Auszüge aus Herbert Marcuse's
"Psychoanalyse und Politik"

Kritische Studien zur Philosophie

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Trieblehre und Freiheit

Meine Damen und Herren!

Die Diskussion der Freudschen Theorie vom Standpunkt der politischen Wissenschaft und Philosophie bedarf der Rechtfertigung – um so mehr, als Freud immer wieder den naturwissenschaftlich-empirischen Charakter seiner Arbeit betont hat. Die Rechtfertigung muß eine zweifache sein: sie muß erstens zeigen, daß die Freudsche Theorie ihrer eigenen Begrifflichkeit nach der politischen Fragestellung offen ist und entgegenkommt – mit anderen Worten: daß ihre anscheinend rein biologische Konzeption im Grunde eine gesellschaftlich-historische ist. Dies soll der Vortrag selbst deutlich machen. Sie muß zweitens zeigen, inwiefern einerseits Psychologie heute ein wesentlicher Teil der politischen Wissenschaft ist und andererseits die Freudsche Trieblehre – und nur um sie handelt es sich hier – entscheidende Tendenzen der heutigen Politik auf ihren – verdeckten – Begriff bringt.

Wir beginnen mit diesem zweiten Aspekt der Rechtfertigung. Es handelt sich nicht darum, psychologische Begriffe in die politische Wissenschaft einzuführen, politische Vorgänge psychologisch zu erklären. Das hieße, das Fundierende durch das von ihm Fundierte erklären. Vielmehr muß sich die Psychologie selbst als politisch enthüllen; nicht nur so, daß die Psyche immer unmittelbarer als ein Stück des Gesellschaftlich-Allgemeinen erscheint – so daß Vereinzelung beinahe gleichbedeutend mit Teilnahmslosigkeit, sogar mit Schuld, aber auch mit dem Prinzip der Negation, der möglichen Revolution ist; sondern auch so, daß das Allgemeine, dessen Stück die Psyche ist, immer weniger "die Gesellschaft" und immer mehr "die Politik", das heißt, die der Herrschaft verfallene und mit ihr identifizierte Gesellschaft ist.

Wir müssen gleich hier am Anfang versuchen zu definieren, was wir mit "Herrschaft" meinen, weil der Inhalt dieses Begriffes in der Freudschen Trieblehre zentral steht. Herrschaft ist überall da wirksam, wo die Ziele und Zwecke des Individuums und die Weisen, sie zu erstreben und zu erreichen, dem Individuum vorgegeben und als vorgegebene von ihm ausgeführt werden. Herrschaft kann von Menschen, von der Natur, von Dingen ausgeübt werden – ja sie kann innerlich sein, von dem Individuum an sich selbst vollzogen werden, in der Form der Autonomie erscheinen. Diese Form spielt in der Freudschen Trieblehre eine entscheidende Rolle: das Über-Ich nimmt die autoritären Vorbilder – den Vater und seine Stellvertreter – in sich auf und macht ihre Gebote und Verbote zu seinen eigenen Gesetzen, zu seinem Gewissen. Die Triebbeherrschung wird zum eigenen Werk des Individuums: Autonomie.

Damit aber scheint Freiheit zu einem unmöglichen Begriff zu werden, denn es gibt nichts, was dem Individuum nicht in irgendeiner Weise vorgegeben ist. Und in der Tat kann Freiheit nur im Rahmen der Herrschaft definiert werden, wenn die bisherige Geschichte den Leitfaden für die Definition abgeben soll. Freiheit ist eine Form der Herrschaft: diejenige nämlich, in der die vorgegebenen Mittel die Bedürfnisse des Individuums mit einem Minimum von Unlust und Entsagung befriedigen. In diesem Sinne ist Freiheit durch und durch geschichtlich und ihr Grad nur geschichtlich bestimmbar: sowohl die Fähigkeiten und Bedürfnisse wie das Minimum von Entsagung sind je nach der Stufe der Kulturentwicklung verschieden und objektiven Bedingungen unterworfen. Aber gerade diese objektiv-geschichtliche Bedingtheit hebt die Unterscheidung von Freiheit und Herrschaft über jede bloß subjektive Wertung hinaus: die auf einer bestimmten Kulturstufe erarbeiteten Mittel der Bedürfnisbefriedigung sind, wie die menschlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten selbst, gesellschaftlich gegebene Tatsachen, vorhanden in den materiellen und geistigen Produktivkräften und in den Möglichkeiten ihrer Verwendung. Eine Kultur kann diese Möglichkeiten im Interesse der individuellen Bedürfnisbefriedigung verwenden – dann ist die Kultur auf Freiheit ausgerichtet.

Unter optimalen Bedingungen reduziert sich Herrschaft auf rationale Teilung der Arbeit und Erfahrung; Freiheit und Glück konvergieren. Oder aber die individuelle Befriedigung wird selbst einem gesellschaftlichen Bedürfnis unterworfen, das diese Möglichkeiten beschränkt und ablenkt – dann treten gesellschaftliches und individuelles Bedürfnis auseinander: die Kultur ist eine herrschaftsmäßige.

Die bisherige Kultur war herrschaftsmäßig, insofern das gesellschaftliche Bedürfnis durch das Interesse der jeweils herrschenden Gruppen bestimmt war und dieses Interesse die Bedürfnisse der anderen und die Weisen und Grenzen ihrer Befriedigung definierte. Diese Kultur hat den gesellschaftlichen Reichtum bis zu einem Punkte entwickelt, an dem die den Individuen auferlegten Verzichte und Lasten immer unnötiger, irrationaler erscheinen. Am krassesten drückt sich die Irrationalität der Unfreiheit aus in der intensivierten Unterwerfung der Individuen unter den ungeheuren Produktions- und Verteilungsapparat, in der Entprivatisierung der Freizeit, in der beinahe ununterscheidbaren Verschmelzung von konstruktiver und destruktiver gesellschaftlicher Arbeit. Und gerade diese Verschmelzung ist die Bedingung der stetig wachsenden Produktivität und Naturbeherrschung, die auch die Individuen – oder wenigstens deren Mehrzahl in den fortgeschrittensten Ländern – immer komfortabler am Leben erhält. So wird die Irrationalität zur Form der gesellschaftlichen Vernunft, zum vernünftigen Allgemeinen. Psychologisch – und das allein interessiert uns hier – verringert sich die Differenz zwischen Herrschaft und Freiheit. Das Individuum reproduziert in seinem Tiefsten, in seiner Triebstruktur, die Wertungen und Verhaltensweisen, die der Aufrechterhaltung der Herrschaft dienen, während die Herrschaft immer weniger autonom, immer weniger "persönlich", immer objektiver und allgemeiner wird. Was eigentlich herrscht, ist der zur unteilbaren Einheit gewordene ökonomische, politische und kulturelle Apparat, den die gesellschaftliche Arbeit aufgebaut hat.

Allerdings hat das Individuum von jeher die Herrschaft aus sich heraus reproduziert, und diese Reproduktion diente der vernünftigen Selbsterhaltung und Selbstentwicklung in dem Maße, in dem die Herrschaft das Allgemeine vertrat und entwickelte. Das Allgemeine hat sich von jeher in der Opferung des Glücks und der Freiheit eines großen Teils der Menschen durchgesetzt: es enthielt immer den Widerspruch gegen sich selbst, verkörpert in politischen und geistigen Kräften, die nach einer anderen Lebensform drängten. Was der gegenwärtigen Stufe eigen ist, ist die Stillstellung dieses Widerspruchs: die Bewältigung der Spannung zwischen der Positivität – der gegebenen Lebensform – und ihrer Negation – dem Widerspruch gegen diese Lebensform im Namen der geschichtlich möglichen größeren Freiheit. Wo heute die Stillstellung dieses Widerspruchs am weitesten fortgeschritten ist, da wird das Mögliche kaum noch gewußt und gewollt – gerade nicht von denen, von deren Wissen und Wollen seine Realisierung abzuhängen scheint, die es allein zum wirklich Möglichen machen könnten. In den technisch fortgeschrittensten Zentren der gegenwärtigen Welt ist die Gesellschaft wie nie zuvor zur Einheit zusammengeschmiedet: was möglich ist, wird definiert und realisiert durch die Mächte, die diese Einheit zustande gebracht haben; die Zukunft soll die ihre bleiben, und die Individuen sollen "in Freiheit" diese Zukunft wollen und herbeiführen.

"In Freiheit": denn Zwang setzt den Widerspruch voraus, der im Widerstand sich äußern kann. Der totalitäre Staat ist nur eine der Formen – vielleicht eine schon veraltete Form –, in denen sich der Kampf gegen die geschichtliche Möglichkeit der Befreiung abspielt. Die andere, die demokratische Form verwirft den Terror, weil sie stark und reich genug ist, sich ohne ihn zu retten und reproduzieren: die meisten Individuen haben es in der Tat besser in ihr. Aber nicht dies, sondern die Weise, in der sie die ihr zur Verfügung stehenden Produktivkräfte organisiert und verwendet, bestimmt ihre geschichtliche Tendenz: auch sie hält trotz allen technischen Fortschritts die Gesellschaft auf der erreichten Stufe fest, auch sie arbeitet gegen geschichtlich mögliche, neue Formen der Freiheit. In diesem Sinne ist auch ihre Rationalität regressiv, obgleich sie mit schmerzloseren und bequemeren Mitteln und Methoden arbeitet. Aber daß sie dies tut, darf das Bewußtsein nicht verdrängen, daß auch hier die Freiheit gegen ihre Vollendung, die Wirklichkeit gegen ihre Möglichkeit ausgespielt wird.

Wenn eine mögliche Freiheit der wirklichen gegenübergestellt, ja die letztere im Lichte der ersteren gesehen wird, so setzt dies voraus, daß auf der gegenwärtigen Kulturstufe viel von der den Menschen auferlegten Mühsal, Entsagung, Kontrolle nicht mehr durch Lebensnot, Kampf ums Dasein, Armut und Schwäche gerechtfertigt ist. Die Gesellschaft könnte sich einen hohen Grad von Triebbefreiung leisten, ohne ihre Errungenschaften einzubüßen oder ihren Fortschritt aufzuhalten. Die in der Freudschen Theorie angezeigte Grundrichtung solcher Befreiung wäre die Zurücknahme eines großen Teils der auf entfremdete Arbeit abgelenkten Triebenergie und deren Freilassung für die Erfüllung der sich autonom – und nicht manipuliert – entwickelnden Bedürfnisse der Individuen. Das wäre in der Tat auch Entsublimierung – aber eine Entsublimierung, die auch noch die "vergeistigtesten" Manifestationen menschlicher Energie, anstatt sie zu zerstören, vielmehr als Möglichkeiten glückhafter Befriedigung entwerfen würde. Das Resultat wäre: nicht Rückfall in die Vorgeschichte der Kultur, sondern fundamentale Veränderung im Inhalt und Ziel der Kultur, im Prinzip des Fortschritts. Ich werde versuchen, dies an anderer Stelle zu erläutern; hier möchte ich nur darauf hinweisen, daß die Realisierung dieser Möglichkeit wesentlich veränderte gesellschaftliche Institutionen der Kultur voraussetzt. So erscheint sie als eine Katastrophe in der bestehenden Kultur und der Kampf gegen sie als eine Notwendigkeit; und so werden die Kräfte, die auf sie hintreiben, lahmgelegt.

Solche Stillstellung der Dynamik der Freiheit ist in der Freudschen Trieblehre von der Psychologie aus aufgedeckt worden: Freud hat ihre Notwendigkeit, ihre Folgen für das Individuum und ihre Grenzen sichtbar gemacht. Wir wollen sie hier in den Begriffen der Freudschen Trieblehre, aber über sie hinausgehend, thesenhaft formulieren.
Im Rahmen der Kultur, wie sie sich als geschichtliche Realität entfaltet hat, ist Freiheit nur auf dem Grunde von Unfreiheit, das heißt von Triebunterdrückung, möglich. Denn seiner Triebstruktur nach ist der Organismus ursprünglich auf Lustgewinnung ausgerichtet, vom Lustprinzip beherrscht: die Triebe streben nach der lustvollen Auflösung von Spanung, nach schmerzloser Bedürfnisbefriedigung. So aber widerstreben sie ursprünglich dem Aufschub der Befriedigung, der Beschränkung und Sublimierung der Lust, der nichtlibidinösen Arbeit. Aber Kultur ist Sublimierung: aufgeschobene, methodisch beherrschte, Unlust voraussetzende Befriedigung. Der "Kampf ums Dasein", die "Lebensnot", die Kooperation erzwingen Entsagung und Repression im Interesse von Sicherheit, Ordnung, Zusammenleben. Kultureller Fortschritt besteht in der immer größeren und bewußteren Produktion der technischen, materiellen und intellektuellen Bedingungen des Fortschritts – in der selbst unbefriedigenden Arbeit an den Mitteln der Befriedigung. Freiheit in der Kultur hat ihre innere Schranke an der Notwendigkeit, im Organismus Arbeitskraft zu gewinnen und zu erhalten – ihn aus einem Subjekt-Objekt der Lust in ein Subjekt-Objekt der Arbeit zu verwandeln. Dies ist der gesellschaftliche Inhalt der Überwindung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip, das vom frühesten Kindheitsalter an zum herrschenden Prinzip der psychischen Prozesse wird. Erst diese Verwandlung, die an den Menschen eine unheilbare Wunde zurückläßt, macht sie gesellschafts- und damit lebensfähig, denn ohne gesicherte Kooperation ist ein Überleben in der kargen und feindlichen Umwelt unmöglich. Erst diese traumatische Verwandlung, die im echten Sinne eine "Entfremdung" des Menschen von der Natur, von seiner Natur ist, macht auch den Menschen genußfähig: erst der verhaltene und gemeisterte Trieb erhöht die bloß natürliche Bedürfnisbefriedigung zur empfundenen und begriffenen Lust – zum Glück.

Aber von hier an ist auch alles Glück nur gesellschaftsfähiges Glück, und die Freiheit des Menschen wächst auf dem Boden der Unfreiheit. Diese Verflechtung ist nach der Theorie Freuds unabwendbar und unauflöslich. Um dies zu verstehen, müssen wir seiner Trieblehre noch ein Stück folgen; wir gehen dabei von der späten Fassung aus, wie sie nach 1920 entwickelt worden ist. Es ist die metapsychologische, sogar metaphysische Fassung, aber vielleicht gerade deswegen auch diejenige, die den tiefsten und revolutionären Kern der Freudschen Theorie enthält.

Der Organismus entwickelt sich in der Wirkung von zwei ursprünglichen Grundtrieben: der Lebenstriebe (Sexualität, jetzt von Freud vorwiegend Eros genannt) und des Todes-, des Destruktionstriebes. Während jene zur Zusammenfassung lebendiger Substanz in immer größeren und dauerhafteren Einheiten drängen, will der Todestrieb die Regression zu dem bedürfnis- und daher schmerzlosen Zustand vor der Geburt: er treibt zur Vernichtung des Lebens, zum Rückfall in die anorganische Materie. Der mit einer solchen antagonistischen Triebstruktur ausgestattete Organismus findet sich in einer Umwelt, die für die unmittelbare Befriedigung der Lebenstriebe zu arm und zu feindselig ist. Eros will Leben unter dem Lustprinzip, während die Umwelt diesem Ziel entgegensteht. Die Umwelt erzwingt daher, sobald die Lebenstriebe sich den Todestrieb unterworfen haben (eine Unterwerfung, die mit dem Beginn und der Dauer des Lebens koexistent ist), eine entscheidende Modifikation der Triebe: sie werden teils von ihrem ursprünglichen Ziel abgelenkt oder auf dem Weg dahin gehemmt, teils in ihrem Triebfelde beschränkt und in ihrer Richtung verändert. Das Ergebnis dieser Modifikation ist gehemmte, aufgeschobene, ersetzte – aber auch gesicherte, nützliche und relativ dauernde Befriedigung.

Die psychische Dynamik erscheint so als der ständige Kampf dreier Grundmächte: des Eros, des Todestriebs und der Außenwelt. Ihnen entsprechen die drei Grundprinzipien, die nach Freud die Funktionen des psychischen Apparats bestimmen: das Lustprinzip, das Nirwana-Prinzip und das Realitätsprinzip. Steht das Lustprinzip für die uneingeschränkte Entfaltung der Lebenstriebe, das Nirwana-Prinzip für die Regression in den schmerzlosen Zustand vor der Geburt, so bedeutet das Realitätsprinzip die Totalität der von der Außenwelt erzwungenen Modifikationen jener Triebe, die "Vernunft" als die Wirklichkeit selber.

Es scheint, daß sich hinter der Dreiteilung eine Zweiteilung verbirgt: wenn der Todes-trieb zur Vernichtung des Lebens drängt, weil Leben Überwiegen von Unlust, Spannung, Bedürfnis ist, dann wäre auch das Nirwana-Prinzip eine Form des Lustprinzips, und der Todestrieb käme in gefährliche Nähe zum Eros. Andererseits scheint Eros selbst an der Natur des Todestriebes teilzuhaben: der Drang nach Stillstellung, Verewigung der Lust indiziert auch im Eros einen triebhaften Widerstand gegen das Auftreten immer neuer Spannungen, gegen das Aufgeben eines erreichten lustvollen Gleichgewichtszustandes, der, wenn nicht lebensfeindlich, so doch statisch und daher "fortschrittsfeindlich" ist. Freud hat die ursprüngliche Einheit der beiden entgegengesetzten Triebe gesehen: er hat von der ihnen gemeinsamen "konservativen Natur" gesprochen, von der "inneren Schwere" und "Trägheit" alles Lebens. Er hat diesen Gedanken, fast möchte man sagen: erschreckt wieder von sich gewiesen und an der Dualität von Eros und Todestrieb, Lustprinzip und Nirwana-Prinzip festgehalten – trotz der von ihm mehrfach betonten Schwierigkeit, andere als ursprünglich libidinöse Triebe im Organismus aufzuweisen. Es ist die wirksame "Mischung" der beiden Grundtriebe, die das Leben definiert: der Todestrieb, obgleich in den Dienst des Eros gezwungen, behält die ihm eigene Energie. Nur daß diese destruktive Energie von dem eigenen Organismus abgelenkt und als gesellschaftlich nützliche Aggression gegen die Außenwelt – die Natur und die erlaubten Feinde – gerichtet, oder als Gewissen, als Moralität vom Über-Ich zur gesellschaftlich nützlichen Beherrschung der eigenen Triebe verwendet wird.

In dieser Form werden die Destruktionstriebe den Lebenstrieben dienstbar – aber nur, indem auch diese sich entscheidend verwandeln. Freud hat den größten Teil seines Werkes der Analyse der Verwandlungen des Eros gewidmet; hier soll nur das herausgehoben werden, was für das Schicksal der Freiheit bestimmend wird. Eros als Lebenstrieb ist Sexualität, und Sexualität ist in ihrer ursprünglichen Funktion "Lustgewinnung aus Körperzonen" – nicht mehr und nicht weniger. Freud setzt ausdrücklich hinzu: Lustgewinnung, die erst "nachträglich in den Dienst der Fortpflanzung gestellt wird". Damit ist der "polymorph-perverse" Charakter der Sexualität angezeigt: die Triebe sind ihrem Objekt nach indifferent gegenüber dem eigenen und fremden Körper; vor allem sind sie nicht auf bestimmte Teile lokalisiert und auf spezielle Funktionen eingeschränkt. Der Primat der genitalen Sexualität und der Reproduktion – die dann zur Reproduktion in der monogamen Ehe wird – ist gewissermaßen ein nachträglicher: späte Leistung des Realitätsprinzips, das heißt geschichtliche Leistung der Menschengesellschaft in ihrem notwendigen Kampf gegen das gesellschaftsunfähige Lustprinzip. Ursprünglich ist der Organismus in seiner Ganzheit und in allen seinen Betätigungen und Beziehungen potentielles Feld der Sexualität, vom Lustprinzip beherrscht. Und gerade deswegen muß er desexualisiert werden, um sich in unlustvoller Arbeit betätigen, ja in ihr leben zu können.

Wir können hier nur die beiden wichtigsten Momente in dem von Freud beschriebenen Desexualisierungs-Prozeß hervorheben: erstens die Absperrung der sogenannten "Partialtriebe", das heißt der prä- und nichtgenitalen Sexualität, die von dem Körper als erogener Gesamtzone ausgeht. Sie werden unselbständig, treten als Vorstadien in den Dienst der Genitalität und damit der Reproduktion, oder sie werden sublimiert und, im Falle des Widerstandes, unterdrückt und als Perversionen tabuiert; zweitens die Entsinnlichung der Sexualität und des Sexualobjektes in der "Liebe" – die ethische Bewältigung und Eindämmung des Eros. Sie ist eine der größten Leistungen der Kulturgesellschaft – und eine der spätesten. Sie erst macht die patriarchalisch-monogame Familie zur gesunden "Keimzelle" der Gesellschaft.

Die Überwindung des Ödipuskomplexes ist die Voraussetzung. In diesem Prozeß wird der ursprünglich allumfassende Eros auf die Spezialfunktion der – genitalen – Sexualität und ihrer Inzidenzen reduziert. Erotik wird auf das gesellschaftlich-tragbare Minimum eingeschränkt. Nun ist Eros nicht mehr eigentlich der den ganzen Organismus durchwaltende Lebenstrieb, der zum Gestaltungsprinzip der menschlichen und natürlichen Umwelt werden will – er ist zur Privatangelegenheit geworden, für die in den notwendigen gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen, den Arbeitsbeziehungen, weder Zeit noch Raum ist und die nur als Reproduktionsfunktion "allgemein" wird. Die Triebunterdrückung – denn auch die Sublimierung ist Unterdrückung – wird zur Grundbedingung des Lebens in der Kulturgesellschaft.

Diese biologisch-psychologische Verwandlung bestimmt nun die Grunderfahrung der menschlichen Existenz und das Ziel des menschlichen Lebens. Das Leben wird erfahren als Kampf mit sich selbst und mit der Umwelt, es wird erlitten und erobert. Unlust, nicht Lust ist seine Substanz; Glück ist Belohnung, Erholung, Zufall, Augenblick – jedenfalls nicht Ziel der Existenz. Dies ist vielmehr die Arbeit. Und die Arbeit ist wesentlich entfremdete Arbeit. Nur in privilegierten Situationen arbeitet der Mensch in seinem Beruf "für sich", befriedigt er in seinem Beruf seine eigenen, sublimierten und unsublimierten, Bedürfnisse; im Normalfall ist er ganztägig mit der Ausübung einer vorgegebenen gesellschaftlichen Funktion beschäftigt, während seine Selbsterfüllung – wenn überhaupt – auf die spärliche Freizeit eingeschränkt ist. Die gesellschaftliche Zeitgestaltung folgt strukturell der in der Kindheit abgeschlossenen Triebgestaltung: erst die Einschränkung des Eros ermöglicht die Einschränkung der freien, das heißt lustvollen Zeit auf ein von der ganztägigen Arbeit abgesetztes Minimum. Und die Zeitteilung ist die Einteilung der Existenz selbst in den Hauptinhalt "entfremdete Arbeit" und den Nebeninhalt "Nicht-Arbeit".

Aber die das Lustprinzip entthronende Triebgestaltung ermöglicht auch die Ethik, die in der Entwicklung der westlichen Kultur immer bestimmender geworden ist Das Individuum reproduziert instinktiv die kulturelle Verneinung des Lustprinzips, die Entsagung und das Pathos der Arbeit: in den repressiv modifizierten Trieben wird die gesellschaftliche Gesetzgebung zur eigenen Gesetzgebung des Individuums; die notwendige Unfreiheit erscheint als Tat seiner Autonomie und damit als Freiheit. Wenn die Freudsche Trieblehre hier haltgemacht hätte, wäre sie wenig mehr als die psychologische Begründung des idealistischen Freiheitsbegriffs, der seinerseits die Tatsachen der kulturellen Herrschaft philosophisch begründet hatte. Dieser philosophische Begriff bestimmt Freiheit im Gegenzug zur Lust, so daß Beherrschung, ja selbst Unterdrückung der sinnlichen Triebziele als Bedingung der Möglichkeit der Freiheit erscheint. Für Kant ist Freiheit wesentlich moralische – innere, intelligible – Freiheit und als solche Zwang: "Je weniger der Mensch physisch, je mehr er dagegen moralisch (durch die bloße Vorstellung der Pflicht) kann gezwungen werden, desto freier ist er." Der Schritt vom Reich der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit ist hier der Fortschritt vom physischen zum moralischen Zwang – aber das Objekt des Zwanges bleibt dasselbe: der Mensch als Glied der "Sinnenwelt". Und der moralische Zwang ist nicht bloß moralischer: er hat seine sehr physischen Institutionen; von der Familie bis zur Fabrik und Armee umgeben sie das Individuum als die wirksamen Verkörperungen des Realitätsprinzips. Auf diesem doppelten Grunde des moralischen Zwanges entfaltet sich die politische Freiheit: dem Absolutismus abgerungen in blutigen Straßenkämpfen und Schlachten, wird sie eingerichtet, gesichert – und stillgestellt in der Selbstdisziplin und Selbstentsagung der Individuen. Sie haben gelernt, daß ihre unveräußerliche Freiheit unter Pflichten steht, von denen die Triebunterdrückung nicht die geringste ist. Moralischer und physischer Zwang haben einen gemeinsamen Nenner: Herrschaft.

Sie ist die allgemeine Vernunft der Kulturentwicklung. In ihrer Anerkennung ist Freud mit der idealistischen Ethik und der liberalbürgerlichen Politik einig. Freiheit muß den Zwang enthalten: Lebensnot, der Kampf ums Dasein und die amoralische Natur der Triebe machen Triebunterdrückung unabdingbar; Fortschritt oder Barbarei ist die Alternative. Wieder muß betont werden, was für Freud der tiefste Grund für die Notwendigkeit der Triebunterdrückung ist: der integrale Anspruch des Lustprinzips, das heißt die konstitutionelle Ausrichtung des Organismus auf Ruhe in der Erfüllung, Befriedigung, Frieden. Die "konservative Natur" der Triebe macht sie im tiefsten Sinn unproduktiv –unproduktiv für die entfremdete Produktivität, die den kulturellen Fortschritt antreibt: so unproduktiv, daß sogar die Selbsterhaltung des Organismus kein ursprüngliches Triebziel ist, solange Selbsterhaltung Überwiegen von Unlust ist. In Freuds später Trieblehre gibt es keinen selbständigen Selbsterhaltungstrieb mehr: er ist entweder Manifestation des Eros oder der Aggression. Deshalb müssen Unproduktivität und Konservatismus überwunden werden, wenn sich die Gattung im kulturellen Zusammenleben entfalten soll: Ruhe und Frieden, das Lustprinzip taugen nichts im Kampf ums Dasein: "Das Programm, welches uns das Lustprinzip aufdrängt, glücklich zu werden, ist nicht zu erfüllen."

Die repressive Triebverwandlung wird zur biologischen Konstitution des Organismus: die Geschichte waltet in der Triebstruktur selbst; Kultur wird zur Natur, sobald das Individuum gelernt hat, das Realitätsprinzip aus sich heraus triebmäßig zu bejahen und zu reproduzieren. Durch die Einschränkung des Eros zur Partialfunktion der Sexualität und durch die Nutzbarmachung des Destruktionstriebs wird das Individuum seiner Natur nach zum Subjekt-Objekt gesellschaftlich-nützlicher Arbeit, der Natur- und Menschenbeherrschung. Auch die Technik ist aus der Unterdrückung geboren; noch die höchsten Errungenschaften zur Erleichterung der menschlichen Existenz bezeugen ihre Herkunft in der vergewaltigten Natur und in den verstumpften Menschenwesen. "Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut."

Die repressive Triebverwandlung wird zur psychologischen Grundlage einer dreifachen Herrschaft, sobald sich die Kulturgesellschaft verfestigt hat: erstens einer Herrschaft über sich selbst, über die eigene Natur, über die sinnlichen Triebe, die nur Genuß und Befriedigung wollen; zweitens einer Herrschaft über die von den so disziplinierten und beherrschten Individuen geleistete Arbeit; und drittens einer Herrschaft über die äußere Natur: Wissenschaft und Technik. Und zu der so gegliederten Herrschaft gehört die ihr eigene dreifache Freiheit; erstens Freiheit von der bloßen Notwendigkeit der Triebbefriedigung: Freiheit zur Entsagung und damit zum gesellschaftlich tragbaren Genuß – moralische Freiheit; zweitens Freiheit von willkürlicher Gewalt und von der Anarchie des Kampfs ums Dasein; Freiheit in der arbeitsteiligen Gesellschaft, mit gesetzlichen Rechten und Pflichten – politische Freiheit; und drittens Freiheit von der Naturgewalt: Naturbeherrschung, Freiheit zur Veränderung der Welt durch die menschliche Vernunft – intellektuelle Freiheit.

Die gemeinsame psychische Substanz dieser dreifachen Freiheit ist Unfreiheit: Herrschaft über die eigenen Triebe, die, durch die Gesellschaft zur Natur gemacht, die Institutionen der Herrschaft verewigt. Aber die kulturelle Unfreiheit ist eine Unterdrückung besonderer Art: sie ist vernünftige Unfreiheit, vernünftige Herrschaft. Sie ist vernünftig, insofern erst sie den Aufstieg vom Menschentier zum Menschenwesen, von der Natur zur Kultur möglich macht. Aber bleibt sie vernünftig, wenn die Kultur sich voll entfaltet hat?

Hier ist der Punkt, wo die Freudsche Trieblehre die Kulturentwicklung in Frage stellt. Die Frage erwuchs im Verlauf der psychoanalytischen Praxis, der klinischen Erfahrung, die für Freud den Zugang zur Theorie eröffnete. Die Kultur wird also im Individuum und vom Individuum aus in Frage gestellt – und zwar vom kranken, neurotischen Individuum aus. Die Krankheit ist individuelles Geschick, Privatgeschichte; aber in der Psychoanalyse enthüllt sich das Private als Partikularität des allgemeinen Schicksals, der traumatischen Wunde, die die repressive Triebverwandlung dem Menschen zugefügt hat. Wenn Freud dann fragt: was hat die Kultur aus dem Menschen gemacht?, so kontrastiert er nicht die Kultur mit der Idee irgendeines "natürlichen" Zustandes, sondern mit den sich geschichtlich entwickelnden Bedürfnissen der Individuen und mit den Möglichkeiten ihrer Erfüllung.

Freuds Antwort ist im vorhergehenden schon angedeutet worden. Je mehr die Kultur fortschreitet, je gewaltiger ihr Apparat zur Entwicklung und Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse wird, desto drückender sind die Opfer, die sie den Individuen auferlegen muß, um die erforderte Triebstruktur aufrechtzuerhalten.

Die in der Freudschen Konzeption enthaltene These behauptet, daß die Repression mit dem Kulturfortschritt zunimmt, weil die zu unterdrückende Aggression zunimmt. Die Behauptung scheint mehr als fragwürdig, wenn wir die gegenwärtigen Freiheiten mit den vorhergehenden vergleichen. Sicherlich ist die Sexualmoral weit mehr aufgelockert, als sie es im neunzehnten Jahrhundert war; sicherlich ist die patriarchalische Autoritätsstruktur und mit ihr die Familie als Agentur der Erziehung, der "Sozialisierung" des Individuums sehr geschwächt; sicherlich sind die politischen Freiheitsrechte in der westlichen Welt viel weiter verbreitet, als sie es vorher waren, wenn auch die Substanz der faschistischen Periode in ihnen wieder lebendig ist und das Wachstum der Aggression nicht erst bewiesen zu werden braucht. Immerhin, die von Freud behauptete wesentliche Verbindung dieser Tatsachen mit der Triebdynamik ist keineswegs einleuchtend, wenn wir die größere Liberalität der privaten und öffentlichen Moral betrachten. Aber die gegenwärtige Situation erscheint in anderem Licht, wenn wir die Freudschen Kategorien konkreter auf sie anwenden.

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Die Unterprivilegierten, die Gettos

In den Vereinigten Staaten sind es besonders die nationalen und Rassenminoritäten, die freilich politisch noch weitgehend unorganisiert und oft untereinander antagonistisch sind (z.B. gibt es schwere Konflikte in den Großstädten zwischen den Negern und den Puertoricanern). Es sind zum großen Teil Gruppen, die keine entscheidende Stelle im Produktionsprozeß einnehmen und in Begriffen der Marxschen Theorie schon aus diesem Grunde nicht – wenigstens nicht ohne weitere Assoziation – als potentielle revolutionäre Kräfte angesprochen werden können. Aber im globalen Rahmen sind die Unterprivilegierten, die die ganze Schwere des Systems zu tragen haben, wirklich die Massenbasis des nationalen Befreiungskampfes gegen den Neokolonialismus in der Dritten Welt und gegen den Kolonialismus in den USA. Es besteht auch hier noch keine effektive Verbindung zwischen den nationalen und Rassenminoritäten in den Metropolen der kapitalistischen Gesellschaft und den schon im Kampf gegen diese Gesellschaft stehenden Massen in der neokolonialen Welt. Diese Massen können vielleicht schon als das neue Proletariat angesprochen werden, und als solches sind sie heute eine wirkliche Gefahr für das Weltsystem des Kapitalismus. Inwieweit zu diesen Gruppen der Unterprivilegierten heute in Europa noch oder wieder die Arbeiterklasse zu rechnen ist, ist ein Problem, das wir gesondert diskutieren müssen; im Rahmen dessen, was ich heute zu sagen habe, kann ich es nicht. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß hier noch ein entscheidender Unterschied besteht: Was wir von der Arbeiterklasse in Amerika sagen können, daß sie in ihrer großen Majorität in das System integriert ist und nicht das Bedürfnis nach einer radikalen Umwandlung hat, können wir wahrscheinlich von der europäischen Arbeiterklasse nicht oder noch nicht sagen.

Die Privilegierten

Die zweite Gruppe, die heute gegen das spätkapitalistische System in Opposition steht, möchte ich wieder in zwei Unterabteilungen behandeln. Betrachten wir zunächst die sogenannte neue Arbeiterklasse, die bestehen soll aus den Technikern, Ingenieuren, Spezialisten, Wissenschaftlern usw., die im materiellen Produktionsprozeß – wenn auch in besonderer Position – beschäftigt sind. Auf Grund ihrer Schlüsselstellung scheint diese Gruppe objektiv wirklich den Kern einer umwälzenden Kraft darzustellen, aber gleichzeitig ist sie heute das Liebkind des bestehenden Systems und bewußtseinsmäßig diesem System verfallen. Zumindest ist also der Ausdruck "neue Arbeiterklasse" verfrüht. Zweitens die Studentenopposition, von der ich heute fast ausschließlich sprechen werde – und zwar in ihrem weitesten Sinne, einschließlich der sogenannten drop-outs. Soweit ich es beurteilen kann, besteht hier ein wichtiger Unterschied zwischen der amerikanischen Studentenopposition und der deutschen. Viele der in aktiver Opposition stehenden Studenten in Amerika hören auf, Student zu sein und organisieren, man kann sagen als Vollbeschäftigung, die Opposition. Darin liegt eine Gefahr – aber vielleicht auch ein Vorzug. – Ich werde die Studentenopposition unter drei Kategorien diskutieren: Erstens ist zu fragen, wogegen ist diese Opposition gerichtet; zweitens, welches sind ihre Formen; und drittens, welches sind die Aussichten der Opposition?

Zum ersten, wogegen ist diese Opposition gerichtet? Die Frage ist äußerst ernst zu nehmen; denn es handelt sich um eine Opposition gegen eine demokratische, effektiv funktionierende Gesellschaft, die, wenigstens normalerweise, nicht mit Terror arbeitet. Und es ist – darüber sind wir uns in den Vereinigten Staaten völlig klar – eine Opposition gegen die Majorität der Bevölkerung, einschließlich der Arbeiterklasse. Es ist eine Opposition gegen den Druck, gegen den allgegenwärtigen Druck des Systems, das durch seine repressive und destruktive Produktivität immer unmenschlicher alles zur Ware degradiert, deren Kauf und Verkauf den Lebensunterhalt und Lebensinhalt ausmacht; gegen die hypokritische Moralität und die "Werte" des Systems, und eine Opposition gegen den Terror außerhalb der Metropole. Diese Opposition gegen das System als solches ist ausgelöst worden erst durch die Bürgerrechtsbewegung und dann durch den Krieg in Vietnam. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung sind die Studenten aus dem Norden in den Süden gegangen, um zu helfen, die Neger für die Wahlen zu registrieren, und haben dann zum erstenmal gesehen, wie dieses freie demokratische System dort unten eigentlich aussieht, was die Sheriffs da eigentlich tun, wie Morde und Lynchungen an den Negern unbestraft bleiben, obgleich die Täter nur zu bekannt sind. Das hat als traumatische Erfahrung gewirkt und die politische Aktivierung der Studenten, der Intelligenz im allgemeinen, in den Vereinigten Staaten veranlaßt. Zweitens ist diese Opposition gestärkt worden durch den Krieg in Vietnam. Für diese Studenten hat der Krieg in Vietnam zum erstenmal das Wesen der bestehenden Gesellschaft enthüllt: die ihr einwohnende Notwendigkeit der Expansion und Aggression und die Brutalität des Kampfes gegen alle Befreiungsbewegungen.

Ich habe hier leider keine Zeit, die Frage zu diskutieren, ob der Krieg in Vietnam ein imperialistischer Krieg ist – hier nur eine kurze Bemerkung, weil das Problem immer wieder aufkommt: Wenn man unter Imperialismus im alten Sinne versteht, daß die Vereinigten Staaten in Vietnam für Investitionen kämpfen, ist es kein imperialistischer Krieg; obgleich selbst dieser enge Begriff des Imperialismus heute vielleicht schon wieder akut ist. Sie können in der Nummer von "Newsweek" vom 7. Juli 1967 zum Beispiel lesen, daß es sich in Vietnam heute bereits um ein 20-Milliarden-Dollar-Business handelt; es wächst mit jedem Tag. Inwieweit trotzdem ein neudefinierter Begriff des Imperialismus hier anwendbar ist, darüber brauchen wir nicht zu spekulieren, das haben maßgebende Sprecher der amerikanischen Regierung selber gesagt. Es handelt sich in Vietnam darum, einen der strategisch und ökonomisch wichtigsten Bereiche der Welt nicht unter kommunistische Kontrolle fallen zu lassen. Es handelt sich um einen entscheidenden Kampf gegen alle Versuche nationaler Befreiung in allen Ecken der Welt, entscheidend in dem Sinne, daß ein Erfolg des vietnamesischen Befreiungskampfes das Signal abgeben könnte für die Aktivierung solcher Befreiungskämpfe in anderen Teilen der Welt und viel näher der Metropole, wo wirklich gewaltige Investitionen vorliegen. Wenn in diesem Sinne Vietnam in keiner Weise nur irgendein Ereignis der Außenpolitik ist, sondern mit dem Wesen des Systems verbunden, so ist es vielleicht auch ein Wendepunkt in der Entwicklung des Systems, vielleicht der Anfang vom Ende. Denn was sich hier gezeigt hat, ist, daß der menschliche Wille und der menschliche Körper mit den ärmsten Waffen das leistungsfähigste Zerstörungssystem aller Zeiten in Schach halten kann. Das ist ein welthistorisches Novum.

Ich komme jetzt zur zweiten Frage, die ich diskutieren wollte, nämlich die Formen der Opposition. Wir sprechen von der Studentenopposition, und ich möchte von vornherein sagen, es handelt sich nicht um eine Politisierung der Universität, denn die Universität ist bereits politisch. Sie brauchen nur daran zu denken, zu welchem Grade zum Beispiel die Naturwissenschaften und sogar solch abstrakte Wissenschaften wie die Mathematik heute unmittelbar in der Produktion und in der militärischen Strategie Verwendung finden. Sie brauchen nur daran zu denken, in welchem Grade die Naturwissenschaften und auch die Soziologie und Psychologie von der finanziellen Unterstützung der Regierung und der großen "Foundations" abhängen, in welchem Grade die Soziologie und Psychologie sich unmittelbar in den Dienst der Menschenkontrolle und der Marktregulierung gestellt haben. In diesem Sinne können wir sagen, daß die Universität bereits eine politische Institution ist, und daß es sich im besten Falle um eine Gegenpolitisierung und nicht um eine Politisierung der Universität handeln kann. Es geht darum, neben der positivistischen Neutralität, die keine ist, deren Kritik zu Wort kommen zu lassen, im Rahmen des Lehrplans und im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion. Daher ist eine der Hauptforderungen der Studentenopposition in den Vereinigten Staaten eine Reform des Lehrplans, so daß diese kritischen Elemente im Rahmen wissenschaftlicher Diskussion – nicht als Agitation und Propaganda – zur vollen Geltung kommen können. Wo das nicht möglich ist, geschieht die Gründung sogenannter "freier Universitäten", hier "kritischer Universitäten", außerhalb der Universität, wie zum Beispiel in Berkeley und in Stanford, jetzt auch an einigen der größeren Universitäten des Ostens. Im Rahmen dieser "freien Universitäten" werden Kurse und Seminare über Lehrgegenstände gehalten, die im regulären Lehrplan nicht oder inadäquat zu Wort kommen, zum Beispiel Marxismus, Psychoanalyse, Imperialismus, die Außenpolitik im kalten Krieg, die Gettos.

Eine andere Form der Studentenopposition sind die bekannten teach-ins, sit-ins, be-ins, love-ins. Ich möchte hier nur auf die Reichweite und die Spannungen innerhalb der Opposition hinweisen: kritische Lern- und Lehrtätigkeit, Bemühung um Theorie und, am anderen Pol, etwas, was wir nur als "existentielles Zusammensein", als "Seinlassen seiner eigenen Existenz": "doing one’s thing" bezeichnen können. Ich möchte zu der Bedeutung dieser Spannung später etwas sagen, weil meiner Meinung nach sich hierin ausspricht der Zusammenfluß zwischen politischer Rebellion und sexuell-moralischer Rebellion, der ein wichtiger Faktor in der Opposition in Amerika ist. Sie findet ihren sichtbarsten Ausdruck in der Demonstration, unbewaffneten Demonstration – und für solche Demonstrationen müssen Konfrontationen nicht erst gesucht werden.

Konfrontationen zu suchen, nur um der Konfrontation willen, ist nicht nur unnötig, es ist verantwortungslos. Die Konfrontationen sind da. Sie brauchen nicht erst gesucht zu werden. Das Suchen nach Konfrontation würde die Opposition verfälschen – sie ist heute Verteidigung, nicht Angriff. Die Anlässe sind da: Zum Beispiel jede Eskalation des Krieges in Vietnam; Besuche von Repräsentanten der Kriegspolitik; "picketing", eine, wie Sie wissen, besondere Form der amerikanischen Demonstration, vor Fabriken, in denen Napalm und andere Giftwaffen hergestellt werden. Diese Demonstrationen sind organisiert, sie sind legal. Sind solche Demonstrationen – und was ich jetzt sage, bezieht sich wiederum auf Amerika, aber Sie werden sehen, daß Sie sehr leicht den Schluß daraus ziehen können, was für Sie und auf Sie anwendbar ist – sind diese legalen Demonstrationen Konfrontationen mit der institutionalisierten Gewalt, die auf die Opposition losgelassen wird? Sie sind es nicht, wenn sie im Rahmen der Legalität bleiben. Aber, wenn diese Demonstrationen im Rahmen der Legalität bleiben, so unterwerfen sie sich der institutionalisierten Gewalt, die autonom den Rahmen der Legalität bestimmt und ihn auf ein erstickendes Minimum einschränken kann, zum Beispiel indem sie Gesetze benutzt, wie unerlaubtes Betreten von Privateigentum oder unerlaubtes Betreten von Staatseigentum, Störung des Verkehrs, Störung der nächtlichen Ruhe usw. Hier kann von einem Augenblick zum andern was legal war, illegal werden, wenn eine völlig friedliche Demonstration die Nachtruhe stört oder willentlich oder unwillentlich Privateigentum betritt usw. In dieser Situation scheinen Konfrontationen mit der Gewalt, mit der institutionalisierten Gewalt, unvermeidlich – es sei denn, daß die Opposition zum harmlosen Ritual wird, zur Beruhigung des Gewissens und zum Kronzeugen für die Rechte und Freiheiten im Rahmen des Bestehenden. Das war die Erfahrung der Bürgerrechtsbewegung, daß die Gewalt von den anderen ausgeübt wird, daß die anderen die Gewalt sind, und daß gegen diese Gewalt die Legalität von Anfang an problematisch ist; das wird auch die Erfahrung der Studentenopposition sein, sobald sich das System von ihr bedroht fühlt. Und dann ist die Opposition vor die fatale Entscheidung gestellt: Opposition als rituelle Veranstaltung oder Opposition als Widerstand, das heißt "civil disobedience".

Ich möchte wenigstens ein paar Worte über das Widerstandsrecht sagen, weil ich erstaunt bin, immer wieder zu erfahren, wie wenig eigentlich ins Bewußtsein gedrungen ist, daß die Anerkennung des Widerstandsrechts, nämlich der "civil disobedience", zu den ältesten und geheiligtsten Elementen der westlichen Zivilisation gehört. Die Idee, daß es ein Recht gibt, das höher ist als das positive Recht, ist so alt wie diese Zivilisation selbst. Hier ist der Konflikt der Rechte, vor den jede mehr als private Opposition gestellt ist; denn das Bestehende hat das legale Monopol der Gewalt und das positive Recht, ja die Pflicht, diese Gewalt zu seiner Verteidigung auszuüben. Demgegenüber steht die Anerkennung und Ausübung eines höheren Rechts und die Pflicht des Widerstandes als Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung der Freiheit, "civil disobedience", als potentiell befreiende Gewalt. Ohne dieses Widerstandsrecht, ohne dieses Ausspielen eines höheren Rechts gegen das bestehende Recht ständen wir heute noch auf der Stufe der primitivsten Barbarei. So deckt, glaube ich, der Begriff der Gewalt zwei sehr differente Formen: Die institutionalisierte Gewalt des Bestehenden und die Gewalt des Widerstandes, die notwendig dem positiven Recht gegenüber illegal bleibt. Von einer Legalität des Widerstandes zu sprechen ist sinnlos: kein Gesellschaftssystem, selbst das freieste nicht, kann verfassungsmäßig eine gegen dieses System gerichtete Gewalt legalisieren. Jede dieser beiden Formen deckt entgegengesetzte Funktionen. Es gibt eine Gewalt der Unterdrückung und eine Gewalt der Befreiung; es gibt eine Gewalt der Verteidigung des Lebens und es gibt eine Gewalt der Aggression. Und beide Formen der Gewalt sind geschichtliche Kräfte gewesen und werden geschichtliche Kräfte bleiben. So steht die Opposition von Anfang an im Felde der Gewalt. Recht steht gegen Recht, nicht nur als abstrakte Versicherung, sondern als Aktion. Und noch einmal: Das Bestehende hat das Recht, die Grenzen der Legalität zu bestimmen. Dieser Konflikt der beiden Rechte, des Widerstandsrechts und der institutionalisierten Gewalt bringt die ständige Gefahr des Zusammenstoßes mit der Gewalt mit sich, es sei denn, daß das Recht der Befreiung dem Recht der bestehenden Ordnung geopfert wird, und daß, wie bisher in der Geschichte, die Zahl der von der Ordnung geforderten Opfer die der Revolution weiterhin übersteigt. Das aber bedeutet, daß die Predigt der prinzipiellen Gewaltlosigkeit die bestehende institutionalisierte Gewalt reproduziert. Und diese Gewalt ist in der monopolistischen Industriegesellschaft in noch nie dagewesenem Maße in der Herrschaft konzentriert, die das Ganze der Gesellschaft durchdringt. Diesem Ganzen gegenüber ist das Recht der Befreiung unmittelbar ein partikulares Recht. Daher erscheint der Gewaltkonflikt als Zusammenstoß der allgemeinen mit der partikularen Gewalt, und in diesem Zusammenstoß wird die partikulare Gewalt geschlagen werden, bis sie selbst eine neue Allgemeinheit der bestehenden gegenüberstellen kann.

Solange die Opposition nicht die gesellschaftliche Kraft einer neuen Allgemeinheit entwickelt hat, ist das Problem der Gewalt primär ein Problem der Taktik. Kann in bestimmten Fällen der Konfrontation mit der bestehenden Gewalt, bei der die herausfordernde Gewalt des Widerstandes unterliegen wird, durch die Konfrontation das Kräfteverhältnis zugunsten der Opposition geändert werden? In der Diskussion dieser Frage ist ein oft angeführtes Argument jedenfalls nicht stichhaltig: nämlich, daß man durch solche Konfrontationen die andere Seite, den Gegner, stärkt. Das geschieht sowieso; selbst wenn von solchen Konfrontationen abgesehen wird. Das geschieht sowieso bei jeder Aktivierung der Opposition, und es handelt sich darum, diese Stärkung des Gegners zu einem Durchgangsstadium zu machen. Dann aber hängt die Bewertung der Situation ab von dem Anlaß der Konfrontation und besonders von dem Erfolg einer systematisch durchgeführten Aufklärungsarbeit und von der Organisation der Solidarität. Lassen Sie mich wieder ein Beispiel aus den Vereinigten Staaten geben: die Opposition erlebt den Krieg gegen Vietnam als einen die Allgemeinheit treffenden Angriff auf die Freiheit, ja auf das Leben selbst, dem das Recht der totalen Verteidigung gegenübersteht. Aber die Majorität der Bevölkerung unterstützt noch die Regierung und den Krieg, während die Opposition diffus und nur lokal organisiert ist. Die in dieser Situation zunächst noch legale Form der Opposition entwickelt sich spontan zur civil disobedience, zur Verweigerung des Wehrdienstes und zur Organisation dieser Verweigerung. Dies ist bereits illegal und trägt zur Verschärfung der Situation bei. – Andererseits werden die Demonstrationen immer systematischer von einer Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung begleitet. Das ist "community work": Die Studenten gehen in die armen und ärmsten Distrikte, um das Bewußtsein der Bewohner zu aktivieren, zunächst zur Beseitigung der offensichtlichsten Mängel, zum Beispiel das Fehlen der primitivsten Hygiene usw. Man versucht, die Menschen für dieses unmittelbare Interesse zu organisieren, aber gleichzeitig das politische Bewußtsein dieser Distrikte zu erwecken. Aber solche Aufklärungsarbeit geschieht nicht nur in den Slums. Es gibt ein von Tür-zu-Tür-Gehen, wie die berühmte "door-bell-ringing-campaign", in der mit den Hausfrauen, und, wenn der Ehemann gerade da ist, auch mit ihm diskutiert wird, was eigentlich vor sich geht. Besonders vor den Wahlen ist das wichtig. Ich betone die Diskussion mit den Frauen, weil es sich in der Tat gezeigt hat, wie man allerdings auch erwarten sollte, daß die Frauen menschlichen Argumenten im allgemeinen noch zugänglicher sind als die Männer; was daran liegt, daß die Frauen noch nicht ganz in den repressiven Produktionsprozeß eingespannt sind. Diese Aufklärungsarbeit ist eine sehr mühsame, eine sehr langsame. Ob sie Erfolg haben wird? Der Erfolg ist meßbar – zum Beispiel an der Stimmenzahl, die die sogenannten "Friedenskandidaten" in den lokalen, dann in den Staats- und später auch in den Nationalwahlen haben werden.

In der Opposition läßt sich heute eine Wendung zur Theorie konstatieren, die besonders wichtig ist, da die Neue Linke, wie ich betont habe, mit einem totalen Ideologieverdacht angefangen hat. Ich glaube, daß man mehr und mehr sieht, daß jede Anstrengung, zu einer Änderung des Systems beizutragen, der theoretischen Führung bedarf. Und wir haben jetzt in den Vereinigten Staaten und in der Studentenopposition nicht nur Versuche, den Abgrund zwischen der Alten Linken und der Neuen Linken zu überbrücken, sondern auch eine kritische Theorie auszuarbeiten; zum Beisipel arbeitet der amerikanische SDS (Students for a Democratic Society) an einer Theorie der gesellschaftlichen Umwandlung, die auf breiterem Boden zur Diskussion gestellt wird.

Als letzten Aspekt der Opposition möchte ich nun eine neue Dimension des Protestes erwähnen, die in der Einheit von moralisch-sexueller und politischer Rebellion besteht. Ich möchte Ihnen eine Illustration geben, die ich als Augenzeuge erlebt habe, und die in keiner Weise vereinzelt ist, die Ihnen auch den Unterschied zeigen wird zwischen dem, was in den Vereinigten Staaten geschieht und hier. Es war auf einer der großen Anti-Vietnam-Demonstrationen in Berkeley; die Polizei hatte zwar die Demonstration genehmigt, aber das Ziel der Demonstration, nämlich den Militärbahnhof in Oakland gesperrt; das heißt, die Demonstration wäre über einen besonderen und sehr bestimmten Punkt hinaus illegal geworden, hätte gegen das Demonstrationsverbot verstoßen. Als Tausende von Studenten sich dem Punkte näherten, an dem die verbotene Route anfing, trafen sie auf eine aus ungefähr zehn Reihen bestehende Barrikade schwer bewaffneter, mit schwarzen Uniformen und Stahlhelmen ausgestatteten Polizei. Der Zug näherte sich dieser Polizeibarrikade, und wie immer waren an der Spitze des Demonstrationszuges einige, die schrien, man solle nicht haltmachen, sondern versuchen, den Polizeikordon zu durchbrechen – was natürlich blutige Köpfe gegeben hätte, ohne zu irgendeinem Ziel zu führen. Der Demonstrationszug selbst hatte einen Gegenkordon eingerichtet, so daß die Demonstranten zuerst ihren eigenen Kordon hätten durchbrechen müssen, um den Polizeikordon durchbrechen zu können. Das ist natürlich nicht geschehen. Nach zwei, drei ängstlichen Minuten setzten sich die Tausende auf die Straße, die Gitarren, die Mundharmonikas kamen heraus, das "petting", die Liebkosungen begannen, und so ging diese Demonstration zu Ende. Sie können das lächerlich finden; immerhin glaube ich, daß hier noch ganz spontan und anarchisch eine Einheit sich hergestellt hat, die vielleicht letzten Endes ihren Eindruck selbst auf die Feindlichen nicht verfehlen wird. Ganz kurz noch von den Aussichten der Opposition. Zunächst darf ich noch einmal die Mißverständnisse beseitigen, nach denen ich geglaubt hätte, daß die intellektuelle Opposition an sich eine revolutionäre Kraft wäre, oder daß ich in den Hippies die Erben des Proletariats gesehen hätte. Nur die nationalen Befreiungsfronten der Entwicklungsländer stehen heute im revolutionären Kampf; aber auch sie stellen allein noch keine effektive revolutionäre Bedrohung des Systems des Spätkapitalismus dar. Alle Oppositionskräfte wirken heute zur Vorbereitung und nur zur Vorbereitung, aber auch zur notwendigen Vorbereitung für eine mögliche Krise des Systems. Und zu dieser Krise tragen gerade die nationalen Befreiungsfronten und die Getto-Rebellion bei, nicht nur als militärische, sondern auch als politische und moralische Gegner – lebendige, menschliche Negation des Systems. Für die Vorbereitung, für die Eventualität einer solchen Krise kann und wird vielleicht auch die Arbeiterklasse politisch radikalisiert werden. Aber wir dürfen uns nicht verhehlen, daß in dieser Situation die Frage noch völlig offen ist: politisch radikalisieren nach links oder nach rechts? Die akute Gefahr des Faschismus oder des Neofaschismus – und der Faschismus ist seinem Wesen nach eine Bewegung der Rechten – diese akute Gefahr ist noch in keiner Weise überwunden.

Ich habe von der möglichen Krise, von der Eventualität einer Krise des Systems gesprochen. Die Kräfte, die zu einer solchen Krise beitragen, müßten ausführlich diskutiert werden. Diese Krise, glaube ich, müssen wir sehen als die Konfluenz sehr disparater subjektiver und objektiver Tendenzen ökonomischer Natur, politischer Natur und moralischer Natur, im Osten sowohl wie im Westen. Diese Kräfte sind noch nicht solidarisch organisiert; sie sind ohne Massenbasis in den entwickelten Ländern des Spätkapitalismus; auch die Gettos in den Vereinigten Staaten sind erst im Anfangsstadium versuchter Politisierung. Und unter diesen Umständen scheint es mir die Aufgabe der Opposition zu sein, zunächst einmal an der Befreiung des Bewußtseins außerhalb unseres eigenen Kreises zu arbeiten. Denn in der Tat steht das Leben aller auf dem Spiel, und heute sind in der Tat alle, was Veblen "underlying population" nannte, nämlich Beherrschte: Erweckung des Bewußtseins der grauenhaften Politik eines Systems, dessen Macht und dessen Druck mit der Drohung totaler Vernichtung wachsen, daß die ihm zur Verfügung stehenden Produktivkräfte zur Reproduktion der Ausbeutung und der Unterdrückung verwendet und das zum Schutze seines Überflusses die sogenannte freie Welt mit Militär- und Polizeidiktaturen ausstattet. Der Totalitarismus auf der anderen Seite kann diese Politik in keiner Weise rechtfertigen. Man kann sehr viel – und man muß sehr viel gegen ihn sagen. Er ist aber nicht expansiv, er ist nicht aggressiv, und er ist immer noch von der Kargheit und von der Armut diktiert; was nichts an der Tatsache ändert, daß auch er zu bekämpfen ist, aber von links zu bekämpfen ist.

Die Befreiung des Bewußtseins, von der ich gesprochen habe, meint nun mehr als Diskussion. Sie meint in der Tat – und muß in der erreichten Situation meinen – Demonstration, im wörtlichen Sinne: zeigen, daß hier der ganze Mensch mitgeht und seinen Willen zum Leben anmeldet, das heißt, seinen Willen zum Leben in einer befriedeten, menschlichen Welt. Die bestehende Ordnung ist gegen diese reelle Möglichkeit mobilisiert. Und wenn es für uns schädlich ist, Illusionen zu haben, so ist es ebenso schädlich – und vielleicht schädlicher – Defätismus und Quietismus zu predigen, die nur dem System in die Hände spielen können. Tatsache ist, daß wir uns einem System gegenüber befinden, das, seit dem Beginn der faschistischen Periode und heute noch, durch seine Taten die Idee des geschichtlichen Fortschritts selbst desavouiert hat, ein System, dessen innere Widersprüche sich immer von neuem in unmenschlichen und unnötigen Kriegen manifestieren und dessen wachsende Produktivität wachsende Zerstörung und wachsende Verschwendung ist. Ein solches System ist nicht immun. Es wehrt sich bereits gegen die Opposition, selbst gegen die Oppostion der Intelligenz, an allen Ecken der Welt. Und selbst wenn wir noch keine Änderung sehen, müssen wir weitermachen; müssen wir widerstehen, wenn wir noch als Menschen leben, arbeiten und glücklich sein wollen. Im Bündnis mit dem System können wir das nicht mehr.

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