Auszüge aus Herbert Marcuse's
"Das Ende der Utopie"

Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967

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Herbert Marcuse
Das Ende der Utopie

Ich muß zunächst mit einer Binsenwahrheit anfangen, ich meine damit, daß heute jede Form der Lebenswelt, jede Verwandlung der technischen und der natürlichen Umwelt eine reale Möglichkeit ist und daß ihr Topos ein geschichtlicher ist. Wir können heute die Welt zur Hölle machen, wir sind auf dem besten Wege dazu, wie Sie wissen. Wir können sie auch in das Gegenteil verwandeln. Dieses Ende der Utopie, das heißt die Widerlegung jener Ideen und Theorien, denen der Begriff der Utopie zur Denunziation von geschichtlich-gesellschaftlichen Möglichkeiten gedient hat, kann nun auch in einem sehr bestimmten Sinn als "Ende der Geschichte" gefaßt werden, nämlich in dem Sinne, daß die neuen Möglichkeiten einer menschlichen Gesellschaft und ihrer Umwelt, daß diese neuen Möglichkeiten nicht mehr als Fortsetzung der alten, nicht mehr im selben historischen Kontinuum vorgestellt werden können, daß sie vielmehr einen Bruch mit dem geschichtlichen Kontinuum voraussetzen, jene qualitative Differenzen zwischen einer freien Gesellschaft und den noch unfreien Gesellschaften, die nach Marx in der Tat alle bisherige Geschichte zur Vorgeschichte der Menschheit macht.
Aber ich glaube, daß auch Marx noch zu sehr dem Begriff des Kontinuums des Fortschritts verhaftet war, daß auch seine Idee des Sozialismus vielleicht noch nicht oder nicht mehr jene bestimmte Negation des Kapitalismus darstellt, die sie darstellen sollte. Das heißt, der Begriff des Endes der Utopie impliziert die Notwendigkeit, eine neue Definition des Sozialismus wenigstens zu diskutieren, und zwar auf dem Boden der Frage, ob nicht Entscheidendes im Marxschen Begriff des Sozialismus einer heute überholten Entwicklungsstufe der Produktivkräfte angehört. Das kommt meiner Meinung nach am klarsten in jener Unterscheidung zwischen dem Reich der Freiheit und dem Reich der Notwendigkeit zum Ausdruck, nach der das Reich der Freiheit nur jenseits des Reiches der Notwendigkeit gedacht werden und bestehen kann. Diese Teilung impliziert, daß das Reich der Notwendigkeit wirklich noch ein Reich der Notwendigkeit im Sinne der entfremdeten Arbeit bleibt, und das heißt, wie Marx sagt, daß alles, was in diesem Reich geschehen kann, ist, daß die Arbeit so rational wie möglich organisiert wird, so sehr wie möglich reduziert wird – aber sie bleibt Arbeit in und am Reich der Notwendigkeit und damit unfrei. Ich glaube, daß eine der neuen Möglichkeiten, die die qualitative Differenz der freien von der unfreien Gesellschaft anzeigt, genau darin besteht, das Reich der Freiheit im Reich der Notwendigkeit erscheinen zu lassen, in der Arbeit und nicht nur jenseits der (notwendigen) Arbeit. In einer provokativen Formulierung dieser spekulativen Idee würde ich sagen, wir müssen auch die Möglichkeit eines Weges des Sozialismus von der Wissenschaft zur Utopie und nicht nur von der Utopie zur Wissenschaft ins Auge fassen.

Utopie ist ein historischer Begriff; er bezieht sich auf Projekte gesellschaftlicher Umgestaltung, die für unmöglich gehalten werden. Unmöglich aus welchen Gründen? In der gewöhnlichen Diskussion der Utopie besteht die Unmöglichkeit der Verwirklichung des Projektes einer neuen Gesellschaft dann, wenn die subjektiven und objektiven Faktoren einer gegebenen gesellschaftlichen Situation der Umwandlung entgegenstehen – die sogenannte Unreife der gesellschaftlichen Situation, zum Beispiel kommunistischer Projekte während der Französischen Revolution. Oder vielleicht heute: Sozialismus in den höchstentwickelten kapitalistischen Ländern. Beides sind Beispiele für eine wirkliche oder angebliche Abwesenheit der subjektiven und objektiven Faktoren, die eine Verwirklichung unmöglich machen.

Das Projekt einer gesellschaftlichen Umwandlung kann aber auch für unverwirklichbar gehalten werden, weil es bestimmten wissenschaftlich festgestellten Gesetzen widerspricht, biologischen Gesetzen, physikalischen Gesetzen usw.; zum Beispiel die uralte Idee einer ewigen Jugend des Menschen oder die Idee einer Rückkehr zu einem angeblichen goldenen Zeitalter. Ich glaube, daß wir nur in diesem letzten Sinne von Utopie sprechen können, nämlich, wenn ein Projekt der gesellschaftlichen Umwandlung wirklichen Naturgesetzen widerspricht. Nur ein solches Projekt ist in striktem Sinne utopisch, das heißt, außergeschichtlich – aber auch dieses "außergeschichtlich" hat noch eine geschichtliche Grenze.

Die andere Gruppe, die Abwesenheit subjektiver und objektiver Faktoren, kann im besten Falle nur als "provisorisch" unrealisierbar bezeichnet werden. Für die Unrealisierbarkeit solcher Projekte sind zum Beispiel Karl Mannheims Kriterien unzureichend, zunächst einmal aus dem sehr einfachen Grunde, weil sich die Unverwirklichbarkeit immer nur und erst ex post definieren läßt. Und es ist in der Tat kein Wunder, daß man ein Projekt gesellschaftlicher Umwandlung als unverwirklichbar bezeichnet, weil es sich als unverwirklicht in der Geschichte erwiesen hat. Zweitens aber ist das Kriterium der Unverwirklichbarkeit in diesem Sinne inadäquat, weil es sehr wohl sein mag, daß die Realisierung eines revolutionären Projektes durch Gegenkräfte und Gegenbewegungen verhindert ist, die gerade im Prozeß der Revolution überwunden werden können – und überwunden werden. Deswegen ist es fragwürdig, die Abwesenheit bestimmter subjektiver und objektiver Faktoren als Einwand gegen die Realisierbarkeit der Umwälzung hinzustellen. Insbesondere – und das ist die Frage, die uns hier heute beschäftigt – ist die Undefinierbarkeit einer revolutionären Klasse in den technisch höchst entwickelten kapitalistischen Ländern keine Utopisierung des Marxismus. Die gesellschaftlichen Träger der Umwälzung, und das ist orthodoxer Marx, formieren sich erst in dem Prozeß der Umwälzung selbst, und man kann nicht mit einer Situation rechnen, in der die revolutionären Kräfte sozusagen ready-made vorhanden sind, wenn die revolutionäre Bewegung beginnt. Aber es gibt ein meiner Meinung nach gültiges Kriterium für die mögliche Realisierung, nämlich, wenn die materiellen und intellektuellen Kräfte für die Umwälzung technisch vorhanden sind, obwohl deren rationale Verwendung durch die bestehende Organisation der Produktivkräfte verhindert wird. Und in diesem Sinne, glaube ich, können wir heute in der Tat von einem Ende der Utopie reden.

Alle materiellen und intellektuellen Kräfte, die für die Realisierung einer freien Gesellschaft eingesetzt werden können, sind da. Daß sie nicht für sie eingesetzt werden, ist der totalen Mobilisierung der bestehenden Gesellschaft gegen ihre eigene Möglichkeit der Befreiung zuzuschreiben. Aber dieser Zustand macht in keiner Weise die Idee der Umwälzung selbst zu einer Utopie.

Möglich in dem angedeuteten Sinn ist die Abschaffung der Armut und des Elends, möglich in dem angedeuteten Sinn ist die Abschaffung der entfremdeten Arbeit, möglich ist die Abschaffung dessen, was ich "surplus repression" [übriggebliebene Unterdrückung] genannt habe. Ich glaube, darin sind wir relativ einig, schlimmer noch, darin sind wir, glaube ich, auch mit unseren Gegnern einig. Es gibt heute kaum, selbst in der bürgerlichen Ökonomie, einen ernstzunehmenden Wissenschaftler oder Forscher, der leugnen würde, daß mit den technisch bereits vorhandenen Produktivkräften, materiell sowohl wie intellektuell, die Abschaffung des Hungers und des Elends möglich ist und daß das, was heute geschieht, der globalen Politik einer repressiven Gesellschaft zuzuschreiben ist. Aber obwohl wir darin einig sind, sind wir uns noch nicht genügend klar darüber, was die technisch mögliche Abschaffung der Armut, des Elends und der Arbeit impliziert, nämlich, daß diese geschichtlichen Möglichkeiten in Formen gedacht werden müssen, die in der Tat den Bruch eher als die Kontinuität mit der bisherigen Geschichte, die Negation eher als das Positive, die Differenz eher als den Fortschritt anzeigen, nämlich die Transformation, die Befreiung einer Dimension der menschlichen Existenz diesseits der materiellen Basis, die Transformation der Bedürfnisse.

Was auf dem Spiel steht, ist die Idee einer neuen Anthropologie, nicht nur als Theorie, sondern auch als Existenzweise, die Entstehung und Entwicklung eines vitalen Bedürfnisses nach Freiheit, und von vitalen Bedürfnissen der Freiheit – und zwar einer Freiheit, die nicht mehr in Kargheit und der Notwendigkeit entfremdeter Arbeit begründet und begrenzt ist. Die Entwicklung qualitativ neuer menschlicher Bedürfnisse erscheint als biologische Notwendigkeit, Bedürfnisse in einem sehr biologischen Sinne. Denn als vitales, notwendiges Bedürfnis besteht das Bedürfnis nach Freiheit in einem großen Teil der gleichgeschalteten Bevölkerung in den entwickelten Ländern des Kapitalismus nicht oder nicht mehr. Im Sinne dieser vitalen Bedürfnisse impliziert die neue Anthropologie auch die Entstehung einer neuen Moral als Erbe und Negation der judäo-christlichen Moral, die bisher die Geschichte der westlichen Zivilisation charakterisiert hat. Es ist gerade die Kontinuität der in einer repressiven Gesellschaft entwickelten und befriedigten Bedürfnisse, die diese repressive Gesellschaft in den Individuen selbst immer wieder reproduziert. Die Individuen reproduzieren in ihren eigenen Bedürfnissen die repressive Gesellschaft, selbst durch die Revolution hindurch, und es ist genau diese Kontinuität, die den Sprung von der Quantität in die Qualität einer freien Gesellschaft bisher verhindert hat.

Diese Idee impliziert, daß die menschlichen Bedürfnisse historischen Charakter haben. Jenseits der Animalität sind alle menschlichen Bedürfnisse, einschließlich der Sexualität, historisch bestimmt, historisch transformierbar. Und der Bruch mit der Kontinuität der Bedürfnisse, die die Repression schon in sich tragen, der Sprung in die qualitative Differenz ist nicht etwas Ausgedachtes, sondern etwas, das in der Entwicklung der Produktivkräfte selbst angelegt ist. Sie hat heute einen Stand erreicht, wo sie tatsächlich neue vitale Bedürfnisse fordert, um ihren eigenen Möglichkeiten gerecht zu werden.

Welches sind diese Tendenzen der Produktivkräfte, die diesen Sprung von der Quantität in die Qualität möglich machen? Vor allem die Technologisierung der Herrschaft, die den Boden der Herrschaft selbst untergräbt. Die progressive Reduktion physischer Arbeitskraft im Produktionsprozeß (im materiellen Produktionsprozeß), die immer mehr durch mentale Nervenarbeit ersetzt wird, konzentriert gesellschaftlich notwendige Arbeit in der Klasse der Techniker, Wissenschaftler, Ingenieure usw. – mögliche Befreiung von entfremdeter Arbeit. Sie sehen, es handelt sich hier selbstverständlich nur um Tendenzen, aber Tendenzen, die in der Entwicklung und im Fortbestand der kapitalistischen Gesellschaft begründet sind. Wenn es dem Kapitalismus nicht gelingt, diese neuen Möglichkeiten der Produktivkräfte der Arbeit und ihrer Organisation auszunützen, fällt die Produktivität der Arbeit unter das von der Profitrate geforderte Niveau. Und wenn der Kapitalismus dieser Forderung folgt und die Automation rücksichtslos weitertreibt, stößt er auf seine innere Grenze: die Quellen des Mehrwerts für die Aufrechterhaltung der Tauschgesellschaft versickern.

Marx hat in den "Grundrissen" dargelegt, daß vollendete Automation der gesellschaftlich notwendigen Arbeit mit der Erhaltung des Kapitalismus unvereinbar ist. Diese Tendenz, für die Automation nur ein abkürzendes Schlagwort ist, und durch die die notwendige physische Arbeit, entfremdete Arbeit, immer mehr aus dem materiellen Produktionsprozeß herausgezogen wird: diese Tendenz führt nun – und nun komme ich in der Tat zu "utopischen" Möglichkeiten; wir müssen ihnen standhalten, um zu sehen, was hier wirklich auf dem Spiel steht – diese Tendenz führt zum totalen Experiment im gesellschaftlichen Rahmen und auf gesellschaftlichem Niveau. Mit der Abschaffung der Armut würde diese Tendenz zum Spiel mit den Möglichkeiten der menschlichen und außermenschlichen Natur als Inhalt gesellschaftlicher Arbeit; in ihr würde die produktive Einbildungskraft zur geformten Produktivkraft, die die Möglichkeiten einer freien menschlichen Existenz auf der Grundlage der ihr entsprechenden Entwicklung der materiellen Produktivkräfte frei entwirft.

Damit diese technischen Möglichkeiten nicht solche der Repression werden, damit sie ihre befreiende Funktion erfüllen können, müssen sie aber von befreienden und befriedenden Bedürfnissen getragen und erzwungen werden.

Wenn das vitale Bedürfnis nach Abschaffung der (entfremdeten) Arbeit nicht besteht, wenn im Gegenteil das Bedürfnis nach Fortsetzung der Arbeit besteht, selbst wenn diese gesellschaftlich nicht mehr notwendig ist; wenn das vitale Bedürfnis nach Freude, nach dem Glück mit gutem Gewissen nicht besteht, sondern vielmehr das Bedürfnis, daß man alles nur verdienen muß in einem Leben, das so miserabel wie nur möglich ist, wenn diese vitalen Bedürfnisse nicht bestehen oder von den repressiven erstickt werden, was dann zu erwarten ist, ist nur, daß die neuen technischen Möglichkeiten in der Tat zu neuen Möglichkeiten der Repression der Herrschaft werden.

Was die Kybernetik und Computer zur totalen Kontrolle einer menschlichen Existenz beitragen können, das wissen wir bereits. Die neuen Bedürfnisse, die wirklich die bestimmte Negation der bestehenden Bedürfnisse wären, zeigen sich zunächst als die Negation der das heutige Herrschaftssystem tragenden Bedürfnisse und der sie tragenden Werte: zum Beispiel die Negation des Bedürfnisses nach dem Existenzkampf (dieser ist angeblich etwas Notwendiges, und alle jene Ideen oder Phantasien, die von der möglichen Abschaffung des Existenzkampfes sprechen, widersprechen damit den angeblichen natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der menschlichen Existenz), die Negation des Bedürfnisses, das Leben zu verdienen, Negation des Bedürfnisses nach einer verschwendenden, zerstörenden Produktivität, die mit Destruktion untrennbar verbunden ist, Negation des vitalen Bedürfnisses nach verlogener Triebunterdrückung. Diese Bedürfnisse wären negiert in dem vitalen, biologischen Bedürfnis nach Frieden, das heute, wie Sie nur zu gut wissen, kein vitales Bedürfnis der Majorität ist, dem Bedürfnis nach Ruhe, dem Bedürfnis nach Alleinsein, mit sich selbst oder mit dem selbstgewählten anderen, Bedürfnis nach dem Schönen, dem Bedürfnis nach "unverdientem" Glück – alles dies nicht nur als individuelle Bedürfnisse, sondern als gesellschaftliche Produktivkraft, als gesellschaftliche Bedürfnisse, die in der Leitung und Verwendung der Produktivkräfte bestimmend zur Wirkung gebracht werden.
Diese neuen vitalen Bedürfnisse würden dann als gesellschaftliche Produktivkraft eine totale technische Umgestaltung der Lebenswelt möglich machen, und ich glaube, daß erst in einer so umgestalteten Lebenswelt neue menschliche Verhältnisse, neue Beziehungen zwischen den Menschen möglich werden. Technische Umgestaltung – wiederum spreche ich im Hinblick auf die technisch höchst entwickelten kapitalistischen Länder, wo eine solche Umgestaltung die Beseitigung der Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung und Kommerzialisierung meint, die totale Rekonstruktion der Städte und die Wiederherstellung der Natur nach der Beseitigung der Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung. Ich hoffe, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß, wenn ich von der Beseitigung der Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung spreche, ich nicht einer romantischen Regression hinter die Technik das Wort rede, sondern im Gegenteil glaube, daß die möglichen und befreienden Segnungen der Technik und der Industrialisierung überhaupt erst sichtbar und wirklich werden können, wenn die kapitalistische Industrialisierung und die kapitalistische Technik beseitigt sind.

Die Qualitäten der Freiheit, die ich hier angedeutet habe, sind meiner Meinung nach Qualitäten, die bisher – und ich komme damit auf das zurück, was ich am Anfang gesagt habe – in der Besinnung auf den Begriff des Sozialismus nicht adäquat zum Ausdruck gekommen sind. Der Begriff des Sozialismus ist selbst bei uns zu sehr noch im Rahmen der Entwicklung der Produktivkräfte gefaßt worden, zu sehr noch im Rahmen der Steigerung der Produktivität der Arbeit, was auf der Stufe der Produktivität, auf der die Idee des wissenschaftlichen Sozialismus entwickelt wurde, nicht nur berechtigt, sondern notwendig war, aber heute zumindest diskutiert werden muß. Wir müssen heute versuchen, die qualitative Differenz der sozialistischen Gesellschaft als freier Gesellschaft von den bestehenden Gesellschaften ohne jede Hemmung, selbst wenn es lächerlich erscheinen mag, zu diskutieren und zu bestimmen. Und es ist genau hier, wo, wenn wir nach einem Begriff suchen, der vielleicht die qualitative Differenz der sozialistischen Gesellschaft andeuten kann, die ästhetisch-erotische Dimension gleichsam spontan, jedenfalls mir, zum Bewußtsein kommt. Hier ist der Begriff "ästhetisch" im ursprünglichen Sinn genommen, nämlich als Form der Sensitivität der Sinne und als Form der Lebenswelt. In dieser Fassung projiziert der Begriff die Konvergenz von Technik und Kunst und die Konvergenz von Arbeit und Spiel. Es ist kein Zufall, daß heute in der avantgardistischen linken Intelligenz das Werk von Fourier wieder aktuell wird. Es war Fourier, der, wie Marx und Engels selbst anerkannt haben, zum erstenmal und als einziger diese qualitative Differenz zwischen der freien und der unfreien Gesellschaft sichtbar gemacht hat und nicht zurückgeschreckt ist, wo Marx noch zurückgeschreckt ist, von einer möglichen Gesellschaft zu sprechen, in der die Arbeit zum Spiel wird, einer Gesellschaft, in der selbst die gesellschaftlich notwendige Arbeit im Einklang mit den befreiten, eigenen Bedürfnissen der Menschen organisiert werden kann.

Lassen Sie mich zum Schluß noch eine Bemerkung machen. Ich habe bereits angedeutet, daß die kritische Theorie, die immer noch Marx verpflichtet ist, daß eben diese Theorie die hier nur ganz roh angedeuteten extremen Möglichkeiten der Freiheit, den Skandal der qualitativen Differenz, in sich aufnehmen muß, wenn sie nicht bei der Verbesserung des schlechten Bestehenden stehenbleiben will. Der Marxismus muß riskieren, die Freiheit so zu definieren, daß sie als ein nirgends schon Bestehendes bewußt und erkannt wird. Und gerade weil die sogenannten utopischen Möglichkeiten gar nicht utopisch sind, sondern die bestimmte geschichtlich-gesellschaftliche Negation des Bestehenden darstellen, verlangt die Bewußtmachung dieser Möglichkeiten und die Bewußtmachung der sie verhindernden und der sie verleugnenden Kräfte von uns eine sehr realistische, eine sehr pragmatische Opposition. Eine Opposition, die frei ist von allen Illusionen, aber auch frei von allem Defätismus, der schon durch seine bloße Existenz die Möglichkeit der Freiheit an das Bestehende verrät.

Diskussion zu "Das Ende der Utopie"

Frage: Inwieweit sehen Sie in dem englischen pop movement einen positiven Ansatzpunkt für eine ästhetisch-erotische Lebenshaltung?

Marcuse: Sie werden vielleicht wissen, daß unter den vielen Dingen, die mir vorgeworfen worden sind, letztlich zwei besonders auffallen. Einmal soll ich angeblich behauptet haben, daß die Studentenopposition heute an sich schon die Revolution machen kann. Zweitens soll ich behauptet haben, daß das, was wir in Amerika die Hippies nennen und Sie die Gammler, Beatniks, daß das die neue revolutionäre Klasse sei. Es liegt mir fern, so etwas zu behaupten. Worauf ich hinauswollte, ist, daß in der Tat heute in der Gesellschaft Tendenzen da sind – anarchisch unorganisierte, spontane Tendenzen –, die den totalen Bruch mit den in der repressiven Gesellschaft herrschenden Bedürfnissen anmelden. Die Gruppen, die Sie erwähnt haben, sind bezeichnend für einen Desintegrationszustand innerhalb des Systems, der allein als Phänomen überhaupt keine umwälzende Kraft hat, der aber vielleicht einmal im Zusammenhang mit anderen und weit stärkeren objektiven Kräften eine Rolle spielen kann.

Frage: Sie haben gesagt, daß die materiellen und intellektuellen Kräfte für die Umwandlung technisch vorhanden seien. Ich glaube, daß das auch nach Ihrem Vortrag nicht richtig ist, rein terminologisch, daß Sie nämlich sagen wollen, daß die materiellen und intellektuellen Kräfte für die neue Gesellschaft, für die "Utopie" vorhanden sind, aber nicht für die Umwandlung. Die Frage, die uns doch eigentlich interessieren sollte und auf die wir bisher von Ihnen keine Antwort gekriegt haben, ist die nach den materiellen und intellektuellen Kräften für die Umwandlung.

Marcuse: Die Beantwortung dieser Frage verlangt natürlich einen zweiten Vortrag. Ein paar Andeutungen: Wenn ich so stark auf den Begriff der Bedürfnisse und der qualitativen Differenz angespielt habe, so hat das sehr viel mit dem Problem der Umwandlung zu tun. Einer der Hauptfaktoren, die die Umwandlung, die schon seit Jahrzehnten objektiv auf der Tagesordnung steht, verhindert haben, ist das Fehlen, die Repression des Bedürfnisses nach der Umwandlung, das bei den die Umwandlung tragenden gesellschaftlichen Gruppen als qualitativ Differentes gefehlt hat. Wenn Marx im Proletariat die revolutionäre Klasse gesehen hat, so hat er das auch, und vielleicht sogar primär, deswegen getan, weil das Proletariat von den repressiven Bedürfnissen der kapitalistischen Gesellschaft frei war, weil im Proletariat sich die neuen Bedürfnisse nach Freiheit entwickeln konnten und nicht durch die herrschenden alten erstickt waren. Heute ist das in großen Teilen der höchstentwickelten kapitalistischen Länder nicht mehr der Fall. Die Arbeiterklasse stellt nicht mehr die Klasse mit der Negation der bestehenden Bedürfnisse dar. Das ist eine der ernstesten Tatsachen, mit der wir uns auseinanderzusetzen haben. Was nun die Kräfte der Umwandlung selbst betrifft, gebe ich Ihnen ohne weiteres zu, daß heute niemand in der Lage ist, dafür ein Rezept zu geben in dem Sinne, daß er darauf hinweisen kann: hier hast du deine revolutionären Kräfte, das ist ihre Stärke, das und das muß getan werden.
Alles, was ich kann, ist andeuten, worin potentiell die Kräfte bestehen, die für eine radikale Umwandlung des Systems sprechen. Die klassischen Widersprüche innerhalb des Kapitalismus sind heute stärker, als sie je zuvor waren, besonders der allgemeine Widerspruch zwischen der unerhörten Entwicklung der Produktivkräfte und des gesellschaftlichen Reichtums auf der einen Seite und der zerstörerischen und repressiven Verwendung dieser Produktivkräfte ist heute unendlich viel schärfer, als er je gewesen ist. Zweitens steht der Kapitalismus heute im globalen Rahmen antikapitalistischen Kräften gegenüber, die heute schon an verschiedenen Stellen der Welt im offenen Kampf gegen den Kapitalismus stehen. Und drittens gibt es in dem Spätkapitalismus selbst, in den Vereinigten Staaten und auch in Europa, negative Kräfte und hier scheue ich mich nicht, wiederum zu nennen die Opposition der Intellektuellen, besonders der Studenten.
Heute kommt uns das immer noch merkwürdig vor, aber es gehört nur ein bißchen Geschichtskenntnis dazu, um zu wissen, daß es sicher nicht das erstemal in der Geschichte ist, daß eine radikale geschichtliche Umwandlung mit den Studenten angefangen hat. Das ist nicht nur der Fall hier in Europa, sondern auch in anderen Erdteilen. Die Rolle der Studenten heute als der Intelligenz, aus der ja die leitenden Positionen selbst der bestehenden Gesellschaft rekrutiert werden, ist geschichtlich wichtiger, als sie vielleicht gewesen war. Dazu kommt die moralisch-sexuelle Rebellion, die gegen die herrschende Moral sich wendet und als desintegrierender Faktor immerhin ernst zu nehmen ist, wie aus der Reaktion, besonders in den Vereinigten Staaten, zu sehen ist – und schließlich wahrscheinlich hier in Europa jene Teile der Arbeiterklasse, die noch nicht dem Integrationsprozeß verfallen sind. Das sind tendenziell die Kräfte der Umwandlung, und ihre Chance, ihre Stärke usw. im einzelnen zu bewerten, wäre natürlich Gegenstand einer längeren und besonderen Diskussion.

Frage: Zunächst einmal betrifft meine Frage die Rolle jener neuen Anthropologie, die Sie gefordert haben, und jener qualitativ neuen biologischen Bedürfnisse im Rahmen einer von Ihnen als historisch variabel interpretierten Bedürfnisstruktur. Wie ist die qualitative Differenz zur Theorie des revolutionären Sozialismus? Was Sie am Anfang angesprochen haben im Rahmen des Utopieproblems als Verhältnis des Reiches der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit ... Der späte Marx hat ja gemeint, daß nur auf der Basis des Reiches der Notwendigkeit dieses Reich zu errichten ist, und das heißt doch wohl, daß also nur im Rahmen der Naturgeschichte, nur im Rahmen und nicht unter Abstraktion von der Naturgeschichte, jenseits des Reiches der Notwendigkeit, wie Engels es gefordert hat, eine freie Menschengesellschaft zu errichten sei. Implizieren Sie mit Ihrer Forderung nach neuen biologischen Bedürfnissen, wie etwa einem vitalen Bedürfnis nach Freiheit, nach nicht repressiv vermitteltem Glück, interpretieren Sie damit eine Umfunktionierung oder gar qualitative Umwandlung der physiologischen Struktur der Naturgeschichte des Menschen selber? Meinen Sie, daß das heute eine qualitative Möglichkeit ist?

Marcuse: Wenn Sie meinen, daß bei Veränderung der Naturgeschichte der Menschheit die Bedürfnisse, die ich als neue bezeichnet habe, entstehen können, würde ich ja sagen. Die menschliche Natur – Marx selbst hat das bei all seinem Insistieren auf dem Reich der Notwendigkeit gewußt – die menschliche Natur ist eine historisch bestimmte Natur und entwickelt sich in der Geschichte. Die Naturgeschichte des Menschen wird selbstverständlich weiterbestehen. Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist bereits ein anderes geworden, und das Reich der Notwendigkeit wird eben ein anderes Reich, wenn mit den Mitteln der vollendeten Technik die entfremdete Arbeit abgeschafft werden kann und ein großer Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit zum technischen Experiment wird. Dann, in der Tat, hat sich das Reich der Notwendigkeit selbst verändert, und die Qualitäten der freien menschlichen Existenz, die Marx und Engels noch dem Reich jenseits der Arbeit zuschreiben mußten, können wir vielleicht als im Reich der Arbeit selbst sich entwickelnd ansehen.

Frage: Der späte Karl Korsch wirft im "Buch der Abschaffungen" Marx jene zwei zentralen Sentenzen vor, die auch im "Kapital" vorkommen, daß erstens Arbeit nicht abschaffbar sei, zweitens Mehrarbeit nicht abschaffbar sei. Ich würde dem ersten zustimmen bei Marx, wenn mit Arbeit der Stoffwechsel zwischen den Menschen und der Natur gemeint ist und nicht intendiert ist, daß dieser Stoffwechsel nicht ohne Triebversagung organisiert werden kann. Ich bin mir aber, was den späten Marx anbelangt, überhaupt nicht im klaren ... Wenn man heute meint, das vitale Bedürfnis nach Freiheit und nach Glück, wenn es als biologisches Bedürfnis eingerichtet werden soll ... Wie ist es dann materiell umsetzbar? Das gehört ja dazu. Es wäre ja ein konstitutives Element, daß es materiell umsetzbar ist. (Hans-Jürgen Kraht, SDS)

Marcuse: Mit "materiell umsetzbar" meinen Sie: wie wirkt es sich in der gesellschaftlichen Produktion aus und bis selbst in die physiologische Struktur schließlich. Es wirkt sich aus in der Schaffung einer befriedeten Umwelt. Ich habe das angedeutet mit der Beseitigung der Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung; was ich damit meine, ist eine Umwelt, die durch ihren neuen befriedeten Charakter eben genau diesen neuen Bedürfnissen Raum geben kann, das heißt sich materiell umsetzen kann, physiologisch in der Tat in einer abermaligen Veränderung der menschlichen Natur, nämlich in der Reduktion der heute immer grauenhafter sich ausspielenden Brutalität, Grausamkeit, des falschen Heroismus, der falschen Virilität [Männlichkeit], der Konkurrenz um jeden Preis. Das sind auch physiologische Erscheinungen.

Frage: Besteht ein Zusammenhang zwischen gewissen Rehabilitationen anarchistischer Strategien gegen die Herrschaftsapparatur; gegen Herrschaft schlechthin? Ich würde dem späten Korsch rechtgeben, wenn er dem späten Marx vorwirft, daß dieser das emanzipatorische Vernunftsinteresse gleichsam aufgegeben habe, es nur noch auf die Intensivierung der Produktion und dergleichen mehr abgesehen habe und jene freie Zeit, die als Zeit der Freiheit interpretiert wird, doch etwas abgeschrieben habe. Besteht ein Zusammenhang zwischen einer Rehabilitation gewisser anarchistischer Strategien gegen die verabsolutierte außerökonomische Zwangsgewalt, die heute selbst eine unmittelbare ökonomische Potenz geworden ist, von der ich meine, daß sie eine Rolle spielt wie seit den Tagen der ursprünglichen Akkumulation nicht mehr, nur nicht als unmittelbarer physischer Druck, sondern psychisch umgesetzt worden ist. Das schafft eine neue Qualität von Naturwüchsigkeit im Kapitalismus, denn Naturgesetze beruhen für Marx auf der Verinnerlichung von Gewalt, von ökonomischer Gewalt, heute auf der Verinnerlichung außer-ökonomischer Gewalt. Unter Verinnerlichung außerökonomischer Gewalt verstehe ich, daß die Manipulationsinstanzen bürokratische und staatliche Herrschaftsmechanismen zu internalisieren verstehen. (Krahl)

Marcuse: Aber das ist doch nicht Verinnerlichung der Gewalt. Wenn etwas im Kapitalismus deutlich geworden ist, ist es das, daß die rein äußerliche Gewalt, die gar nicht sublime Gewalt, stärker ist, als sie je zuvor war. Da sehe ich überhaupt keine Verinnerlichung. Die Manipulierungstendenzen, das dürfen wir nicht übersehen, sind nicht Gewalt. Keiner zwingt mich, vor meinem Fernsehgerät stundenlang zu sitzen, keiner zwingt mich, die idiotischen Zeitungen zu lesen.

Frage: Da möchte ich aber widersprechen, denn Verinnerlichung heißt doch gerade, daß eine Scheinliberalität möglich ist – so wie Verinnerlichung ökonomischer Gewalt im klassischen Kapitalismus bedeutete, daß der politische und moralische Überbau liberalisiert werden sollte. (Krahl)

Marcuse: Das geht mir in der Begriffserweiterung einfach zu weit. Gewalt bleibt Gewalt, und ich kann eben ein System, das durch selbst die Scheinfreiheit der Fernsehgeräte, die ich ja abstellen kann, wann immer ich will ... das ist ja kein Schein, und alle diese Dinge ... das ist nicht die Dimension der Gewalt. Wenn Sie das sagen, dann verwischen Sie einen der entscheidenden Faktoren der heutigen Gesellschaft, nämlich den Unterschied zwischen dem Terror und der totalitären Demokratie, die nicht mit dem Terror arbeitet, sondern mit der Verinnerlichung, mit Gleichschaltungsmechanismen: das ist nicht Gewalt. Gewalt ist, wenn einer einem den Kopf mit dem Knüppel einschlägt oder einzuschlagen droht. Gewalt ist nicht, wenn Fernsehprogramme mir vorgesetzt werden, die das Bestehende in dieser oder einer anderen Weise verklären.

Frage: Ich bin wirklich der Meinung, so wie Marx das im "Kapital" entwickelt hat, daß die objektive Stellung der Individuen im Produktionsprozeß auf Gewalt beruht und Gewalt ausdrückt, und Marx meint doch, daß in dem Maße, in dem die ökonomischen Herrschaftsverhältnisse liberalisiert werden können, das heißt latent abgebaut werden können, daß jedoch in dem Augenblick, in dem ökonomische Verhältnisse, also Gewaltverhältnisse, in Frage gestellt werden, es einer außer-ökonomischen, ja, physisch repressiven Zwangsgewalt bedarf, wie sie ja dann die Faschismussituation nach der Wirtschaftskrise kennzeichnet: das meine ich mit der Verinnerlichung von Gewalt. In dem Augenblick, in dem diese Gewaltverinnerlichung in Frage gestellt wird, bedarf es einer physisch repressiven Gewalt in dem Maße, wie jetzt zum Beispiel der Kapitalismus seine eigenen Mechanismen der Verinnerlichung außer-ökonomischer Gewalt in Bürokratien, Administrationen, in Frage stellt. Etwa in Vietnam, wo er zu manifest-physischer Gewalt greift. In dem Maße wird die Toleranzgrenze vieler Individuen überschritten, und sie rebellieren, und sie rebellieren gerade an für uns in Deutschland recht abstrakten Fragen wie Vietnam: gerade da bildet sich dann eine manifeste Protestbewegung. – Besteht ein Zusammenhang in dem Programm einer neuen historisch biologisch qualitativen Bedürfnisstruktur und einer Rehabilitation der von Marx und Engels nicht ohne kleinbürgerliche Moral als deklassiert denunzierten Gruppen in der Strategie? (Krahl)

Marcuse: Innerhalb dieser deklassierten Gruppen werden wir unterscheiden müssen: Soweit ich übersehen kann, sind heute weder das Lumpenproletariat noch die Kleinbürger in irgendeiner Weise eine radikalere Kraft geworden, als sie es vorher waren. Die Rolle der Intelligenz ist hier wiederum sehr different.

Frage: Aber meinen Sie nicht, daß gerade Studenten eine solche Deklassement-Gruppe darstellen?

Marcuse: Nein.

Frage: Ich möchte wissen, ob sich unter den Bedingungen der Reife in den Produktivkräften die Naturgesetzlichkeit, die nach Marx die gesellschaftliche Formationsperiode auszeichnet, aufhebt. Das heißt, ist unter den Bedingungen der Produktivkräfte, die für die Befreiung der neuen Gesellschaft notwendig sind, überhaupt noch das Sprechen von "Notwendigkeit" möglich? Wird unter diesen Bedingungen nicht das Sprechen von "Notwendigkeit" und objektivem Prozeß, auch das Sprechen von Tendenzen hinfällig? Das heißt, ergibt sich unter den Bedingungen der erfüllten Reife in den Produktivkräften nicht die Notwendigkeit, eine völlige Verschiebung in der Theorie-Praxis-Spannung einzuführen, nämlich die, daß die Rolle der subjektiven Tätigkeit im Verhältnis zur objektiven Tendenz völlig neu strukturiert ist, völlig neu bestimmt werden muß, damit auch die Frage der subjektiven Tätigkeit in der Form des Anarchismus zum Beispiel durchaus wieder legitim ist und Bedürfnis und Interesse revolutionärer Gruppen werden kann. Um das nur zu demonstrieren: Korsch spricht im schon erwähnten "Buch der Abschaffungen" davon: These: utopischer Sozialismus; Antithese: Marxismus als sozialistische Weiterentwicklung des Kapitalismus; Synthese: die Abschaffung. Weist das nicht darauf hin, daß die Periode, die wir hinter uns haben, nämlich die Periode, in der die Produktivkräfte für die befreite Gesellschaft geschaffen wurden, tatsächlich diesen Punkt jetzt für uns bringt. Darum also das, was wir in letzter Zeit mit Habermas diskutiert haben unter dem Begriff des "Linken Faschismus", die Frage der Neubestimmung der subjektiven Tätigkeit auch theoretisch vom Marxismus her zu bestimmen und zum Beispiel den subjektiven Faktor als einen völlig neuen Faktor in der geschichtlichen Periode, in der wir stehen, zu begreifen und ihn nicht mehr auszuspielen gegen eine scheinbar noch nicht erreichte Reife. (Rudi Dutschke, SDS)

Marcuse: Ich halte die Neubestimmung des subjektiven Faktors in der Tat für eines der entscheidendsten Erfordernisse der heutigen Situation. Je mehr wir sagen müssen, daß die materiellen, technischen und wissenschaftlichen Produktivkräfte für eine freie Gesellschaft da sind, um so größer wird an uns die Anforderung, das Bewußtsein dieser realisierbaren Möglichkeiten zu befreien; denn die Indoktrinierung des Bewußtseins gegen diese Möglichkeiten ist ja die charakteristische Situation und der subjektive Faktor in der bestehenden Gesellschaft. Ich halte die Entwicklung des Bewußtseins, die Arbeit an der Entwicklung des Bewußtseins, wenn Sie wollen: diese idealistische Abweichung, heute in der Tat für eine der Hauptaufgaben des Materialismus, des revolutionären Materialismus. Und wenn ich so auf die Bedürfnisse hingewiesen habe, ist das ja auch gemeint im Sinne dessen, was Sie den subjektiven Faktor nennen.
Eine der Aufgaben ist es, den Menschentypus freizulegen und zu befreien, der die Revolution will, der die Revolution haben muß, weil er sonst zusammenbricht: das ist der subjektive Faktor, der heute mehr als ein subjektiver Faktor ist. Andererseits ist natürlich der objektive Faktor – und das ist das einzige, wo ich eine Korrektur anbringen würde – die Organisation. Was ich die totale Mobilisierung der bestehenden Gesellschaft gegen ihre eigenen Möglichkeiten nannte, ist ja heute so stark und so effektiv wie nie zuvor. Es besteht auf der einen Seite die absolute Notwendigkeit, erst einmal das Bewußtsein freizulegen, auf der, anderen Seite sieht man sich einer Machtkonzentration gegenüber, gegenüber der selbst das freieste Bewußtsein als lächerlich und ohnmächtig erscheint. Der Zweifrontenkampf ist heute akuter, als er je war. Auf der einen Seite ist die Befreiung des Bewußtseins notwendig, auf der anderen Seite ist jede Möglichkeit eines Risses aufzuspüren in der ungeheuer konzentrierten Machtstruktur der bestehenden Gesellschaft, wie man sich ja zum Beispiel in den Vereinigten Staaten bis heute wenigstens noch ein relativ freies Bewußtsein leisten konnte, weil es einfach keinen Effekt hat.

Frage: Die neuen Bedürfnisse, von denen Sie gesprochen haben, als Triebkräfte gesellschaftlicher Umwälzungen ... Wie weit werden diese Bedürfnisse ein Privileg der Metropolen sein? Wie weit setzen sie technisch und ökonomisch sehr hoch entwickelte Gesellschaften voraus? Sehen Sie diese Bedürfnisse auch in der Revolution in den armen Ländern, zum Beispiel in der chinesischen Revolution oder der kubanischen Revolution?

Marcuse: Ich sehe die Tendenz zu diesen neuen Bedürfnissen an den beiden Polen der bestehenden Gesellschaft, nämlich in den höchstentwickelten und ein andermal in den im Befreiungskampf stehenden Teilen der Dritten Welt. Und zwar wiederholt sich hier ein Phänomen, das schon in der Marxschen Theorie ganz klar ausgesprochen ist, nämlich, daß diejenigen, die von den zweifelhaften Segnungen des kapitalistischen Systems "frei" sind, dieselben sind, die die Bedürfnisse, die eine freie Gesellschaft tragen können, entwickeln. Den im Befreiungskampf stehenden Vietnamesen z.B. braucht man das Bedürfnis nach Frieden nicht erst einzuoktroyieren, die haben das. Die haben auch das Bedürfnis nach der Verteidigung des Lebens gegen Aggression. Das sind Bedürfnisse, die auf dieser Stufe, auf diesem Gegenpol der bestehenden Gesellschaft wirklich im strengsten Sinne natürliche Bedürfnisse sind, spontane. Und auf der anderen Seite, in der höchstentwickelten Gesellschaft, stehen diejenigen Gruppen, Minoritätsgruppen, die sich die neuen Bedürfnisse leisten können oder die sie, selbst wenn sie sie sich nicht leisten können, einfach, weil sie sonst physiologisch erstickten, eben haben. Da komme ich wieder zurück auf die Beatnik- und Hippie-Bewegung; was wir hier haben, ist doch immerhin ein interessantes Phänomen, nämlich einfach die Weigerung, an den Segnungen der "Gesellschaft im Überfluß" teilzunehmen. Das ist auch schon eine der qualitativen Veränderungen des Bedürfnisses. Das ist nicht mehr das Bedürfnis nach besseren Fernsehgeräten, nach besseren Automobilen, nach irgendwelchem Komfort, das ist vielmehr die Negation dieses Bedürfnisses. "Wir wollen mit diesem ganzen Dreck nichts zu tun haben." An beiden Polen ist also Potential da.

Frage: Muß die qualitative Differenz wirklich ein Skandal sein, oder muß sie in einem Skandal enden? Sie haben gerade am Anfang Ihren Begriff von Utopie abgesetzt von Marx, aber auch von den Sozialutopisten. Das, wie ich glaube, mit Recht. Denn einerseits haben Sie ein sehr starkes Moment der Vermittlung, in dem Sie die neuen Qualitäten sehen. Sie haben angegeben, technologische Rationalität stehe im Widerspruch zu den manipulatorischen Techniken der verwalteten Welt. Sie haben an anderer Stelle von den gesteigerten Produktivkräften der Überflußgesellschaft gesprochen, die im Widerspruch zur Selbstverständlichkeit, mit der das repressive Rechtsverhältnis aufrechterhalten wird, stehen, und Sie haben als drittes eine Korrektur an Freud angebracht, indem Sie sein Verhältnis der Bestimmung von Eros und Todestrieb verändert haben und dabei feststellen, daß die Aufrechterhaltung repressiver Techniken durchaus nicht im Begriff Lustprinzip stecken muß. Sie haben also drei Momente von Vermittlung für Ihre utopische Konzeption. Andererseits haben Sie die Schwierigkeit – und hier ist in der Tat ein Bruch gegenüber der Marxschen Konzeption –: Sie haben kein Kollektivsubjekt, das als Träger in Frage käme in der Weise, wie es bei Marx die Klasse ist, sondern Sie haben ausdrücklich viele in sich zersplitterte Gruppen, auf die man allenfalls Hoffnungen setzen kann. Sie haben weiter ausdrücklich betont, daß aus der Analyse der Gegenwart und der Differenz zwischen vorhandenem Material und der Ausnutzung beziehungsweise eben Nichtausnutzung dieses Materials noch nicht hervorgeht, daß die Gesellschaft Tendenzen entwickelt, die notwendig auf eine zukünftige Gesellschaft hinlaufen. Utopie Ihrer Form ist also vermittelt durch die Bedingungen der Produktion, aber sie kann nicht hoffen, daß sie sich mit Notwendigkeit realisiert. Und hier setzt meine Frage ein: Ist die Betonung des Bruches, die ja ihren stärksten Ausdruck in der Forderung nach Gewalt hat, wenn Sie auch ausdrücklich sagen, daß Terror des rechten Verhaltens, wie etwa bei Robespierre, nicht in Frage komme – ist diese Forderung nötig, wenn man so wie Sie die zukünftige Gesellschaft doch in den Materialien der gegenwärtigen schon angelegt sieht? Ich meine die Forderung nach der Anwendung von Gewalt durch diejenigen, die wohl wissen, daß man sie schlagen kann und schlagen wird, die aber das Risiko auf sich nehmen werden.
Ich nehme Gewalt und das Problem der Gewalt ja nur deshalb, um die Frage nach dem Bruch und der Legitimität des Bruches an der schärfsten Stelle zu stellen. Wenn es die Möglichkeit gibt, gegen eine repressive Gesellschaft mit Gegen-Information vorzugehen, wenn es die Möglichkeit gibt, Toleranz zu üben, wenn es die Möglichkeit gibt, auf die Entwicklungsländer und ihre Rolle hinzuweisen, ist dann die Forderung nach dem Bruch nicht inkonsequent, selbst dann, wenn man Herrn Dutschke zugibt, daß die Rolle der Subjektivität gegenwärtig stärker betont werden muß, als das in der marxistischen Theorie der Fall war. Ist dann nicht doch in Ihrer Theorie ein Bruch zwischen Vermittlungsstruktur und Aktivismus vorhanden, und besteht deshalb nicht ein Widerspruch zwischen der Forderung nach der Realisation der neuen befreiten Gesellschaft und den Resultaten der Diagnose, die Sie selbst geliefert haben?

Marcuse: Was ich zu meiner Verteidigung sagen würde: Ich glaube, man kann nicht davon reden, daß ich den Bruch gefordert habe. Es ist vielmehr so: Wenn ich mir die Situation ansehe, kann ich mir unsere Bestimmung einer freien Gesellschaft nur als die bestimmte Negation der bestehenden vorstellen. Aber man darf die bestimmte Negation dann doch nicht so fassen, daß sie schließlich und endlich nichts anderes als das Alte im neuen Gewand ist. Deswegen habe ich den Bruch betont, wiederum ganz im Sinne des klassischen Marxismus. Ich sehe darin keine Inkonsequenz. Die Frage, die in Ihrer enthalten war: wie kommt der Bruch zustande, und wie kommen nach dem Bruch die neuen Bedürfnisse zur Befreiung, ist genau das, was ich sehr gerne mit Ihnen diskutiert hätte. Sie können nämlich sagen – und ich sage mir das selbst oft genug –: Wenn das alles stimmt, wie kann man sich vorstellen, daß diese neuen Begriffe hier und jetzt in den lebenden Menschen auch nur aufkommen können, da doch die gesamte Gesellschaft gegen ein solches Aufkommen der Bedürfnisse ist. Das ist die Frage, mit der wir uns zu beschäftigen haben, und das ist zur gleichen Zeit auch die Frage, ob man sich die Entstehung dieser neuen Bedürfnisse überhaupt als radikale Entwicklung der bestehenden vorstellen kann, ob da nicht, um diese Bedürfnisse freizusetzen, wieder eine Diktatur als Idee erscheint, die allerdings sehr verschieden ist von der Marxschen Diktatur des Proletariats. Nämlich eine Diktatur, eine Gegengewalt, eine Gegenadministration, die beseitigt, was die bestehende Administration an Schrecken verbreitet hat. Das ist eines der Dinge, die mich äußerst beunruhigen und die wir ernsthaft diskutieren sollten.

Frage: Wenn ich den Skandal der Differenz zur herrschenden Gesellschaft auf mich nehme, weil ich mich nicht durch sie unterdrücken lassen will, so lasse ich mich in meiner Praxis davon leiten, aus dem herrschenden System von Belohnung und Unterdrückung auszubrechen, derart, daß ich wohl an Belohnung nehme, was ich kriegen kann, aber dafür versuche, nichts im Sinne der herrschenden Gesellschaft Nützliches zu tun, und versuche, nur das zu tun, was von der Fron, nützlich zu sein, frei ist. In der ästhetisch-erotischen Dimension ist das wahrscheinlich leichter, und es gibt da auch schon einiges, etwa in den Subkulturen des Beat, des Underground und des Pop in Amerika. Das Problem für uns stellt sich sehr viel schwieriger dar in der viel vitaleren Situation der Arbeit oder der positiven Rechtsordnung. Meine Frage wäre nun, oder das Problem, das ich zur Diskussion stellen möchte: Wie ist zum Beispiel häretische Jurisprudenz [ketzerische Rechtswissenschaft] zu treiben, die nicht darauf aus ist, die herrschende positive Gesetzesordnung wiederherzustellen? Oder: Wie ist häretische Medizin derart zu treiben, daß die Kurierung von Krankheiten nicht nur darauf hinausläuft, die Arbeitskraft der von ihrer Arbeit Krankgewordenen wiederherzustellen, sondern daß ihnen bewußt gemacht wird, wieso sie von ihrer Arbeit krank wurden, und daß sie dann vielleicht zu qualitativ anderer Arbeit eingesetzt werden können?

Marcuse: Das Problem, ob und wie die von Ihnen so genannten häretischen Elemente innerhalb des Bestehenden entwickelt werden können: Darauf würde ich sagen, daß in den bestehenden Gesellschaften noch Lücken, noch Zwischenräume sind, in denen diese häretischen Methoden praktiziert werden können, ohne daß man sich sinnlos opfert und damit der Sache selbst als der Sache nichts nützt. Das ist möglich. Das Problem hat Freud schon sehr klar erkannt, in dem er einmal gesagt hat, daß eigentlich die Psychoanalyse alle Patienten zu Revolutionären machen müßte. Aber das geht nun leider nicht, denn man muß ja praktizieren im Rahmen des Bestehenden. Mit diesem Widerspruch hat sich die Psychoanalyse eben auseinanderzusetzen, und sie hat zu abstrahieren von den außermedizinischen Möglichkeiten. Es gibt heute – schon und noch – Psychoanalytiker, die wenigstens so treu wie möglich den radikalen Elementen der Psychoanalyse bleiben, und so gibt es auch zum Beispiel in der Jurisprudenz ja schließlich noch genug Anwälte, die in häretischer Weise, das heißt gegen das Bestehende und zum Schutz der vom Bestehenden ausgeschlossenen Angeklagten, arbeiten, ohne damit gleichsam ihre eigene Praxis unmöglich zu machen. Die Zwischenräume innerhalb der bestehenden Gesellschaft sind ja noch offen, und sie auszunützen ist eine der wichtigsten Aufgaben.

Frage: Ich finde, es ist kein neues vitales Bedürfnis, wenn die Vietcong ein vitales Bedürfnis nach Frieden haben. Das hat es im Mittelalter gegeben. Es besteht eine ganz große Differenz zwischen den beiden vitalen Bedürfnissen, was dazu führt, daß das Bündnis gestört werden kann oder daß die Entwicklung, das heißt die volle Organisation dieser neuen Bedürfnisse, die Sie mit Sensitivität gekennzeichnet haben, mit ästhetischem Eros, in den Metropolen, zumindest in den Metropolen, verzögert werden kann durch die Unterstützung der klassisch-revolutionären Bewegung in der Dritten Welt. Wenn wir uns nämlich ganz existentiell in diesen Kampf begeben würden, dann müßten wir es wahrscheinlich aufgeben, an einer diffizilen Organisation ästhetischer Sensitivität weiterzuarbeiten. Zumindest sehe ich hier einen Konflikt für sehr viele Einzelne oder für die Individuen, die sich zu entscheiden haben.

Marcuse: In der Solidarität mit dem Kampf in der Dritten Welt liegen erste Tendenzen für die neue Anthropologie. Was in den hochindustrialisierten Ländern auftritt an neuen Bedürfnissen, ist in der Dritten Welt durchaus kein neues Bedürfnis, sondern spontane Reaktion gegen das, was geschieht.

Frage: Ich fürchte, daß es doch sehr alte Bedürfnisse sind, die bei den sozialrevolutionären Bewegungen den Ausschlag geben. Ich sehe nicht recht, wie man davon sprechen kann, diese Bedürfnisse als Triebkraft dieser Revolutionen anzunehmen. Nordvietnam ist ein Land, das industrialisiert werden muß. Es wird industrialisiert mit Disziplin, das heißt mit einer Art von Repression. Es wird dort gerade das Umgekehrte gefordert. Enthält es deswegen nicht ein Moment von Luxus, so zu sprechen?

Marcuse: Aber das Bedürfnis nach Freiheit ist doch nicht ein Luxus, den sich nur die Metropolen leisten können. Das Bedürfnis nach Freiheit, das in der sozialen Revolution spontan als altes Bedürfnis auftritt, ist in der kapitalistischen Welt erstickt. In einer Gesellschaft wie der unsrigen, in der Befriedung auf einem gewissen Niveau erreicht ist, erscheint es zunächst wie Wahnsinn, an Revolution zu denken: denn wir haben ja alles, was wir wollen. Aber es geht hier darum, den Willen selbst zu verändern, daß das, was jetzt gewollt wird, nicht mehr gewollt wird. Also: In diesem Sinne ist in den Metropolen doch etwas anderes an der Tagesordnung als in Vietnam – und das kann sich verbinden.

Frage: Zu der These, daß die Technologisierung der Herrschaft die Herrschaft untergräbt: bedeutet das, daß diese Bürokratie oder die Apparatur sich selbst provoziert oder daß sie permanent provoziert werden muß? Daß also in dieser Provokation der Lernprozeß stattfindet, der einsichtig macht, wie die Widersprüche der Bürokratie die Unsinnigkeit dieser Bürokratie darlegen. Oder bedeutet das, daß nicht provoziert werden darf, weil faschistischer Terror droht, weil überhaupt das Erreichte, der Status quo, bedroht wird und damit überhaupt jede Möglichkeit abgeschnitten wird ... daß also sich neue objektive Tendenzen durchringen und die ganze Gesellschaft in Frage stellen, wie ich meine, die klassische marxistische Krisentheorie?

Marcuse: Es bedeutet sicher nicht das letztere, denn der Status quo soll ja bedroht werden. Man kann nicht das Argurnent, daß dadurch der Status quo bedroht werde, gegen die notwendige Bedrohung des Status quo wenden. Technologisierung der Herrschaft bedeutet, daß, wenn wir die technologischen Prozesse rational bis zu ihrem Ende durchdenken, sie mit den bestehenden kapitalistischen Institutionen nicht mehr vereinbar sind, daß also die Herrschaft, die immer noch auf der Notwendigkeit der Ausbeutung und entfremdeten Arbeit beruht, diese Grundlage potentiell verliert. Wenn keine Ausbeutung physischer Arbeitskraft im Produktionsprozeß mehr notwendig ist, ist diese Bedingung der Herrschaft unterminiert.

Frage: Soweit ich sehe, gibt es im Gesamtkomplex sozialistischer und anarchistischer Theorien je zwei verschiedene Positionen zum Problem der Arbeit. Man könnte kurz so sagen: Die eine will mehr darauf hinaus, die Arbeit überhaupt abzuschaffen, und die andere will nur die Befreiung der Arbeit vom Arbeitsleid, wobei die Frontlinie nicht so genau zwischen Sozialismus und Anarchismus läuft, sondern sich die erstaunlichsten Verschiebungen ergeben. Mir ist nicht ganz klar geworden, auf welche Seite Sie sich schlagen wollen, oder wollen Sie gar nicht eindeutig dazu Stellung nehmen? Manchmal klang es so, als beschrieben Sie Abschaffung der Arbeit als Befreiung vom Arbeitsleid; manchmal klang es mehr so, als faßten Sie Befreiung vom Arbeitsleid als Abschaffung der Arbeit überhaupt auf. Ich glaube nicht, daß das Problem gelöst ist, wenn man sagt, es handelt sich um Verwandlung der Arbeit in Spiel, auch wenn Marx das gelegentlich gesagt hat oder wenn es in seinen Äußerungen inhärent sein sollte. Mich interessiert auch, wie Sie dieses Problem lösen wollen, wenn Sie bedenken, daß nicht nur Marx, sondern schon Hegel geglaubt hat, daß Arbeit in einem wie auch immer definierten Sinne zur Sinndeutung menschlicher Existenz hinzugehört. Wenn Sie das alles berücksichtigen, was würden Sie sagen, wie man diese Frage beantworten muß, welche Lösung dieses Problems unserer gegenwärtigen Situation entspricht?

Marcuse: Ich habe geschwankt in der Terminologie zwischen Abschaffung der Arbeit und Abschaffung der entfremdeten Arbeit, weil im Sprachgebrauch Arbeit und entfremdete Arbeit gleichgesetzt worden sind. Das ist die Rechtfertigung für dieses Schwanken. Daß die Arbeit als solche nicht abgeschafft werden kann, glaube ich. Das zu behaupten, wäre in der Tat ein Verstoß gegen das, was Marx den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur genannt hat. Eine Kontrolle, Beherrschung, Umwandlung der Natur, irgendwie eine Transformation der Existenz durch Arbeit ist unabwendbar, aber diese Arbeit ist in dieser utopischen Hypothese so verschieden von dem, was Arbeit heute und morgen ist, daß die Konvergenz von Arbeit und Spiel hier nicht zu weit von den Möglichkeiten wegführt.

Frage: Ist der Prozeß der revolutionären Verdinglichung, der notwendigerweise in der Dritten Welt in gesteigertem Haß gegen die Ausbeuter und Invasoren zum Ausdruck kommt, auch nur dialektisch identisch mit dem Prozeß der organisierten Verweigerung in den Metropolen? Ist also der Prozeß der Befreiung in den Metropolen, als Prozeß und Kampf der organisierten Verweigerung gegen das System, von dieser spezifischen revolutionären Verdinglichung frei? Kann er ohne Haß sein? Muß er ohne Haß sein? Ist er ohne diese spezifischen Opfer in der Dritten Welt, oder ist der Prozeß der Zusammenführung des Kampfes in den Metropolen und in der Dritten Welt gerade das Identischwerden von Opfer und Leid? Revolutionäre Verdinglichung ist die Notwendigkeit, zum Beispiel in Lateinamerika oder in Vietnam den Haß des Individuums gegen die direkte Ausbeutung oder gegen den direkten Ausbeuter in Form des Vertreters der Oligarchien [Herrschaft kleiner Gruppen], in Form der Invasoren der amerikanischen Truppen so zu steigern, daß im Haß das befreiende Element des Humanistischen verloren zu gehen droht oder daß die Gefahr besteht, im Prozeß der zunehmenden Militarisierung des Kampfes, der ungeheuren Auseinandersetzung, daß der andere, der Feind, auch nicht ein bißchen Mensch für den Angreifer oder für den Revolutionär bleibt. Wird diese notwendige revolutionäre Verdinglichung in der Auseinandersetzung aufgelöst oder ist sie tatsächlich ein erst nach der Revolution Aufzulösendes?

Marcuse: Eine ernsthaft furchtbare Frage. Einerseits, glaube ich, muß man sagen, daß der Haß gegen Ausbeutung und Unterdrückung selbst ein humanes und humanistisches Element ist. Andererseits besteht gar kein Zweifel, daß im Verlauf revolutionärer Bewegung Haß entsteht, ohne den Revolution überhaupt nicht möglich ist, ohne den keine Befreiung möglich ist. Nichts ist entsetzlicher als die Liebespredigt "Hasse nicht deinen Gegner" in einer Welt, in der Haß durchaus institutionalisiert ist. Im Verlauf der revolutionären Bewegung selbst kann natürlich dieser Haß umschlagen in Grausamkeit, Brutalität und Terror. Die Grenze zwischen den beiden ist entsetzlicherweise außerordentlich flüssig. Alles, was ich wenigstens dazu sagen kann, ist, daß ein Teil unserer Arbeit darin besteht, diesen Umschlag, soweit es überhaupt möglich ist, zu verhindern, das heißt zu zeigen, daß Brutalität und Grausamkeit eben notwendigerweise zum System der Repression gehören und daß ein Befreiungskampf diesen Umschlag des Hasses in Brutalität und Grausamkeit eben nicht braucht. Man kann einen Gegner schlagen, man kann einen Gegner besiegen, ohne ihm die Ohren abzuschneiden oder ohne ihn zu foltern.

Frage: Ihre Aussagen haben bei mir den Eindruck erweckt, daß Sie eine Gesellschaft nach einem Harmonieprinzip erstreben, nicht nach dem liberalistischen Harmoniemodell, sondern nach einem von Ihnen an Kriterien gemessenen Harmonieprinzip, die Sie definieren. Sie streben eine Gesellschaft in Negation zur bestehenden an, die sich nach einem Gemeinwohl orientiert, das im wesentlichen ohne Toleranz und Pluralismus funktionieren soll. Wer jedoch definiert diese Gemeinwohl-Inhalte, die Sie als Werte der Negation und als einige positive Werte hier heute abend formulierten? Sie als Kritiker, als Wissenschaftler dieser Gesellschaft geben dieser Gesellschaft ihre neuen Werte vor, aber in dieser Gesellschaft sehen Sie keine antagonistischen Konflikte und keine entscheidenden Konfliktmechanismen vor, wo derartige möglicherweise auftretende Konflikte gelöst werden können. Sie setzen voraus, daß es möglich sei, eine nach den von Ihnen vorhin beschriebenen Negationsprinzipien geschaffene Gesellschaft zu schaffen, aber Sie sind sich bewußt, daß Sie dieses nicht ohne einen gewissen Zwang tun können. Ich sehe in dem von Ihnen entwickelten Modell ein utopisches Modell, weil ich es für nicht realisierbar halte, und im übrigen würde ich vielleicht kritisieren, daß ich es nicht als fundamental demokratisch begreifen kann, denn Sie selbst haben mit einer gewissen Reservation davon gesprochen, daß in dieser Gesellschaft oder am Punkt des Bruches mit der bestehenden Gesellschaft sich eine Diktatur oder etwas ähnliches entwickeln müsse, was zwar qualitativ von der Diktatur von Marx verschieden sei, aber immerhin als Gegenadministration einen Charakter von Diktatur habe. Wenn Sie aber etwas derartiges institutionalisieren wollen, das Toleranzprinzip minimieren wollen, dann weiß ich nicht, wie Sie hier eine nichtutopische Gesellschaft schaffen wollen und wie diese nach den normal geltenden Prinzipien als fundamental demokratisch anzusehen sei.

Marcuse: Eine freie Gesellschaft ist entweder ohne Toleranz nicht vorstellbar, oder eine freie Gesellschaft hat deswegen Toleranz nicht nötig, weil sie sowieso frei ist, so daß Toleranz nicht erst gepredigt zu werden braucht und nicht erst institutionalisiert zu werden braucht. Das ist keine Gesellschaft ohne Konflikte ... das wäre eine utopische Idee. Aber die Idee einer Gesellschaft, in der Konflikte selbstverständlich bestehen, aber diese Konflikte ohne Unterdrückung, ohne Grausamkeit gelöst werden können, ist meiner Meinung nach keine utopische Idee. Was den Begriff der Demokratie betrifft: das ist nun allerdings eine sehr ernste Sache. Wenn ich in einem Satz sagen soll, was ich darüber als Antwort im Augenblick geben kann, so nur das, daß niemand im Augenblick mehr für eine Demokratie sein kann als ich. Mein Einwand ist nur, daß in keiner der bestehenden Gesellschaften und sicherlich auch nicht in denen, die sich demokratisch nennen, Demokratie besteht. Was besteht, ist irgendeine sehr limitierte, illusionäre, von Ungleichheiten durchsetzte Form der Demokratie, während die wahren Bedingungen der Demokratie überhaupt erst geschaffen werden müssen. Zum Problem der Diktatur: Was ich angedeutet habe, war eine Frage, nämlich, ich kann mir nicht vorstellen, wie der Zustand beinahe totaler Indoktrinierung und Gleichschaltung auf evolutionärem Wege in sein Gegenteil umschlagen kann. Daß da in irgendeiner Weise ein Eingriff geschehen muß, daß in irgendeiner Weise die Unterdrücker unterdrückt werden müssen, da sie sich allein leider Gottes nicht selbst unterdrücken, das scheint mir unabwendbar.

Frage: Mir schien im Zentrum Ihres heutigen Referats die These zu stehen, daß einer Veränderung der Gesellschaft eine Veränderung der Bedürfnisse vorgeschaltet sein muß. Nun erinnere ich mich an die Marxsche Feuerbachthese, in der es heißt: Der Mensch ist das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Eine These, die Sie ja exemplarisch bestätigen in Ihrem "One Dimensional Man". Für mich ist die Folgerung daraus, daß veränderte Bedürfnisse nur entstehen können, wenn wir zunächst die Mechanismen abschaffen, die die Bedürfnisse so haben entstehen lassen, wie sie sind. Mir scheint in Ihrem heutigen Vortrag eine Akzentverschiebung vorzuliegen zur Aufklärung hin und weg von Revolution.

Marcuse: Sie haben leider die größte Schwierigkeit der Sache hier definiert. Ihr Einwand ist, daß, um die neuen revolutionären Bedürfnisse zu entwickeln, erst einmal die Mechanismen abgeschafft werden müssen, die die alten Bedürfnisse reproduzieren. Um die Mechanismen abzuschaffen, die die alten Bedürfnisse reproduzieren, muß erst einmal das Bedürfnis da sein, die alten Mechanismen abzuschaffen. Genau das ist der Zirkel, der vorliegt, und ich weiß nicht, wie man aus ihm herauskommt.

Frage: Wie ist es möglich, Scheinutopien von echten Utopien, das heißt Phantasmagorien, zu unterscheiden? Zum Beispiel das Problem der Beseitigung von Herrschaft: Die Frage ist doch, ob diese Beseitigung von Herrschaft wegen der Unreife der Gesellschaft noch nie für die Dauer geschehen ist oder ob ihre Beseitigung sozusagen biologisch unmöglich ist. Sollte jemand letzteres glauben, wie wollen Sie ihm und wie können Sie ihm beweisen, daß er irrt?

Marcuse: Wenn demonstrierbar ist, daß Abschaffung der Herrschaft biologisch unmöglich ist, würde ich sagen: Die Idee der Abschaffung der Herrschaft ist eine Utopie. Ich glaube nicht, daß eine solche Demonstration bisher beigebracht worden ist. Was wahrscheinlich biologisch unmöglich ist, ist auszukommen ohne irgendwelche Repression. Sie mag selbst auferlegt sein, sie mag von anderen auferlegt sein. Das ist aber nicht identisch mit Herrschaft. Die marxistische Theorie und schon lange vor der marxistischen Theorie ist der Unterschied gemacht worden zwischen rationaler Autorität und Herrschaft. Die Herrschaft zum Beispiel des Piloten in einem Flugzeug ist rationale Herrschaft. Es ist unmöglich, sich einen Zustand vorzustellen, in dem die Passagiere dem Piloten diktieren, was er zu machen hat. Der Verkehrspolizist sollte auch ein typisches Beispiel rationaler Autorität sein. Diese Dinge sind wahrscheinlich biologische Notwendigkeiten, aber politische Herrschaft, Herrschaft, die auf Ausbeutung beruht, Unterdrückung, ist es nicht.

Frage: Wenn ich Sie recht verstanden habe, besteht eine sehr große Diskrepanz zwischen dem bestehenden Machtapparat und jenen Gruppen, die bereits jetzt Elemente jener ästhetisch-erotischen Bedürfnisse vertreten – und davon ist zunächst auszugehen. Ein zweiter Punkt war, den Sie auch erwähnten, daß es wichtig sei, die Rolle der subjektiven Tätigkeit neu zu bestimmen. Ein dritter Punkt war, daß Sie sagten, daß nicht nur den Studenten, sondern auch den Wissenschaftlern eine erhöhte Bedeutung zukomme. Nun könnte man doch auch sagen, daß bereits in der gegenwärtigen Situation im etablierten Machtapparat selbst, in den fortgeschrittensten Industrien und Labors, wenn auch in entfremdeter Form, eben jenes Ineinanderübergehen von Arbeit in Spiel stattfindet. Daß es also im Bereich des "happy consciousness" [glücklichen Bewußtseins] durchaus spielerische Momente gibt – wenn ich etwa denke an das Planspiel oder an bestimmte synektische Sitzungen, die ja auch eine Form der Phantasie, der Einbildungskraft sind, die dann den technologischen Erfordernissen dienstbar gemacht werden soll. Game-Theorie. Wie sehen Sie die Möglichkeit – und einige französische Theoretiker sind ja schon darauf eingegangen, etwa Mallet –, daß also genau diese entfremdete Form des Ineinanderübergehens von Arbeit und Spiel, daß dies auch dazu führen kann, daß sich im zweckrationalen Prozeß der Produktion selbst, das heißt an den entscheidenden Stellen des Machtapparates, eben jene Weigerung zeigt, von der Sie gesprochen haben. Wie schätzen Sie diese Möglichkeit überhaupt ein?

Marcuse: Was ich gegen die Bewertung der Techniker von Mallet einzuwenden habe, ist, daß genau diese Gruppe heute ja zu den höchstbezahlten und höchstbelohnten Nutznießern des Systems gehört. Da müßte schon eine totale Wandlung nicht nur des Bewußtseins, sondern der ganzen Situation eintreten, um das möglich zu machen. Was ich zweitens einzuwenden habe, ist: Solange diese Gruppe isoliert betrachtet wird als die potentiell umwälzende Kraft, kommt man nur zu einer technokratischen Revolution, das heißt zu einer Transformation des Spätkapitalismus in einen technokratischen Staatskapitalismus, aber sicher nicht zu dem, was wir unter freier Gesellschaft verstehen.

Frage: Zurück zum Problem einer neuen Anthropologie: Hier wurde also dann teilweise gefragt, ob das nun alte oder neue Bedürfnisse seien. Das ist ja wohl nicht der entscheidende Punkt. Die Frage ist doch nur, ob ein Bedürfnis, wie das nach Frieden, das ja immer schon ein vitales Bedürfnis gewesen ist, wenn es sich als biologisches Bedürfnis äußern soll, und das sich ja dann entsprechend im revolutionären Prozeß, im Hinblick auf emanzipatorisches Ziel und revolutionäre Mittel niederschlagen muß, und zwar materiell-sinnlich manifest ... die Frage ist doch, ob sich ein solches vitales Bedürfnis nach Frieden unterscheidet von einem vitalen Bedürfnis etwa wie dem der Stillung von Hunger, das eine gleichsam materiellere, biologischere Struktur als das vitale Bedürfnis nach Frieden hat. Ich muß also doch noch einmal die Frage nach dieser materiellen Umsetzung solcher emanzipatorischen Bedürfnisse, die über die unmittelbare materielle Vitalität hinausgehen, wie das nach Glück, Frieden, Freiheit, wiederholen. Mir scheint nämlich, daß, wenn solche Bedürfnisse im revolutionären Prozeß sinnlich manifest und sichtbar werden sollen, daß sie dann gewissermaßen in die Definition der Animalität der Menschen eingehen müssen, kurz: eingehen in das, was Marx in den Frühschriften als Definition von Entfremdung gegeben hat. Entfremdung ist dort Abstraktion vom sinnlichen Genuß. Die Individuen sind entfremdet vom Genuß ihrer eigenen Produkte, also von dieser sinnlichen Animalität, wie Marx sagt, so daß die Entfremdung von sinnlicher Animalität, diese Abstraktion von der sinnlichen Animalität sie auf den Zustand von Tieren gleichsam regrediert. Das bedeutet, daß die Abstraktion von der sinnlichen Animalität eine Bestialisierung der Menschen ist. Man müßte also jetzt doch aufzeigen – und das halte ich für die differentia spezifica –, wie diese vitalen Bedürfnisse nach Frieden, Freiheit und Glück, die gleichwohl nicht im unmittelbaren Sinn materielle Bedürfnisse sind, der Leiblichkeit – wenn ich das mal ganz handfest und ontologisch sage –, wie solche Bedürfnisse sich umsetzen können, materiell. Das hat mir noch nicht eingeleuchtet.

Marcuse: Das Bedürfnis nach Frieden als vitales Bedürfnis im biologischen Sinne, würde ich sagen, braucht sich nicht materiell umzusetzen, weil es in diesem Sinn schon materielles Bedürfnis ist. Das Bedürfnis nach Frieden zum Beispiel würde sich darin ausdrücken, daß man überhaupt nicht mehr Menschen für den Wehrdienst mobilisieren kann. Das wäre schon keine materielle Umsetzung mehr, sondern wäre das Bedürfnis nach Frieden als materielles Bedürfnis. Und genauso verhält es sich mit den anderen Bedürfnissen, die ich angedeutet habe.

Frage: Zurück auf die Frage nach dem Bruch. Dieser Bruch, von dem Sie sprachen, setzt einen Riß voraus. Dieser Riß scheint mir heute in der spätkapitalistischen Gesellschaft vorhanden zu sein. Er läßt sich am klarsten erkennen in den erreichten Produktivkräften in dieser Gesellschaft und in der noch gewaltig vorhandenen Repression, die nicht mehr zu sein brauchte, da das Reich der Notwendigkeit durch die erreichten Produktivkräfte sie abschaffen könnte. Aber andererseits scheint es mir so zu sein, daß dieser Riß noch nicht genügt, um einen Bruch herzustellen. Er erlaubt es immer noch, durch nichtterroristische und demokratische Wege diese Gesellschaft irgendwie zu erhalten. Die Frage wäre erstens: Wann können wir feststellen, daß der Riß so weit gegangen ist, daß der Bruch vorhanden ist, oder ergibt er sich selbst in diesem Riß, der weiter langsam aufreißt, bis dieser Bruch kommt, so daß dann erst, bei dem Vorhandenensein dieses Bruches, die Möglichkeit eintritt, der Utopie ein Ende zu machen, andererseits aber die reale Möglichkeit, die Utopie endlich Wirklichkeit werden zu lassen? Aber wenn wir jetzt weiter davon ausgehen, daß, um diese Utopie Wirklichkeit werden zu lassen, zwar die materiellen Voraussetzungen vorhanden sind, die Produktivkräfte vorhanden sind, aber der subjektive Faktor noch weit zurückgeblieben ist, nämlich deshalb, weil es nur eine winzige Minderheit von Leuten ist, die objektiv begriffen hat, was möglich ist: wie wäre es zu bestimmen, daß diese Leute jetzt, um der Utopie nicht ein Ende zu machen, in die Gesellschaft eingreifen, um die Gesellschaft überhaupt richtig zu kanalisieren? Wie ist das festzustellen? Wann ist der Punkt gekommen, und wie könnte dann diese kleine Minderheit noch in der Gesellschaft fungieren, damit der Utopie nicht ein Ende gemacht wird?

Marcuse: Eine Erweiterung des Risses würde ich zum Beispiel sehen an bestimmten symbolischen Tatsachen und Ereignissen, Ereignissen, die irgendwie einen Wendepunkt in der Entwicklung des Systems darstellen. So würde die erzwungene Beendigung des Krieges in Vietnam eine beträchtliche Erweiterung des Risses in der bestehenden Gesellschaft darstellen.

Frage: Im Zusammenhang mit der Problematik der neuen Anthropologie: Diese neue Anthropologie findet ihre Vertreter schon gerade in der Dritten Welt, nämlich bei Fanon, der sagt: "Es geht darum, den totalen Menschen auf der Erde zu etablieren", und bei Guevara, der sagt: "Wir bauen den Menschen des 21. Jahrhunderts". Ich möchte Sie fragen, wie Sie Ihre Ideen der neuen Anthroplologie mit diesen beiden Testimonien verbinden?

Marcuse: Ja, ich habe mich nicht getraut, das zu sagen, aber nachdem Sie, der ja einiges davon zu wissen scheint, es selbst sagen, kann ich es jetzt ausdrücken: Ich glaube in der Tat, obgleich ich das hier nicht zugegeben habe, daß jedenfalls in einigen der Befreiungskämpfe in der Dritten Welt und selbst in einigen der Entwicklungsmethoden der Dritten Welt diese neue Anthropologie sich bereits anzeigt. Ich hätte nicht so sehr Fanon und Guevara erwähnt als eine kleine Nachricht, die ich in einem Bericht über Nordvietnam gelesen habe und die, da ich ein absolut unverbesserlicher und sentimentaler Romantiker bin, mich ungeheuer beeindruckt hat. Es war ein sehr detaillierter Bericht, in dem unter anderem gezeigt wurde, daß in den Parks in Hanoi die Bänke nur so groß gemacht worden sind, daß zwei, und nur zwei Personen darauf Platz haben, daß jeder andere Störende überhaupt nicht die technische Möglichkeit hat, zu stören.

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