Auszüge aus Erich Fromm's
"Wege zur Befreiung"

Über die Kunst des Lebens

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Es gibt eine ars moriendi, eine Kunst des Sterbens, und eine ars vivendi, eine Kunst des Lebens. Die hier versammelten Texte von Erich Fromm handeln von der Kunst des Lebens. Bücher, die sich der Kunst des Sterbens annehmen, wollen zu einem menschenwürdigen Sterben anleiten. Diese Sammlung will zu einem Leben anleiten, das dem Menschen und seinen psychischen Gegebenheiten gerecht wird. Dem Menschen ist das Leben aufgetragen. Zu leben ist eine Kunst. Wie jede Kunst hat auch die Kunst des Lebens mit Können zu tun. Nur wer auf dem Weg zu einem gekonnten Leben ist, wird auch sterben können und den Tod nicht verleugnen müssen, sondern ihn auch als einen Partner des Lebens begreifen können.

Äußere und innere Befreiung

Das Christentum hat die spirituelle Erneuerung gepredigt und darüber Veränderungen in der Gesellschaftsordnung versäumt, ohne die eine spirituelle Erneuerung für die meisten unerreichbar bleibt.
Das Zeitalter der Aufklärung hat als höchste Normen unabhängiges Urteil und Vernunft postuliert; es hat die politische Gleichberechtigung gepredigt und nicht gesehen, daß man mit der politischen Gleichberechtigung die Brüderschaft aller Menschen nicht verwirklichen kann, wenn sie nicht mit einer fundamentalen Veränderung der sozio-ökonomischen Organisation Hand in Hand geht.
Der Sozialismus und insbesondere der Marxismus hat die Notwendigkeit sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen in den Vordergrund gestellt und dabei die Notwendigkeit einer inneren Wandlung der Menschen übersehen, ohne die ökonomische Veränderungen niemals die „gute Gesellschaft“ herbeiführen können.

Jede dieser großen Reformbewegungen der letzten zweitausend Jahre hat einen Bereich des Lebens unter Ausschluß der anderen herausgestellt. Ihre Reform- und Erneuerungsvorschläge waren radikal – aber das Resultat war fast stets ein völliger Fehlschlag. Die Predigt des Evangeliums führte zur Katholischen Kirche; die Lehren der Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts führten zu Robespierre und zu Napoleon; die Doktrinen von Marx führten zu Stalin. Es hätte auch kaum anders kommen können. (Wege aus einer kranken Gesellschaft, S. 190)

Meiner Meinung nach kommt heute alles darauf an, daß wir die klassische Auffassung von innerer und äußerer Befreiung wiederentdecken und das zweifache Verständnis von Vernunft, das sowohl auf die Natur (in den Wissenschaften) wie auf den Menschen selbst (als Gewahrwerden seiner selbst) Anwendung findet. (Vom Haben zum Sein, S. 21)

Noch redet die Kirche mehr oder weniger nur von innerer Befreiung; die fortschrittlichen politischen Parteien von den Liberalen bis zu den Kommunisten sprechen nur von der äußeren Befreiung. Die Geschichte aber hat klar gezeigt, daß das eine ohne das andere nur zu Ideologien führt und den Menschen abhängig und verkrüppelt zurückläßt. Das einzig realistische Ziel ist die totale Befreiung; dies ist das Ziel des radikalen (oder revolutionären) Humanismus ... (Vom Haben zum Sein, S. 21)

Marx und Freud glauben, daß der größte Teil dessen, was der Mensch bewußt denkt, von Kräften bestimmt wird, die hinter seinem Rücken, das heißt ohne sein Wissen wirken. Daß der Mensch seine Handlungen vor sich selber als rational und moralisch hinstellt, und daß diese Rationalisierungen (falsches Bewußtsein, Ideologie) ihn subjektiv befriedigen. Aber da er von ihm unbekannten Kräften getrieben wird, ist er nicht frei. Er kann Freiheit (und Gesundheit) nur erlangen, wenn er sich dieser ihn motivierenden Kräfte, das heißt der Realität bewußt wird und so sein Leben (innerhalb der von der Realität gesetzten Grenzen) meistern lernt, anstatt der Sklave blinder Kräfte zu sein. (Jenseits der Illusionen, S. 111)

Der Mensch ist eine Einheit, sein Denken, sein Fühlen und seine Lebenspraxis sind untrennbar miteinander verbunden. Er kann in seinem Denken nicht frei sein, wenn er nicht auch emotional frei ist; und er kann emotional nicht frei sein, wenn er in seiner Lebenspraxis, in seinen ökonomischen und sozialen Beziehungen abhängig und unfrei ist.

Wenn man versucht, in einem Bereich unter Ausschluß der anderen radikal voranzukommen, so muß das notwendigerweise zu dem Resultat führen, zu dem es geführt hat, daß nämlich die radikalen Forderungen auf dem einen Gebiet nur von wenigen Menschen erfüllt werden, während sie für die Mehrheit zu leeren Formeln und Ritualen werden, die zur Tarnung der Tatsache dienen, daß sich in den anderen Bereichen nichts geändert hat. (Wege aus einer kranken Gesellschaft, S. 190 f.)

Gier, Habgier und Neid

Die Gier kann auf zweierlei Weise motiviert sein:

1.  durch ein gestörtes physiologisches Gleichgewicht, welches ein gieriges Verlangen nach Essen, Trinken usw. hervorruft. Sobald das physiologische Bedürfnis befriedigt ist, hört die Gier auf, es sei denn, es handelt sich um eine chronische Störung dieses Gleichgewichts;

2.  durch eine Störung des psychologischen Gleichgewichts besonders aufgrund gesteigerter Angst, Einsamkeit, Unsicherheit, Identitätsmangel und dergleichen, eine Störung, die durch die Befriedigung bestimmter Begierden, etwa nach Essen, nach sexueller Befriedigung, nach Macht, Ruhm, Besitz usw. etwas beschwichtigt wird. Diese Art von Gier ist grundsätzlich nicht zu stillen, es sei denn, die Angst usw. des Betreffenden hört auf oder wird stark gemildert. Die erstgenannte Art von Gier ist eine Reaktion auf bestimmte Umstände; die letztgenannte hat ihren Ursprung in der Charakterstruktur. ( Die Revolution der Hoffnung, S. 317)

Funktionales Eigentum ist ein existentielles und aktuelles Bedürfnis des Menschen; institutionalisiertes Eigentum hingegen befriedigt ein pathologisches Bedürfnis, das durch bestimmte sozio-ökonomische Umstände bedingt wird. (Vom Haben zum Sein, S. 135)

Auch wenn der Staat der Eigentümer ist oder wenn gar die Arbeiter einer Fabrik selbst die Eigentümer sind, so kann doch das Eigentum seine Herrschaft über andere an die leitenden Angestellten geben, die die Produktion kontrollieren. Rein funktionales Eigentum zum Beispiel in Form von Gebrauchsgegenständen wurde in Wirklichkeit weder von Marx noch von anderen Sozialisten jemals als Privateigentum betrachtet, das vergesellschaftet werden sollte. Auch spielt es keine Rolle, ob das funktionale Eigentum für jeden gleich bemessen ist. Die Sozialisten hatten auch kein Interesse an der Frage eines gleich bemessenen Eigentums für jeden. In Wirklichkeit ist ein solches Interesse zutiefst in einem Besitzdenken verwurzelt, das Neid erzeugt und jede Art von Ungerechtigkeit vermeiden will, umja keinen Neid aufkommen zu lassen. Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob Eigentum das Tätigsein und die Lebendigkeit eines Menschen fördert oder ob es ihn lähmt und zu Trägheit, Faulheit und Unproduktivität führt. (Vom Haben zum Sein, S. 139)

Zwanghafter Konsum ist nämlich eine Kompensation für Angst. Das Bedürfnis nach dieser Art von Konsum entspringt dem Gefühl der inneren Leere, der Hoffnungslosigkeit, der Verwirrung und dem Streß. Indem man Konsumgüter „in sich aufnimmt“, vergewissert man sich sozusagen, daß „man ist“. Wenn der Konsum eingeschränkt würde, würde viel Angst manifest werden. Der Widerstand gegen eine eventuelle Erregung von Angst führt dazu, daß man nicht bereit ist, den Verbrauch einzuschränken. (Die Revolution der Hoffnung, S. 348)

Der moderne Mensch hat viele Dinge und gebraucht viele Gegenstände, aber er ist sehr wenig. Seine Gefühle, seine Denkvorgänge sind zurückgebildet wie untrainierte Muskeln. Er hat vor allen sozialen Veränderungen Angst, weil jede Störung des gesellschaftlichen Gleichgewichts ihm Chaos oder Tod bedeutet – vielleicht nicht im physischen Sinn, aber doch als das Ende seiner Identität. (Vom Haben zum Sein, S. 126) ...

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