Auszüge aus Herbert Marcuse's
"Der eindimensionale Mensch"

Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft

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Vorrede
Die Paralyse der Kritik: eine Gesellschaft ohne Opposition

Dient nicht die Bedrohung durch eine atomare Katastrophe, die das Menschengeschlecht auslöschen könnte, ebensosehr dazu, gerade diejenigen Kräfte zu schützen, die diese Gefahr verewigen? Die Anstrengungen, eine solche Katastrophe zu verhindern, überschatten die Suche nach ihren etwaigen Ursachen in der gegenwärtigen Industriegesellschaft. Diese Ursachen werden von der Öffentlichkeit nicht festgestellt, bloßgelegt und angegriffen, weil sie gegenüber der nur zu offenkundigen Bedrohung von außen zurücktreten – für den Westen vom Osten, für den Osten vom Westen. Gleich offenkundig ist das Bedürfnis, vorbereitet zu sein, sich am Rande des Abgrundes zu bewegen, der Herausforderung ins Auge zu sehen. Wir unterwerfen uns der friedlichen Produktion von Destruktionsmitteln, der zur Perfektion getriebenen Verschwendung und dem Umstand, daß wir zu einer Verteidigung erzogen werden, welche gleichermaßen die Verteidiger verunstaltet wie das, was sie verteidigen.

Wenn wir versuchen, die Ursachen der Gefahr darauf zu beziehen, wie die Gesellschaft organisiert ist und ihre Mitglieder organisiert, dann stehen wir sofort der Tatsache gegenüber, daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft reicher, größer und besser wird, indem sie die Gefahr verewigt. Die Verteidigungsstruktur erleichtert das Leben einer größeren Anzahl von Menschen und erweitert die Herrschaft des Menschen über die Natur. Unter diesen Umständen fällt es unseren Massenmedien nicht schwer, partikulare Interessen als die aller einsichtigen Leute zu verkaufen. Die politischen Bedürfnisse der Gesellschaft werden zu industriellen Bedürfnissen und Wünschen, ihre Befriedigung fördert das Geschäft und das Gemeinwohl, und das Ganze erscheint als die reine Verkörperung der Vernunft.

Und doch ist diese Gesellschaft als Ganzes irrational. Ihre Produktivität zerstört die freie Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und Anlagen, ihr Friede wird durch die beständige Kriegsdrohung aufrecht erhalten, ihr Wachstum hängt ab von der Unterdrückung der realen Möglichkeiten, den Kampf ums Dasein zu befrieden – individuell, national und international. Diese Unterdrückung, höchst verschieden von derjenigen, die für die vorangehenden, weniger entwickelten Stufen unserer Gesellschaft charakteristisch war, macht sich heute nicht aus einer Position natürlicher und technischer Unreife heraus geltend, sondern aus einer Position der Stärke. Die (geistigen und materiellen) Fähigkeiten der gegenwärtigen Gesellschaft sind unermeßlich größer als je zuvor – was bedeutet, daß die Reichweite der gesellschaftlichen Herrschaft über das Individuum unermeßlich größer ist als je zuvor. Unsere Gesellschaft ist dadurch ausgezeichnet, daß sie die zentrifugalen Kräfte mehr auf technischem Wege besiegt als mit Terror: auf der doppelten Basis einer überwältigenden Leistungsfähigkeit und eines sich erhöhenden Lebensstandards.

Es gehört zur Absicht einer kritischen Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft, die Wurzeln dieser Entwicklungen zu erforschen und ihre geschichtlichen Alternativen zu untersuchen – einer Theorie, die die Gesellschaft analysiert im Licht ihrer genutzten und ungenutzten oder mißbrauchten Kapazitäten zur Verbesserung der menschlichen Lage. Was aber sind die Maßstäbe einer solchen Kritik?

Sicher spielen Werturteile eine Rolle. Die etablierte Weise, die Gesellschaft zu organisieren, wird an anderen möglichen Weisen gemessen, Weisen, von denen angenommen wird, daß sie der Erleichterung des menschlichen Kampfes ums Dasein bessere Chancen bieten; eine bestimmte historische Praxis wird an ihren eigenen geschichtlichen Alternativen gemessen. Von Anbeginn steht damit jede kritische Theorie der Gesellschaft dem Problem historischer Objektivität gegenüber, einem Problem, das an den beiden Stellen aufkommt, an denen die Analyse Werturteile einschließt:

1.   das Urteil, daß das menschliche Leben lebenswert ist oder vielmehr lebenswert gemacht werden kann oder sollte. Dieses Urteil liegt aller geistigen Anstrengung zu Grunde; es ist das Apriori der Gesellschaftstheorie, und seine Ablehnung (die durchaus logisch ist) lehnt die Theorie selbst ab;

2.   das Urteil, daß in einer gegebenen Gesellschaft spezifische Möglichkeiten zur Verbesserung des menschlichen Lebens bestehen sowie spezifische Mittel und Wege, diese Möglichkeiten zu verwirklichen. Die kritische Analyse hat die objektive Gültigkeit dieser Urteile zu beweisen, und der Beweis muß auf empirischem Boden geführt werden. Der etablierten Gesellschaft steht eine nachweisbare Quantität und Qualität geistiger und materieller Ressourcen zur Verfügung. Wie können diese Ressourcen für die optimale Entwicklung und Befriedigung individueller Bedürfnisse und Anlagen bei einem Minimum an schwerer Arbeit und Elend ausgenutzt werden? Die Gesellschaftstheorie ist eine historische Theorie, und die Geschichte ist das Reich der Notwendigkeit. Daher ist zu fragen: welche unter den verschiedenen möglichen und wirklichen Weisen, die verfügbaren Ressourcen zu organisieren und nutzbar zu machen, bieten die größte Chance einer optimalen Entwicklung.

Der Versuch, diese Fragen zu beantworten, erfordert zunächst eine Reihe von Abstraktionen. Um die Möglichkeiten einer optimalen Entwicklung anzugeben und zu bestimmen, muß die kritische Theorie von der tatsächlichen Organisation und Anwendung der gesellschaftlichen Ressourcen abstrahieren sowie von den Ergebnissen dieser Organisation und Anwendung. Eine solche Abstraktion, die sich weigert, das gegebene Universum der Tatsachen als den endgültigen Zusammenhang hinzunehmen, in dem etwas zwingende Kraft erhält, eine solche "transzendierende" Analyse der Tatsachen im Licht ihrer gehemmten und geleugneten Möglichkeiten gehört wesentlich zur Struktur von Gesellschaftstheorie. Sie ist aller Metaphysik entgegengesetzt aufgrund des streng geschichtlichen Charakters der Transzendenz. Die "Möglichkeiten" müssen sich innerhalb der Reichweite der jeweiligen Gesellschaft befinden; sie müssen bestimmbare Ziele der Praxis sein. Dementsprechend muß die Abstraktion von den bestehenden Institutionen eine tatsächliche Tendenz ausdrücken – das heißt, ihre Veränderung muß das reale Bedürfnis der vorhandenen Bevölkerung sein. Die Gesellschaftstheorie hat es mit den geschichtlichen Alternativen zu tun, die in der etablierten Gesellschaft als subversive Tendenzen und Kräfte umgehen. Die mit den Alternativen verbundenen Werte werden durchaus zu Tatsachen, wenn sie vermittels historischer Praxis in Wirklichkeit übersetzt werden. Die theoretischen Begriffe verlieren mit der gesellschaftlichen Veränderung ihre Gültigkeit.

Hier aber konfrontiert die fortgeschrittene Industriegesellschaft die Kritik mit einer Lage, die sie ihrer ganzen Basis zu berauben scheint. Ausgeweitet zu einem ganzen System von Herrschaft und Gleichschaltung, bringt der technische Fortschritt Lebensformen (und solche der Macht) hervor, welche die Kräfte, die das System bekämpfen, zu besänftigen und allen Protest im Namen der historischen Aussichten auf Freiheit von schwerer Arbeit und Herrschaft zu besiegen oder zu widerlegen scheinen. Die gegenwärtige Gesellschaft scheint imstande, einen sozialen Wandel zu unterbinden – eine qualitative Veränderung, die wesentlich andere Institutionen durchsetzen würde, eine neue Richtung des Produktionsprozesses, neue Weisen menschlichen Daseins. Die Unterbindung sozialen Wandels ist vielleicht die hervorstechendste Leistung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft; die allgemeine Hinnahme des "nationalen Anliegens", das Zwei-Parteien-System, der Niedergang des Pluralismus, das betrügerische Einverständnis von Kapital und organisierter Arbeiterschaft in einem starken Staat bezeugen die Integration der Gegensätze, die das Ergebnis wie die Vorbedingung dieser Leistung ist.

Ein kurzer Vergleich zwischen dem Stadium, in dem die Theorie der Industriegesellschaft sich bildete, und ihrer gegenwärtigen Lage kann zeigen helfen, wie die Grundlage der Kritik sich gewandelt hat. Als sie in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aufkam und die ersten Begriffe von Alternativen ausarbeitete, gewann die kritische Theorie der Industriegesellschaft Konkretion in einer geschichtlichen Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, Werten und Tatsachen, Bedürfnissen und Zielen. Diese geschichtliche Vermittlung spielte sich ab im Bewußtsein und in der politischen Aktion der beiden großen Klassen, die sich in der Gesellschaft gegenüberstanden: Bourgeoisie und Proletariat. In der kapitalistischen Welt sind sie noch immer die grundlegenden Klassen. Die kapitalistische Entwicklung hat jedoch die Struktur und Funktion dieser beiden Klassen derart verändert, daß sie nicht mehr die Träger historischer Umgestaltung zu sein scheinen. Ein sich über alles hinwegsetzendes Interesse an der Erhaltung und Verbesserung des institutionellen Status quo vereinigt die früheren Antagonisten in den fortgeschrittensten Bereichen der gegenwärtigen Gesellschaft. Und in dem Maße, wie der technische Fortschritt Wachstum und Zusammenhalt der kommunistischen Gesellschaft gewährleistet, weicht gerade die Idee der qualitativen Änderung den realistischen Begriffen einer nichtexplosiven Evolution. Da es an nachweisbaren Trägern und Triebkräften gesellschaftlichen Wandels fehlt, wird die Kritik auf ein hohes Abstraktionsniveau zurückgeworfen. Es gibt keinen Boden, auf dem Theorie und Praxis, Denken und Handeln zusammenkommen. Selbst die empirischste Analyse geschichtlicher Alternativen erscheint als unrealistische Spekulation, das Eintreten für sie als eine Sache persönlichen (oder gruppenspezifischen) Beliebens.

Und dennoch: widerlegt dieses Fehlen einer Vermittlung die Theorie? Angesichts offenkundig widersprüchlicher Tatsachen besteht die kritische Analyse weiterhin darauf, daß das Bedürfnis nach qualitativer Änderung so dringend ist wie je zuvor. Wer verlangt nach ihr? Die Antwort ist weiterhin dieselbe: die Gesamtgesellschaft für jedes ihrer Mitglieder. Die Vereinigung von anwachsender Produktivität und anwachsender Zerstörung, das Hasardspiel mit der Vernichtung, die Auslieferung des Denkens, Hoffens und Fürchtens an die Entscheidungen der bestehenden Mächte, die Erhaltung des Elends angesichts eines beispiellosen Reichtums enthalten in sich die unparteiischste Anklage – auch wenn sie nicht die raison d’être dieser Gesellschaft sind, sondern nur ihr Nebenprodukt: ihre durchgreifende Rationalität, die Leistungsfähigkeit und Wachstum befördert, ist selbst irrational.

Die Tatsache, daß die große Mehrheit der Bevölkerung diese Gesellschaft hinnimmt und dazu gebracht wird, sie hinzunehmen, macht sie nicht weniger irrational und verwerflich. Die Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Bewußtsein, wirklichem und unmittelbarem Interesse ist immer noch sinnvoll. Aber diese Unterscheidung selbst muß bestätigt werden. Die Menschen müssen dazu gelangen, sie zu sehen, und müssen vom falschen zum wahren Bewußtsein finden, von ihrem unmittelbaren zu ihrem wirklichen Interesse. Das können sie nur, wenn sie unter dem Bedürfnis stehen, ihre Lebensweise zu ändern, das Positive zu verneinen, sich ihm zu verweigern. Eben dieses Bedürfnis vermag die etablierte Gesellschaft in dem Maße zu unterdrücken, wie sie imstande ist, "die Güter" auf erweiterter Stufenleiter "zu liefern", und die wissenschaftliche Unterwerfung der Natur zur wissenschaftlichen Unterwerfung des Menschen zu benutzen.

Gegenüber dem totalen Charakter der Errungenschaften der fortgeschrittenen Industriegesellschaft gebricht es der kritischen Theorie an einer rationalen Grundlage zum Transzendieren dieser Gesellschaft. Dieses Vakuum entleert die theoretische Struktur selbst, weil die Kategorien einer kritischen Theorie der Gesellschaft während einer Periode entwickelt wurden, in der sich das Bedürfnis nach Weigerung und Subversion im Handeln wirksamer sozialer Kräfte verkörperte. Diese Kategorien waren wesentlich negative und oppositionelle Begriffe, welche die realen Widersprüche der europäischen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts bestimmten. Die Kategorie "Gesellschaft" selbst drückte den akuten Konflikt zwischen der sozialen und politischen Sphäre aus – die Gesellschaft als antagonistisch gegenüber dem Staat. Entsprechend bezeichneten Begriffe wie "Individuum", "Klasse", "privat", "Familie" Sphären und Kräfte, die in die etablierten Verhältnisse noch nicht integriert waren – Sphären von Spannung und Widerspruch. Mit der zunehmenden Integration der Industriegesellschaft verlieren diese Kategorien ihren kritischen Inhalt und tendieren dazu, deskriptive, trügerische oder operationelle Termini zu werden.

Ein Versuch, die kritische Intention dieser Kategorien wiederzuerlangen und zu verstehen, wie diese Intention durch die gesellschaftliche Wirklichkeit entwertet wurde, erscheint von Anbeginn als Rückfall von einer mit der geschichtlichen Praxis verbundenen Theorie in abstraktes, spekulatives Denken: von der Kritik der politischen Ökonomie zur Philosophie. Dieser ideologische Charakter der Kritik ergibt sich aus der Tatsache, daß die Analyse gezwungen ist, von einer Position "außerhalb" der positiven wie der negativen, der produktiven wie der destruktiven Tendenzen in der Gesellschaft auszugehen. Die moderne Industriegesellschaft ist die durchgehende Identität dieser Gegensätze – es geht ums Ganze. Zugleich kann die Stellung der Theorie nicht eine bloßer Spekulation sein. Sie muß insofern eine historische Stellung sein, als sie in den Fähigkeiten der gegebenen Gesellschaft begründet sein muß.

Diese zweideutige Situation schließt eine noch grundlegendere Zweideutigkeit ein. Der Eindimensionale Mensch wird durchweg zwischen zwei einander widersprechenden Hypothesen schwanken:

1.   daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden;

2.   daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können.

Ich glaube nicht, daß eine klare Antwort gegeben werden kann. Beide Tendenzen bestehen nebeneinander – und sogar die eine in der anderen. Die erste Tendenz ist die herrschende, und alle Vorbedingungen eines Umschwungs, die es geben mag, werden benutzt, ihn zu verhindern. Vielleicht kann ein Unglück die Lage ändern, aber solange nicht die Anerkennung dessen, was getan und was verhindert wird, das Bewußtsein und Verhalten des Menschen umwälzt, wird nicht einmal eine Katastrophe die Änderung herbeiführen.

Im Brennpunkt der Analyse steht die fortgeschrittene Industriegesellschaft, in der der technische Produktions- und Verteilungsapparat (bei einem zunehmenden automatisierten Sektor) nicht als eine Gesamtsumme bloßer Instrumente funktioniert, die von ihren gesellschaftlichen und politischen Wirkungen isoliert werden können, sondern vielmehr als ein System, von dem das Produkt des Apparats wie die Operationen, ihn zu bedienen und zu erweitern, a priori bestimmt werden. In dieser Gesellschaft tendiert der Produktionsapparat dazu, in dem Maße totalitär zu werden, wie er nicht nur die gesellschaftlich notwendigen Betätigungen, Fertigkeiten und Haltungen bestimmt, sondern auch die individuellen Bedürfnisse und Wünsche. Er ebnet so den Gegensatz zwischen privater und öffentlicher Existenz, zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen ein. Die Technik dient dazu, neue, wirksamere und angenehmere Formen sozialer Kontrolle und sozialen Zusammenhalts einzuführen. Die totalitäre Tendenz dieser Kontrollen scheint sich noch in einem anderen Sinne durchzusetzen – dadurch, daß sie sich auf die weniger entwickelten, selbst vorindustriellen Gebiete der Welt ausbreitet und dadurch, daß sie Ähnlichkeiten in der Entwicklung von Kapitalismus und Kommunismus hervorbringt.
Angesichts der totalitären Züge dieser Gesellschaft läßt sich der traditionelle Begriff der "Neutralität" der Technik nicht mehr aufrechterhalten. Technik als solche kann nicht von dem Gebrauch abgelöst werden, der von ihr gemacht wird; die technologische Gesellschaft ist ein Herrschaftssystem, das bereits im Begriff und Aufbau der Techniken am Werke ist.

Die Weise, in der eine Gesellschaft das Leben ihrer Mitglieder organisiert, schließt eine ursprüngliche Wahl zwischen geschichtlichen Alternativen ein, die vom überkommenen Niveau der materiellen und geistigen Kultur bestimmt sind. Die Wahl selbst ergibt sich aus dem Spiel der herrschenden Interessen. Sie antizipiert besondere Weisen, Mensch und Natur zu verändern und nutzbar zu machen und verwirft andere. Sie ist ein "Entwurf" von Verwirklichung unter anderen. Aber ist der Entwurf einmal in den grundlegenden Institutionen und Verhältnissen wirksam geworden, so tendiert er dazu, exklusiv zu werden und die Entwicklung der Gesellschaft als Ganzes zu bestimmen. Als ein technologisches Universum ist die fortgeschrittene Industriegesellschaft ein politisches Universum – die späteste Stufe der Verwirklichung eines spezifischen geschichtlichen Entwurfs – nämlich die Erfahrung, Umgestaltung und Organisation der Natur als des bloßen Stoffs von Herrschaft.

Indem der Entwurf sich entfaltet, modelt er das gesamte Universum von Sprache und Handeln, von geistiger und materieller Kultur. Im Medium der Technik verschmelzen Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System, das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt. Produktivität und Wachstumspotential dieses Systems stabilisieren die Gesellschaft und halten den technischen Fortschritt im Rahmen von Herrschaft. Technologische Rationalität ist zu politischer Rationalität geworden.
Bei der Erörterung der bekannten Tendenzen der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation habe ich selten besondere Belege gegeben. Das Material ist in der umfassenden soziologischen und psychologischen Literatur über Technik und sozialen Wandel, wissenschaftliche Betriebsführung, korporative Unternehmen, Veränderungen des Charakters industrieller Arbeit und der Arbeitskraft etc. zusammengestellt und beschrieben. Es gibt viele unideologische Analysen der Tatsachen – wie Berle und Means, The Modern Corporation and Private Property, die Berichte des 76. Kongresses des Temporary National Economic Committee über Concentration of Economic Power, die Veröffentlichungen der AFL-CIO über Automation and Major Technological Change, aber auch die von News and Letters und Correspondence in Detroit. Ich möchte auch die hohe Bedeutung des Werks von C. Wright Mills und von Studien hervorheben, die häufig wegen Vereinfachung, Übertreibung oder journalistischer Unbekümmertheit scheel angesehen werden – Vance Packards Bücher The Hidden Persuaders, The Status Seekers und The Waste Makers, das Buch von William H. Whyte The Organisation Man, das von Fred J. Cook The Warfare State gehören zu dieser Kategorie. Freilich bleiben in diesen Werken mangels theoretischer Analyse die Wurzeln der beschriebenen Verhältnisse unaufgedeckt und geschützt; aber dazu gebracht, für sich selbst zu sprechen, reden die Verhältnisse eine deutliche Sprache. Vielleicht verschafft man sich das durchschlagendste Beweismaterial dadurch, daß man einfach ein paar Tage lang jeweils eine Stunde das Fernsehprogramm verfolgt oder sich das Programm von AM-Radio anhört, dabei die Reklamesendungen nicht abstellt und hin und wieder den Sender wechselt.

Im Brennpunkt meiner Analyse stehen Tendenzen in den höchstentwickelten gegenwärtigen Gesellschaften. Es gibt weite Bereiche innerhalb und außerhalb dieser Gesellschaften, wo die beschriebenen Tendenzen nicht herrschen – ich würde sagen: noch nicht herrschen. Ich entwerfe diese Tendenzen und biete einige Hypothesen, nichts weiter.

Die neuen Formen der Kontrolle

Eine komfortable, reibungslose, vernünftige, demokratische Unfreiheit herrscht in der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation, ein Zeichen technischen Fortschritts. In der Tat, was könnte rationaler sein als die Unterdrückung der Individualität bei der Mechanisierung gesellschaftlich notwendiger, aber mühevoller Veranstaltungen; die Konzentration individueller Unternehmen zu wirksameren, produktiveren Verbänden; die Regulierung der freien Konkurrenz zwischen verschieden gut ausgestatteten ökonomischen Subjekten; die Beschneidung von Prärogativen und nationalen Hoheitsrechten, welche die internationale Organisation der Ressourcen behindern. Daß diese technische Ordnung eine politische und geistige Gleichschaltung mit sich bringt, mag eine bedauerliche und doch vielversprechende Entwicklung sein.

Die Rechte und Freiheiten, die zu Beginn und auf früheren Stufen der Industriegesellschaft einmal lebenswichtige Faktoren waren, weichen einer höheren Stufe dieser Gesellschaft: sie sind dabei, ihre traditionelle Vernunftbasis und ihren Inhalt zu verlieren. Denk-, Rede- und Gewissensfreiheit waren – ganz wie die freie Wirtschaft, deren Förderung und Schutz sie dienten – wesentlich kritische Ideen, bestimmt, eine veraltete materielle und geistige Kultur durch eine produktivere und rationalere zu ersetzen. Einmal institutionalisiert, teilten diese Rechte und Freiheiten das Schicksal der Gesellschaft, zu deren integralem Bestandteil sie geworden waren. Der Erfolg hebt seine Voraussetzungen auf.

In dem Maße, wie Freiheit von Mangel, die konkrete Substanz aller Freiheit, zur realen Möglichkeit wird, verlieren die Freiheiten, die einer niedereren Stufe der Produktivität angehören, ihren früheren Inhalt. Unabhängigkeit des Denkens, Autonomie, das Recht auf politische Opposition werden gegenwärtig ihrer grundlegenden kritischen Funktion beraubt in einer Gesellschaft, die immer mehr imstande scheint, die Bedürfnisse der Individuen vermittels der Weise zu befriedigen, in der sie organisiert ist. Eine solche Gesellschaft kann mit Recht verlangen, daß ihre Prinzipien und Institutionen hingenommen werden, und kann die Opposition auf die Diskussion und Förderung alternativer politischer Praktiken innerhalb des Status quo einschränken. In dieser Hinsicht scheint es wenig auszumachen, ob die zunehmende Befriedigung der Bedürfnisse durch ein autoritäres oder ein nichtautoritäres System erreicht wird. Unter den Bedingungen eines steigenden Lebensstandards erscheint die Nichtübereinstimmung mit dem System als solchem als gesellschaftlich sinnlos, und das umsomehr, wenn sie fühlbare wirtschaftliche und politische Nachteile im Gefolge hat und den glatten Ablauf des Ganzen bedroht. Wenigstens soweit es um die Lebensbedürfnisse geht, scheint keinerlei Grund vorhanden, weshalb die Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen im wettbewerblichen Aufeinanderprallen individueller Freiheiten vonstatten gehen sollte.

Von Anbeginn war die Freiheit des Unternehmens keineswegs ein Segen. Als die Freiheit zu arbeiten oder zu verhungern bedeutete sie für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Plackerei, Unsicherheit und Angst. Wäre das Individuum nicht mehr gezwungen, sich auf dem Markt als freies ökonomisches Subjekt zu bewähren, so wäre das Verschwinden dieser Art von Freiheit eine der größten Errungenschaften der Zivilisation. Die technologischen Prozesse der Mechanisierung und Standardisierung könnten individuelle Energie für ein noch unbekanntes Reich der Freiheit jenseits der Notwendigkeit freigeben. Die innere Struktur des menschlichen Daseins würde geändert; das Individuum würde von den fremden Bedürfnissen und Möglichkeiten befreit, die die Arbeitswelt ihm auferlegt. Das Individuum wäre frei, Autonomie über ein Leben auszuüben, das sein eigenes wäre. Könnte der Produktionsapparat im Hinblick auf die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse organisiert und dirigiert werden, so könnte er durchaus zentralisiert sein; eine derartige Kontrolle würde individuelle Autonomie nicht verhindern, sondern ermöglichen.

Das ist ein Ziel im Rahmen dessen, wozu die fortgeschrittene industrielle Zivilisation imstande ist, der "Zweck" technologischer Rationalität. Tatsächlich jedoch macht sich die entgegengesetzte Tendenz geltend: der Apparat erlegt der Arbeitszeit und der Freizeit, der materiellen und der geistigen Kultur die ökonomischen wie politischen Erfordernisse seiner Verteidigung und Expansion auf. Infolge der Art, wie sie ihre technische Basis organisiert hat, tendiert die gegenwärtige Industriegesellschaft zum Totalitären. Denn "totalitär" ist nicht nur eine terroristische politische Gleichschaltung der Gesellschaft, sondern auch eine nichtterroristische ökonomisch-technische Gleichschaltung, die sich in der Manipulation von Bedürfnissen durch althergebrachte Interessen geltend macht. Sie beugt so dem Aufkommen einer wirksamen Opposition gegen das Ganze vor. Nicht nur eine besondere Regierungsform oder Parteiherrschaft bewirkt Totalitarismus, sondern auch ein besonderes Produktions- und Verteilungssystem, das sich mit einem "Pluralismus" von Parteien, Zeitungen, "ausgleichenden Mächten" etc. durchaus verträgt.

Politische Macht setzt sich heute durch vermittels ihrer Gewalt über den maschinellen Prozeß und die technische Organisation des Apparats. Die Regierung fortgeschrittener und fortschreitender Industriegesellschaften kann sich nur dann behaupten und sichern, wenn es ihr gelingt, die der industriellen Zivilisation verfügbare technische, wissenschaftliche und mechanische Produktivität zu mobilisieren, zu organisieren und auszubeuten. Und diese Produktivität mobilisiert die Gesellschaft als Ganzes über allen partikulären oder Gruppeninteressen und jenseits von ihnen. Das rohe Faktum, daß die physische (nur physische?) Gewalt der Maschine die des Individuums und jeder besonderen Gruppe von Individuen übertrifft, macht die Maschine in jeder Gesellschaft, deren grundlegende Organisation die des maschinellen Prozesses ist, zum wirksamsten politischen Instrument. Aber die politische Tendenz läßt sich umkehren; im wesentlichen ist die Macht der Maschine nur die aufgespeicherte und projektierte Macht des Menschen. In dem Maße, wie die Arbeitswelt als eine Maschine verstanden und entsprechend mechanisiert wird, wird sie zur potentiellen Basis einer neuen Freiheit für den Menschen.

Die gegenwärtige industrielle Zivilisation beweist, daß sie die Stufe erreicht hat, auf der "die freie Gesellschaft" in den traditionellen Begriffen ökonomischer, politischer und geistiger Freiheiten nicht mehr angemessen bestimmt werden kann; nicht weil diese Freiheiten bedeutungslos geworden sind, sondern weil sie zu bedeutsam sind, um auf die traditionellen Formen begrenzt zu bleiben. Entsprechend den neuen Fähigkeiten der Gesellschaft bedarf es neuer Weisen der Verwirklichung.

Solche neuen Weisen lassen sich nur in negativen Begriffen andeuten, weil sie auf die Negation der herrschenden hinausliefen. So würde ökonomische Freiheit Freiheit von der Wirtschaft bedeuten – von Kontrolle durch ökonomische Kräfte und Verhältnisse; Freiheit vom täglichen Kampf ums Dasein, davon, sich seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Politische Freiheit würde die Befreiung der Individuen von der Politik bedeuten, über die sie keine wirksame Kontrolle ausüben. Entsprechend würde geistige Freiheit die Wiederherstellung des individuellen Denkens bedeuten, das jetzt durch Massenkommunikation und -schulung aufgesogen wird, die Abschaffung der "öffentlichen Meinung" mitsamt ihren Herstellern. Der unrealistische Klang dieser Behauptungen deutet nicht auf ihren utopischen Charakter hin, sondern auf die Gewalt der Kräfte, die ihrer Verwirklichung im Wege stehen. Die wirksamste und zäheste Form des Kampfes gegen die Befreiung besteht darin, den Menschen materielle und geistige Bedürfnisse einzuimpfen, welche die veralteten Formen des Kampfes ums Dasein verewigen.

Die Intensität, die Befriedigung und selbst der Charakter menschlicher Bedürfnisse, die über das biologische Niveau hinausgehen, sind stets im voraus festgelegt gewesen. Ob die Möglichkeit, etwas zu tun oder zu lassen, zu genießen oder zu zerstören, zu besitzen oder zurückzuweisen als ein Bedürfnis erfaßt wird oder nicht, hängt davon ab, ob sie für die herrschenden gesamtgesellschaftlichen Institutionen und Interessen als wünschenswert und notwendig angesehen werden kann oder nicht. In diesem Sinne sind menschliche Bedürfnisse historische Bedürfnisse, und in dem Maße, wie die Gesellschaft die repressive Entwicklung des Individuums erfordert, unterliegen dessen Bedürfnisse selbst und ihr Verlangen, befriedigt zu werden, kritischen Maßstäben, die sich über sie hinwegsetzen.

Wir können wahre und falsche Bedürfnisse unterscheiden. "Falsch" sind diejenigen, die dem Individuum durch partikuläre gesellschaftliche Mächte, die an seiner Unterdrückung interessiert sind, auferlegt werden: diejenigen Bedürfnisse, die harte Arbeit, Aggressivität, Elend und Ungerechtigkeit verewigen. Ihre Befriedigung mag für das Individuum höchst erfreulich sein, aber dieses Glück ist kein Zustand, der aufrecht erhalten und geschützt werden muß, wenn es dazu dient, die Entwicklung derjenigen Fähigkeit (seine eigene und die anderer) zu hemmen, die Krankheit des Ganzen zu erkennen und die Chancen zu ergreifen, diese Krankheit zu heilen. Das Ergebnis ist dann Euphorie im Unglück. Die meisten der herrschenden Bedürfnisse, sich im Einklang mit der Reklame zu entspannen, zu vergnügen, zu benehmen und zu konsumieren, zu hassen und zu lieben, was andere hassen und lieben, gehören in diese Kategorie falscher Bedürfnisse.

Solche Bedürfnisse haben einen gesellschaftlichen Inhalt und eine gesellschaftliche Funktion, die durch äußere Mächte determiniert sind, über die das Individuum keine Kontrolle hat; die Entwicklung und Befriedigung dieser Bedürfnisse sind heteronom. Ganz gleich, wie sehr solche Bedürfnisse zu denen des Individuums selbst geworden sind und durch seine Existenzbedingungen reproduziert und befestigt werden; ganz gleich, wie sehr es sich mit ihnen identifiziert und sich in ihrer Befriedigung wiederfindet, sie bleiben, was sie seit Anbeginn waren – Produkte eine Gesellschaft, deren herrschendes Interesse Unterdrückung erheischt.

Das Vorherrschen repressiver Bedürfnisse ist eine vollendete Tatsache, die in Unwissenheit und Niedergeschlagenheit hingenommen wird, aber eine Tatsache, die im Interesse des glücklichen Individuums sowie aller derjenigen beseitigt werden muß, deren Elend der Preis seiner Befriedigung ist. Die einzigen Bedürfnisse, die einen uneingeschränkten Anspruch auf Befriedigung haben, sind die vitalen – Nahrung, Kleidung und Wohnung auf dem erreichbaren Kulturniveau. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist die Vorbedingung für die Verwirklichung aller Bedürfnisse, der unsublimierten wie der sublimierten.

Für jedes Bewußtsein und Gewissen, für jede Erfahrung, die das herrschende gesellschaftliche Interesse nicht als das oberste Gesetz des Denkens und Verhaltens hinnimmt, ist das eingeschliffene Universum von Bedürfnissen und Befriedigungen eine in Frage zu stellende Tatsache – im Hinblick auf Wahrheit und Falschheit. Diese Begriffe sind durch und durch historisch, auch ihre Objektivität ist historisch. Das Urteil über Bedürfnisse und ihre Befriedigung schließt unter den gegebenen Bedingungen Maßstäbe des Vorrangs ein – Maßstäbe, die sich auf die optimale Entwicklung des Individuums, aller Individuen, beziehen unter optimaler Ausnutzung der materiellen und geistigen Ressourcen, über die der Mensch verfügt. Diese Ressourcen sind berechenbar. "Wahrheit" und "Falschheit" der Bedürfnisse bezeichnen in dem Maße objektive Bedingungen, wie die allgemeine Befriedigung von Lebensbedürfnissen und darüber hinaus die fortschreitende Linderung von harter Arbeit und Armut allgemeingültige Maßstäbe sind. Aber als historische Maßstäbe variieren sie nicht nur nach Bereich und Stufe der Entwicklung, sie lassen sich auch nur im (größeren oder geringeren) Widerspruch zu den herrschenden bestimmen. Welches Tribunal kann für sich die Autorität der Entscheidung beanspruchen?

...

Der Sieg über das unglückliche Bewußtsein: repressive Entsublimierung

Nachdem wir die politische Integration der fortgeschrittenen Industriegesellschaft erörtert haben – eine Leistung, die durch die anwachsende technische Produktivität und die sich erweiternde Unterwerfung von Mensch und Natur ermöglicht wird –, wollen wir uns jetzt einer entsprechenden Integration im kulturellen Bereich zuwenden. In diesem Kapitel werden bestimmte Schlüsselbegriffe und Bilder der Literatur und ihr Schicksal verdeutlichen, wie der Fortschritt technologischer Rationalität dabei ist, die oppositionellen und transzendierenden Elemente in der "höheren Kultur" zu beseitigen. Sie fallen praktisch dem Prozeß der Entsublimierung zum Opfer, der in den fortgeschrittenen Bereichen der gegenwärtigen Gesellschaft die Oberhand gewinnt.

Die Errungenschaften und Mißerfolge dieser Gesellschaft entwerten ihre höhere Kultur. Die Feier des autonomen Charakters, des Humanismus, tragischer und romantischer Liebe erscheint als das Ideal einer rückständigen Entwicklungsstufe. Was heute geschieht, ist nicht die Herabsetzung der höheren Kultur zur Massenkultur, sondern die Widerlegung dieser Kultur durch die Wirklichkeit. Diese übertrifft ihre Kultur. Der Mensch vermag heute mehr als die Helden der Kultur und die Halbgötter; er hat viele unlösbare Probleme gelöst. Aber er hat auch die Hoffnung verraten und die Wahrheit zerstört, die in den Sublimationen der höheren Kultur aufgehoben waren. Freilich befand die höhere Kultur sich stets im Widerspruch mit der gesellschaftlichen Realität, und nur eine privilegierte Minderheit erfreute sich ihrer Segnungen und vertrat ihre Ideale. Die beiden antagonistischen Sphären der Gesellschaft haben immer nebeneinander bestanden; die höhere Kultur paßte sich stets an, während die Wirklichkeit durch ihre Ideale und ihre Wahrheit selten gestört wurde.

Als neues Merkmal kommt hinzu, daß der Antagonismus zwischen Kultur und gesellschaftlicher Wirklichkeit dadurch eingeebnet wird, daß die oppositionellen, fremden und transzendenten Elemente der höheren Kultur getilgt werden, kraft deren sie eine andere Dimension der Wirklichkeit bildete. Diese Liquidation der zweidimensionalen Kultur findet nicht so statt, daß die "Kulturwerte" geleugnet und verworfen werden, sondern so, daß sie der etablierten Ordnung unterschiedslos einverleibt und in massivem Ausmaß reproduziert und zur Schau gestellt werden.

Praktisch dienen sie als Instrumente gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Größe einer freien Literatur und Kunst, die Ideale des Humanismus, die Sorgen und Freuden des Individuums, die Erfüllung der Persönlichkeit sind wichtige Punkte im Konkurrenzkampf zwischen Ost und West. Sie sprechen schwerwiegend gegen die heutigen Formen des Kommunismus, und sie werden täglich verordnet und verkauft. Die Tatsache, daß sie der Gesellschaft widersprechen, die sie verkauft, zählt nicht. Ebenso wie die Menschen wissen oder fühlen, daß Reklame und Parteiprogramme nicht notwendig wahr oder gerechtfertigt sein müssen, und sie sich doch anhören, sie lesen und sich sogar von ihnen leiten lassen, so akzeptieren sie die traditionellen Werte und machen sie zum Bestandteil ihres geistigen Rüstzeugs. Wenn die Massenkommunikationsmittel Kunst, Politik, Religion und Philosophie harmonisch und oft unmerklich mit kommerziellen Mitteilungen vermischen, so bringen sie diese Kulturbereiche auf ihren gemeinsamen Nenner – die Warenform. Die Musik der Seele ist auch die der Verkaufstüchtigkeit. Der Tauschwert zählt, nicht der Wahrheitswert. In ihm faßt sich die Rationalität des Status quo zusammen, und alle andersartige Rationalität wird ihr unterworfen.

Indem die großen Worte über Freiheit und Erfüllung von Führern und Politikern bei Wahlkampagnen verkündet werden, in den Kinos, im Radio und Fernsehen, verkehren sie sich in sinnlose Laute, die nur im Zusammenhang mit Propaganda, Geschäft, Disziplin und Zerstreuung einen Sinn erhalten. Diese Angleichung des Ideals an die Realität bezeugt, wie sehr das Ideal überboten worden ist. Es wird dem sublimierten Bereich der Seele oder des Geistes oder des inneren Menschen entzogen und in operationelle Begriffe und Probleme übersetzt. Hierin bestehen die fortschrittlichen Elemente der Massenkultur. Die Abkehr von der Innerlichkeit deutet auf die Tatsache hin, daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft der Möglichkeit einer Materialisierung der Ideale gegenübersteht. Die Kapazitäten dieser Gesellschaft verringern immer mehr den sublimierten Bereich, in dem die Lage des Menschen dargestellt, idealisiert und angeklagt wurde. Die höhere Kultur wird ein Teil der materiellen und büßt bei dieser Umformung ihre Wahrheit weitgehend ein.

Die höhere Kultur des Westens – zu deren moralischen, ästhetischen und gedanklichen Werten sich die Industriegesellschaft immer noch bekennt – war im funktionellen wie historischen Sinne eine vortechnische Kultur. Ihre Verbindlichkeit ging hervor aus der Erfahrung einer Welt, die nicht mehr besteht und nicht wiedererlangt werden kann, weil sie von der technischen Gesellschaft in einem strengen Sinne außer Kraft gesetzt wird. Zudem blieb sie weitgehend eine feudale Kultur, auch wenn es während der bürgerlichen Periode zu einigen ihrer nachhaltigsten Formulierungen kam. Sie war nicht nur feudal, weil sie auf privilegierte Minderheiten begrenzt blieb, und nicht nur, weil ihr ein romantisches Element innewohnte (das sogleich erörtert werden soll), sondern auch deshalb, weil ihre authentischen Werke eine bewußte, methodische Entfremdung von der ganzen Geschäfts- und Industriesphäre und ihrer kalkulierbaren und einträglichen Ordnung ausdrückten.

Obwohl diese bürgerliche Ordnung ihre reiche – und sogar affirmative – Darstellung in Kunst und Literatur fand (wie bei den holländischen Malern des siebzehnten Jahrhunderts, in Goethes Wilhelm Meister, im englischen Roman des neunzehnten Jahrhunderts, bei Thomas Mann), blieb sie eine Ordnung, die von einer anderen Dimension überschattet, durchbrochen und widerlegt wurde, welche der Ordnung des Geschäfts unversöhnlich antagonistisch gegenüberstand, sie anklagte und verneinte. Und in der Literatur wird diese andere Dimension nicht durch die religiösen, geistigen und moralischen Helden dargestellt (die oft die herrschende Ordnung stützen), sondern vielmehr durch solche auflösenden Charaktere wie den Künstler, die Prostituierte, die Ehebrecherin, den großen Verbrecher und Geächteten, den Räuber, den rebellischen Dichter, den Schelm, den Narren – jene, die sich ihren Lebensunterhalt nicht verdienen, zumindest nicht auf ordentliche und normale Weise.

Freilich sind diese Charaktere nicht aus der Literatur der fortgeschrittenen Industriegesellschaft verschwunden, aber sie überleben wesentlich verändert. Der Vamp, der Nationalheld, der Beatnik, die neurotische Hausfrau, der Gangster, der Star, der charismatische Industriekapitän üben eine Funktion aus, die von der ihrer kulturellen Vorläufer sehr verschieden ist, ja im Gegensatz zu ihr steht. Sie sind keine Bilder einer anderen Lebensweise mehr, sondern eher Launen oder Typen desselben Lebens, die mehr als Affirmation denn als Negation der bestehenden Ordnung dienen.

Die Welt ihrer Vorläufer war gewiß eine rükständige, vortechnische Welt, eine Welt, die angesichts von Ungleichheit und Plackerei ein gutes Gewissen hatte und in der die Arbeit noch ein vom Schicksal verhängtes Unglück war – aber eine Welt, in der Mensch und Natur noch nicht als Dinge und Mittel organisiert waren. Mit ihrem Formen- und Sittenkodex, mit dem Stil und Vokabular ihrer Literatur und Philosophie drückte diese vergangene Kultur den Rhythmus und Inhalt eines Universums aus, in dem Täler und Wälder, Dörfer und Schenken, Edelleute und Leibeigene, Salons und Höfe zur erfahrenen Wirklichkeit gehörten. In der Lyrik und Prosa dieser vortechnischen Kultur ist der Rhythmus von Menschen enthalten, die wandern oder in Kutschen fahren und die Zeit und Lust haben, nachzudenken, "etwas zu betrachten, zu fühlen und zu erzählen.
Es ist eine altmodische und überholte Kultur, und nur Träume und kindliche Regressionen können sie wieder einfangen. Aber diese Kultur ist in einigen ihrer entscheidenden Elemente zugleich eine nachtechnische. Ihre fortgeschrittensten Bilder und Positionen scheinen ihr Aufgehen in verordnetem Trost und in Reizmitteln zu überleben; sie verfolgen das Bewußtsein noch immer mit der Möglichkeit ihrer Wiedergeburt in der Vollendung des technischen Fortschritts. Sie sind der Ausdruck jener freien und bewußten Entfremdung von den herrschenden Lebensformen, mit der Literatur und Kunst sich diesen Formen selbst dort widersetzten, wo sie sie ausschmückten.
In Gegensatz zu dem Marxschen Begriff, der das Verhältnis des Menschen zu sich und seiner Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft bezeichnet, ist die künstlerische Entfremdung das bewußte Transzendieren der entfremdeten Existenz – ein "höheres Niveau" oder vermittelte Entfremdung. Der Konflikt mit der Welt des Fortschritts, die Negation der Ordnung des Geschäfts, die antibürgerlichen Elemente in der bürgerlichen Literatur und Kunst gehen weder auf den ästhetischen Tiefstand dieser Ordnung zurück noch auf romantische Reaktion – die sehnsuchtsvolle Weihe einer verschwindenden Zivilisationsstufe. "Romantisch" ist ein Begriff herablassender Diffamierung, schnell zur Hand, um avantgardistische Positionen zu verunglimpfen, wie auch der Begriff "dekadent" weit häufiger die wahrhaft fortschrittlichen Züge einer sterbenden Kultur denunziert als die wirklichen Faktoren des Verfalls. Die traditionellen Bilder künstlerischer Entfremdung sind in der Tat insofern romantisch, als sie mit der sich entwickelnden Gesellschaft ästhetisch unvereinbar sind. Diese Unvereinbarkeit ist das Zeichen ihrer Wahrheit. Woran sie erinnern und was sie im Gedächtnis aufbewahren, erstreckt sich auf die Zukunft: Bilder einer Erfüllung, welche die Gesellschaft auflösen würde, die sie unterdrückt. Die große surrealistische Kunst der zwanziger und dreißiger Jahre hat sie in ihrer subversiven und befreienden Funktion noch einmal eingefangen. Aufs Geratewohl herausgegriffene Beispiele aus dem literarischen Grundvokabular mögen die Reichweite und Verwandtschaft dieser Bilder andeuten sowie die von ihnen offenbarte Dimension: Seele und Geist und Herz; la recherche de l’absolu, Les fleurs du mal, la femme-enfant; das Königreich am Meer; Le bateau ivre und The Long-legged Bait; Ferne und Heimat; aber auch Dämon Alkohol, Dämon Maschine und Dämon Geld; Don Juan und Romeo; Baumeister Solneß und Wenn wir Toten erwachen.

Ihre bloße Aufzählung zeigt, daß sie einer verlorenen Dimension angehören. Sie haben nicht nur deshalb ihre Kraft eingebüßt, weil sie literarisch veraltet sind. Einige dieser Bilder gehören zur zeitgenössischen Literatur und überleben in ihren avanciertesten Schöpfungen. Entkräftet wurde ihre subversive Gewalt, ihr zerstörerischer Inhalt – ihre Wahrheit. Derart umgeformt, finden sie im Alltagsleben ihre Stätte. Die fremden und entfremdenden Werke der geistigen Kultur werden zu vertrauten Gütern und Dienstleistungen. Bedeutet ihre massive Reproduktion und Konsumtion nur einen quantitativen Wandel, das heißt zunehmende Wertschätzung, zunehmendes Verständnis, eine Demokratisierung der Kultur?

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Negatives Denken: die besiegte Logik des Protests

"Das was ist, kann nicht wahr sein". Für unsere wohltrainierten Ohren und Augen ist diese Behauptung leichtfertig und lächerlich oder so unerhört wie jene andere, die das Gegenteil zu sagen scheint: "Was wirklich ist, das ist vernünftig". Und doch offenbaren beide, in der Tradition des abendländischen Denkens gesehen, in provokatorisch abgekürzter Form die Idee der Vernunft, von der die Logik jener Tradition sich leiten ließ. Mehr noch, beide drücken denselben Begriff aus, nämlich die antagonistische Struktur der Wirklichkeit und des Denkens, das diese zu verstehen sucht. Die Welt der unmittelbaren Erfahrung – die Welt, in der lebend wir uns vorfinden – muß begriffen, verändert, sogar umgestürzt werden, um zu dem zu werden, was sie wirklich ist.

In der Gleichung Vernunft = Wahrheit = Wirklichkeit, welche die subjektive und objektive Welt zu einer antagonistischen Einheit verbindet, ist die Vernunft die umstürzende Macht, die "Macht des Negativen", die als theoretische und praktische Vernunft die Wahrheit für die Menschen und Dinge darlegt – das heißt die Bedingungen, unter denen die Menschen und Dinge zu dem werden, was sie wirklich sind. Der Versuch zu zeigen, daß diese Wahrheit von Theorie und Praxis keine subjektive, sondern eine objektive Beschaffenheit ist, war das ursprüngliche Interesse des abendländischen Denkens und der Ursprung seiner Logik – Logik nicht im Sinne einer Sonderdisziplin der Philosophie, sondern als die Denkweise, die geeignet war, das Wirkliche als vernünftig zu begreifen.

Das totalitäre Ganze technologischer Rationalität ist die letzte Umbildung der Idee der Vernunft. In diesem und dem folgenden Kapitel werde ich versuchen, einige der Hauptstufen der Entwicklung dieser Idee zu bestimmen – den Prozeß, wodurch Logik zur Logik der Herrschaft wurde. Eine solche ideologische Analyse kann zum Verständnis der realen Entwicklung insofern beitragen, als sie sich auf die Vereinigung (und Trennung) von Theorie und Praxis, Denken und Handeln im geschichtlichen Prozeß – einer Entfaltung von theoretischer und praktischer Vernunft zugleich – konzentriert.

Das geschlossene operationelle Universum der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation mit ihrer bestürzenden Harmonie von Freiheit und Unterdrückung, Produktivität und Zerstörung, Wachstum und Regression ist in dieser Idee der Vernunft als eines spezifischen geschichtlichen Entwurfs bereits vorgezeichnet. Die technischen und die vortechnischen Stufen haben gewisse gemeinsame Grundbegriffe von Mensch und Natur, in denen die Kontinuität der abendländischen Tradition sich ausdrückt. Innerhalb dieses Kontinuums stoßen verschiedene Denkweisen aufeinander; sie gehören zu verschiedenen Weisen, Gesellschaft und Natur zu erfassen, zu organisieren und zu verändern. Die stabilisierenden Tendenzen widerstreiten den zerstörenden Elementen der Vernunft, die Macht des positiven der des negativen Denkens, bis schließlich die Errungenschaften der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation zum Triumph der eindimensionalen Wirklichkeit über allen Widerspruch führen.

Dieser Konflikt geht bis auf die Ursprünge des philosophischen Denkens selbst zurück und kommt im Gegensatz zwischen Platons dialektischer Logik und der formalen Logik des Aristotelischen Organon schlagend zum Ausdruck. Der folgende Umriß des klassischen Modells dialektischen Denkens mag einer Analyse der einander entgegengesetzten Züge technologischer Rationalität den Boden bereiten.

In der klassischen griechischen Philosophie ist Vernunft insofern das Erkenntnisvermögen, zu unterscheiden, was wahr und was falsch ist, als Wahrheit (und Falschheit) in erster Linie eine Beschaffenheit des Seins, der Wirklichkeit ist – und nur aus diesem Grund eine Eigenschaft von Sätzen. Die wahre Rede, die Logik, enthüllt und drückt aus, was wirklich ist – als unterschieden von dem, was (wirklich) zu sein scheint. Und vermöge dieser Gleichung von Wahrheit und (wirklichem) Sein ist Wahrheit ein Wert; denn Sein ist besser als Nichtsein. Dieses ist nicht einfach Nichts; es ist Potentialität und Bedrohung des Seins – Zerstörung. Der Kampf um Wahrheit ist ein Kampf gegen Zerstörung, für die "Rettung" (σώζειυ) des Seins (ein Bemühen, das selbst zerstörerisch scheint, wenn es die bestehende Wirklichkeit als "unwahr" angreift: Sokrates gegenüber dem athenischen Stadtstaat). Sofern der Kampf um Wahrheit die Wirklichkeit vor Zerstörung "bewahrt", verpflichtet und engagiert die Wahrheit die menschliche Existenz. Sie ist der wesentlich menschliche Entwurf. Wenn der Mensch gelernt hat zu sehen und zu wissen, was wirklich ist, wird er im Einklang mit der Wahrheit handeln. Erkenntnistheorie ist an sich Ethik, und Ethik ist Erkenntnistheorie.

Diese Konzeption spiegelt die Erfahrung einer in sich antagonistischen Welt – einer Welt, die an Mangel und Negativität krankt und beständig von Zerstörung bedroht ist, aber auch eine Welt, die ein Kosmos ist, strukturiert im Einklang mit Endursachen. In dem Maße, wie die Erfahrung einer antagonistischen Welt die Entwicklung der philosophischen Kategorien leitet, bewegt sich die Philosophie in einem Universum, das in sich entzweit ist (déchirement ontologique) – zweidimensional ist. Erscheinung und Wirklichkeit, Unwahrheit und Wahrheit (und, wie wir sehen werden, Unfreiheit und Freiheit) sind ontologische Verhältnisse.

Diese Unterscheidung gründet nicht im abstrakten Denken, nicht in dessen Fehlbarkeit; sie ist vielmehr in der Erfahrung des Universums verwurzelt, an dem das Denken in Theorie und Praxis teil hat. In diesem Universum gibt es Seinsweisen, in denen die Menschen und Dinge "durch sich" und als "sie selbst" sind, und andere, in denen sie es nicht sind – das heißt unter Verzerrung, Beschränkung oder Verneinung ihrer Natur (ihres Wesens) existieren. Die Überwindung dieser negativen Beschaffenheiten ist der Prozeß des Seins und des Denkens. Philosophie hat ihren Ursprung in der Dialektik; das Ganze, worin ihre Rede sich bewegt, antwortet auf die Tatsachen einer antanogistischen Wirklichkeit.

Was sind die Kriterien für diese Unterscheidung? Auf welcher Grundlage wird der Status der "Wahrheit" eher der einen Weise oder Beschaffenheit zugesprochen denn der anderen? Die klassische griechische Philosophie vertraut in hohem Maße dem, was später (in einem ziemlich abschätzigen Sinne) "Intuition" genannt wurde, das heißt einer Erkenntnisform, unter der das Objekt des Denkens klar als das erscheint, was es wirklich (in seinen wesentlichen Qualitäten) ist und das in antagonistischer Beziehung zu seinem kontingenten unmittelbaren Zustand steht. Freilich ist dieser Aufweis aus Intuition vom Cartesianischen nicht allzu verschieden. Sie ist kein geheimnisvolles Vermögen des Geistes, keine eigenartige unmittelbare Erfahrung, noch ist sie von der begrifflichen Analyse abgespalten. Intuition ist vielmehr der (vorläufige) Endpunkt einer solchen Analyse – das Ergebnis methodischer geistiger Vermittlung. Als solche ist sie die Vermittlung konkreter Erfahrung.

Der Begriff des Wesens des Menschen mag das erläutern. Analysiert man den Menschen in der Lage, in der er sich in seinem Universum befindet, so scheint er bestimmte Vermögen und Kräfte zu besitzen, die ihn befähigen würden, ein "gutes Leben" zu führen, das heißt ein Leben, das so weit als möglich frei ist von harter Arbeit, Abhängigkeit und Häßlichkeit. Ein solches Leben erreichen, heißt das "beste Leben" erreichen: dem Wesen der Natur oder des Menschen gemäß leben.

Freilich ist dies noch das Diktum des Philosophen; er ist es, der die menschliche Situation analysiert. Er unterwirft die Erfahrung seinem kritischen Urteil, und dieses enthält ein Werturteil: daß Freiheit von harter Arbeit harter Arbeit vorzuziehen ist und ein intelligentes Leben einem dummen. So wurde die Philosophie mit diesen Werten geboren. Das wissenschaftliche Denken mußte diese Einheit von Werturteil und Analyse zerbrechen; denn es wurde immer klarer, daß die philosophischen Werte weder für die Organisation der Gesellschaft noch für die Umgestaltung der Natur richtungweisend waren. Sie waren unwirksam, unwirklich. Bereits die griechische Konzeption enthält das geschichtliche Element – das Wesen des Menschen ist anders im Sklaven als im freien Bürger, anders im Griechen als im Barbaren. Die Zivilisation hat die ontologische Stabilisierung dieses Unterschieds (zumindest in der Theorie) überwunden. Aber diese Entwicklung stößt die Unterscheidung zwischen wesentlicher und kontingenter Natur, zwischen wahren und falschen Daseinsweisen noch nicht um – vorausgesetzt nur, daß die Unterscheidung aus einer logischen Analyse der empirischen Situation hervorgeht und deren Potential wie Kontingenz versteht.

Für den Platon der späteren Dialoge und für Aristoteles sind die Seinsweisen Weisen der Bewegung – Übergang von Potentialität in Aktualität, Verwirklichung. Endliches Sein ist unvollkommene Verwirklichung, dem Wandel unterworfen. Sein Entstehen ist Verfall; es ist von Negativität durchdrungen. Daher ist es keine wahre Wirklichkeit – keine Wahrheit. Das philosophische Forschen schreitet von der endlichen Welt fort zur Konstruktion einer Wirklichkeit, die der schmerzhaften Differenz von Potentialität und Aktualität nicht unterworfen ist, ihre Negativität bezwungen hat und vollkommen und unabhängig in sich ist – frei.

Diese Entdeckung ist das Werk von Logos und Eros. Diese beiden Schlüsselbegriffe bezeichnen zwei Weisen der Negation; die erotische wie die logische Erkenntnis durchbrechen die Gewalt der bestehenden, kontingenten Wirklichkeit und streben nach einer mit ihr unvereinbaren Wahrheit. Logos und Eros sind subjektiv und objektiv zugleich. Der Aufstieg von den "niederen" zu den "höheren" Formen der Wirklichkeit ist ebenso Bewegung der Materie wie des Geistes. Nach Aristoteles zieht die vollkommene Wirklichkeit, Gott, die Welt unten an; er ist die Endursache allen Seins. Logos und Eros sind in sich die Einheit des Positiven und Negativen, Schöpfung und Zerstörung. In der Strenge des Denkens und in der Narrheit der Liebe liegt die zerstörische Absage an die bestehenden Lebensformen. Die Wahrheit gestaltet die Weisen des Denkens und Daseins um. Vernunft und Freiheit konvergieren.

Diese Dynamik hat jedoch insofern ihre immanenten Schranken, als der antagonistische Charakter der Wirklichkeit, ihr Auseinanderbrechen in wahre und unwahre Daseinsweisen, ein unwandelbarer ontologischer Sachverhalt zu sein scheint. Es gibt Daseinsweisen, die niemals "wahr" sein können, weil sie niemals in der Verwirklichung ihrer Potentialitäten, in der Seligkeit des Seins zur Ruhe gelangen können. In der menschlichen Wirklichkeit ist damit alle Existenz, die sich darin erschöpft, die Vorbedingungen des Daseins herbeizuschaffen, ein "unwahres" und unfreies Dasein. Offenkundig reflektiert dies den keineswegs ontologischen Sachverhalt einer Gesellschaft, die auf der Behauptung beruht, daß Freiheit mit der Tätigkeit, das Lebensnotwendige herbeizuschaffen, unverträglich ist, daß diese Tätigkeit die "natürliche" Funktion einer besonderen Klasse ist und daß Erkenntnis der Wahrheit und wahres Dasein die Freiheit von der gesamten Dimension einer solchen Tätigkeit einschließen. Das ist allerdings die vor- und antitechnische Konstellation par excellence.

Die wirkliche Trennungslinie zwischen vortechnischer und technischer Rationalität ist indessen nicht die zwischen einer auf Unfreiheit und einer auf Freiheit beruhenden Gesellschaft. Die Gesellschaft ist immer noch derart organisiert, daß das Herbeischaffen des Lebensnotwendigen die gesamte Zeit und lebenslängliche Beschäftigung besonderer sozialer Klassen ausmacht, die infolgedessen unfrei und an einem menschlichen Dasein gehindert sind. In diesem Sinne gilt die klassische Behauptung, nach der Wahrheit mit Versklavung an gesellschaftlich notwendige Arbeit unvereinbar ist, noch immer.

Das klassische Konzept schließt die Behauptung ein, daß Denk- und Redefreiheit ein Klassenvorrecht bleiben müssen, solange diese Versklavung herrscht. Denn Denken und Sprache sind die eines denkenden und sprechenden Subjekts, und wenn dessen Leben vom Verrichten einer auferlegten Funktion abhängt, hängt es davon ab, daß es den Erfordernissen dieser Funktion nachkommt – und damit von denen, die diese Erfordernisse kontrollieren. Die Demarkationslinie zwischen dem vortechnischen und dem technischen Entwurf besteht vielmehr in der Art, wie die Unterordnung unter die Lebensnotwendigkeiten – die, "seinen Lebensunterhalt zu verdienen" – organisiert ist sowie in den neuen Weisen von Freiheit und Unfreiheit, Wahrheit und Falschheit, die dieser Organisation entsprechen.

Wer ist nach der klassischen Konzeption das Subjekt, das die ontologische Beschaffenheit von Wahrheit und Unwahrheit begreift? Es ist der Herr der reinen Kontemplation (theoria) und der Herr einer von Theorie geleiteten Praxis, das heißt der Philosoph als Staatsmann. Zwar ist die Wahrheit, die er kennt und auslegt, potentiell jedermann zugänglich. Vom Philosophen geführt, ist der Sklave in Platons Menon imstande, die Wahrheit eines geometrischen Axioms zu erfassen, das heißt eine Wahrheit jenseits von Wandel und Verfall. Aber da Wahrheit ebenso ein Zustand des Seins wie des Denkens ist und sich in diesem jenes ausdrückt und manifestiert, bleibt der Zugang zur Wahrheit bloße Potentialität, solange der Mensch nicht in und mit der Wahrheit lebt. Diese Daseinsweise aber ist dem Sklaven verschlossen – und jedem, der sein Leben damit zubringen muß, für das Lebensnotwendige zu sorgen. Deshalb wäre Wahrheit und ein wahres menschliches Dasein in einem strengen und realen Sinne allgemein, wenn die Menschen ihr Leben nicht mehr im Reich der Notwendigkeit zuzubringen hätten. Philosophie faßt die Gleichheit der Menschen ins Auge, unterwirft sich aber zur selben Zeit der faktischen Verweigerung der Gleichheit; denn in der gegebenen Wirklichkeit ist das Besorgen des Notwendigen die lebenslängliche Beschäftigung der Mehrheit, und das Notwendige muß besorgt und befriedigt werden, damit Wahrheit (die Freiheit von materiellen Notwendigkeiten ist) sein kann.

Hier hemmt und verzerrt die historische Schranke das Suchen nach Wahrheit; die gesellschaftliche Arbeitsteilung erlangt die Würde einer ontologischen Beschaffenheit. Wenn Wahrheit Freiheit von harter Arbeit voraussetzt und wenn diese Freiheit in der gesellschaftlichen Realität das Vorrecht einer Minderheit ist, dann gestattet die Realität eine solche Wahrheit nur annähernd und nur einer privilegierten Gruppe. Dieser Zustand widerspricht dem allgemeinen Charakter der Wahrheit, die nicht nur ein theoretisches Ziel festlegt und "vorschreibt", sondern das beste Leben des Menschen qua Mensch, im Hinblick auf das Wesen des Menschen. Für die Philosophie ist der Widerspruch unlösbar oder erscheint deshalb nicht als Widerspruch, weil diese Philosophie über die Struktur der Sklaven- oder Leibeigenengesellschaft nicht hinausgeht. Damit läßt sie die Geschichte hinter sich, unbeherrscht, und erhebt die Wahrheit unversehrt über die geschichtliche Wirklichkeit. Dort bleibt die Wahrheit intakt, nicht als Leistung des Himmels oder im Himmel, sondern als Leistung des Denkens – intakt, weil sie ihrem ganzen Begriff nach die Einsicht ausdrückt, daß jene, die ihr Leben dem Broterwerb hingeben, außerstande sind, ein menschliches Dasein zu führen.

Der ontologische Begriff der Wahrheit steht im Zentrum einer Logik, die als ein Modell für vortechnische Rationalität dienen kann. Es ist die Rationalität eines zweidimensionalen Universums der Sprache, das im Gegensatz zu den eindimensionalen Denk- und Verhaltensweisen steht, die sich mit der Ausgestaltung des technischen Entwurfs entwickeln.

Aristoteles gebraucht den Terminus "apophantischer Logos", um einen besonderen Typ von Logos (Sprache, Mitteilung) hervorzuheben – den, der Wahrheit und Falschheit aufdeckt und in seiner Entwicklung durch den Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit bestimmt wird (De Interpretatione, 16b-17a). Er ist die Logik des Urteils, aber im emphatischen Sinne eines (richterlichen) Rechtsspruchs: p wird S zugesprochen, weil und sofern es zu S gehört, als eine Eigenschaft von S; oder p wird S abgesprochen, weil und sofern es nicht zu S gehört; usw. Von dieser ontologischen Basis schreitet die Aristotelische Philosophie fort zur Begründung der "reinen Formen" aller möglichen wahren (und falschen) Aussagen; sie wird die formale Logik der Urteile.

Als Husserl die Idee einer Aussagenlogik wiederbelebte, betonte er ihre ursprünglich kritische Intention. Und er sah diese eben in der Idee einer Logik der Urteile – das heißt in der Tatsache, daß das Denken es nicht direkt mit dem Seienden selbst, sondern vielmehr mit "Prätentionen", mit Aussagen über das Seiende zu tun hat.

Husserl sieht in dieser Orientierung an Urteilen eine Beschränkung und ein Vorurteil hinsichtlich der Aufgabe und Reichweite der Logik.

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