – ein höchst dürftig legitimierter Apparat, der sich immer mehr verselbständigt und, wie aus einer unangreifbaren Festung heraus, in die einzelnen Staaten hineinregiert. Der Apparat wird zunehmend zum Selbstzweck. Wie durch hochgezogene Zugbrücken vor wirksamer Kontrolle geschützt, entsteht allmählich ein Netzwerk aus Politikern, Beamten, Verbandsfunktionären, Journalisten und Wirtschaftsbossen. Die ohnehin seit langem bestehenden gravierenden Probleme der EU werden durch eine Reihe von Entwicklungen aktualisiert und verschärft, für die die folgenden Themen exemplarisch stehen:

  • Die Ablehnung der europäischen Verfassung durch die Bürger Frankreichs und der Niederlande und die Aussetzung der Referenden in Großbritannien und anderen Ländern waren Paukenschläge, die überdeutlich gemacht haben, wie sehr die politische Klasse es bisher versäumt hat, ein tragfestes geistiges Fundament Europas in den Köpfen der Menschen zu schaffen.

  • Die "Osterweiterung" der Europäischen Union um zehn neue Mitglieder, denen in absehbarer Zeit Rumänien und Bulgarien und schließlich auch die Türkei folgen sollen.

  • Die Terroranschläge von New York und Washington hatten erhebliche Auswirkungen auf das Thema innere Sicherheit und damit auch auf die Beurteilung der EU und ihrer Erweiterung. Die Anschläge von Madrid und London haben das Thema weiter unterstrichen.

  • Die Überversorgung sämtlicher europäischer Amtsträger und Funktionäre.

  • Die grotesken Mißbräuche bei der Spesenabrechnung der Mitglieder des Europäischen Parlaments, die anstehende Angleichung ihrer Gehälter auf hohem Niveau und
    die kürzlich eingeführte Subventionierung "europäischer politischer Parteien" aus dem EU-Haushalt.


  • Die Aufblähung des Parlaments, der Kommission und anderer Organe der EU zu ungebührlicher Übergröße, die ihre Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt.

  • Die überproportionale Vertretung der Bürger kleiner Staaten in den EU-Organen, die diesen ein Gewicht gibt, das in keinem Verhältnis zu ihrer geringen Bevölkerungszahl steht.

  • Die Milliarden verschlingende europäische Agrar- und Subventionspolitik.

  • Die Undurchschaubarkeit der europäischen Willensbildung und die mangelnde Zurechenbarkeit europäischer Politik, die geradezu die Unverantwortlichkeit organisiert.

Repräsentative Demokratie definieren wir (mit Abraham Lincolns klassischer Definition) als Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk. "Für" das Volk heißt: Politik in seinem Interesse, also orientiert am gemeinen Wohl; "durch" das Volk bedeutet: echte Partizipation, also Einfluß der Bürger auf die Politik; Regierung "des" Volkes setzt voraus, daß überhaupt ein Volk oder eine ähnliche durch ein solidarisches Wir-Gefühl zusammengehaltene Gemeinschaft vorhanden ist. Diesen Grundsätzen ist alle öffentliche Gewalt in den einzelnen europäischen Staaten verpflichtet. Und auch Europa1 als Ganzes wird nicht müde, die Prinzipien Demokratie und Gemeinwohl für sich selbst zu beanspruchen. Tatsächlich haben die Verhältnisse dort – an diesen Maßstäben gemessen – einen absoluten Tiefststand erreicht. Von einem europäischen Volk kann ohnehin nicht die Rede sein. Gewiß, die Lage mag auch auf nationaler Ebene oft nicht gerade begeistern. Auf europäischer Ebene aber ist sie noch sehr viel negativer zu beurteilen. Doch eine unvoreingenommene Evaluation ist lange unterblieben. Europapolitik droht zum Selbstzweck zu werden.

In Europa geben drei große Gruppen von Funktionären den Ton an; sie teilen die politische Macht und die Herrschaft unter sich auf:

  • die politische Elite und die politische Klasse,

  • die Bürokraten und

  • die Manager von Großunternehmen und die Lobbyisten von Interessenverbänden.

Die Macht der politischen Elite: Europa ist von Regierungen für Regierungen geschaffen. Die nationalen Regierungen waren es, die die europäischen Verträge ausgehandelt und über Erweiterungen entschieden haben. Ihre Ratifizierung durch die Parlamente der Mitgliedstaaten war häufig reine Formsache. (Anders war es, wo das Volk unmittelbar zu entscheiden hatte, wie beispielsweise in Dänemark, Frankreich, Irland und den Niederlanden.) Die Regierungslastigkeit setzt sich in der täglichen Politik fort: Der Rat als zentrales Organ der politischen Willensbildung besteht aus den Regierungen der Mitgliedstaaten. Er ist – aller Gewaltenteilung zum Trotz – ein staatstheoretisches Monstrum: wichtigster Gesetzgeber und Regierung in einem. Das Parlament kann zwar bei verschiedenen Themen mitentscheiden, ist aber gerade in besonders wichtigen Bereichen wie der Agrarordnung davon ausgeschlossen.

Die Kommission besitzt das Initiativmonopol für die wichtigsten Bereiche der Europapolitik. Fünfundzwanzig "Kommissare" (darunter ein deutscher) bereiten die "Verordnungen", "Richtlinien" und "Rahmenbeschlüsse" vor, die dann vom Rat verabschiedet werden. Das Volk wird dabei nicht gefragt, es hat keinen Einfluß auf die Zusammensetzung der Kommission, es hat keine Kontrollmöglichkeit. Diesem Verfahren verdanken inzwischen fast 80 Prozent aller in Deutschland geltenden Regelungen im Bereich der Wirtschaft und 50 Prozent der übrigen Gesetze ihre Existenz. Dabei handelt es sich um wichtige Regelungen, welche die Verbraucher, das Arbeitsleben, die Wirtschaft, inzwischen auch die Bildung und Kultur, ja die Menschen auf fast allen Gebieten unmittelbar betreffen, ohne daß sie die Chance haben, ein Wörtchen mitzureden.

Die Europäische Zentralbank trifft die wichtigen geldpolitischen Entscheidungen. Die Kommission und die Zentralbank sind – wie der Europäische Gerichtshof – unabhängig und weisungsfrei gegenüber allen Organen der Gemeinschaft, erst recht gegenüber dem Bürger selbst. In der starken Position der Kommissare, der Europäischen Zentralbank und der ihnen unterstellten europäischen Verwaltungen zeigt sich das enorme Gewicht der Europabürokratie. Dies wird noch dadurch verstärkt, daß auch der "integrationsfreudige" Gerichtshof dazu neigt, ihre Position zu stützen.

Der Einfluß von Verbänden und Großwirtschaft ist in Europa noch sehr viel größer als in den einzelnen Mitgliedstaaten. Er findet seinen Ausdruck in der gewaltigen Massierung von Lobbyeinrichtungen besonders in Brüssel, in den umfangreichen Regulierungen zugunsten der Wirtschaft und nicht zuletzt darin, daß der Europahaushalt im wesentlichen ein Subventionshaushalt ist. Der Agrarhaushalt verschlingt rund 40 Prozent der europäischen Gesamtausgaben. Dabei handelt es sich um den größten Wahnsinn seit dem Turmbau zu Babel (wie der britische Economist die europäische Agrarordnung einmal genannt hat). Auch aus dem sogenannten Strukturfonds, dem sogenannten Kohäsionsfonds und aus anderen europäischen Töpfen werden hohe Subventionen gezahlt, deren Berechtigung Zweifel weckt und die ihre Existenz fast ausschließlich ihren einflußreichen politischen Wortführern (Lobbyverbände und nationale Regierungen) verdanken. Allgemeininteressen werden dabei häufig von Partikularinteressen untergepflügt. Mit Gemeinwohl hat das dann nicht mehr viel zu tun. Wem die Europäisierung vornehmlich zugute kommt, ersieht man aus den treibenden Kräften: Die andauernde Vertiefung und Erweiterung Europas wird nicht nur von Teilen der Politik und den europäischen Behörden vorangetrieben, sondern vor allem von Wirtschaft und Großbanken; sie nehmen die Globalisierung auch zum Anlaß für Megafusionen, die hauptsächlich der Macht(- und Einkommens-)steigerung ihrer Manager dienen, wie man zum Beispiel an den Fusionen Daimler/Chrysler und Deutsche Bank/Bankers Trust sieht. Je größer das Unternehmen, desto gewichtiger auch seine Verhandllungsmacht gegenüber den Regierungen; desto leichter kann es sich durch Verlagerungen des Firmensitzes oder von Unternehmensteilen auch der Politik nationaler Regierungen entziehen. Als im Jahre 1992 60 renommierte Ökonomen in einem "Manifest" davor warnten, das Pferd am Schwanz aufruzäumen und die Währungsunion ohne gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik einzuführen, organisierten die Großbanken ein Gegenmanifest von Wissenschaftlern und Bankfachleuten, das die Wirkung der Kritiker zumindest optisch neutralisieren sollte.

Die Funktionäre des Machtdreiecks aus Politik, Bürokratie und Wirtschaft sind eine Interessensymbiose auf Gegenseitigkeit eingegangen und verketten sich immer mehr zu einem eingebunkerten Machtkartell. Kehrseite ihrer demokratiefeindlichen Dominanz ist die völlige Machtlosigkeit der Bürger. Diese Entmachtung zeigt sich bereits auf der Ebene von Verfassungsgebung und Verfassungsänderungen:

  • Die Bürger – zumindest in Deutschland – sind vor den großen Weichenstellungen, die die Verfassungsstruktur von Grund auf gewandelt haben, überhaupt nicht gefragt worden, weder bei Einführung der Europäischen Gemeinschaften noch bei der Europäischen Union und der Währungsunion, noch bei den sonstigen Verfassungsänderungen von Amsterdam und Nizza. Auch die anstehende Osterweiterung Europas wurde über die Köpfe der Bürger hinweg entschieden. Dasselbe Verfahren verfolgte man bei der Einsetzung eines Konvents durch die Regierungskonferenz von Laeken. Aus Arroganz ignoriert man die Bürger, statt sie unvoreingenommen aufzuklären und auf ihrer Zustimmung eine stabilere (und weniger unbedachte) Gemeinschaft zu bauen – bis man schließlich 2005 die Quittung erhielt: durch das Nein Frankreichs und der Niederlande zum europäischen Verfassungsvertrag.

Die Entmachtung setzt sich innerhalb der Verfassung fort:

  • in der mangelnden politischen Verantwortlichkeit des Rates, der sich in seiner Brüsseler Funktion keinen Wahlen stellen muß;

  • in der völligen Unabhängigkeit der Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Europäischen Gerichtshofs vom Bürgerwillen – sowohl hinsichtlich des Inhalts ihrer Entscheidungen als auch hinsichtlich der Bestellung ihrer Mitglieder, die in einem nicht gerade qualitätsförderlichen Kungelverfahren ins Amt kommen, das häufig als Endlager für gescheiterte Politgrößen dient (Beispiele: Martin Bangemann, Edith Cresson, Manuel Mann);

  • in der demokratiewidrigen Organisation des Europäischen Parlaments, das mit wirklichen Parlamenten nur den Namen gemeinsam hat, fern der Heimat agiert und in der politischen Berichterstattung meist nur am Rande vorkommt (im öffentlichen Bewußtsein von der nationalen Politik überlagert);

  • im Fehlen europäischer Zeitungen und Rundfunkanstalten, wirklicher europäischer politischer Parteien, kurz: im Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit;

  • in der starren Listenwahl zumindest der deutschen Europaabgeordneten, die dem Wähler jeden Einfluß auf die personelle Zusammensetzung des Europäischen Parlaments nimmt, den Parteien jedoch erlaubt, abgehalfterte Politiker, die man zu Hause nicht mehr gebrauchen kann, in Europa zu "entsorgen" (Beipiele: Werner Langen, Jo Leinen, Hartmut Nassauer, Cem Özdemir, Angelika Beer, Alfred Gomolka, Sahra Wagenknecht);

  • in dem Konstrukt von "europäischen politischen Parteien", die in Wahrheit gar keine Parteien sind, sondern abgehobene Kunstprodukte: Sie zählen weder Bürger zu ihren Mitgliedern noch stellen sie Kandidaten für Parlamente auf, die sie bei Wahlen der Öffentlichkeit präsentieren. Sie werden aus einem einzigen Grund zu "Parteien" erklärt: damit sie mit Steuergeldern gefördert werden;

  • im krassen Öffentlichkeitsdefizit: Die – nicht öffentlichen – Verhandlungen des Rats finden sozusagen im luftleeren Raum statt. Zudem sind die meisten Entscheidungen des Rats und der Kommission in unübersichtliche Vorgremien ausgelagert, was die Abschottung und die Undurchsichtigkeit der Entscheidungsfindung der europäischen Organe auf die Spitze treibt. Europa findet hinter verschlossenen Türen statt. Das einzige Organ, das öffentlich verhandelt, ist das Europäische Scheinparlament; seine Befugnisse sind aber ohnehin beschränkt.

So stehen wir vor einem eigentlich nicht mehr für möglich gehaltenen Rückfall in vordemokratische Zeiten: Die Menschen sind heute in Europa vom Ideal der Demokratie und des Gemeinwohls genauso weit entfernt wie einst im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Nicht einmal das (von Karl Popper formulierte) demokratische Minimum ist gesichert: Die Bürger können ihre europäische "Regierung" nicht abwählen, mag diese auch noch so sehr versagt haben. Ja, sie können gar nicht erkennen, wer für welche Entscheidung eigentlich die Verantwortung trägt.

Der Ausschluß der Bürger von der Mitwirkung an der Europapolitik, ihre Degradierung zum reinen Objekt der Entscheidung anderer, wird damit gerechtfertigt, nur so lasse sich die nötige Handlungsfähigkeit erreichen. In Wahrheit ist die politische Handlungsfähigkeit nirgendwo so gering wie auf europäischer Ebene: Die Entscheidungen des Rats setzen – rechtlich oder faktisch – häufig Einstimmigkeit voraus, was ihr Zustandekommen erschwert oder hohe Kosten verursacht (Herauskaufen der Zustimmung einzelner Länder durch ihre gezielte Subventionierung oder andere Begünstigung). Die Leidtragenden sind meist die kleinen Steuerzahler und die Konsumenten, die mittelständischen Unternehmer und die Kleinaktionäre. Aber auch die rationale Stimmigkeit des ganzen Konzepts steht in Frage. Und wenn gehandelt wird, erscheinen die Aktionen oft eher von nationalen Eigeninteressen getragen als, wie behauptet, vom Wohl Europas. Die Bürokratie produziert oft ganz unsinnige Regelungen. Die mangelnde Handlungsfähigkeit wird in der Außenpolitik besonders sichtbar.

Die Gründe für diese Fehlentwicklungen liegen letztlich in der mangelnden Angepaßtheit der EU an die gewandelten Herausforderungen. Die enorme Zunahme der Aufgaben und Kompetenzen der EU und die Erweiterung von sechs auf 25 und mehr Mitgliedstaaten, kurz die Vertiefung und Erweiterung, hätten eigentlich eine grundlegend andere Struktur und Organisation der EU und ganz neue Verfahren nötig gemacht. Doch dazu fehlte die politische Kraft. Stattdessen wurde das Bestehende immer nur fortgeschrieben. Es wurde nur angebaut und der Bau damit völlig verbaut, statt ihn – entsprechend den gewandelten Verhältnissen – ganz neu zu konstruieren. Vor der Osterweiterung hatte man das auch erkannt und die Konferenz von Nizza für entsprechende Reformen einberufen. Als Nizza scheiterte, versuchte man es ersatzweise mit der Verfassung. Aber auch die scheiterte, weil einen jetzt die Bürgerferne einholte. Das, was die EU von den Mitgliedstaaten verlangt, Herstellung effizienter, demokratischer Strukturen, um den Herausforderungen der Globalisierung gerecht zu werden, leidet in der EU selbst am meisten Not.

Dennoch wird die wirkliche Lage Europas vernebelt. Man spricht zwar gelegentlich vom "Demokratiedefizit"; das ganze Ausmaß dieses Defizits und erst recht seine fatalen Folgen werden jedoch sorgfältig verborgen. Die Kernfrage, wie Europa nach der Osterweiterung von 2004 und dem anstehenden Beitritt weiterer Staaten, die nicht nur die Zahl, sondern auch die quantitativen und qualitativen Unterschiede der Mitglieder Europas gewaltig vergrößert und weiter vergrößern wird, wirtschaftlich und politisch noch "handelbar" sein soll und wie gleichzeitig ein Mindestmaß an Bürgernähe geschaffen werden kann, bleibt offen. Erst das französisch-niederländische Nein zum europäischen Verfassungsvertrag könnte hier einen Wandel einleiten. Sämtliche Kräfte des politischen Europas, eine berufsmäßige "Europawissenschaft" und der Mainstream der political correctness sind zumindest in Deutschland lange eine unheilige Allianz eingegangen, die bereits die unvoreingenommene Analyse und Kritik der Situation hintertreibt, von der Diskussion nötiger Reformen ganz zu schweigen. Eine Europaideologie ist entstanden, welche die – gewiß auch bestehenden – Vorteile des europäischen Zusammenschlusses einseitig hervorkehrt und die Nachteile verschweigt. Kritik wird als "uneuropäisch" geächtet, verwaltungsinterne whistle blower wie Paul van Buitenen und Martha Andreasen werden gemobbt und gefeuert.

Den Bürgern wird auf vielfältige Weise Sand in die Augen gestreut: So hat zum Beispiel der Vertrag von Amsterdam – unter feierlicher publizistischer Demokratiebeschwörung – einen eigenen "Zweiten Teil" in den EG-Vertrag eingefügt mit dem Titel "Die Unionsbürgerschaft" (Art. 17 bis 22). Doch die darin vorgesehenen Rechte sind marginal (wie das Wahlrecht zu Kommunalvertretungen) und galten zum Teil auch schon vorher (wie die Mobilitätsfreiheit und das Petitionsrecht). Die vor einiger Zeit beschlossene europäische Grundrechte-Charta ist ein propagandistisch aufgemotzter Popanz ohne praktische Bedeutung. Ihre Rechtswirkung ist gleich null. Das Europäische Parlament und die allmähliche Steigerung seiner Rechte werden als demokratische Errungenschaften groß herausgestellt. In Wahrheit bleibt das Parlament bürgerfern und ist selbst Teil des Problems. Die wirklichen Kosten der Erweiterungen werden unterschlagen; die offiziellen Schätzungen sind maßlos untertrieben, und wenn doch einmal einer Klartext spricht wie gelegentlich der Kommissar Verheugen, wird ihm sogleich ein politischer Maulkorb verpaßt.

Mangels wirksamer demokratischer Kontrollen können sich die Eigeninteressen der gesamten politischen Klasse (unter Einschluß der politischen, der bürokratischen und der wirtschaftlichen Elite) umso ungezügelter durchsetzen. Die (legale und illegale) Korruption blüht. All das spiegelt sich in der Politikfinanzierung wider, in der sich das Wesen einer Einrichtung schon immer besonders deutlich offenbarte – entsprechend der Losung: "You must follow the money trail and you will find the truth." [Du mußt dem Fluß des Geldes folgen, dann wirst du die Wahrheit finden.]

Zur "Politikfinanzierung" rechne ich

  • die Bezahlung und Versorgung der Abgeordneten des Europäischen Parlaments;

  • die Bezahlung und Versorgung der Mitglieder der Europäischen Kommission, des Europäischen Gerichtshofs, des Europäischen Rechnungshofs etc.;

  • die Bezahlung und Versorgung der Europabeamten und -angestellten und

  • die öffentliche Finanzierung der sogenannten europäischen politischen Parteien und der Fraktionen des Europaparlaments.

Alles, was wir an Europa kritisieren, findet sich in potenzierter Weise in der Finanzierung seiner Amtsträger, seiner Abgeordneten, seiner Beamten, seiner Parteien und Fraktionen wieder:

  • die Abgehobenheit Europas und seiner Aktivisten von den Bürgern;

  • die mangelnde Kontrolle der europäischen Organe;

  • das Demokratiedefizit;

  • das – kaum kontrollierte – Wirken der Eigeninteressen der politischen Klasse.

Bürgerferne und mangelnde Kontrolle führen dazu, daß fast alle guten demokratischen Grundsätze, die im nationalen Bereich im Laufe der Geschichte mühsam erkämpft wurden, auf europäischer Ebene einfach außer Kraft gesetzt sind. Die europäische Politikfinanzierung kennt eine Fülle von Privilegien, die auf nationaler Ebene völlig undenkbar wären, in Europa aber hingenommen werden, so als wäre es nichts:

  • Europa-Beamte verdienen im Allgemeinen etwa doppelt so viel wie deutsche Beamte mit vergleichbarem Aufgabenbereich. Von den nicht nachvollziehbaren Gehaltsprivilegien profitieren auch Ruhestandsbeamte. Gewaltige, im nationalen Bereich längst abgeschaffte Steuerprivilegien verschaffen den Begünstigten unglaubliche Vorteile. Das ganze Ausmaß der Privilegierung wird durch mancherlei Kunstkniffe verheimlicht, so daß die Öffentlichkeit kaum nachprüfen kann, wie hoch die Bezüge, Versorgungen etc. eigentlich sind. In diesem Buch werden sie exakt vorgerechnet.

  • Die Bezahlung und Versorgung von hohen Amtsträgern wie z. B. den Kommissaren, von Richtern und den Finanzkontrolleuren lehnt sich an das "Modell" der Europabeamten an, sattelt aber noch weitere Privilegien drauf.

  • Die Bezahlung und Versorgung der Europa-Abgeordneten ist derzeit zweispurig geregelt: Die Abgeordneten erhalten dieselbe Bezahlung wie die Mitglieder ihres Heimatparlaments. Ihr finanzieller Status ist also – je nach nationaler Herkunft – unterschiedlich. Zusätzlich bekommen aber alle Abgeordneten aus dem europäischen Haushaltstopf Spesenzahlungen, die auf verschleierte Zusatzeinkommen hinauslaufen und rechtlich und politisch unhaltbar sind.

Die Bezahlung sollte Anfang 2004 – aufgrund einer fraktionsübergreifenden Initiative – für alle Abgeordneten des Europäischen Parlaments auf hohem Niveau vereinheitlicht werden. Doch der Rat verweigerte zunächst seine Zustimmung. Einer etwas abgespeckten Version hat er aber im Sommer 2005 zugestimmt. Die Neuregelung, die allerdings erst im Jahre 2009, zu Beginn der nächsten Wahlperiode, in Kraft tritt, wird dazu führen, daß große Gruppen von Abgeordneten plötzlich ein Mehrfaches ihrer bisherigen Bezüge erhalten. Zugleich sollen Abgeordnete Steuerprivilegien der europäischen Beamten und hohen Amtsträger erhalten. Die in Jahrhunderten errungene Gleichheit vor dem (Steuer-)Gesetz droht von Europa her wieder abgeschafft zu werden, und dies ausgerechnet zugunsten der "Volksvertreter" – ein unübersehbares Symbol für die Abgehobenheit der europäischen Politik. Zum ganz normalen Alltag gehört auch die legalisierte Spesenreiterei und Scheinbeschäftigung von Angehörigen auf Kosten der Steuerzahler, was Abgeordneten und ihren Familien ein illegales Zusatzeinkommen verschafft.

Die Symbiose von Politik und Wirtschaft spiegelt sich unter anderem darin wider, daß systematische Bestechung "ganz legal" ist. So läßt sich der einflußreiche Abgeordnete Elmar Brok, Vorsitzender des auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments, – zusätzlich zu seinem Gehalt als Abgeordneter – auch noch als Chef eines Lobbybüros üppig bezahlen. Die angestrebte Transparenz der "Nebenbeschäftigung" von europäischen Abgeordneten ist eine Scheintransparenz: Sie wird nur von denen eingehalten, die ohnehin nichts zu verbergen haben, nicht also etwa von Elmar Brok, der über die Höhe seines Zusatzverdienstes als Lobbyist schweigt.

  • Im Jahre 2003 ist es – aufgrund einer Gemeinschaftsinitiative der vier großen Fraktionen des Europäischen Parlaments – auch zu einer öffentlichen Finanzierung von "Parteien" auf europäischer Ebene gekommen. Dabei wurden alle vom deutschen Bundesverfassungsgericht und vom Europarat entwickelten Grundsätze für die staatliche Parteienfinanzierung mißachtet. Weder muß mindestens die Hälfte der Einnahmen der europäischen Partei in Form von Mitgliedsbeiträgen und Spenden von den Bürgern herrühren. Noch wird die Bevorzugung größerer Parteien unterbunden. Indem als Kriterium festgelegt wird, daß eine Partei in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten, also derzeit sieben, vertreten sein muß, kommt die öffentliche Finanzierung allein den Etablierten zugute und schließt kleinere Parteien aus, selbst wenn sie Abgeordnete im Europäischen Parlament haben. Die Entwicklung zu "Kartellparteien", die sich selbst kraft ihrer politischen Macht Wettbewerbsvorteile verschaffen und die kleineren Herausfordererparteien erdrücken, droht von Europa her einen gewaltigen Schub zu erhalten.

  • Argumentativer Ausgangspunkt für die Einführung einer öffentlichen Parteienfinanzierung auf Europaebene war ein Bericht des Europäischen Rechnungshofs. Er hat gezeigt, daß die jetzige Praxis illegal ist: Bisher finanzierten die europäischen Parteien sich über ihre – außerordentlich üppig subventionierten – Fraktionen des Europäischen Parlaments. Statt diese Form der Finanzierung nun aber zu beseitigen, haben die großen Fraktionen zusätzlich eine unmittelbare Finanzierung der Parteien aus dem Europahaushalt eingeführt, die rechtswidrige bisherige Finanzierung aber gleichwohl bestehen gelassen.

Dabei fehlte in den europäischen Verträgen zunächst eine tragfähige rechtliche Grundlage für eine derartige Finanzierung der "europäischen politischen Parteien". Diese Grundlage wurde erst durch den Vertrag von Nizza geschaffen, der aber natürlich erst in Kraft treten konnte, nachdem er von allen fünfzehn Mitgliedstaaten ratifiziert worden war. Ebendies wurde durch das negative Referendum Irlands zunächst in Frage gestellt. Der Umgang mit diesem unmittelbaren Votum des irischen Volkes macht übrigens die ganze Bürgerferne des europäischen Machtdreiecks schlaglichtartig deutlich: Das offizielle Europa reagierte mit einer Art Mobbingkampagne gegen die Mehrheit der irischen Bürger, denen Beschränktheit und Fehleinschätzung vorgeworfen wurden.

Wie aber ist eine politische Klasse einzuschätzen, die ihre Finanzierung einseitig fördert, den Erlaß eines einheitlichen Wahlrechts, den der EG-Vertrag lange sogar ausdrücklich vorschrieb, dagegen auf die lange Bank schiebt? Wie kann ein Parlament, das in eigener Sache derart lax mit Recht und Gesetz umgeht und illegale Bereicherung und Korruption seiner Mitglieder sehenden Auges duldet, als Kontrollorgan noch ernst genommen werden? Die Bürgerferne und die mangelnde Kontrolle der europäischen Institutionen verführen dazu, Regelungen einzuführen, die demokratischen und rechtsstaatlichen Standards grob widersprechen. Den Regelungen über den europäischen Haftbefehl etwa konnten erst durch das Bundesverfassungsgericht die schlimmsten Giftzähne gezogen werden. "Europol"-Beamten wird Immunität gewährt, so daß der Bürger selbst gegen eindeutig rechtswidrig handelnde Beamte nichts unternehmen kann (wenn er überhaupt etwas von deren Hintergrundaktivitäten erfährt). Der Rechtsstaat wird noch weiter ausgehebelt, wenn Europol weitere Befugnisse übertragen werden, wie dies im Zuge einer verschärften Terroristenbekämpfung zu erwarten (und zum Beispiel vom früheren deutschen Bundesinnenminister Otto Schily auch schon in die Diskussion gebracht worden) ist. So droht von Europa her – per Rückwirkung – eine Aufweichung bewährter innerstaatlicher Grundsätze. Hinsichtlich der Politikfinanzierung wird das von manchen Nutznießern auch ganz ungeniert begrüßt. Äußerungen deutscher Politiker lassen gelegentlich die Hoffnung erkennen, auf europäischer Ebene werde man sicher nicht mit so "kleinkarierter Kritik" rechnen müssen wie hierzulande und werde sich deshalb "großzügigere" Leistungen bewilligen können.

So droht vom Kopf her eine Korrumpierung des ganzen öffentlichen Systems. In diesem Zusammenhang ist von erheblicher Symbolkraft, daß in Belgien, dem Hauptsitz der Europäischen Union, ein unglaubliches Maß an Korruption herrscht, wie mehrere innerbelgische Skandale gezeigt haben. Schon bei der Bestimmung der Hauptstadt (bzw. der Hauptstädte) Europas soll Korruption im Spiel gewesen sein.

Sämtliche Probleme Europas ufern immer weiter aus, und ihre Eindämmung wird weiter erschwert, nachdem – im Zuge der Osterweiterung – aus den bisher 15 Mitgliedstaaten 25 geworden sind – und demnächst 27, 28 oder mehr werden sollen. Die Probleme der deutschen Vereinigung – sie war ein erster, aber noch relativ einfacher Fall von Osterweiterung – sollten uns eigentlich gelehrt haben, was da alles auf uns zukommen kann. Nach Öffnung der Grenzen gen Osten wird auch die öffentliche Sicherheit erheblich schwerer zu garantieren sein – ein Thema, dessen Bedeutung spätestens nach den Terrorattentaten von New York und Washington einem breiten Publikum bewußt geworden ist.

Die aus dem Ruder gelaufenen Regelungen der europäischen Politikfinanzierung bildeten übrigens einen gewaltigen Anreiz für Politiker und Parteien der Beitrittsländer, ebenfalls Zutritt zu diesem Paradies der politischen Klasse zu gewinnen. Es handelt sich um eine massive Bestechung der politischen Führungen auch der möglichen künftigen Beitrittsländer. Für Persönlichkeiten aus dem Osten, die ein Mandat im Europäischen Parlament ergattern oder gar Kommissar, Richter, Rechnungsprüfer oder auch nur Beamter in der EU werden, kommt dies häufig einem Lottogewinn gleich. Das dürfte auch Rückwirkungen auf das heimische Gehaltniveau der politischen Klasse haben und dies hochdrücken.

So zweifelhaft die Erfolgsaussichten eines zügellosen Projekts Europa aus der Sicht der Bürger sind, so sicher ist, daß es sich für die Akteure des Machtdreiecks auszahlt.

Das Wachstum des Monsters: Der rasch zunehmende Einfluß der Europäischen Union

Die staatsrechtlichen und demokratietheoretischen Probleme eines zusammenwachsenden Europas sind in jüngerer Zeit immer mehr ins Blickfeld der Wissenschaft und der Fachöffentlichkeit getreten – und seit den spektakulären Volksabstimmungen zum europäischen Verfassungsvertrag sind sie auch Gegenstand einer breiten öffentlichen Diskussion. Der Gedanke eines vereinten Europas war nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs von großen Männern zwar schon früh konzipiert worden. Die Rede Churchills am 19. September 1946 in Zürich ist hier ebenso zu nennen wie Walter Hallsteins Vision von einem Europäischen Bundesstaat. Es blieb jedoch vorerst bei der Vision. Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft bestanden zunächst vor allem in einem Negativum: Zum Zwecke der Durchsetzung ungehinderten Wettbewerbs sollten alle Beschränkungen abgebaut werden. Die eng begrenzten Aufgaben der Europäischen Gemeinschaften machten es lange möglich, sie bloß als supranationale Zweckverbände zu kennzeichnen. Mit dem enormen Aufgabenzuwachs, den die supranationalen europäischen Einrichtungen inzwischen erfahren haben, hat sich das grundlegend geändert. Die wichtigsten Stationen dieses Funktionszuwachses sind

  • die Einheitliche Europäische Akte (1987),

  • der Vertrag von Maastricht (1992), ergänzt durch den Vertrag von Amsterdam (1997),

  • der Übergang zur Währungsunion zum 1. Januar 1999 samt Einführung des Euro als gemeinschaftlicher Währung und

  • der Beitritt von zehn weiteren Ländern am 1. April 2004 (Stichwort "Osterweiterung").

Der Maastricht-Vertrag zielt in seiner Präambel auch ausdrücklich auf eine immer engere Union der Völker Europas. Der Vertrag von Nizza (2000) und der nach mehreren Volksabstimmungen im Jahre 2005 gescheiterte Verfassungsvertrag stellen allerdings vorläufige Rückschritte dar.

In dem Maße, in dem allgemein deutlich wurde, daß Europa unser Schicksal ist, standen aber auch die Grundfragen plötzlich vor der Tür der Wissenschaften. Sie stellten Fragen, an denen man nicht mehr vorbeisehen kann: Staatsrechtler fragen, ob das Grundgesetz die Übertragung von so viel Kompetenzen auf ein supranationales Gebilde zuläßt und ob sich die Europäische Union nicht zu einem Bundesstaat, also einem wirklichen "Staat" im verfassungsrechtlichen Sinn entwickelt. Politik- und Verwaltungswissenschaftler fragen, zu welchen Verschiebungen im politischen Gefüge die Neuerungen führen und was von der parlamentarischen Demokratie bleibt, wenn die Exekutive fast alle politischen Entscheidungen von Bedeutung trifft.

In der breiten Öffentlichkeit fand diese wissenschaftliche Diskussion bisher keinen großen Widerhall. In Deutschland jedenfalls wurde eine rationale öffentliche Diskussion der Chancen und Gefahren des europäischen Zusammenwachsens von der politischen Klasse systematisch unterdrückt. Hätte dagegen durch Volksentscheide über den Beitritt zur Europäischen Union, über den Nizza-Vertrag und andere Verträge oder über die Annahme des Verfassungsvertrages abgestimmt werden müssen wie zum Beispiel in Frankreich, Dänemark und den Niederlanden, wäre das anders. Dann hätten die Politiker den Bürgern das Thema nahebringen und sie von den Vorteilen des eingeschlagenen Weges überzeugen müssen – oder wären eben daran gescheitert.

Die enorme Rolle, die die Europäischen Gemeinschaften spielen, signalisieren bereits einige Zahlen: Wie von kundiger Seite geschätzt, dient die deutsche Gesetz- und Verordnungsgebung auf dem Gebiet des Wirtschafts-, Sozial- und Steuerrechts gegenwärtig zu etwa 80 Prozent der Umsetzung europarechtlicher Normen. Rund 70 Prozent der Regelungen, die in Brüssel beschlossen werden, wirken sich direkt auf das Leben der Bundesbürger aus. Fast 50 Prozent aller deutschen Gesetze gehen auf europäisches Recht zurück. Die Zahl der Normsetzungsakte des Gemeinschaftsrechts ist bereits im Jahre 1992 auf etwa 57.000 und die jährliche Zuwachsrate auf 3000 oder mehr geschätzt worden. Im Jahre 1998 beispielsweise wurden 2854 Verordnungen, 109 Richtlinien, 460 sonstige Entscheidungen und 130 sonstige Beschlüsse erlassen. 130.000 "Rechtsakte" sollen inzwischen zum "gemeinschaftlichen Besitzstand" gehören, und der wächst und wächst. Bezeichnend ist, daß offenbar niemand die genaue Zahl kennt.

Das täglich erscheinende Amtsblatt umfaßte im Jahr 2004 mehr als 800.000 Seiten. Bundestagsabgeordnete können ein Lied davon singen, was das rein mengenmäßig bedeutet. Jede Woche landet ein Stapel von einem halben Meter Dicke auf ihrem Schreibtisch, der – schon wegen der Menge, die nur bei bester Organisation der Verfahren zu bewältigen wäre, – zum großen Teil ungelesen in der Ablage oder gar im Papierkorb landet.

Die Eingriffe Europas in alle Bereiche hinein und häufig über das notwendige Maß hinaus wachsen sich allmählich zu einem schleichenden "EU-Imperalismus" aus. Dies hat sachliche Gründe: Die europäischen Verträge streben "einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker" an, ohne einen klaren Schlußpunkt der Entwicklung zu nennen. Zudem sind die Aufgaben der EU nicht bereichsmäßig begrenzt, sondern in Form von Zielen formuliert. Diese aber können praktisch alle Bereiche durchdringen. Die ständige Ausdehnung der EU hat darüber hinaus auch institutionelle Gründe. In den vielen spezialisierten Räten, in die "der Ministerrat" zerfällt, sind jeweils die Fachminister mit ihren angegliederten Fachbruderschaften unter sich, die erfahrungsgemäß auf die Ausweitung ihrer jeweiligen Belange drängen.

Dazu kommt die Versuchung, Unangenehmes, das man national nicht verantworten zu können glaubt, auf Brüssel abzuschieben, wo ohnehin kaum jemand durchblickt. Ein gleichgerichteter Trend zeigt sich in der Kommission: Jeder der inzwischen 25 Kommissare will sich auf seinem Gebiet profilieren, und die Kommission hat eben das Recht, auf allen Gebieten Initiativen zu entfalten. Auch das Europäische Parlament tendiert im Zweifel zu einer Ausdehnung der Kompetenzen Europas und damit seines eigenen Einflusses. Für den Europäischen Gerichtshof gilt dies erst recht. Er hat im Zuge seiner Rechtsprechung immer mehr Macht an sich gerissen und dem Europarecht immer intensivere Geltung verschafft. Das Subsidiaritätsprinzip gewährleistet keine ausreichende Kontrolle gegen diese Entwicklung. Solange der Europäische Gerichtshof über seine Auslegung urteilt, wird der EU-immanente Trend zur Zentralisierung kaum gebremst werden können.

Europa ohne Volk: Demokratiedefizite in der EU

Der Maßstab: Regieren des Volkes, durch das Volk und für das Volk

Daß die EU unter einem Demokratiedefizit leidet, ist inzwischen schon fast Gemeingut. Doch welches sind die genauen Maßstäbe? Letztlich geht es in Sachen Demokratie um zwei Prinzipien, die gewiß immer nur graduell erreichbar sind und zum Teil auch miteinander in Widerspruch stehen können, die aber gleichwohl anzustrebende letzte Ziele sind: Selbstentscheidung des Volkes und inhaltliche Richtigkeit. Klassischen Ausdruck hat beides in der sogenannten Lincolnschen Formel gefunden, wonach Demokratie "Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk" ist. So hatte es der amerikanische Präsident Abraham Lincoln 1863 in seiner berühmten, allerdings gelegentlich auch mißverstandenen Gettysburger Ansprache formuliert. Regierung durch das Volk verlangt, daß die Bürger Einfluß auf die Politik haben, Regierung für das Volk, daß die Politik den Interessen der Bürger, und zwar möglichst aller Bürger gerecht wird. In jüngerer Zeit wird die Lincolnsche Formel immer häufiger herangezogen und damit ihre Brauchbarkeit als grundlegender zweifacher Bewertungsmaßstab bestätigt.

Das dritte Element der Lincolnschen Formel, government of the people, setzt voraus, daß überhaupt ein Volk und damit ein Mindestmaß an Homogenität vorhanden ist. Vorausgesetzt wird ein gewisses Wir- und Einheitsgefühl, also eine gemeinsame Identität, die Mehrheitsentscheidungen für die überstimmte Minderheit überhaupt erst akzeptabel machen. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen kann in Nationalstaaten, auf die das Demokratiekonzept sich lange vornehmlich bezog, als selbstverständlich unterstellt werden und bedurfte deshalb keiner ausdrücklichen Erwähnung. Die enge Verknüpfung der Entwicklungsgeschichte von Demokratie und Nationalstaat erklärt, warum das dritte Element der Lincolnschen Formel lange überhaupt nicht in Erscheinung trat. Richtet sich die Analyse aber auf eine supranationale Organisation wie die EU, so ändert sich das Bild. Hier steht die Existenz jenes Mindesmaßes an Homogenität gerade in Frage. Das lange vernachlässigte dritte Element der Lincolnschen Formel erwacht auf EU-Ebene deshalb aus seinem Dörnröschenschlaf und wird in hohem Maße relevant.

Die Ansätze politikwissenschaftlicher Demokratietheorien sind oft ausgesprochen einseitig. Herkömmlicherweise werden zwei Gruppen unterschieden: Ansätze, die die Mitwirkung der Bürger in den Mittelpunkt stellen ("Partizipationstheorien", "Inputtheorien"), und Ansätze, die das Schwergewicht auf brauchbare inhaltliche Ergebnisse legen ("Outputtheorien"). Diese Ansätze vermitteln gelegentlich den Eindruck, als käme es nur auf eines der beiden oben genannten Kriterien an, so als könne sich jeder die maßgeblichen Kriterien selbst zusammenstellen. Das aber trifft nicht zu. In Wahrheit müssen beide Grundwerte (Selbstbestimmung und Richtigkeit) als Beurteilungskriterien herangezogen werden. Zusätzlich muß auch das dritte Element vorhanden sein, ein Minimum an Homogenität, das Mehrheitsentscheidungen für die überstimmte Minderheit erst zumutbar macht.
In einer echten Demokratie geht der nächstliegende Weg zur Realisierung von Gemeinwohl natürlich dahin, den Willen des Volkes zur Geltung zu bringen; zugrunde liegt die Überzeugung, die Bürger wüßten selbst immer noch am besten, was gut für sie ist. Hier läuft Regieren für das Volk also auf Regieren durch das Volk hinaus. Dazu ist es nötig, den Willen der Bürger insgesamt zum Ausdruck und zur politischen Wirksamkeit zu bringen.

Den Gegenpol bildet der Versuch, den Interessen und Belangen des Volkes unabhängig von seinem Willen Geltung zu verschaffen. Danach sind alle Amtsträger auf das Gemeinwohl verpflichtet. Das gilt sowohl für die gezielt unabhängig gestellten Amtsträger (Gerichte, Rechnungshöfe, die Bundesbank beziehungsweise die Europäische Zentralbank und die Europäische Kommission), die mittels ihrer Unabhängigkeit in die Lage versetzt werden sollen, die Gemeinwohlverpflichtung leichter einzuhalten, als auch für die gewählten Regierungen, Parlamente, Minister und Abgeordneten. Das preußische Pflichten- und Beamtenethos und das US-amerikanische Trust-Konzept sind aus diesem Gedanken heraus entstanden. Das zeigt, für wie wichtig das "Regieren für das Volk" gehalten wird – und das mit vollem Recht. Daß aber auch auf das Regieren durch das Volk nicht verzichtet werden kann, belegt schon der Hinweis, daß wir sonst eine Art aufgeklärten Absolutismus hätten. Denn auch Friedrich der Große sah sich als "aufgeklärten Diener seines Staates". Im Folgenden werden deshalb alle drei Elemente der Lincolnschen Formel zugrunde gelegt.

Die Lincolnsche Formel kann die Richtung weisen nicht nur für die Beurteilung des Funktionierens der politischen Willensbildung im Rahmen der bestehenden Verträge, die man auch als europäische Verfassung ansehen kann, und der durch sie geschaffenen Institutionen. Sie kann aber auch die Richtung weisen für die Beurteilung der Verfassungsgebung selbst und für ihre Fortentwicklung, also für Verfassungspolitik.

Das Demokratiedefizit der Europäischen Union betrifft sowohl die mangelnde Bürgerpartizipation als auch die mangelnde politische Handlungsfähigkeit als schließlich auch die mangelnde Existenz eines homogenen europäischen Volkes.

Leere Versprechungen: Demokratie in Europa

Das Demokratieprinzip wird in den europäischen Verträgen geradezu emphatisch und an vorderster Stelle betont. So bekennen sich etwa in der Präambel des Vertrages über die Europäische Union die Mitgliedstaaten ausdrücklich zur Demokratie und erklären den

Wunsch, Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe (der Union) weiter zu stärken.

Nach Art. 1 Abs. 2 EUV stellt dieser Vertrag

eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar, in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden

sollen. Und in Art. 6 Abs. 1 EUV wird bekräftigt, daß die EU

auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit

beruhe. Zudem darf Deutschland sich nach Art. 23 Abs. 1 GG an der Europäischen Union nur beteiligen, wenn diese demokratischen Grundsätzen entspricht. Diesen normativen Postulaten zufolge müßte der Gedanke der Demokratie ganz im Vordergrund der Europäischen Gemeinschaften stehen. In Wahrheit ist genau das Gegenteil der Fall, so daß die vielfache Beschwörung der Demokratie fast wie ein Ritual anmutet, um so künstlicher und vorgeschützter, je weiter es von der Wirklichkeit entfernt ist.

Will man die Strukturen der Europäischen Union auf ihre demokratischen Qualitäten hin untersuchen, steht eine Komponente der Lincolnschen Formel regelmäßig im Vordergrund: das Regieren durch das Volk. Auch wir werden mit dieser Seite des Demokratieprinzips (und den entsprechenden Defiziten) beginnen.

Volkssouveränität durch demokratische Verfassungsgebung?

Zu unterscheiden sind zwei Ebenen: die Ebene der Vertrags- beziehungsweise Verfassungsgebung (durch den sogenannten "pouvoir constituant") und die Ebene der Politik auf der Basis der gegebenen Verfassung (durch den sogenannten "pouvoir constitué"). Die Verträge, also das europäische Primärrecht, sind europäisches Verfassungsrecht. Es hat Vorrang vor nationalem Recht und gilt unmittelbar, besitzt also von der Wirkung her die entscheidenden Qualitäten des Verfassungsrechts.

Die Verfassungsgebung ist nach demokratischen Grundsätzen eigentlich in besonderem Maße Sache des Volkes. Das ist der Kern der sogenannten Volkssouveränität. Tatsächlich liegt die Gestaltung der europäischen Verträge in der Hand der Regierungen. Die Regierungen der Mitgliedstaaten schließen die Verträge und ihre Änderungen ab. Das Volk darf darüber aber nicht in allen Staaten abstimmen. Häufig brauchen lediglich die Parlamente zuzustimmen, indem sie die Verträge "ratifizieren". Sie können die Verhandlungspakete aber nicht wieder aufschnüren, sondern nur insgesamt absegnen. Die Verweigerung der Zustimmung würde das Ganze gefährden. Das aber riskiert die Parlamentsmehrheit schon deshalb nicht, weil die Mehrheitsparteien hinter der von ihnen getragenen Regierung stehen und sie diese nicht durch Kritik des von ihnen ausgehandelten Vertrages in Verlegenheit bringen wollen. Es fehlt also bereits der Kontrollwille. Die "Parlamente werden zur Zustimmung quasi genötigt."

Besonders in Deutschland kommt noch die allgemeine Neigung der Eliten hinzu, jede Kritik an der Art und Weise der europäischen Integration als Kritik an der europäischen Idee mißzuverstehen und möglichst zu unterdrücken. Die (fundamental wichtigen) Abstimmungen etwa über den Maastricht-Vertrag und den Nizza-Vertrag erfolgten ohne lange Debatte im Parlament. Der Bundestag hat sogar den europäischen Verfassungsvertrag ohne größere Diskussion "durchgewunken". Die Voreingenommenheit war so groß, daß selbst prominente Mitglieder der zuständigen Bundestagsausschüsse, die sich mit der Materie eigentlich intensiv hätten befassen müssen, nicht einmal wichtige Strukturelemente des Vertrages kannten, wie eine Befragung von Abgeordneten durch das Fernsehmagazin "Panorama" am Tage der Parlamentsabstimmung ergab.

Entsprechend lau war auch die öffentliche Diskussion außerhalb des Parlaments. Wie immer, wenn das Volk nichts zu sagen hat, fehlte bei allen derartigen Fragen, so fundamental sie auch sein mochten, jede breite und tiefgehende öffentliche Diskussion. Das Gefühl der politischen Elite, die Bürger nicht überzeugen zu müssen, und das Gefühl der Bürger und Medien, doch nichts bewirken zu können, weil alles schon entschieden sei, nahm jeder großen Debatte schon im Ansatz die Motivation. Nur die Anfechtung des Maastricht-Vertrages vor dem Bundesverfassungsgericht hat eine gewisse Ersatzdiskussion ausgelöst – dies vornehmlich allerdings unter Verfassungsjuristen.

Das Entscheiden der Regierungen und das Durchwinken der Europaverträge und sogar des Verfassungsvertrages durch die Parlamente begründet ein äußert geringes Partizipationsniveau. Hinzu kommt noch die krasse Ungleichheit der Partizipation. Denn beim eigentlichen Festzurren des Vertragsinhalts in den Regierungsverhandlungen haben selbst die kleinsten Staaten, zumindest formal, dasselbe Gewicht wie die größten. Da jeder einzelne alles blockieren kann, kann er die Interessen seiner Bürger in ähnlich starkem Maße durchsetzen wie die Großen die Interessen ihrer Bürger, obwohl diese quantitativ sehr viel mehr sind. Die ratifizierenden Parlamente können das nicht kompensieren, wenn sie nur "durchwinken". Insofern ist das Demokratiedefizit des "pouvoir constituant", soweit es die fehlende Gleichheit betrifft, noch größer als das des "pouvoir constitué", wo beim Rat und dem Europäischen Parlament immerhin eine gewisse Gewichtung des nationalen Einflusses entsprechend der Größe der Bevölkerung erfolgt. In Deutschland haben bei Änderung des Grundgesetzes die Bundesländer immerhin nach ihrer Größe gewichtete Stimmen. Bei der Fortentwicklung des europäischen Verfassungsrechts ist dies nicht der Fall. Es wird nach wie vor als Völkerrecht behandelt, obwohl es längst den Charakter supranationalen Verfassungsrechts angenommen hat.

Noch geringer ist das Legitimationsniveau des Europäischen Gerichtshofs, der mit seinen Urteilen nicht selten den Inhalt der Verträge verändert und damit an die Stelle des Verfassungsgebers tritt. Die unmittelbare Wirkung und den Vorrang des Europarechts haben nicht die Regierungen zu beschließen gewagt, die sich dafür hätten verantworten müssen. Das hat vielmehr der Gerichtshof entschieden, den niemand zur Verantwortung ziehen kann. Er hat sich dadurch, daß er das europäische Primärrecht zum Verfassungsrecht machte, quasi verfassungsgebende Gewalt angemaßt, ohne dazu eigentlich legitimiert zu sein.

Die Demokratiedefizite auf europäischer Ebene gehen aber noch sehr viel weiter. Das zeigt sich, wenn man überprüft, wie demokratisch die wichtigsten Organe der Gemeinschaft bei Schaffung des europäischen Sekundärrechts, also etwa beim Erlaß von Verordnungen, Richtlinien (Art. 249 EG) und Rahmenbeschlüssen (zum Beispiel Art. 34 EUV) sind.

Der Rat: Exekutiver Herrscher Europas

Die Begriffe sind verwirrend. Einmal kennt der EU-Vertrag einen "Europäischen Rat". Dieser gibt nach Art. 4 Abs. 1 EUV "der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für diese Entwicklung fest." In ihm "kommen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und der Präsident der Kommission zusammen. Sie werden von den Ministern für Auswärtige Angelegenheiten der Mitgliedstaaten und einem Mitglied der Kommission unterstützt" (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 und 2 EUV). Die Beschlüsse des Europäischen Rats, der mindestens zweimal jährlich zusammentritt (Art. 4 Abs. 2 Satz 3 EUV), haben keine juristische Qualität, können aber hohe politische Relevanz besitzen.

Vom Europäischen Rat zu unterscheiden ist ein anderer Rat, der sich, um die Begriffsverwirrung zu erhöhen, auch "Rat der Europäischen Union" nennt. Er ist Organ der Gemeinschaft (Art. 7 Abs. 1 EG). Seine Aufgaben und Arbeitsweise sind in Art. 202 bis 210 EG geregelt. Er wird im Folgenden behandelt. Er ist gemeint, wenn hier vom Rat die Rede ist.

Drittens spricht der EG-Vertrag – und das treibt das Verwirrspiel auf die Spitze – von den "im Rat vereinigten Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten". Ihre Aufgabe ist zum Beispiel die Ernennung der Richter des Europäischen Gerichtshofs (Art. 223 Abs. 1 EG).

Schließlich gibt es die Konferenz der Regierungen der Mitgliedstaaten, die – sozusagen auf Verfassungsebene – Änderungen der Verträge beschließt, die dann von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden müssen.

Alle Macht dem Rate

Hauptorgan der Europäischen Union ist nach wie vor der Rat. Neben seinen Exekutivbefugnissen spricht der Rat besonders bei der Rechtsetzung das entscheidende Wort. Er hat auch wichtige Kompetenzen etwa bei der Gestaltung des Haushalts, der auswärtigen Beziehungen sowie bei der Bestellung der Mitglieder der Kommission und des Rechnungshofs. Er besteht nach Art. 203 Abs. 1 EG aus je einem Vertreter der 25 Mitgliedstaaten auf Ministerebene. Der Vorsitz wechselt alle sechs Monate. So hat im zweiten Halbjahr 2005 Großbritannien, im ersten Halbjahr 2006 Österreich den Vorsitz inne.

Verlust der Einheit: Die Vielzahl der Räte

Welches Regierungsmitglied die Staaten in den Rat entsenden, bleibt ihnen überlassen. Regelmäßig sind es die Fachminister. Der Rat tagt deshalb in wechselnder Besetzung. Je nachdem, welche Materie zu behandeln ist, besteht "der" Rat aus den Außenministern der 25 Mitgliedstaaten, aus den Landwirtschaftsministern, den Wirtschaftsministern, den Justizministern, den Umweltministern, den Arbeits- und Sozialministern etc. Der Rat wird dann entsprechend bezeichnet, zum Beispiel als Agrarministerrat. Bei allgemeinpolitischen Fragen entscheiden die Außenminister. In besonderen Fällen tagt der Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs. In Wahrheit gibt es deshalb nicht einen Rat, sondern eine Vielzahl von Räten. Die Aufspaltung nahm mit Erweiterung der Kompetenzen der Gemeinschaft stetig zu – bis hin zu rund 20 unterschiedlichen Zusammensetzungen, in denen "der" Rat tagte. Das war offensichtlich kein sinnvoller Zustand. 1999 beschränkte der Rat von Helsinki deshalb die Anzahl der Räte durch Zusammenlegung auf 15, und 2002 reduzierte der Rat von Sevilla sie durch weitere Zusammenlegungen auf 10. Die Geschäftsordnung des Rats in der Fassung vom 22. März 2004 nennt nunmehr neben dem Rat für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen acht spezialisierte Räte:

  • Wirtschaft und Finanzen
  • Justiz und Inneres
  • Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz
  • Wettbewerbsfähigkeit (Binnenmarkt, Industrie und Forschung)
  • Verkehr, Telekommunikation und Energie
  • Landwirtschaft und Fischerei
  • Umwelt
  • Bildung, Jugend und Kultur

Der Übersichtlichkeit und Verständlichkeit dient diese Aufsplitterung natürlich nicht. Zudem drohen die allgemeinen Belange von den Spezialinteressen überwuchert zu werden und zu kurz zu kommen: Wenn bei den Entscheidungen des Rats regelmäßig die Fachminister unter sich sind, hat das zwar sicher den Vorteil, daß diese (und ihr ministerieller Unterbau, der ihnen zuarbeitet) etwas von der Materie verstehen. Es hat aber auch den großen Nachteil, daß Fachleute dazu tendieren, ihr jeweiliges Ressort überzubewerten und ungebührlich auszuweiten. Deshalb kommt in den nationalen Regierungen dem Regierungschef und dem Finanzminister regelmäßig die Aufgabe zu, gegenzusteuern und ein Überwuchern des Allgemeininteresses durch Spezialbelange zu verhindern. Zu diesem Zweck geben die nationalen Verfassungen und Geschäftsordnungen dem Regierungschef und dem Finanzminister eine besonders starke Stellung innerhalb des Regierungskollegiums. Derartige Gegengewichte fehlen in den bloß aus Spezialisten zusammengesetzten Räten der EU. Da jeweils die Spezialisten eines bestimmten Bereichs ganz unter sich sind, ist die Gefahr von Einseitigkeiten hier besonders groß. Darin dürfte ein Grund sowohl für den vielfach kritisierten übertriebenen Aktionismus der EU als auch für die unangemessene Bevorzugung von Spezialbelangen liegen.

Die verborgene Macht: Auslagerung der Entscheidungen in Ausschüsse

Die Unübersichtlichkeit des Entscheidungsablaufs geht aber noch weiter: Die Sitzungen der verschiedenen Räte werden nach Art. 207 Abs. 1 EG von einem "Ausschuß der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten" (AStV) vorbereitet. Dieser gliedert sich in die "Botschafterkonferenz" (zuständig für Grundsatzfragen und den Europäische Rat), den "Ausschuß der Stellvertreter" (sonstige Angelegenheiten) und den "Sonderausschuß Landwirtschaft" und wird von rund 100 Arbeitsgruppen und Untergruppen unterstützt. Bemerkenswert ist, daß der AStV zahlreiche Ratsangelegenheiten faktisch selbst entscheidet. Bestimmte vom AStV einvernehmlich beschlossene Angelegenheiten, die sogenannten A-Punkte auf der Tagesordnung des Rats (Art. 2 Abs. 6 und 7 Geschäftsordnung), kann der Rat nämlich ohne Aussprache genehmigen (Art. 3 Abs. 6 Geschäftsordnung). In der Praxis wird regelmäßig eine Vielzahl solcher A-Punkte auf einer Liste aufgeführt, die in den Räten überhaupt nicht mehr zur Aussprache gelangen, sondern regelmäßig nur noch en bloc abgesegnet werden. Dieses Verfahren mag zwar der Entlastung der Räte dienen, treibt die Unübersichtlichkeit und die schwache demokratische Legitimation aber auf die Spitze. (Vom AStV, der von der nationalen Ministerialverwaltung gesondert ist, sind, um das Durcheinander zu komplettieren, die Ständigen Vertretungen zu unterscheiden, welche die Mitgliedstaaten als Bindeglied zwischen den EU-Organen, in der Praxis vor allem dem AStV, und den nationalen Ministerien eingerichtet haben.)

Geheimniskrämerei: Auflösung der Verantwortung

Der Rat und der AStV tagen grundsätzlich nicht öffentlich. Auch das ergibt sich lediglich aus der Geschäftsordnung (Art. 5 Abs. 1). Daß das Hauptorgan der EU auch bei seiner wichtigsten Tätigkeit, der Gesetzgebung, in abgeschotteter Heimlichkeit verhandelt, will einem eigentlich nicht in den Kopf, ist aber seit langem Tatsache. Der Rat agiert nach wie vor wie eine diplomatische Konferenz und hat sich an seine Rolle als zentraler Gesetzgeber der EU noch nicht angepaßt. Diese demokratische Perversität kommentiert der frühere Präsident des Europäischen Parlaments, Hänsch, so:

Das hat es in der westlichen Welt noch nie gegeben, jedenfalls unter den Demokratien nicht, daß ein Gesetzgebungsorgan hinter verschlossenen Türen tagt und seine Beschlüsse im Geheimen faßt.

Die Europäische Union bringt jedes Jahr Hunderte von Gesetzen in Form von Verordnungen, Richtlinien und Rahmenbeschlüssen hervor. Das intransparente Arbeiten seines wichtigsten Gesetzgebungsorgans trägt jedoch dazu bei, daß diese Gesetze trotz ihrer häufig großen Bedeutung den Unionsbürgern fremd, nicht nachvollziehbar und deshalb oft auch nicht akzeptabel erscheinen.

Bis vor einiger Zeit war nicht einmal das Abstimmungsverhalten der Regierungsvertreter im Rat publik. Inzwischen ist der Rat dazu übergegangen, beim Erlaß von Rechtsakten immerhin das Abstimmungsverhalten zu veröffentlichen (Art. 9 der Geschäftsordnung). In bestimmten Fällen ist auch die Abstimmung selbst sowie "die ihr vorausgehenden letzten Beratungen des Rats und die Erklärungen der Ratsmitglieder zur Stimmabgabe öffentlich" (Art. 7 der Geschäftsordnung).

Trotzdem bleibt der Entscheidungsprozeß im Rat und in den vorbereitenden Gremien intransparent. Die Nichtöffentlichkeit der Sitzungen bzw. des Hauptteils der Sitzungen erschwert klare Zurechnungen und Beurteilungen, zumal ein großer Teil der Entscheidungen der Sache nach bereits im AStV oder seinen nachgeordneten Ausschüssen getroffen wird. "Die Komplexität der Verhandlungsstruktur" macht es allen Beteiligten leicht, sich "durch unwiderlegbare Berufung auf Kompromißzwänge" im Rat jeder nationalen Steuerung und Kontrolle zu entziehen. Der europäische Gesetzgebungsprozeß fungiert deshalb geradezu als "Verantwortungsverschiebebahnhof", was den Regierungen aber sicher nicht unrecht ist. Wenn die Sache ein Erfolg wird, kann jede Regierung sich die Feder an den Hut stecken. Bei einem Mißerfolg dagegen läßt sich die Schuld immer den anderen zuschieben.

Der Europäische Rat, der vom Rat zu unterscheiden ist, nimmt zwar nicht am förmlichen Gesetzgebungsprozeß teil. Nicht selten gibt er aber dem Ministerrat Direktiven, oder er entscheidet über Angelegenheiten, über die der Rat sich nicht einigen konnte. Dann ist es besonders mißlich, daß er ebenfalls unter Ausschluß der Öffentlichkeit agiert.

Aus allen diesen Gründen erscheint es aus demokratischer Sicht erforderlich, daß der Rat, zumindest wenn er als Organ der Gesetzgebung tätig wird, uneingeschränkt öffentlich verhandelt. Dasselbe sollte möglichst auch für Verhandlungen des AStV gelten, sobald sich herausstellt, daß er die Entscheidung des Rats praktisch vorwegnimmt. Das gilt insbesondere bei Behandlung von die Gesetzgebung betreffenden A-Punkten, solange der Rat an der Praxis festhält, solche Punkte ohne Diskussion anzunehmen, und die Verantwortung der einzelnen Ratsmitglieder nicht deutlich wird. Dasselbe gilt für den Europäischen Rat, wenn er über Fragen der Gesetzgebung entscheidet.

Undemokratische Stimmenverteilung

Der Rat entscheidet – jedenfalls nach den Normen der Verträge – meist mit qualifizierter Mehrheit, wobei die Stimmen der Mitglieder nach ihrer Größe gewichtet werden. Die vier großen Länder (Deutschland, Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich) haben nach Art. 205 Abs. 2 EGV jeweils 29, Polen und Spanien je 27 Stimmen. Kleinere Länder haben

13      Niederlande,
12      Belgien, Griechenland, Portugal, Tschechien und Ungarn,
10      Schweden und Österreich,
07      Dänemark, Finnland, Irland, Litauen und die Slowakei,
04      Estland, Lettland, Luxemburg, Slowenien und Zypern oder
03      Malta.

Zusammen ergibt das 321 Stimmen. Qualifizierte Mehrheit bedeutet eine Mehrheit von mindestens 232 Stimmen. Erfolgt der Beschluß des Rates nach dem Vertrag auf Vorschlag der Kommission, muß zusätzlich nur die Mehrheit der Mitglieder zustimmen (Art. 205 Abs. 2 EGV), sonst sogar zwei Drittel der Mitglieder (Art. 205 Abs. 3). Zudem muß – das wird allerdings nur auf Antrag eines Mitglieds überprüft – die Mehrheit mindestens 62 Prozent der Gesamtbevölkerung repräsentieren (Art. 205 Abs. 4 EGV).

Die Stimmenzahl, die die Mitgliedstaaten im Rat haben, sind, bezogen auf die Zahl ihrer Bürger, zugunsten kleinerer Länder verzerrt, auch zugunsten etwa von Polen. Polen mit seinen rund 38 Millionen Einwohnern hat im Rat, bezogen auf seine Bevölkerung, doppelt so viel Stimmen wie Deutschland mit seinen über 82 Millionen, und Luxemburg mit kaum einer halben Million Einwohner hat sogar das 40fache Stimmgewicht.

Der Stimmenschlüssel privilegiert also die kleinen und mittleren Staaten, aber auch Staaten wie Polen in einer Weise, die auf Dauer mit dem Demokratieprinzip kaum zu vereinbaren ist und deren Gewicht sich mit jeder weiteren Kompetenzverlagerung auf die EU verschärft.

Einstimmigkeit des Rats verlangen die Verträge nur bei bestimmten, als besonders wichtig geltenden Entscheidungen. In diesen Fällen ist die "undemokratische" Benachteiligung bevölkerungsreicher Staaten natürlich noch größer.

Unabhängig davon und jenseits der vertraglichen Regelungen hat sich seit de Gaulles "Politik des leeren Stuhls" und der daraufhin getroffenen "Luxemburger Vereinbarung" von 1966 – informell und ohne juristische Verbindlichkeit – die Praxis entwickelt, daß der Rat von einer rechtlich an sich gegebenen Möglichkeit des Mehrheitsentscheids faktisch dann keinen Gebrauch macht, wenn mindestens ein Mitgliedstaat geltend macht, es ständen "sehr wichtige Interessen" dieses Mitgliedstaats auf dem Spiel. Damals hatte sich abgezeichnet, daß Frankreich in einer wichtigen agrarpolitischen Entscheidung überstimmt werden würde, worauf die französische Regierung mehrere Monate lang die Ratssitzungen boykottierte. Die schwere Krise der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft konnte nur dadurch überwunden werden, daß man übereinkam, auch in den Fällen, wo der Rat aufgrund der Verträge an sich nach dem Mehrheitsprinzip entscheidet, jeder Regierung, die "sehr wichtige Interessen" ihres Landes geltend macht, dennoch eine Art Veto zuzubilligen. Seitdem wurde der Katalog der Mehrheitsentscheidungen durch mehrere Vertragsänderungen stark ausgeweitet. Die Berufung auf "sehr wichtige Interessen" unterblieb häufig, so daß durchaus Mehrheitsentscheidungen zustande kamen, wie etwa bei der EG-Fernsehrichtlinie (1989) und der Richtlinie zum Tabakwerbeverbot (1998). Zudem enthält die Geschäftsordnung des Rats seit 1987 ein Instrument zur Erzwingung von Abstimmungen durch Mehrheitsbeschluß, das auch zum Überspielen der Berufung auf "sehr wichtige Interessen" genutzt werden kann.

Europäische Legitimation? Fehlanzeige

Ein demokratisches Hauptproblem besteht darin, daß der Rat als Ganzes (und erst recht die Vielzahl der tatsächlich bestehenden Räte) niemandem politisch verantwortlich ist. Karl Raimund Popper hat treffend bemerkt, der Kern der Demokratie bestehe darin, daß die Bürger schlechte Herrscher ohne Blutvergießen wieder loswerden könnten, und genau an dieser Möglichkeit, nämlich die Verantwortlichen abzuwählen, fehlt es hier. Die europäische Bürgerschaft kann den Ministerrat weder bestätigen noch abwählen. Es gibt kein europäisches Bestellungs- und Abbestellungsverfahren. Der Rat wird weder direkt vom Volk gewählt wie im Präsidialsystem, noch wird er vom Europäischen Parlament und damit indirekt vom Volk gewählt wie im parlamentarischen System. Da der Rat von den EG-Bürgern weder gewählt noch abgewählt werden kann, er in seiner Gesamtheit also weder durch Bestätigung politisch belohnt noch durch Abwahl bestraft werden kann, ist er niemandem wirklich verantwortlich, was angesichts seiner gewaltigen Regelungsmacht besonders problematisch ist. Anders als die von internationalen Gremien (wie zum Beispiel der UNO) – in deren Organen ebenfalls Regierungsvertreter sitzen, die aber keine Rechtsnormen erlassen können, die innerhalb der Mitgliedstaaten verbindliches Recht darstellen –, haben die vom Rat beschlossenen Verordnungen, Richtlinien und Rahmenbeschlüsse Vorrang vor nationalem Recht und gelten vielfach auch unmittelbar in den Mitgliedstaaten. Deshalb wäre die demokratische Legitimation des Rats eigentlich unverzichtbar.

Nationale Legitimation? Ebenfalls Fehlanzeige

Mangels europäischer demokratischer Legitimation des Rats hat man versucht, Hilfs- und Ersatzlegitimationen zu konstruieren, und darauf verwiesen, jedes Regierungsmitglied sei zu Hause, das heißt in seinem jeweiligen Land, legitimiert. Die Regierungen seien ja schließlich durch die nationalen Parlamente und damit indirekt vom jeweiligen Staatsvolk gewählt. Derartige Versuche tragen aber ebenfalls nicht weit,

  • weil diese Art von Legitimationskette sehr lang und dünn ist;

  • weil die Information der Parlamente und der Bürger über die Mitwirkung der nationalen Regierungen im Rat aufgrund der fehlenden Öffentlichkeit begrenzt ist und deshalb keine wirkliche politische Zurechenbarkeit besteht;

  • weil die Verantwortung auf so viele Schultern verteilt ist, daß die Möglichkeit besteht, die Schuld für Mißerfolge auf andere abzuschieben und eventuelle Erfolge gemeinsam einzuheimsen;

  • weil bei nationalen Wahlen EU-Themen fast keine Rolle spielen. In Deutschland wählt das Volk zunächst einmal Parteien, die ihrerseits vorher die günstigen Listenplätze und die Wahlkreiskandidaten in Hochburgen der Partei verteilt und so festgelegt haben, wer mit Sicherheit Abgeordneter wird. Die Mehrheitsfraktionen wählen, nachdem sie sich regelmäßig in einem Koalitionsvertrag zusammengerauft haben, dann den Bundeskanzler, der dem Bundespräsidenten die Mitglieder seines Kabinetts zur Ernennung vorschlägt. Die so zustande gekommene Bundesregierung entsendet darauf ihre jeweils "zuständigen" Vertreter in den Ministerrat. Ob eine solche "fünffach mittelbare" (so der Staatsrechtslehrer Karl Doehring) Rückführung der öffentlichen Gewalt noch als demokratisch legitimiert angesehen werden kann, ist selbst bei formaler Sicht durchaus zweifelhaft. Auch der Rechtswissenschaftler Klaus Dieter Classen weist darauf hin, daß Legitimationsketten ihre Funktion nur erfüllen können, "wenn sie nicht beliebig lang sind".

Materiell gesehen, fehlt es weitgehend an der politischen Zurechenbarkeit von Entscheidungen im Rat auf die einzelnen beteiligten Regierungsvertreter – und damit fehlt auch die Möglichkeit, sie für bestimmtes Verhalten abzuwählen. Die internen Willensbildungsprozesse im Ministerrat sind nach wie vor in hohem Maße intransparent. Da der Ministerrat grundsätzlich nicht öffentlich verhandelt, können sich Außenstehende kein zuverlässiges Bild über das Zusammenspiel unter den Ratsmitgliedern machen. Selbst das Zusammenwirken zwischen dem Rat, der Kommission und dem Parlament ist sowohl für die Bürger als auch für die Mitglieder der nationalen Parlamente schwer zu durchschauen. Es mangelt an Überblick, was die europäischen Institutionen vorschreiben und welchen Handlungsspielraum die nationalen Mitglieder noch besitzen, was politisch im Rat durchzusetzen gewesen wäre und was nicht, kurz, es herrscht ein enormer Mangel an Informationen, so daß es in der Praxis regelmäßig fast unmöglich ist, politische Entscheidungen – positiv oder negativ – den einzelnen Ratsmitgliedern zuzurechnen. Damit steigt die Möglichkeit von credit claiming, das heißt, das Verdienst für Erfolge zu beanspruchen, und scapegoating, das heißt, bei Mißerfolgen andere zum Sündenbock zu machen. In jedem Fall verteilt sich die Verantwortung auf viele Schultern. Wenn alle zugestimmt haben, kann die Angelegenheit ja gar nicht so schlimm sein, und die Regierung kann im Übrigen immer behaupten, sie habe für ihre Zustimmung an anderer Stelle Vorteile für das Land herausholen können.

Im Grunde genommen ist es also eigentlich unmöglich, aus den nationalstaatlichen Parlamentswahlen eine Vollmacht der Regierungen der Mitgliedstaaten für die europäische Gesetzgebung herzuleiten, die sie gemeinsam im Ministerrat beschließen.

Der Befund für die Europäische Union ähnelt dem für den bundesdeutschen Föderalismus insofern, als der europäische Rat und der deutsche Bundesrat sich beide aus Regierungsvertretern der jeweils "niedereren" Gebietskörperschaften zusammensetzen. Die Kritik am deutschen Föderalismus, an der "organisierten Unverantwortlichkeit", zu der er führt und die seine inzwischen allgemein anerkannte Reformbedürftigkeit begründet, läßt sich bis zu einem gewissen Grad auch auf die Europäische Union übertragen. Ein – die Problematik auf europäischer Ebene noch gewaltig verschärfender – Unterschied besteht allerdings darin, daß der europäische Rat das zentrale Gesetzgebungsorgan ist, während diese Rolle in der Bundesrepublik dem (mittels eines einheitlichen gleichen Wahlrechts vom Volk gewählten) Bundestag zufällt und der Bundesrat nur mitwirkt. (Der europäischen Lage eher vergleichbar wäre eine Konstellation, bei der der Bundesrat das gesetzgeberische Hauptorgan des Bundes wäre.) Hinzu kommt, daß die Bundespolitik bei Landtagswahlen durchaus ein Thema ist, bisweilen sogar das zentrale Thema, während bei Bundestagswahlen die Europapolitik meist kaum eine Rolle spielt. Die nationalen Parlamente und die Bürger werden durch die Institutionen der Europäischen Union noch sehr viel stärker entmachtet als innerhalb des deutschen Föderalismus.

Die politische Klasse – ohne Kontrolle

Kehrseite des Demokratiedefizits ist die wachsende Autonomie der politischen Klasse. Deshalb wird die mangelnde demokratische Kontrolle von den nationalen Regierungen gar nicht wirklich bedauert. In Wahrheit werden eher Krokodilstränen über das Demokratiedefizit vergossen. Keiner der machtvollen Akteure entwickelt besonderen Eifer, das Defizit zu beseitigen; bei vielen ist geradezu das Gegenteil der Fall, eben weil jenes Defizit den demokratie- und kontrollfeindlichen Neigungen der politischen Klasse entgegenkommt. Das gilt nicht nur für den Rat, sondern in noch stärkerem Maße für die Kommission und die ihr unterstehende Bürokratie; die bekannt gewordenen Fälle von Vetternwirtschaft und Korruption sind wohl nur die Spitze des Eisbergs. Hier wiederholt sich, was man exemplarisch im Mitgliedstaat Deutschland beobachten kann: Die Exekutiven haben nicht wirklich etwas dagegen, daß ihre Kontrolle seitens der Parlamente, der Bürger und der Wähler durch die verschiedenen Verflechtungsformen immer schwieriger, ja schließlich fast unmöglich wird, sondern fühlen sich in dieser Konstellation mangelnder Kontrollierbarkeit ganz wohl.

Nur beschränkt handlungsfähig

Soweit es um den bloßen Vollzug der Normen der EG-Verträge durch Kommission und Europäischen Gerichtshof geht, also insbesondere beim Abbau von Wettbewerbshindernissen, ist die Handlungsfähigkeit der EG-Organe kraft ihrer durch die europäischen Verträge garantierten Unabhängigkeit groß. Dasselbe dürfte möglicherweise hinsichtlich der Sicherung einer stabilen Währung durch die unabhängige Europäische Zentralbank zutreffen.

Soweit jedoch der Rat entscheiden muß, sieht die Bilanz anders aus. Dann sind Beschlüsse meist nur auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners möglich. Der Rat entscheidet – jedenfalls nach den Normen der Verträge – zwar meist mit qualifizierter Mehrheit, wobei die Stimmen der Mitglieder nach ihrer Größe gewichtet werden. Einstimmigkeit des Rats verlangen die Verträge nur bei bestimmten, als besonders wichtig geltenden Entscheidungen. Die "Luxemburger Vereinbarung" hat aber praktisch dazu geführt, daß jedes Mitglied "sehr wichtige Interessen" seines Landes geltend machen und dadurch ein Überstimmtwerden verhindern oder zumindest erschweren kann.
Der Effekt der stark eingeschränkten politischen Handlungsfähigkeit hat sich im Zuge der Erweiterung der Europäischen Union auf 25 Mitglieder noch verschärft. Um die Handlungsfähigkeit zu verbessern, wird vielfach gefordert, bei Entscheidungen des Rats vom Einstimmigkeitsprinzip rechtlich noch häufiger, als dies bisher schon geschehen ist, abzugehen und vor allem auch faktisch regelmäßig zum Mehrheitsprinzip überzugehen.

Damit würde das Partizipationsdefizit allerdings noch weiter verschärft. Bei einstimmigen Entscheidungen trägt jedes Mitglied – zumindest theoretisch – Mitverantwortung und kann von seinem heimischen Parlament und seiner Wählerschaft – der Idee nach – zur Verantwortung gezogen werden. Dagegen läßt sich bei Mehrheitsentscheidungen des grundsätzlich nicht öffentlich verhandelnden Rats die Verantwortlichkeit der einzelnen nationalen Regierungen erst recht nicht zuordnen. Das Dilemma scheint unauflöslich.

Unterminierung der europäischen Handlungsfähigkeit Deutschlands

Um das Übergewicht der Bundesregierung in Sachen Europa abzuschwächen, bestimmt Art. 23 Abs. 2 GG, daß die Bundesregierung den Bundestag und den Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union "umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt" zu unterrichten hat. Sie hat dem Bundestag "vor ihrer Mitwirkung an Rechtsakten der Europäischen Union" Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und diese bei ihren Verhandlungen zu "berücksichtigen", eine Formulierung, die keine rechtliche Bindung schafft. Viel bewirkt wird durch derartige Mitwirkungen in der Praxis meist nicht. Den europäischen Haftbefehl hat der Bundestag durchgewunken, ohne dessen rechtsstaatlicher Problematik gerecht zu werden (Näheres unten A.7.2).

Das Dilemma von Handlungsfähigkeit und Bürgernähe wird durch die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland noch zusätzlich verschärft. Der Bundesrat wurde als Einrichtung geschaffen, über die die Länder an der Bundespolitik mitwirken. Doch auf Europaebene existiert kein entsprechendes Gremium. Die Europäische Union ist "länderblind" (so der Staatsrechtslehrer Hans Peter Ipsen). Der Ausschuß der Regionen hat nur beratende Funktion und keine Entscheidungskompetenzen (Art. 263-265 EG). Die wichtigen Entscheidungen fallen im europäischen Rat. Hier wird die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich von der Bundesregierung vertreten. Um diese prinzipielle Zurücksetzung der Länder in der Europapolitik zu mildern, haben die Länderregierungen 1993 eine Neufassung des Art. 23 GG erzwungen. Danach wirken neben dem Bundestag auch die Bundesländer "durch den Bundesrat" in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Zu diesem Zweck ist der Bundesrat "an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig sind" (Art. 23 Abs. 4 GG). Die Stellungnahmen des Bundesrats sind bei ausschließlicher Zuständigkeit des Bundes "zu berücksichtigen". Sie sind dagegen "maßgeblich zu berücksichtigen", "wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind" (Abs. 5). In diesem Fall ergibt sich eine wahre Abstimmungsorgie, deren Einzelheiten in einem eigens dafür erlassenen Gesetz niedergelegt sind: dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union.

Gehört die Materie "im Schwerpunkt" zur ausschließlichen Gesetzgebung der Länder, geht es also zum Beispiel um Fragen der Kulturpolitik, so hat dies sogar Einfluß darauf, wer die Bundesrepublik nach außen vertritt: Dann "soll" statt der Bundesregierung ein "vom Bundesrat benannter Vertreter der Länder", also ein Landespolitiker, die Rechte der Bundesrepublik im Ministerrat oder in anderen Organen der Europäischen Union wahrnehmen (Abs. 6).

Diese Vorschriften sind ein "Monstrum". Sie enthalten eine Anhäufung von unbestimmten und kaum justitiablen Kaugummibegriffen in bisher ungekanntem Ausmaß (zum Beispiel "im Schwerpunkt ... betroffen", "maßgeblich zu berücksichtigen", "die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren"), die zu Rechtsstreitigkeiten geradezu einladen und befürchten lassen, daß politische Streitigkeiten wieder vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen werden.

Die Vorschriften gehen, indem sie die Rechte des Bundesrats hervorkehren, zu Lasten des Bundestags und beeinträchtigen damit die Durchsichtigkeit und Bürgernähe der Entscheidungen noch weiter. Die Möglichkeit, die EU-Rechte durch einen Landesminister wahrnehmen zu lassen, führt zu einer unangemessenen Partikularisierung der auswärtigen Gewalt: Auch ein Bundesstaat sollte nach außen gemeinsam auftreten und mit einer Stimme sprechen. Die Verantwortung der Bundesregierung für die außen- und integrationspolitischen Belange wird "in gefährlicher Weise" ausgehöhlt. Die neuen Vorschriften schränken auch die EU-politische Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik insgesamt ein. Die Maßgeblichkeit der Stellungnahme des Bundesrats kann ein Blockadepotential schaffen und die europarechtliche Kompromißfähigkeit der Bundesrepublik beeinträchtigen. Will die Bundesregierung handlungsfähig bleiben und ihr Gewicht in der EU zum Tragen bringen, so sieht sie sich bisweilen gezwungen, sich über Art. 23 GG schlicht hinwegzusetzen.

Bedenkt man, wie die Einfügung des neuen Artikels 23 ins Grundgesetz von den Ländern erzwungen wurde, nämlich mittels der Drohung, andernfalls die Zustimmung des Bundesrats zum Ratifikationsgesetz zum Maastricht-Vertrag zu verweigern, dann zeigt sich: Das Mitwirkungsrecht der Länder im Bundesrat wurde dazu mißbraucht, nicht nur die Partizipationsmöglichkeit der Bürger, sondern auch die Handlungsfähigkeit des Bundes in der zukünftigen Europapolitik zu beschneiden. Was wir schon innerhalb der Bundesrepublik beobachtet haben, daß es nämlich den "Landesfürsten" vornehmlich darum geht, ihre Position auszubauen – ohne Rücksicht auf die Belange des Ganzen – bricht auch in der Europapolitik wieder durch.

Gewaltenteilung? Ein Fremdwort in der EU

Von Gewaltenteilung kann beim Ministerrat ohnehin keine Rede sein. Ganz abgesehen davon, daß er sich aus Mitgliedern der Regierungen der Mitgliedstaaten zusammensetzt, aber das wichtigste gesetzgebende Organ der Union ist, hat er zugleich eine Reihe von Exekutivbefugnissen, etwa die Bewilligung von Ausnahmen vom Beihilfeverbot (Art. 88 Abs. 2 Unterabs. 3 EG) oder das Vorgehen gegen übermäßige öffentliche Defizite gemäß Art. 104 Abs. 7 bis 14 EG. Bedenkt man, welche zentrale Bedeutung die Väter der Demokratie der Gewaltenteilung beigemessen haben, so erscheint die krasse Verletzung dieses Grundsatzes in der EU mehr als nur ein Schönheitsfehler. In Art. 16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 wurde einer Gemeinschaft ohne Gewaltenteilung jede Verfassungsqualität aberkannt. Auch die Bundesrepublik bekennt sich wie alle demokratischen Rechtsstaaten zum Prinzip der Gewaltenteilung.

Für die Beseitigung des dreifachen Defizits – an Bürgerpartizipation, an politischer Handlungsfähigkeit und an Gewaltenteilung – werden vor allem zwei Wege diskutiert. Der eine geht dahin, dem Europäischen Parlament mehr Kompetenzen zu geben, der andere dahin, die Kompetenzen möglichst in der Hand der nationalen Regierungen und Parlamente zu belassen. Doch beide Wege führen, wie wir sehen werden, nicht zum Ziel.

Scheinlösung durch Stärkung des Europäischen Parlaments?

Angesichts der eindeutigen und offensichtlichen Demokratiedefizite des Ministerrats richtet sich der Blick fast automatisch auf das Europäische Parlament, von dem man eine stärkere demokratische Legitimation der Europäischen Union erhofft. Diesen Anspruch erhebt vor allem das Parlament selbst. – Die Verhandlungen des Europäischen Parlaments sind – im Gegensatz zu denen des Rats – in vollem Umfang öffentlich. Zudem müssen seine Mitglieder, die ein freies Mandat besitzen, seit 1979 aus allgemeinen, unmittelbaren Wahlen hervorgehen (Art. 190 Abs. 1 EG), nachdem sie ursprünglich nur von den nationalen Parlamenten ernannt worden waren. Das Europäische Parlament wird für eine fünfjährige Wahlperiode gewählt, 2004 fand die sechste sogenannte Direktwahl statt.

Die Befugnisse des Parlaments, die zunächst weitgehend auf Anhörung und Kontrolle beschränkt waren, sind allmählich ausgedehnt worden, insbesondere in Richtung auf eine Beteiligung an der Rechtsetzung, am Haushaltsverfahren sowie am Bestellungsverfahren und der Kontrolle der Kommissionsmitglieder. Außerdem muß das Parlament zum Beispiel der Aufnahme neuer Mitglieder zustimmen. Vom Europäischen Parlament als einer bloßen Fassade zu sprechen, mag vielen übertrieben erscheinen. Ein richtiges Parlament, das mit den nationalen Parlamenten vergleichbar wäre, ist es gleichwohl nicht. Die dahin gehende Feststellung Ralf Dahrendorfs ("Es gibt kein europäisches Parlament, das den Namen verdient") stimmt deshalb nach wie vor nachdenklich. Damit ist allerdings die Frage, ob die Defizite durch weitere Ausweitung der Kompetenzen des Parlaments gemindert werden könnten, wie viele meinen, besonders das Europäische Parlamente selbst, noch keineswegs positiv beantwortet.

Sind Deutschlands Wähler weniger wert?

Ein Problem liegt im unterschiedlichen Stimmgewicht der Unionsbürger. Das Europäische Parlament besteht nach Art. 190 Abs. 2 EGV aus 732 Abgeordneten, die sich folgendermaßen auf die 25 Mitgliedsländer aufteilen:

Deutschland
99
Frankreich
78
Italien
78
Vereinigtes Königreich
78
Polen
54
Spanien
54
Niederlande
27
Belgien
24
Griechenland
24
Portugal
24
Tschechische Republik
24
Ungarn
24
Schweden
19
Österreich
18
Dänemark
14
Finnland
14
Slowakei
14
Irland
13
Litauen
13
Lettland
9
Slowenien
7
Estland
6
Luxemburg
6
Zypern
6
Malta
5
Insgesamt
732

Die kleineren Mitgliedstaaten haben zwar weniger Abgeordnete, aber doch sehr viel mehr, als der geringeren Zahl ihrer Bürger entsprechen würde. So repräsentiert ein deutscher Abgeordneter rund 834.000 Einwohner, ein französischer 768.000, ein belgischer 433.000, ein irischer 310.000 und ein Abgeordneter aus Luxemburg etwa 75.000. Vom demokratischen Prinzip "one man, one vote" kann deshalb keine Rede sein. Ein ähnlich unterschiedliches Stimmgewicht ergibt sich, wie wir gesehen haben, auch bei Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat, dem Hauptorgan der EU-Gesetzgebung. Werden einstimmige Entscheidungen des Rats (rechtlich oder faktisch) gefordert, ist der Verstoß gegen die Gleichheit der Bürger noch krasser. Bedenkt man, welche Bedeutung dieser Grundsatz besitzt und mit wieviel Blut und Leidenschaft er durchgesetzt wurde, so erstaunt, wie leichtfertig er heute außer Kraft gesetzt wird. Gewiß, solange Europa noch schwach war und seine Kompetenzen gering waren, fiel der Verstoß gegen elementare Demokratieanforderungen noch kaum ins Gewicht. Doch heute hat sich die Situation grundlegend geändert. Nach dem Erstarken der EU bedeutet das ungleiche Stimmgewicht – zusammen mit den überproportionalen Stimmgewicht kleiner Staaten in den anderen Organen der Gemeinschaften: im Rat, in der Kommission, in den Gerichten und in der Zentralbank – eine unerhörte Zumutung für die Bürger großer Staaten wie Deutschland. Daß dieser Verstoß gegen elementare Grundregeln der Demokratie so einfach in Kauf genommen wurde, hängt auch mit dem technokratischen Ausgangsverständnis der EG zusammen, in dem die Idee der europäischen Vereinigung alles dominierte und selbst widerstreitende Elementarprinzipien der Demokratie beiseite wischte, zumal die EG ursprünglich ganz auf die Herstellung wettbewerblicher Markwirtschaft beschränkt war.

Wo bleibt die Unmittelbarkeit der Wahl?

Angesichts der fehlenden Gleichheit pflegt man die angebliche Unmittelbarkeit der Wahl des Europäischen Parlaments besonders hervorzukehren. So schreibt der Vizepräsident des Europäischen Parlaments stolz:

Das europäische Parlament ist weltweit die einzige übernationale Institution, die von den Bürgern direkt gewählt wird.

Doch wenn man näher hinsieht, erweist sich auch diese Behauptung als brüchig. Zumindest die deutschen EU-Parlamentarier sind in Wahrheit gar nicht unmittelbar gewählt. Beim "Königsrecht" des Bürgers in der repräsentativen Demokratie, bei der Wahl des Parlaments, sind die Mitwirkungsrechte der deutschen Wähler noch sehr viel stärker eingeschränkt, als es das unterschiedliche Stimmgewicht ohnehin bewirkt. Alle Kandidaten, die die Parteigremien auf sogenannte sichere Listenplätze gesetzt haben, sind mit der Nominierung praktisch auch schon gewählt. Insofern wird die eigentliche Volkswahl zur Farce; von Unmittelbarkeit der Wahl der Abgeordneten durch das Volk, die das europäische Primärrecht in Art. 190 Abs. 1 EG ausdrücklich verbrieft, kann keine Rede sein. Das wird unten näher dargelegt.

Auf der Suche nach einer europäischen Identität

Noch gravierender ist allerdings ein anderer Einwand. Selbst ein Europäisches Parlament mit weiter stark ausgedehnten Kompetenzen wird, auch wenn das Ungleichgewicht der Wählerstimmen beseitigt und einheitliche Direktwahlen geschaffen werden sollten, zu gemeinwohlorientiertem Handeln kaum in der Lage sein. Demokratie erschöpft sich nicht in Wahlen, sondern setzt – auch auf der Ebene der Europäischen Union – bestimmte weitere Gegebenheiten voraus: ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine gewisse europäische Identität, die sich etwa in europäischen Parteien und einer europäischen öffentlichen Meinung widerspiegelt und sich als ein gewisses europäisches "Wir-Gefühl" bezeichnen läßt. Davon kann aber jetzt und in absehbarer Zukunft keine Rede sein. Selbst in den sechs Gründerstaaten der EU herrscht die nationale Identität vor. Für die 1973 hinzugetretenen Dänen und Briten gilt dies erst recht, von den neuen Mitgliedstaaten Osteuropas und den vor der Tür stehenden weiteren Bewerbern ganz zu schweigen. Es gibt kein die nationalen Zugehörigkeiten überlagerndes, wirklich belastbares europäisches Bewußtsein, keine öffentliche Meinung Europas, sondern nur national unterschiedliche öffentliche Meinungen. Die Franzosen lesen andere Zeitungen und sehen andere Fernsehsender als die Engländer, die Italiener, die Spanier, die Tschechen, die Polen oder die Deutschen. Ohne intensive grenzüberschreitende Kommunikation, die ohne eine gemeinsame europäische Sprache schwierig sein dürfte, werden die Komponenten einer europäischen Identität kaum – und jedenfalls nicht in überschaubarer Zeit – zu schaffen sein. Die Bürger der Mitgliedstaaten sind zuerst Belgier, Briten, Dänen oder Tschechen und dann erst in dritter oder vierter Linie Europäer. Die Zugehörigkeit zum eigenen Staat, zur eigenen Stadt und in Deutschland auch zum eigenen Bundesland hat Vorrang. Das kommt in dem Desinteresse an Europawahlen und auch darin zum Ausdruck, daß diese regelmäßig zur Abstimmung über die nationale Politik der eigenen Regierung umfunktioniert werden.

Bei der Herausbildung einer europäischen Identität handelt es sich, wenn sie überhaupt gelingt, um einen sehr langfristigen Prozeß. Dazu der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg:

Alles spricht dafür, daß es eine wirklich belastbare kollektive politische Identität der Europäer als Europäer noch nicht gibt. Sie läßt sich nicht herbeireden, sie kann nur wachsen. Und sie wächst langsamer, als die Europapolitik fortschreitet.

Tilman Evers bringt das Problem auf den Punkt, wenn er fragt, ob sich das Demokratiedefizit beheben ließe,

wenn die Stellung des Europäischen Parlaments der einer nationalstaatlichen Legislative als gesetzgebendem Organ, Zentralort politischer Öffentlichkeit und Mandant der Regierung, angeglichen würde? – Diese verbreitete Auffassung träfe dann zu, (...) wenn es so etwas wie ein europäisches Staatsvolk rechtlich, politisch-kulturell und wirtschaftlich bereits gäbe, und wenn die entsprechenden europaweiten Parteien sowie eine gesamteuropäische politische Öffentlichkeit existierten. All dies ist nicht in Sicht (...). Ohne diese Voraussetzungen vermag aber der bloße Wahlakt keine materielle Legitimation zu übertragen. Zu Recht würde kein Bürger und keine Bürgerin der Union sich von den Beschlüssen eines so abgehobenen Parlaments vertreten und gebunden fühlen.

Die Offenheit der Europäischen Union und die ständige Erweiterung um neue Mitglieder steht in innerem Widerspruch zur Ausbildung einer europäischen Identität. Denn diese verlangt auch eine gewisse Abgrenzung nach außen.

Eine gemeinsame europäische Identität ist und bleibt aber ungeschriebene Voraussetzung für demokratische Mehrheitsentscheidungen. Ohne solche Identität wird die überstimmte Minderheit Entscheidungen der parlamentarischen Mehrheit, die sie belasten, auf Dauer kaum Folge leisten. Dazu wiederum Kielmansegg:

Nur wenn alle Entscheidungsbetroffenen sich als an einer gemeinsamen, übergreifenden politischen Identität teilhabend begreifen, wird die Unterscheidung zwischen dem zustimmungsfähigen Entscheidungsrecht der Mehrheit und der nicht zustimmungsfähigen Fremdherrschaft möglich.

Der Politikwissenschaftler Fritz Scharpf formuliert dies so:

Demokratische Legitimation erfordert mehr als die Anwendung parlamentarischer Mehrheitsregeln. Sie verlangt, daß es der jeweils unterlegenen Minderheit mit guten Gründen zugemutet werden kann, die Mehrheitsentscheidung ohne Widerstand als auch für sie gültig zu akzeptieren. ... Die Legitimationskraft des demokratischen Mehrheitsprinzips setzt die faktische politische Integration des Gemeinwesens voraus – wo diese fehlt, müßte seine Anwendung desintegrierend wirken.

Der Staatsrechtslehrer Dieter Grimm ergänzt:

Ohne ein europäisches Staatsvolk und einen europäischen politischen Diskurs kann sich das europäische Parlament aber nicht in eine Volksvertretung verwandeln. Darin liegt der fundamentale Unterschied zwischen der europäischen Integration im 20. Jahrhundert und der deutschen Reichsgründung im 19. Jahrhundert, die oft in Parallele zueinander gesetzt werden. In Deutschland mit seiner einheitlichen Sprache und gemeinsamen Kultur hatte sich längst eine Nation ausgebildet und mehr als ein halbes Jahrhundert auf einen Nationalstaat gedrängt, ehe dieser 1871 entstand. Darin liegt auch der fundamentale Unterschied zur Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika im 18. Jahrhundert, deren einzelne Glieder selber nie Nationalstaaten mit unterschiedlichen Sprachen und national geprägten Traditionen und Denkweisen gewesen waren.

In dieselbe Richtung geht auch das Bundesverfassungsgericht, wenn es im Maastricht-Urteil von 1993 hervorhebt: Demokratie sei "vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzung abhängig", wozu unter anderem ein transparenter und nachvollziehbarer politischer Willensbildungsprozeß und eine den politischen Willen vorformende öffentliche Meinung gehöre, die neben anderem erfordere, "daß der wahlberechtigte Bürger mit der Hoheitsgewalt, der er unterworfen ist, in seiner Sprache kommunizieren kann". Aus deren vorläufigem Fehlen leitet das Bundesverfassungsgericht denn auch konsequenterweise ab, daß es der Bundesrepublik Deutschland derzeit verwehrt sei, wesentlich weitergehende Kompetenzen als bisher auf die Europäische Union zu übertragen. Dies widerspräche dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes, das nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht einmal durch verfassungsändernde Gesetze berührt werden darf.

Das Fehlen einer gemeinsamen Identität und einer gemeinsamen europäischen öffentlichen Meinung führt dazu, daß Probleme der Europäischen Union parzelliert und jeweils fast nur aus der Sicht des betreffenden Landes behandelt werden. Das findet auch ganz offiziell seinen Ausdruck darin, daß nach Art. 189 Abs. 1 EG das Europäische Parlament nicht ein europäisches Volk vertritt, das es eben nicht gibt, sondern die 25 Völker der Mitgliedstaaten. Kennzeichen für die Bezogenheit der europäischen Parlamentarier primär auf ihre jeweiligen nationalen Herkunftsstaaten ist die Ausgestaltung des Wahlrechts: Es gibt – trotz der in Art. 190 Abs. 4 EG niedergelegten Option – immer noch kein einheitliches, in allen Mitgliedstaaten geltendes Wahlrecht zum Europäischen Parlament. Alle Europaabgeordneten werden – jeweils nach ihrem heimatlichen Wahlrecht – unterschiedlich gewählt, die deutschen Abgeordneten zum Beispiel nach starrem Listenwahlrecht, die Abgeordneten Luxemburgs nach flexiblem Listenwahlrecht mit der Möglichkeit des Kumulierens.

Die Defizite einer europäischen Identität zeigen sich auch bei den europäischen Parteien, die lediglich Zusammenschlüsse von nationalen Parteien sind.
Symptomatisch und besonders drastisch spiegelt sich das Vorherrschen nationaler Egoismen in den verschiedenen Sitzorten des Europäischen Parlaments wider, die einen aufwendigen "Wanderzirkus" der Abgeordneten und ihrer Stäbe zur Folge haben: In Straßburg hält das Parlament die monatlich stattfindenden Plenarsitzungen ab, Sondersitzungen des Plenums sowie Sitzungen der Ausschüsse finden in Brüssel statt, das Generalsekretariat des Parlaments wurde in Luxemburg eingerichtet.
Der Europäischen Union fehlen also bestimmte Verfassungsvoraussetzungen der Demokratie. Da sie in den Nationalstaaten nicht ausdrücklich in den Verfassungen und Gesetzen genannt sind, sondern stillschweigend vorausgesetzt werden (und vorausgesetzt werden können), haben sie bisher wenig Beachtung gefunden und sind eigentlich erst durch ihr Fehlen auf europäischer Ebene ins Bewußtsein gedrungen – zunächst nur der Fachöffentlichkeit. Seit dem spektakulären Scheitern des europäischen Verfassungsvertrags bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden wird darüber auch in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert. Das Fehlen dieser unsichtbaren, aber unverzichtbaren Verfassungsvoraussetzungen zeigt, daß der Versuch, das Demokratiedefizit über eine massive Aufstockung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments zu beseitigen, auf absehbare Zeit nicht zum Erfolg führen kann, zumal der aus einheitlichen Wahlen zu erwartende identitätsstiftende Effekt mangels Einheitlichkeit ausbleibt.

Da sich in den Finanzen die spezifischen Eigenheiten und Gefahren der Politik immer am deutlichsten widerspiegeln, läßt sich am Beispiel der Steuer- und Finanzpolitik illustrieren, daß die Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments geradezu gefährlich werden könnte. Angesichts des Fehlens einer belastbaren europäischen Identität erschiene es besonders riskant, dem Europäischen Parlament (entsprechend seinem immer wieder geäußerten Wunsch) mehr Kompetenzen im Bereich der Finanzen und Abgaben, insbesondere ein Recht auf eigene Steuern, zu geben. Der schon in den nationalen Parlamenten zu beobachtenden "Subventions- und Bewilligungsneigung" (so treffend der Staatsrechtslehrer Ulrich Scheuner) steht in den einzelnen Staaten immerhin noch ein Gegengewicht gegenüber: das gewachsene Gefühl für gemeinsame nationale Verantwortung, welches sich auch in einer übergreifenden, integrierenden öffentlichen Meinung zeigt. Da es auf der Ebene der Europäischen Union an solchen Gegengewichten fehlt, würde sich bei Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments deshalb die Gefahr vergrößern, daß die nationalen Abgeordnetengruppen in gegenseitigen Absprachen jeweils ihre heimische Klientel bedienen. Um für ihre jeweiligen nationalen Bezugsgruppen möglichst viele Subventionen und sonstige Leistungen aus dem europäischen Haushalt herauszuholen, würden sie versuchen, durch "log rolling", das heißt durch Absprachen mit Abgeordnetengruppen aus anderen Ländern zum wechselseitigen Vorteil, die Unterstützung für ihre nationalen Spezialanliegen zu erhalten. Das alles liefe auf eine Ausweitung des Haushalts auf Gegenseitigkeit hinaus, aber eben zu Lasten des europäischen Ganzen, der europäischen Steuerzahler und der europäischen Stabilität. Der Haushalt drohte – mangels wirksamer Gegengewichte – völlig aus dem Ruder zu laufen. Insofern zeugt es immerhin von Weisheit, daß die EU kein eigenes Steuerrecht besitzt und die Gesamtausgaben der Europäischen Union auf einen bestimmten Prozentsatz des Bruttosozialprodukts der Mitgliedstaaten gedeckelt sind.

Zurück zum Heiligen Römischen Reich?

Die Architektur der Europäischen Union erinnert in verblüffender Weise an die fragile, wenig kohärente Verfassung des Heiligen Römischen Reichs, die ebenfalls durch starke eigensüchtige Partikularinteressen geprägt war: Der Ministerrat ist mit dem Kurfürstenrat vergleichbar. Der heutige Kommissionspräsident spielt als oberster Verwaltungschef eine ähnliche Rolle wie der damalige Reichsvizekanzler. Die Kompetenzrangeleien zwischen dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, dem für Menschenrechtsfragen in Straßburg und dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (sowie den anderen nationalen Obergerichten) erinnern an das Verhältnis zwischen Reichskammergericht und Reichshofrat. Bei den Ständigen Vertretungen der EU-Mitglieder in Brüssel fühlt man sich an die Gesandtschaften der Stände erinnert, und der Ausschuß der Regionen läßt vor dem historischen Auge die damalige Grafenkorrespondenz und den Reichsständerat als Schutzbünde der Lokalgewalten aufscheinen.

Die Ohnmacht der Mitgliedstaaten

Kommt die eine Alternative (Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments) also auf absehbare Zeit sinnvollerweise nicht in Frage, scheint sich die andere Alternative, die Kompetenzen nämlich möglichst bei den Mitgliedstaaten zu belassen, umso mehr aufzudrängen. In der Politikwissenschaft läuft dieser Vorschlag unter dem Begriff der "autonomieschonenden Option".

Doch auch diese Alternative führt nicht recht weiter. Die Rückwirkungen der Europäischen Union auf die nationale Politik sind nicht nur rechtlich-institutioneller, sondern auch wirtschaftlich-faktischer Natur. Die Entwicklung der Europäischen Union hat den Spielraum für nationale Politiken erheblich eingeengt. Mit der Intensivierung des Wettbewerbs in der Europäischen Union wurde die Möglichkeit marktkorrigierender politischer Eingriffe (zum Beispiel durch höhere Abgaben oder zusätzliche administrative Belastungen) erheblich verringert. Die Wirksamkeit solcher Eingriffe steht und fällt mit der Möglichkeit des Staates, die Betroffenen, vor allem die betroffenen Unternehmen, vor ausländischen Konkurrenten abzuschirmen (zum Beispiel durch Zölle und sonstige Barrieren), so daß sie die höhere Belastung ohne Gefährdung der Kapitalrendite auf die Preise aufschlagen und damit letztlich auf die Verbraucher abwälzen können. Nach Herstellung eines Europäischen Binnenmarkts schwinden nun aber die Möglichkeiten der Abschottung gegen ausländische Konkurrenten (die ja alle auf deren Diskriminierung hinauslaufen), eben weil solche Diskriminierung ausländischer Unionsbürger europarechtlich nicht mehr zulässig ist. In dieser Situation führen höhere Belastungen in der Tendenz zur Abwanderung von mobilen Produktionsfaktoren, also vor allem des Kapitals, ebenso von bestimmten Dienstleistungen und zunehmend auch von Arbeitskräften, und zwar besonders der hochqualifizierten. Der Versuch, derartige Politik dennoch durchzusetzen, würde offensichtlich mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen – er wäre "self-defeating" – und sollte deshalb sinnvollerweise von vornherein nicht unternommen werden.

Der durch den Binnenmarkt freigesetzte Standortwettbewerb führt zu einer faktischen Disziplinierung der nationalen Politiken. Er erschwert es den nationalen Regierungen beinahe bis hin zur Unmöglichkeit, den Unternehmen Sonderbelastungen aufzuerlegen, weil dadurch die Produktionskosten überdurchschnittlich erhöht und so die Rendite von Kapitalanlegern reduziert wird. Denn dadurch können die Anlage von Kapital und Arbeitsplätze schaffende Investitionen verschreckt werden. Damit schwinden die Möglichkeiten einer selbständigen Wirtschafts-, Sozial-, Finanz- und Steuerpolitik der einzelnen Mitgliedstaaten.

Diese Entwicklung, die faktisch auf den Verlust oder jedenfalls die Minderung nationaler politischer Verantwortung in diesen Bereichen hinausläuft, wird natürlich unterschiedlich bewertet, je nachdem, wie man die bisherige staatliche Politik beurteilt hat. Sieht man in ihr einen wohlfahrtsstaatlich übertriebenen Aktivismus, so wird man die durch die Europäische Union bewirkte Disziplinierung der nationalen Politik grundsätzlich positiv beurteilen (so der neoliberale Standpunkt). Geht man umgekehrt davon aus, die Politik müsse massive Korrekturen an den Marktergebnissen vornehmen, und rechtfertigt mit dieser Überlegung den bisherigen Stand der Staatseingriffe, so wird man die Einschränkungen der nationalen Politik eher negativ bewerten.

Für die letztere Position einer aktiven Kompensationspolitik erscheint es nur konsequent zu versuchen, die politische Handlungsfähigkeit auf übernationaler Ebene wiederherzustellen, und zu diesem Zweck zunächst einmal die Einrichtungen der Europäischen Union zu aktivieren. Dieser Weg dürfte aber – angesichts des doppelten Demokratiedefizits einer aktiven Unionspolitik (beschränkte Handlungsfähigkeit und mangelnde Bürgerpartizipation) – von vornherein nur gangbar sein, wenn es gelingt, das doppelte Demokratiedefizit entscheidend zu mindern.

Im Übrigen wäre ein solcher Ansatz (selbst wenn er auf der Ebene der Europäischen Union Erfolg haben sollte) von vornherein nur von beschränkter Reichweite, weil die Union als Ganzes auch im Wettbewerb etwa mit den USA und Japan steht und auch hier – auf Weltebene – aufgrund internationaler Vertragsbeziehungen (GATT, WTO) wettbewerbsbeschränkende Barrieren abgebaut werden – eine Situation, die auch der wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Handlungsfähigkeit der Union als Ganzes enge Grenzen setzt. Die Einschränkung der nationalen Handlungsfähigkeit aufgrund der Europäisierung taucht als Einschränkung der europäischen Handlungsfähigkeit aufgrund der Globalisierung also in neuem Gewand und auf neuer Ebene wieder auf. Die Herstellung möglichst ungehinderten internationalen Wettbewerbs beeinträchtigt somit die Möglichkeit marktkorrigierender Steuerungspolitik insgesamt – solange die Idee einer Weltregierung utopisch erscheint.

Was tun?

Verbleibende Optionen

So wie die Situation sich insgesamt darstellt, bleiben zwei mögliche europapolitische Strategien:

  • die Flucht in unabhängige Gremien oder

  • die gezielte Demokratisierung der Europäischen Union.

An dieser Stelle sollten wir uns an Erfahrungen erinnern, die wir im nationalen Bereich gemacht haben. Bei Machtmißbrauch und Selbstblockade der politischen Klasse kommen grundsätzlich zwei ganz unterschiedliche Ansätze für institutionelle Änderungen zur (Wieder-) Herstellung von politischer Handlungsfähigkeit in Betracht: das System durchlässiger machen für den Common Sense der Bürger durch Direktwahl der Repräsentanten und durch Ermöglichen von Sachentscheidungen direkt durch das Volk oder/und die Errichtung parteidistanzierter, unabhängiger, nur der Sache verantwortlicher Entscheidungs-, Beratungs- und Kontrollgremien. Diese Zweispurigkeit möglicher institutioneller Reformen hat sich auch in der Demokratie in Amerika in der großen Reformphase Ende des 19. Jahrhunderts bewährt. Damals wurde die Herrschaft der allmächtigen "party bosses" und ihrer "Parteimaschinen" auf zwei Wegen gebrochen, einerseits durch Einführung von Direktwahlen (des Präsidenten, der Mitglieder des Senats etc.) und durch Einfügung von Volksbegehren und Volksentscheid in die Verfassungen zahlreicher amerikanischer Gliedstaaten, andererseits durch Ersetzung des bis dahin praktizierten "Beutesystems" im öffentlichen Dienst durch ein auf Leistung beruhendes Berufsbeamtentum und durch Errichtung einer unabhängigen Bundeszentralbank.

Beide Wege sind auch in Deutschland angelegt, wie einerseits die Verbreitung der direkten Demokratie zumindest in den Ländern und der Siegeszug der baden-württembergischen Gemeindeverfassung, andererseits das Gewicht der früheren Bundesbank und des Bundesverfassungsgerichts zeigen. Auch die Diskussion in Publizistik und Wissenschaft geht in beide Richtungen. So wird die Schaffung weiterer unabhängiger Instanzen und der Ausbau der vorhandenen von verschiedenen Seiten gefordert.

Wie wir nun sehen, wird zumindest der eine Weg auch in der Europäischen Union beschritten, und zwar in den vier unabhängigen Organen: dem Gerichtshof, der Kommission, dem Rechnungshof und der Zentralbank. Der andere Weg – die Schaffung von mehr Durchlässigkeit für den Common Sense der Bürger – aber wird in der Europäischen Union nach wie vor nicht ernsthaft genug erwogen.

Unabhängige Organe der EU

Kommission

Die Kommission nimmt vor allem die Aufgaben einer Exekutive der Gemeinschaften wahr. Sie ist aber auch in erheblichem Umfang an der Rechtsetzung beteiligt.
Die Kommission besteht aus 25 Mitgliedern, die auf fünf Jahre ernannt werden. Wiederernennung ist zulässig. Jedes Land stellt ein Mitglied (Art. 213 EG).
Der Präsident der Kommission hat eine herausgehobene und jüngst noch weiter gestärkte Position. Obwohl die Kommission nach wie vor als Kollegium entscheidet, kommt dem Präsidenten eine politische Führungsrolle innerhalb der Kommission zu (Art. 217 EG). Umso verhängnisvoller ist es für die Gemeinschaft, wenn man eine schwache Persönlichkeit auswählt, wie dies in Reaktion auf den starken Kommissionspräsidenten Jacques Delors in der Person von Santer oder Barroso der Fall war. Bei der Ernennung des Präsidenten und der übrigen Mitglieder der Kommission wirken der Rat und das Parlament in einem überaus komplizierten Verfahren zusammen.
Die Mitglieder der Kommission genießen (wie die Mitglieder des Gerichtshofs und des Rechnungshofs) Unabhängigkeit. Sie "üben ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft aus" und dürfen keine Anweisungen von irgendwelcher Stelle entgegennehmen. Die Mitgliedstaaten verpflichten sich ausdrücklich, sich jedes Versuchs der Einflußnahme zu enthalten (Art. 213 Abs. 2 EG). Ein Kommissionsmitglied scheidet vor Ablauf seiner fünfjährigen Amtszeit nur aus, wenn es zurücktritt oder im Wege einer Art Impeachment-Verfahren wegen einer schweren Verfehlung auf Antrag der Kommission oder des Rats durch den Gerichtshof seines Amts enthoben wird (Art. 215 und 216 EG). Das Europäische Parlament kann zwar der Kommission als Ganzes mit Zweidrittelmehrheit das Mißtrauen aussprechen, nicht aber einzelnen Mitgliedern der Kommission (Art. 201 EG).

Die wichtigsten Aufgaben der Kommission sind:

  • Mitwirkung an der Rechtsetzung durch Rat und Parlament. Die Kommission hat sogar ein Initiativmonopol: Rat und Parlament können meist erst beschließen, wenn die Kommission einen Vorschlag unterbreitet hat. Damit kommt der Kommission die Funktion zu, die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts in Gang zu halten ("Motor der Integration").

  • Ausübung eigener Rechtsetzungsbefugnisse in bestimmten Bereichen.

  • Erlaß von Durchführungsbestimmungen aufgrund von Ermächtigungen des Rats.

  • Außenvertretung der Gemeinschaften.

  • Entscheidungen im Verwaltungsvollzug.

  • Kontrolle über die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts. Sie hat als "Hüterin des Gemeinschaftsrecht" (Art. 211, Erster Spiegelstrich EG) Verletzungsverstöße zu verfolgen, etwa durch Rüge von Vertragsverletzungen und gegebenenfalls Klageerhebung beim Europäischen Gerichtshof.

Gerichtshof

Dem Europäischen Gerichtshof gehören 25 Richter an. Der Gerichtshof wird von acht Generalanwälten unterstützt, die in voller Unabhängigkeit Schlußanträge zu den vor dem Gerichtshof verhandelten Rechtssachen stellen. Sie sind dem commissaire de gouvernement beim französischen Conseil d’Etat, dem höchsten französischen Verwaltungsgericht, nachgebildet, entlasten das Gericht und ermöglichen relativ knapp gehaltene Begründungen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs.

Die Richter und die Generalanwälte werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen ernannt (Art. 223 Abs. 1 EG). Die Amtszeit beträgt sechs Jahre. Wiederwahl ist zulässig. Jedes Land stellt einen Richter. Auf die "großen Mitgliedstaaten" sowie auf Spanien entfällt in der Praxis je ein Generalanwalt. Die übrigen Generalanwaltspositionen rotieren unter den kleinen Mitgliedstaaten. Die Richter wählen aus ihrer Mitte den Präsidenten für drei Jahre. Dem Europäischen Gerichtshof ist seit 1989 ein weiteres Gericht angegliedert: das Gericht erster Instanz (Art. 225 EG), das Teil des Gemeindschaftsorgans Europäischer Gerichtshof ist.

Rechnungshof

Der Europäische Rechnungshof hat ähnliche Aufgaben wie die deutschen Rechnungshöfe. Prüfungsmaßstäbe sind Ordnungsmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung (Art. 248 EG). Die 25 Mitglieder werden vom Rat nach Anhörung des Parlaments auf sechs Jahre ernannt – Wiederernennung ist zulässig – und üben ihre Tätigkeit nach der vertraglichen Regelung in voller Unabhängigkeit aus (Art. 247 EG). Sie wählen aus ihrer Mitte den Präsidenten des Rechnungshofs auf drei Jahre, Wiederwahl ist auch hier zulässig.

Zentralbank

Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB), bestehend aus der Europäischen Zentralbank und den nationalen Zentralbanken, hat die vorrangige Aufgabe, den Geldwert des Euro stabil zu halten (Art. 105 Abs. 1 EG). Das entscheidende Gremium ist der Europäische Zentralbankrat. Er setzt sich aus dem Direktorium und den Präsidenten der 25 nationalen Zentralbanken zusammen. Das Direktorium besteht aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und vier weiteren Mitgliedern, die von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs für acht Jahre ernannt werden, Wiederernennung ist zulässig (Art. 112 EG). Die Mitglieder der Europäischen Zentralbank und der nationalen Zentralbanken sind unabhängig und dürfen von niemandem Weisungen entgegennehmen (Art. 108 EG).

Verstärkte Flucht in unabhängige Gremien?

Eine Flucht in unabhängige Gremien, also die Aufrechterhaltung und Verstärkung ihrer Kompetenzen, scheint vor allem deshalb nahe zu liegen, weil die Kommission und der Europäische Gerichtshof dort, wo sie keine Entscheidungen des Rats benötigen, sondern sich auf die in den Verträgen vorgesehene Herstellung von möglichst unverfälschtem wirtschaftlichen Wettbewerb in einem alle Mitgliedstaaten umfassenden gemeinsamen Markt ("Europäischer Binnenmarkt") konzentrieren konnten, außerordentlich erfolgreich waren. Zur Durchsetzung dieses Zieles wird der Kommission und dem Gerichtshof ihr hohes Maß an Unabhängigkeit garantiert.

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Vorrang des Europarechts vor nationalen Gesetzen und Verfassungen und zur unmittelbaren Geltung des Europarechts auch im Verhältnis zwischen Nationalstaaten und betroffenen Bürgern erleichterte es der Kommission, die wirtschaftliche Integration durch Wettbewerb kontinuierlich auszudehnen. So wurden allmählich immer mehr Nischen beschränkten Wettbewerbs, die sich innerhalb der Mitgliedstaaten bisher hatten halten können, aufgebrochen. Beispiele sind die Energiewirtschaft und die Telekommunikation.

Wettbewerbsverschärfend wirkt auch die Einführung des Euro als einheitliche Währung in der gesamten Europäischen Union (vorläufig bis auf Dänemark, Großbritannien, Schweden und die zehn neuen Mitgliedstaaten) und damit der Wegfall von Wechselkursänderungen in der Wirtschafts- und Währungsunion. Auch hier wurden die geldpolitischen Entscheidungen in die Hand einer unabhängigen Instanz gelegt: der Europäischen Zentralbank. Ihre Mitglieder und die Mitglieder der nationalen Zentralbanken sind unabhängig und dürfen von niemandem Weisungen entgegennehmen (Art. 108 EG).

Früher konnte ein Mitgliedsland die Wechselkurse zwischen heimischer Währung und ausländischen Währungen ändern, um mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft durch Abwertung seiner Währung auszugleichen. Nach dem Übergang zu einer einheitlichen Währung ist dieses währungspolitische Ventil ersatzlos entfallen. Damit konkurrieren jetzt auch die einzelnen Mitgliedstaaten beziehungsweise ihre Regierungen zum Beispiel mit ihren jeweiligen Abgaben und ihren öffentlichen Leistungen, kurz, mit ihrer gesamten Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik, um ansiedlungswillige Unternehmen ("Standortwettbewerb").

Doch die Aktivitäten unabhängiger Gremien erscheinen andererseits auch hoch problematisch, wenn man sie nicht auf ganz enge Politikfelder begrenzt. So kann insbesondere die Kommission unter dem Aspekt der Demokratie im Sinne eines Regierens durch die Bürger allenfalls eine vorübergehende Behelfslösung sein. Ihr Präsident und die übrigen Mitglieder werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten im Rat unter Mitwirkung des Parlaments bestimmt (Art. 214 EG). Die Bürger haben faktisch keinerlei Einfluß auf Auswahl und Bestellung der Kommissionsmitglieder. Da den Mitgliedern der Kommission die "volle Unabhängigkeit" garantiert wird (Art. 213 EG), können sie für ihre Aktionen politisch nicht zur Verantwortung gezogen werden (wenn man von dem mit Zweidrittelmehrheit möglichen Mißtrauensvotum des Parlaments gegenüber der Kommission als Ganzes absieht). Es besteht lediglich eine Art "Impeachment"-Verfahren, wonach ein Mitglied der Kommission im Falle einer "schweren Verfehlung" auf Antrag des Rates oder der Kommission durch den Gerichtshof seines Amtes enthoben werden kann (Art. 216 EG).

Kommission, Gerichtshof, Zentralbank und Rechnungshof fehlen zudem wichtige demokratische Rückbindungen, wie sie bei nationalen unabhängigen Gremien bestehen und die gewährleisten, daß diese sich nicht allzu sehr von den Anschauungen der Bevölkerung entfernen. Zugleich stellen sie eine wichtige Kontrolle zur Verhinderung mißbräuchlicher Machtausübung durch die unabhängigen Organe dar. So können Bundestag und Bundesrat Entscheidungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts durch Änderungen des Grundgesetzes mit Zweidrittelmehrheiten korrigieren. Die gesetzgebenden Organe können auch die institutionelle Basis des Bundesverfassungsgerichts, der Bundesbank und des Bundesrechnungshofs ändern und auf diesem Wege deren Macht und Kompetenzen beschneiden. Die Gewähr, daß dies nicht ohne triftige Gründe geschieht, bietet allein eine wache öffentliche Meinung. Bundesverfassungsgericht, Bundesbank und Bundesrechnungshof sind deshalb auf die generelle Zustimmung der Öffentlichkeit zur großen Linie ihres Wirkens in elementarer Weise angewiesen.

Solche demokratische Rückkoppelungen und Mechanismen zur Verhinderung von Machtmißbrauch bestehen bei den unabhängigen Gremien der EU nur sehr viel eingeschränkter oder überhaupt nicht. Mißbräuchliche oder zu weit gehende Entscheidungen der Kommission und des Gerichtshofs ließen sich zwar theoretisch durch Änderungen des europäischen Primärrechts korrigieren. Doch das verlangte eine einstimmig zu beschließende Vertragsänderung und die Ratifikation durch alle Mitgliedstaten, was faktisch nicht in Betracht kommt. Angesichts des praktischen Fehlens derartiger "letzter Konsequenzen" problematischer Entscheidungen sind Kommission, Gericht, Zentralbank und Rechnungshof auch gegenüber öffentlicher Kritik sehr viel unempfindllicher als ihre nationalen Schwesterorgane. Der Schutz vor jeder politischen Korrektur macht sie unempfindlich selbst gegen fundamentale öffentliche Kritik und ermöglicht ihnen auch auf Dauer Entscheidungen, die den Präferenzen der Mehrheit der Bürger entgegenlaufen. Damit fehlt ihnen jene indirekt-demokratische Legitimation, die nationalen unabhängigen Gremien aufgrund ihrer Rückkoppelung mit den generellen öffentlichen Anschauungen zufließt.

Die Bürger- und Kontrollferne hat etwa bei der Kommission erhebliche Auswüchse ermöglicht. Das zeigen

  • die zahlreichen Fälle von Vetternwirtschaft und Korruption, die 1999 sogar die gesamte Santer-Kommission zum Rücktritt zwangen, und

  • die überzogenen finanziellen Regelungen für Kommissionsmitglieder.

Das zeigt sich auch in der der Kommission unterstehenden europäischen Verwaltung, etwa

  • in den stark überhöhten und auch noch steuerbegünstigten Gehältern der Europabeamten, und

  • in zahlreichen Verwaltungsskandalen.

Das Parlament hat zwar seinerzeit immerhin gegen die Santer-Kommission halbwegs entschlossen Front gemacht, eine Kontrollkommission von "fünf Weisen" bestellt, deren Bericht dann die Kommission zum Rücktritt zwang. Das Parlament hat aber selbst zahlreiche "Leichen im Keller", so daß es sich zu einer wirksamen Kontrolle im Ergebnis kaum wird aufschwingen können. Das zeigt sich zum Beispiel

  • in den Diäten, insbesondere den überzogenen steuerfreien Kostenerstattungen,

  • darin, daß Abgeordnete ungerührt Ehegatten und sonstige Familienangehörige als Mitarbeiter auf EU-Kosten beschäftigen, also ungestraft Vetterleswirtschaft betreiben,

  • in der überzogenen Fraktionsfinanzierung,

  • in der überzogenen Parlamentsverwaltung (3500 Bedienstete!),

  • äußerlich: in den drei Parlamentsprachtbauten in Straßburg, Brüssel und Luxemburg.

Subsidiarität

Unabhängig davon, wie man derartige Fehlentwicklungen bewertet, kommt eine Distanzierung von der europäischen Idee auf keinen Fall in Frage, ein totaler Rückzug auf die Nationen wäre ein unvorstellbarer Rückschritt. Europa ist und bleibt unser Schicksal. Das heißt andererseits aber nicht, dem europäischen Überschwang zu verfallen, von dem lange zumindest deutsche Eliten erfüllt waren. Vielmehr ist nachdrücklich auf der Einhaltung der Subsidiarität zu bestehen. Der Grundsatz der Subsidiarität ist im Verhältnis von Mitgliedstaaten und EU von größter Bedeutung. Er besagt: Wenn mehrere staatlichen Ebenen für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben zur Verfügung stehen, muß grundsätzlich die untere Ebene aktiv werden. Die höhere Ebene darf nur eingreifen, wenn und soweit die Möglichkeiten der darunter liegenden Ebenen überschritten werden. Dies folgt daraus, daß die unteren Ebenen "näher dran" sind und die Probleme deshalb sachgerechter behandeln können. Zugleich können die Bürger und Wähler ihre demokratische Kontrolle umso besser ausüben, je mehr sie die Probleme aus eigener Anschauung kennen. Die untere Ebene erlaubt deshalb tendenziell mehr Demokratie für und durch die Bürger als die höhere Ebene. Das gilt auch dann, wenn die verschiedenen Ebenen die gleiche demokratische Struktur aufweisen, wie dies zum Beispiel für Gemeinden, Landkreise, Länder und den Bund in Deutschland ausdrücklich vorgeschrieben ist (Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz). Das Prinzip der Subsidiarität muß aber noch viel strenger eingehalten werden, wenn die obere Ebene nach allen Kriterien der Demokratie strukturell derart defizitär ist wie die EU. Angesichts des gewaltigen Unterschieds im Demokratieniveau, das die EU im Vergleich zu den Mitgliedstaaten aufweist, besteht der einfachste Weg zur Sicherung von Demokratie darin, die Kompetenzen möglichst bei den Mitgliedstaaten zu belassen. Daraus ergibt sich die Konsequenz, daß öffentliche Aufgaben grundsätzlich von den Mitgliedstaaten zu erfüllen sind. Das gilt erst recht nach der Osterweiterung der EU auf 25 und bald 27 und mehr Mitglieder. Denn je größer und vielgestaltiger die Gemeinschaft wird, desto heterogener sind ihre Mitglieder und desto weniger Sinn machen einheitliche, für alle geltende Regelungen jedenfalls auf solchen Gebieten, die die Staaten auch selbst – entsprechend den jeweiligen Präferenzen ihrer Bürger – regeln können. Deshalb reicht es für die Begründung einer Kompetenz der EU nicht aus, daß diese es genauso gut kann wie die Mitgliedstaaten. Es reicht nicht einmal, daß die EU es besser kann. Sie muß es vielmehr so viel besser können, daß dadurch ihr strukturelles Weniger an Demokratie mehr als ausgeglichen wird. Diese Erwägungen sprechen grundsätzlich für Zurückhaltung bei der Übertragung von Kompetenzen an die EU.

Das sollte jedenfalls die Norm sein. Doch die Wirklichkeit hat sich in eine ganz andere Richtung entwickelt. Tatsächlich wirken alle Organe der EU seit Jahrzehnten auf die Ausweitung ihrer Befugnisse und der Befugnisse der EU insgesamt hin. Das gilt besonders für die Kommission, den Gerichtshof und das Parlament. Diese können sich dabei vordergründig sogar auf die Präambel des EG-Vertrages berufen, die erklärtermaßen "einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker" anvisiert. Auch der EU-Vertrag sieht in seiner Präambel die "Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas" vor, postuliert aber gleichzeitig, daß "die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden." Das Subsidiaritätsprinzip, das Art. 5 Abs. 2 EG auch zu definieren versucht, läßt allerdings einen weiten Spielraum. Es kommt deshalb darauf an, wer über seine Auslegung und seine Einhaltung entscheidet. Hier besitzt der Europäische Gerichtshof eine Schlüsselstellung. Denn er entscheidet über die Abgrenzungen der Kompetenzen von EU und Mitgliedstaaten. Damit aber wurde – angesichts seiner ausgesprochen integrationsfreundlichen Haltung – der Bock zum Gärtner gemacht. Der Gerichtshof ist institutionell voreingenommen zugunsten der Integration und zulasten der Subsidiarität. Erforderlich wäre deshalb die Errichtung einer unvoreingenommenen, wirklich unabhängigen Instanz: ein Gericht, dessen zentrale Aufgabe in der Sicherung der Subsidiarität bestände, ein "Subsidiaritätsgericht", das neben den Europäischen Gerichtshof träte.

Soweit es nicht um die Auslegung der Verträge geht, sondern um ihre Änderung und Fortentwicklung, haben die Regierungen der Mitgliedstaaten eine Vorhandstellung. Doch auch sie bieten keine Gewähr für die Einhaltung der Subsidiarität in dem genannten strengen Sinn. Zu groß ist oft die Versuchung, ihre Zuflucht in der bequemen Unverantwortlichkeit von EU-Institutionen und die EU-Entscheidungen zu suchen. Auch ihre Entscheidungen müßten deshalb vom Subsidiaritätsgericht überprüft werden.

Demokratisierung der EU bei der Verfassungsgebung

Auch bei EU-Entscheidungen muß das Demokratiedefizit behoben werden. Dazu gibt es keine ernsthafte Alternative. Änderungen der Verträge oder sogar die Totalrevision der Verträge durch Erlaß einer neuen Verfassung müssen von den nationalen Instanzen ratifiziert werden. Die sehen darin aber häufig nur eine Pflichtübung. Die Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza und jüngst der Verfassungsvertrag wurden vom Bundestag nur "durchgewunken" – ohne ernsthafte Diskussion des Für und Wider. Dazu waren die Parlamentarier auch gar nicht in der Lage. Ihre blauäugige Voreingenommenheit gegenüber jeder Form von europäischer Integration war offenbar so groß, daß sie die sorgfältige Kenntnisnahme vom Vertragsinhalt für überflüssig hielten. Hier muß in Zukunft ein grundlegender Wandel statffinden. Bundestag und Bundesrat, die über Art. 23 GG die Möglichkeit haben, auch schon vorab Einfluß zu nehmen, müssen ihre Befugnisse sehr viel ernster und verantwortlicher wahrnehmen und dabei auch versuchen, die öffentliche Diskussion aufzugreifen und mitzugestalten, wie es einem "Forum der Nation", als welches sich das Parlament gern sieht, geziemt. Die Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden könnten ein solches Umdenken fördern. Dabei sollten sich die deutschen Parlamentarier ihre Kollegen in einigen anderen Mitgliedstaaten zum Vorbild nehmen, die bereits eine sorgfältige Kontrolle ausüben, wie etwa Dänemark und Schweden.

Darüber hinaus reicht die Ratifizierung durch das Parlament in vielen Mitgliedstaaten der EU nicht aus. Dort bedarf es vielmehr der Zustimmung des Volkes per Volksabstimmung. Das hat – neben dem partizipatorischen Eigenwert der unmittelbaren Entscheidung des Volkes – einen doppelten Vorteil:

  • Im Vorfeld der Abstimmung werden die Vor- und Nachteile des Vertrages einer intensiven öffentlichen Diskussion unterzogen. Denn da die letzte Entscheidung bei den Bürgern liegt, bemühen sie sich verstärkt um Informationen über das Abstimmungsthema, eine Nachfrage, die die Medien befriedigen müssen. Die Befürworter und die Gegner sind gezwungen, ihre Argumente in verständlicher Weise öffentlich darzulegen.

  • Sozusagen als Vorwirkung wird die Position der eigenen Regierung bei den EU-Vertragsverhandlungen gestärkt, weil auch die Regierungen der anderen Staaten daran interessiert sein müssen, Stolpersteine für die spätere Volksabstimmung, an denen der ganze Vertrag scheitern kann, wegzuräumen.

Ein solches unmittelbares Zustimmungsrecht des Volkes ist in den allermeisten Mitgliedstaaten der EU möglich und zum Teil sogar zwingend vorgesehen.

In Frankreich können die Bürger in Zukunft sogar über den Beitritt neuer Staaten zur EU per Volksentscheid bestimmen, was etwa beim Beitritt Kroatiens oder der Türkei relevant werden wird.

Dagegen müssen sich Deutsche und die Angehörigen anderer Staaten, die kein unmittelbares Mitwirkungs- und Entscheidungsrecht besitzen, als Bürger zweiter Klasse zurückgesetzt fühlen; dies umso mehr, als ihnen auch die umfassende öffentliche Diskussion vorenthalten und die Verhandlungsposition ihrer Regierung verschlechtert wird.
Die europäische Verfassungsgebung hätte eine gewaltige Chance sein können, einige große Schritte zur Bildung einer europäischen Identität zu machen, also desjenigen Ferments, das die EU so dringend benötigt. Doch der Verfassungsentwurf war viel zu umfangreich und zu kompliziert, um den Bürgern nahegebracht werden zu können. Zugleich wurde die Ratifikation durch die Parlamente in Deutschland und anderen Staaten hoch oben über den Köpfen der Bürger beschlossen. Jetzt, nach dem Scheitern der Verfassung in Frankreich und den Niederlanden, beginnt man die Mängel zu erkennen und über Alternativvorschläge nachzudenken. Die Erarbeitung einer kompakten und verständlichen Verfassung durch einen direkt gewählten Konvent und die Annahme der Verfassung durch Volksabstimmungen in allen Mitgliedstaaten könnte die öffentliche Diskussion in der ganzen EU auf die zentralen europäischen Fragen richten und so zum Königsweg werden, um endlich einer gemeinsamen europäischen Identität näher zu kommen.

Geht es nicht um Verfassungsgebung und Vertrags änderungen, sondern um Ratsbeschlüsse über sekundäres Recht, insbesondere um Verordnungen, Richtlinien und Rahmenbeschlüsse, müssen die Parlamente zumindest ihre Spielräume und Einwirkungsmöglichkeiten nutzen, sei es vorab bei der Einflußnahme auf die Ratsentscheidung, sei es im Nachhinein bei der Umsetzung von Richtlinien und Rahmenbeschlüssen in nationales Recht. Wie sehr hier der Bundestag bisweilen "schlampt", hat das Gesetz über den europäischen Haftbefehl gezeigt. Hier mußte das Bundesverfassungsgericht den Bundestag nachdrücklich auf seine Pflichten hinweisen und das Gesetz sogar wegen Verfassungswidrigkeit aufheben.

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