Auszüge aus Robert-Vincent Joule's & Jean-Léon Beauvois'
"Kurzer Leitfaden der Manipulation"

Zum Gebrauch für ehrbare Leute

Jean-Léon Beauvois (geb. 1943). Sozialpsychologe an der Universität für Sozialwissenschaften in Grenoble. Robert-Vincent Joule (geb. 1948). Sozialpsychologe an der Université de Provence. Beide Autoren legten zahlreiche Veröffentlichungen zu ihren Untersuchungen auf dem Gebiet der Sozialpsychologie vor. Es gibt zwei wirkungsvolle Arten, die eigenen Interessen durchzusetzen: Ausübung von Macht oder Manipulation. Wer nicht über ausreichend Macht verfügt – und das sind die allermeisten –, für den spielt Manipulation eine um so bedeutendere Rolle. Die beiden Autoren zeigen anhand von Experimenten, auf welche Weise wir von anderen manipuliert werden, selbst andere manipulieren und nicht zuletzt uns selbst manipulieren. Menschliche Kommunikation und Entscheidungsfindung erscheint in einem System der Manipulationen, und so stellt sich letztlich die Frage, ob der freie Wille und die freie Entscheidung mehr sind als eine Illusion.

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Einführung

Stellen Sie sich vor, Sie spazieren über den Boulevard Paul Vaillant-Couturier und brauchen einen Franc zum Telefonieren. Wenn es Ihnen gelingt, jene falsche Scham zu überwinden, die uns manchmal daran hindert, daß wir uns in Schwierigkeiten an andere wenden, so bitten Sie vielleicht den erstbesten Passanten um die Münze. Sie riskieren, enttäuscht zu werden und den anderen ziemlich wenig hilfsbereit zu finden. Hätten Sie hingegen, statt um einen Franc zu bitten, nach der Uhrzeit gefragt, hätte man Ihnen ohne Zweifel sofort Auskunft gegeben. Darum befolgen Sie einfach diesen Ratschlag: Fragen Sie zuerst nach der Zeit. Die Auskunft wird man Ihnen nicht verweigern können. Sagen Sie dann, ehe der Befragte eine Kehrtwendung macht, daß Sie telefonieren müßten und dazu einen Franc brauchten. Wir können Ihnen versichern, daß Sie bei einem solchen Vorgehen weniger Gefahr laufen, vom Egoismus Ihrer Mitmenschen enttäuscht zu werden.

Ein amerikanischer Wissenschaftler (Harris, 1972) hat die Effizienz dieser beiden Vorgehensweisen verglichen. Wenn das Anliegen vor amerikanischen Städtern direkt formuliert wurde, war nur jeder Zehnte bereit, einen Dime, das Äquivalent eines Francs, herzugeben; die Erfolgsquote vervierfachte sich, wenn zuvor nach der Uhrzeit gefragt worden war. Wissenschaftler, die solche Experimente durchführen, sind normalerweise nicht auf Kleingeld angewiesen. Wir können sogar darauf wetten, daß sie den Spaziergängern das Geld, welches sie ihnen für wissenschaftliche Zwecke abnötigen, zurückgeben ... Sozialpsychologen führen diese Experimente durch, um die Gültigkeit ihrer Überlegungen zu beweisen. Indessen stellen sie damit auch eine Technik bereit, die Sie täglich nutzen können, um von jemandem etwas zu erreichen, was auf direktem Wege nicht erreichbar wäre, zumindest nicht mit solcher Leichtigkeit. Von jemandem zu verlangen, daß er ein Verhalten an den Tag legt (in unserem Falle einen Franc gibt), dem er sich lieber entzogen hätte, das ist, um die Dinge beim Namen zu nennen, Manipulation. Ist es nicht eine Form von Manipulation, beispielsweise Frau O. dahin zu bringen, daß sie zwei Korkenhalter, sechs Serviettenringe und ein Dutzend stapelbare Aschenbecher bestellt, was ihr niemals in den Sinn gekommen wäre, wenn sie nicht die Teilnahmekarte am Großen Supergewinnspiel des Versandhauses Wühlwelt ausgefüllt hätte, bei dem dieses Jahr ein toller Scheck über 50 Millionen, ein KW 13 (neuestes Modell) und eine Woche Ferien an den dolmatischen Stränden verlost werden?

In der unzureichend bekannten experimentellen Sozialpsychologie stößt man auf eine beträchtliche Zahl von Forschungen, in denen Wissenschaftler aus verschiedenen Gründen Leute dazu brachten, sich in aller Freiheit anders zu benehmen, als sie dies spontan getan hätten. Dazu nutzten sie manipulatorische Techniken. Die eben erwähnte Untersuchung von Harris ist nur ein Beispiel unter vielen. Und diese Untersuchungen sind so spannend, weil sie unser tägliches Leben direkt berühren. Tatsächlich gibt es im Grunde nur zwei wirkungsvolle Arten, jemanden zu bewegen, das zu tun, was wir ihn tun sehen möchten: Ausübung von Macht (bzw. Gewaltanwendung) oder Manipulation.

Der erste Weg wird gern als der natürliche angesehen. Gemeinhin findet es ein Büroangestellter normal, das zu erledigen, was sein Abteilungsleiter von ihm verlangt, und ein Student wird den Forderungen seiner Lehrkräfte nachkommen. Nach demselben Prinzip wird eine Geisel unter Gewaltandrohung eine Lobeshymne auf ihre Entführer verfassen. In solchen Fällen erreicht man etwas vom anderen, weil man über Macht oder über Druckmittel oder aber über beides verfügt. Die "unterworfene" Person ist sich der Existenz einer Macht- oder Gewaltsituation bewußt, selbst wenn sie die erhobenen Forderungen schließlich als gerechtfertigt empfindet oder die Arbeit, die man von ihr erwartet, als interessant bewertet. Den psychischen Prozeß, der Menschen dazu bringt, ein Verhalten als legitim anzuerkennen, das ihnen durch den Gebrauch von Macht aufgenötigt wurde, haben wir in einem früheren Werk als Rationalisierung bezeichnet (Beauvois und Joule, 1981). In vergleichbaren Situationen wird der Machtgebrauch von beiden Seiten als solcher erlebt.

Unglücklicherweise hat nicht jeder genügend Macht oder die nötigen Druckmittel, um von anderen das Erwünschte zu erlangen. Grämliche Zeitgenossen werden sogar vorbringen, daß nur eine Minderheit darüber verfüge. Bedeutet dies, daß die überwiegende Mehrheit der Menschen von niemandem etwas erwartet? Bestimmt nicht. Häufiger als geglaubt wünschen wir, daß Menschen, denen gegenüber wir weder Macht noch Druckmittel zur Verfügung haben, sich auf bestimmte (und für uns vorteilhafte) Weise verhalten. Es kann sogar passieren, daß wir möchten, unser Chef benähme sich ganz gegen seine Gewohnheiten. Natürlich könnte man sich mit einer simplen Bitte begnügen, sich also den Wagnissen von Argumentation oder Verführungskraft aussetzen. Aber wir müssen anerkennen, daß diese Argumentations- oder Verführungsstrategien bestimmte Kompetenzen oder ganz gewisse persönliche Reize erfordern. Argumentieren ist jedoch eine schwierige Kunst und verführt nicht jeden. Im übrigen ist wohlbekannt, daß die für Überzeugung und Verführung notwendigen Kompetenzen und Eigenschaften meist wiederum zu den Privilegien herausgehobener sozialer Positionen gehören. Wenn ein dickbäuchiger Generaldirektor einen oder eine seiner Unterstellten überzeugt oder verführt, ist das nichts Besonderes; der umgekehrte Fall ereignet sich schon seltener. Folglich sind Argumentation und Verführung für den Mann von der Straße nicht die sichersten Mittel, um zum Ziel zu gelangen.
Was also tun, wenn nicht manipulieren? Manipulation bleibt tatsächlich die letzte Zuflucht für Leute ohne Macht. Sie besitzt außerdem den Vorzug, nicht als solche zu erscheinen, und beläßt den anderen im Gefühl seiner Freiheit. Das ist weniger nebensächlich, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wir möchten wetten, daß die amerikanischen Spaziergänger, die erst die Uhrzeit mitteilten und dann einen Dime gaben, nicht das Gefühl hatten, zum Objekt eines unerträglichen Angriffs auf ihre Entscheidungsautonomie geworden zu sein. Vermutlich hat keiner von ihnen daran gedacht, daß jene einfache Tatsache, die Uhrzeit genannt zu haben, sie wenig später bewogen hat, ihre Freigebigkeit unter Beweis zu stellen. Die Menschen unterwerfen sich also – denn sie handeln so, wie es andere für sie entschieden haben –, aber ihre Unterordnung geschieht aus freien Stücken. Und ein jeder ist zufriedengestellt, Manipulateur und Manipulierter. Selbst wenn sie nicht die glückliche Gewinnerin des Großen Supergewinnspiels bei Wühlwelt ist, wird Frau O. immer noch zufrieden sein, nunmehr über einen eleganten Korkenhalter zu verfügen, über sechs feinziselierte Serviettenringe und über jene zwölf stapelbaren Aschenbecher, die ihre Freunde so lustig finden. Wahrscheinlich wird sie sogar glauben, ein Schnäppchen gemacht zu haben. Der Vertriebschef von Wühlwelt hingegen wird entzückt sein, Frau O. zu seinen neuen Kunden zählen zu dürfen. Solange sie nicht als solche erkannt wird, stellt die Manipulation wirklich alle Welt zufrieden!

Auch darum wird wohl seit Jahrzehnten Personen in Machtpositionen beigebracht, wie man die Ausübung dieser Macht durch Techniken verfeinert, hinter denen sich bei Lichte besehen Manipulation verbirgt. Wenn weder der Rückgriff auf demokratische Weisungsformen in der Werkhalle noch die Einführung von Methoden der Gruppenentscheidung noch die Schaffung von Qualitätszirkeln – wenn all diese Wundermittel modernen Managements es nicht vermochten, den Funktionsmechanismus von Unternehmen grundlegend zu verändern, dann könnte es vielleicht daran liegen, daß sich die Leute letztendlich meist "entscheiden", genau das zu tun, was man ihnen bislang zu tun vorgeschrieben hatte?
Ein mit uns befreundeter Seminarleiter gestand uns, daß er zwei verschiedene Argumentationsweisen benutze, um seine Fortbildungslehrgänge Führungskräften der oberen beziehungsweise der unteren Ebene schmackhaft zu machen. Den Meistern bot er an, sie zu menschlicheren und den neuartigen Motivationen der Arbeiter angemesseneren Weisungsformen zu führen, die der Eigenverantwortung mehr Freiraum ließen. Ganz anders sah seine Argumentation der Betriebsleitung gegenüber aus. Hier schlug er eine Art des Umgangs mit dem menschlichen Potential vor, von der er garantieren konnte, daß sie das Verhalten der Unterstellten nicht wesentlich veränderte, den Leuten jedoch das Gefühl vermittelte, selber entschieden zu haben, was sie tun. So wäre die Funktionsweise eines Unternehmens am besten zu stabilisieren.
Die Pädagogen haben, was solch ein Treiben angeht, uns gegenüber einigen Vorsprung. Überlegen sie nicht seit Jahrhunderten, wie man am besten Lehrstoff vermittelt, den die soziale Entwicklung des Wissens, der Technik und der Sitten erfordert (sofern es sich nicht ganz trivial um Stoff handelt, den die Lehrpläne uns aufzwingen)?
Wer Macht ausübt, borgt also gern bei der Manipulation. Diese beschränkt sich nicht, wie man allzu häufig vorgibt, auf heimtückische Praktiken von Individuen, mit denen man nichts zu tun haben will: unehrliche Vertreter, windige Advokaten oder skrupellose Politiker. Ohne viel Aufhebens davon zu machen, untersuchen die Sozialpsychologen seit dem Zweiten Weltkrieg Manipulationstechniken, die ein jeder bewußt oder unbewußt im täglichen Leben anwendet, gleich ob er Verkäufer, Pädagoge, Erziehungsberechtigter, Verfechter einer Idee, Betriebsleiter oder Bettler ist. Es schien uns interessant und nützlich, diese kleine Abhandlung über Manipulation Lesern, die keine Fachleute auf diesem Gebiet sind, vorzulegen. Im übrigen ist es nicht ausgeschlossen, daß auch Fachleute auf ihre Kosten kommen werden. Es ist bestimmt keine Schande, begreifen zu wollen, wie und weshalb gewisse Techniken es gestatten, von anderen Menschen etwas zu erreichen. Gehört nicht sogar ein wenig Prüderie dazu, den Blick von einem Forschungsfeld abzuwenden, das so eng mit dem Alltag verbunden ist?

In der Überzeugung, daß die meisten ehrbaren Leute nicht so schamhaft sind, sei dieser kurze Leitfaden an drei Gruppen von Lesern gerichtet (sofern es eine vierte überhaupt gibt):

1. Er wendet sich zunächst an jene Leser, denen der Begriff Manipulation nicht den geringsten Schrecken einjagt. Sie wissen, daß Manipulation für Menschen ohne Macht oft der einzige Weg ist, um ans Ziel zu gelangen. Wahrscheinlich wissen sie ebenfalls, daß Manipulation zwar dazu führen kann, daß Frau O. bei Wühlwelt etwas bestellt oder daß ihr Arbeitstakt beschleunigt wird, daß man sich aber mit ihrer Hilfe auch der Machtausübung entgegenstellen kann, wenn diese exzessiv wird oder niemandem mehr nützt. Ihnen ist klar, daß der Verzicht auf Manipulation mitunter bedeutet, auf die Wirksamkeit einer kämpferischen Aktion zu verzichten oder sogar jeder Hoffnung auf Veränderung zu entsagen. Diese Leser werden es womöglich schätzen, in unserem kurzen Leitfaden einige Hilfsmittel vorzufinden und ihre Implikationen zu verstehen.

2. Weiterhin richtet sich das Buch an jene, denen der Begriff Manipulation eine Gänsehaut macht. Sie glauben sicher, daß der Gebrauch von Macht, wenn man über welche verfügt, die einzig legitime Weise sei, von anderen etwas zu erlangen. Der Rest der Welt habe sich an die aufwendigen und zufallsbestimmten Strategien der Überzeugung und Verführung zu halten. Wenn diese Leser nicht ohnehin nach dem Vorbild großer Humanisten meinen, der beste Weg, vom anderen etwas zu bekommen, bestehe darin, ihn zum Nachdenken zu bringen, damit er schließlich von selbst entdeckt, daß er nichts Besseres zu tun hat, als mir eine Freude zu bereiten. Auch für solche Leser kann sich diese Abhandlung als höchst nützlich erweisen. Sie können aus ihr lernen, wie man sich vor Manipulation schützt und welche Vorsichtsmaßnahmen sie ergreifen müssen, um nicht versehentlich andere zu manipulieren, wenn sie Machtpositionen innehaben.

3. Schließlich sei das Werk an jene gerichtet, denen der Begriff Manipulation gleichgültig ist, die aber das Verhalten und die Psyche der Menschen verstehen möchten. Sie werden sich zum Beispiel fragen, weshalb so viele Leute bereit sind, sich eine teure Küchenmaschine anzuschaffen, ohne die sie genauso gut ausgekommen wären, oder eine vielbändige Enzyklopädie zu kaufen, die niemand lesen wird. Sie werden sich auch fragen, weshalb sie der Person, die vorgestern an ihrer Haustür die Sache der Blinden vertreten hat, Geld gaben oder weshalb sie gestern drei Stunden ihrer Freizeit einer nutzlosen Weiterbildung opferten. Diesen Lesern wird die Kenntnis von Manipulationstechniken einige neue und vielleicht unerwartete Antworten liefern.

Entscheidungsfallen

Haltet den Dieb!

Donnerstags ist Frau O. gewöhnlich allein. In der warmen Jahreszeit geht sie in ihren freien Stunden oft an den Strand von San Valentino. Sie liebt es, nachdem sie ausgiebig gebadet hat, auf der Terrasse eines kleinen Restaurants am Meer Muscheln zu essen. An diesem besonders warmen und sonnigen Junidonnerstag sehen wir sie also ihren Gewohnheiten nachgehen. Der Tag verspricht wundervoll zu werden: wenig Betrieb am Strand, eine leichte Brise, herrlich klares Wasser. Dicht neben ihr hört ein junges Mädchen, das Ohr am Transistorradio, Musik. Frau O. ist jetzt nach einer Abkühlung zumute. Nachdem sie ein Viertelstündchen geschwommen ist und sich wieder auf ihrem Badetuch ausgestreckt hat, wird sie Zeugin einer Szene, wie sie sich leider allzuoft an den dolmatischen Stränden abspielt. Ihre Nachbarin, die sich wahrscheinlich gerade im Meer erfrischt, hat das Radio unbeaufsichtigt gelassen, und nun fummelt ein Unbekannter daran herum. Er sucht offenbar einen anderen Sender. Der Mann ist um die Dreißig und gibt sich sehr selbstsicher. Ein verstohlener Blick in die Runde, und schon entfernt er sich langsamen, doch bestimmten Schrittes, das Objekt seiner Begierde unterm Arm. Frau O. ist von dieser Szene nichts entgangen, und gewiß sind auch andere Strandbesucher auf sein Treiben nicht hereingefallen. Dennoch hat niemand reagiert. Frau O. zuckt die Schultern und zündet sich nervös eine Zigarette an. "Also wirklich", sagt sie sich, "heutzutage kann man nicht mal mehr in Ruhe baden gehen!"
19.00 Uhr. Frau O. ist rechtzeitig gekommen, um einen der Tische zu ergattern, an denen man mit Blick aufs Meer speisen kann. Die Terrasse des Restaurants füllt sich allmählich. "Entschuldigen Sie bitte." Die junge Frau, die sich an Frau O. wendet, hat einen starken ausländischen Akzent.

"Ich muß telefonieren gehen; würden Sie bitte meinen Koffer im Auge behalten?" Das kann Frau O. natürlich nicht ablehnen.

"Aber selbstverständlich, gern", antwortet sie mechanisch, fast ohne die Nase aus ihrem Dutzend Austern zu heben.

Keine fünf Minuten später beginnt sich Frau O. über das Gebaren eines Individuums zu beunruhigen, das sich gerade neben dem Koffer niedergelassen hat. Ihre Unruhe ist nicht unbegründet. Mag er auch noch so eine unschuldige Miene zur Schau stellen, ist er jetzt doch aufgestanden, den Koffer in der Hand!

"Haltet ihn!" kann sie nicht umhin zu schreien, und sie springt los, um den Dieb zu verfolgen.

Man wird sich wahrscheinlich wundern, weshalb dieselbe Person kurz hintereinander in zwei ähnlichen Situationen, bei zwei gleichgelagerten Delikten, auf so unterschiedliche Weise reagiert. Einmal wohnt sie der Szene passiv bei, beim zweiten Mal jedoch greift sie mit Nachdruck und Entschlossenheit ein. Es gibt nur zwei Erklärungen: entweder fehlt es Frau O. an Beständigkeit in ihren Handlungen, oder aber die eben erzählte Geschichte ist ohne jede Glaubwürdigkeit. Tatsächlich wird gern behauptet, daß die Leute unabhängig von den Umständen ein konsistentes Verhalten hätten. Um sich davon zu überzeugen, muß man sich nur anschauen, wie Psychologen den Begriff der Persönlichkeit definieren: Persönlichkeit wird als ein Konzept aufgefaßt, das verständlich macht, weshalb sich verschiedene Menschen in derselben Situation unterschiedlich verhalten (indem sie etwa eingreifen, um einen Dieb zu fangen, oder es unterlassen) und warum jemand dazu tendiert, in vergleichbaren Situationen dasselbe Verhalten zu zeigen.

So hätte man erwarten müssen, daß Frau O., nachdem sie dem Diebstahl am Strand passiv zugeschaut hat, sich im Restaurant ebenso verhält. Und jemand, der die lebhafte Reaktion von Frau O. im Restaurant beobachtet hat, wäre erstaunt gewesen zu erfahren, daß dieselbe Person einige Stunden zuvor am Strand seelenruhig und gleichgültig dem Diebstahl eines Radios beiwohnte.

Es stimmt schon, daß dieser Begriff der Verhaltenskonsistenz uns das Leben sehr erleichtert. Gestattet er uns nicht, aus der Kenntnis des vergangenen Verhaltens von Personen nützliche Voraussagen über ihr künftiges Tun zu treffen?

So wird man ohne Zögern wieder auf die guten Dienste des Treppennachbarn zurückgreifen, der sich letzte Woche so liebenswürdig um unseren Hund gekümmert hat. Man wird sich aber hüten, den Mieter aus dem ersten Stock noch einmal um etwas zu bitten, der sich neulich unter Vorspiegelung eines Hexenschusses weigerte, beim Heruntertragen der Waschmaschine mit anzupacken.

Auf eben diesem Begriff der Verhaltenskonsistenz beruhen im übrigen die Einstellungspraktiken von Unternehmen. Wenn sich ein Arbeitgeber gewöhnlich über die bisherige berufliche Führung eines Kandidaten für einen Leitungsposten informiert, dann selbstverständlich, um daraus zu schließen, inwiefern dieser auf seiner neuen Stelle ein effizienter Mitarbeiter sein wird. Und wenn ein Psychologe in einem Auswahlbüro die Art und Weise beobachtet, wie ein Kandidat im Sessel sitzt oder wie er die Fragen beim Vorstellungsgespräch beantwortet, geschieht das ebenso, um seine Reaktionen in konkreten Arbeitssituationen vorauszusagen.

Die soziale Tragweite dieser Beispiele wird niemandem entgehen. Sie illustrieren, in welchem Maße es für denjenigen, der das Verhalten von Menschen vorhersagen oder einfach verstehen will, nützlich ist, auf das Prinzip der Verhaltenskonsistenz zurückzugreifen. Man begreift jetzt leichter, welche Verwirrung uns erfaßte, als wir feststellten, mit welcher Leichtigkeit Frau O. von diesem Konsistenzprinzip abgewichen war. Die Unbeständigkeit in ihrem Verhalten darf trotzdem nicht als Tatsache betrachtet werden, die nur für einen Ausnahmefall zuträfe, für jemanden, dessen Treiben anders wäre als das aller Welt. Tatsächlich existieren heute unzählige Studien, die die Schwierigkeit, ja vielleicht die Unmöglichkeit aufzeigen, das Verhalten einer Person in einer gegebenen Situation vorauszusagen, wenn man von ihrem Verhalten in einer früheren gleichartigen Situation oder selbst von ihren Einstellungen oder ihrer Persönlichkeit ausgeht. Will man beispielsweise voraussagen, ob ein Gastwirt Kunden anderer Hautfarbe bedienen wird oder nicht, müßte man, wenn der Mensch "konsistent" wäre, sich auf mindestens drei Typen von Informationen stützen können:

1. Informationen, die sein früheres Verhalten betreffen (im Bus hat er seinen Platz nicht für eine schwangere Chinesin frei gemacht);

2. Informationen über seine Einstellungen (er ist Rassist);

3. Informationen über seine Persönlichkeit (er ist autoritär und starrsinnig).

Nun geht aber aus zahlreichen Beobachtungen und Experimenten klar hervor, daß sich Prognosen, die man auf Grundlage dieser drei Informationstypen abgeben kann, beinahe so selten bewahrheiten wie Voraussagen, die man trifft, wenn überhaupt nichts bekannt ist.

Die Forscher enthüllen uns also, wie riskant es wäre, das Verhalten von Frau O. um 19.00 Uhr auf der Restaurantterrasse vorherzusagen, indem wir ihre Reaktion um 16.00 Uhr beim Diebstahl am Strand mit ins Spiel bringen. Das soll nicht heißen, daß die Idee der Verhaltenskonsistenz schlichtweg verworfen wird – dazu ist sie zu zwingend –, ja nicht einmal, daß sie in Frage gestellt wird. Man könnte vorbringen, daß diese Konsistenz Realität ist, aber daß sie sich nur auf der Basis eines umfangreichen Ensembles von Verhaltensweisen erfassen läßt. Sie könnte erst aufscheinen, wenn wir über die Art und Weise Bescheid wüßten, in der sich Frau O. in einem guten Dutzend ähnlicher Situationen verhalten hat. Dann vielleicht könnten wir konstatieren, daß Frau O. dazu neigt, bei einem Diebstahl ein wenig öfter als die einen, aber etwas seltener als andere Leute einzugreifen.

Es bleibt eine Tatsache, daß Frau O. innerhalb weniger Stunden zweierlei inkonsistente Verhaltensweisen gezeigt hat, und dies muß begründet werden können. Bekanntlich bemühen manche Psychologen zur Erklärung solcher Inkonsistenzen gern den Begriff der Verhaltensspezifizität, der die Abhängigkeit eines Verhaltens von einer gegebenen Situation kennzeichnet. Aber diese Spezifizität muß dennoch genauer bestimmt werden können. In dem Fall, der uns beschäftigt, hat zumindest eine der beiden Reaktionen von Frau O. ihren Ursprung in der Situation, in die sie sich gestellt sah. Wir wissen auch welche, und aus Gründen, die einleuchtend scheinen: wenn Frau O. im Restaurant eingegriffen hat, dann nicht, weil ihr Temperament oder ihre Wertvorstellungen sie zu solchem Handeln getrieben hätten, sondern ganz einfach, weil sie engagiert worden war, es zu tun.

Diese Erklärung scheint auf der Hand zu liegen; dennoch ist sie nicht so trivial, wie man annehmen könnte. Untersucht man beide Situationen aufmerksam, wird man feststellen, daß sie sich lediglich durch ein simples "Ja" unterscheiden, die Antwort auf eine Frage, die schwer mit "Nein" zu beantworten war. Frau O. hat also nicht eingewilligt, den Koffer einen Moment zu beaufsichtigen, weil sie von Dienstfertigkeit durchdrungen wäre, sondern weil sie nicht anders konnte. Wer würde, außer bei schrecklich übler Laune, in ähnlichen Umständen die erbetene Gefälligkeit verweigern? Dies zeigt, daß ein einfaches "Ja", welches man uns beiläufig abnötigt, dazu führen kann, daß wir uns ganz anders benehmen, als wir dies spontan getan hätten.

Es ist wichtig; den objektiven Charakter dieser Situation zu betonen und vor allem scharf zu trennen zwischen dem, was aus der Form zwischenmenschlicher Beziehungen herrührt, und dem, was ihre Logik betrifft.

Vom formalen Standpunkt aus betrachtet, kommt die Bitte an Frau O. im Gewand einer Frage daher ("Würden Sie bitte meinen Koffer im Auge behalten?"). Das könnte man natürlich bejahen oder verneinen. Aus dieser Perspektive ist Frau O. in einer Wahlsituation: sie kann die an sie gerichtete Bitte akzeptieren oder zurückweisen. Nach der Logik zwischenmenschlicher Beziehungen ist die an Frau O. gerichtete Bitte jedoch keine Frage, sondern ein Ersuchen, die Spielart des Befehls im Umgang mit Gleichgestellten, und mehr noch, eines jener Ersuchen, die man schwer zurückweisen kann.

Dieses Zusammentreffen von einer formalen Ebene, die zu einer Entscheidung aufzufordern scheint (zum Ja- oder Nein-Sagen), und einer sozialen Ebene, die das Akzeptieren eines Ersuchens nahelegt, ist charakteristisch für eine Situation, der wir überall in diesem Buch begegnen werden und die wir freiwillige Unterordnung genannt haben. Obgleich Frau O. es so empfinden mag, als hätte sie frei entschieden, den Koffer während der Abwesenheit ihrer Nachbarin zu beaufsichtigen, hatte sie doch keine Wahl, denn ein jeder hätte an ihrer Stelle genauso gehandelt.

Das Beispiel von Frau O. ist nicht unserer bloßen Einbildungskraft entsprungen. Die Quelle der Inspiration findet sich in den Arbeiten eines amerikanischen Wissenschaftlers (Moriarty, 1975), der nicht zögerte, die Akteure seiner Experimente in Situationen zu bringen, die den unseren sehr ähneln.

In einem ersten Versuch hatte sich der Experimentator mit einem Kofferradio neben Badelustigen an einem New Yorker Strand niedergelassen. Bevor er sich entfernte und sein Radio mitten im Sand zurückließ, wandte er sich mit einem der folgenden Sätze an sie. In einem Fall (Engagementsbedingung) sagte er: "Entschuldigen Sie, ich muß für ein paar Minuten weg, könnten Sie bitte auf meine Sachen achten?" Erwartungsgemäß antwortete jeder bejahend auf die Frage. Im anderen Fall (Kontrollbedingung) sagte er: "Entschuldigen Sie, ich bin allein hier und habe keine Streichhölzer ... Hätten Sie vielleicht Feuer für mich?" ...

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