Auszüge aus Erich Fromm's
"Das Menschliche in uns"

Die Wahl zwischen Gut und Böse

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Vorwort

Dieses Buch greift Gedankengänge auf, die in einigen meiner früheren Veröffentlichungen dargestellt worden sind, und versucht, sie weiterzuentwickeln. In Die Furcht vor der Freiheit behandelte ich das Problem der Freiheit sowie den Sadismus, Masochismus und den Zerstörungsdrang; in der Zwischenzeit haben mich sowohl klinische Erfahrungen als auch theoretische Spekulationen zu einem, wie ich meine, tieferen Verständnis der Freiheit sowie der verschiedenen Erscheinungsformen der Aggression und Destruktivität geführt. Ich habe zwischen verschiedenen Aggressionsarten, die direkt oder indirekt im Dienste des Lebens stehen, und jener bösartigen Form, der Nekrophilie, die eine echte Liebe zum Tode ist (im Gegensatz zur Biophilie) unterscheiden können. In Psychoanalyse und Ethik habe ich das Problem ethischer Normen erörtert, die auf unseren Kenntnissen von der menschlichen Natur und nicht auf Offenbarungen und vom Menschen gemachten Gesetzen und Konventionen beruhen. In diesem Buch dringe ich weiter in den Problemkreis ein und behandele das Wesen des Bösen und die Wahl zwischen Gut und Böse. Und schließlich stellt dieses Buch in gewisser Hinsicht das Gegenstück zu "Die Kunst des Liebens" dar. Während dort das Hauptthema die Liebesfähigkeit des Menschen war, so ist es hier seine Fähigkeit zu zerstören, sein Narzißmus und seine inzestuöse Fixierung. Während die Erörterung der Nicht-Liebe den größeren Teil des Buches einnimmt, wird auch das Problem der Liebe behandelt, und zwar in einem neuen, weitergefaßten Sinne: der Liebe zum Leben. Ich versuche nachzuweisen, daß Liebe zum Leben, Unabhängigkeit und Überwindung des Narzißmus ein "Wachstumssyndrom" bilden, im Gegensatz zum "Verfallssyndrom", das aus der Liebe zum Tode, der inzestuösen Symbiose und dem bösartigen Narzißmus erwächst.

Ich bin zur Untersuchung dieses Verfallssyndroms nicht nur auf der Grundlage klinischer Erfahrung sondern auch durch die soziale und politische Entwicklung der letzten Jahre veranlaßt worden. Immer dringender wird die Frage, warum, trotz guten Willens und des vorhandenen Tatsachenmaterials über die Folgen eines Atomkrieges, die Versuche, ihn abzuwenden, nur schwach im Verhältnis zur Größe der Gefahr und der Wahrscheinlichkeit des Krieges geblieben sind, gehen doch atomares Wettrüsten und der Kalte Krieg unvermindert weiter. Diese Sorge hat dazu geführt, das Phänomen der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben in einer Zeit ständig wachsender Mechanisierung und Industrialisierung zu untersuchen, in welcher der Mensch in eine Sache verwandelt wird und in der Folge voller Ängste und in Gleichgültigkeit, ja oft sogar voller Haß dem Leben gegenübersteht. Aber davon abgesehen verlangen die heutige Neigung zur Gewalttat, wie sie sich in der Jugendkriminalität manifestiert, und die Ermordung von John F. Kennedy Erklärung und Verständnis als ersten Schritt auf dem Wege zu einer Änderung der Situation. Die Frage erhebt sich, ob wir uns in Richtung auf eine neue Barbarei bewegen – auch ohne Atomkrieg – oder ob eine Wiedergeburt der humanistischen Tradition möglich ist.

Neben diesen Themen ist es ein Anliegen dieses Buches, das Verhältnis meiner psychoanalytischen Gedankengänge zu Freuds Theorien klarzustellen. Ich habe mich nie damit zufriedengegeben, als Anhänger einer neuen "Schule" der Psychoanalyse zu gelten, mag man diese die "kulturelle Schule" oder "Neo-Freudianismus" nennen. Meiner Ansicht nach haben viele dieser neuen Schulen, trotz Erarbeitung wertvoller Einsichten, viel von den wichtigsten Entdeckungen Freuds eingebüßt. Ich bin gewiß kein "orthodoxer Freudianer". Man kann sagen, daß keine Theorie, die innerhalb der ersten sechzig Jahre nicht abgewandelt wird, noch als die ursprüngliche Theorie gelten kann; sie ist eine versteinerte Wiederholung, und gerade durch die Wiederholung wird sie entstellt. Freuds grundlegende Entdeckungen wurden innerhalb eines ganz bestimmten philosophischen Rahmens konzipiert, nämlich im Rahmen eines mechanistischen Materialismus, der in der Naturwissenschaft zu Beginn des Jahrhunderts viele Anhänger hatte. Ich glaube, daß die Weiterentwicklung von Freuds Gedankengängen einen andersartigen philosophischen Rahmen, nämlich den eines dialektischen Humanismus erfordert. Ich versuche in diesem Buch zu zeigen, daß Freuds größte Entdeckungen, die des Ödipuskomplexes, des Narzißmus und Todesinstinkts, in die Fesseln seiner philosophischen Prämissen gerieten, daß sie aber, losgelöst und in einen neuen Bezugsrahmen gesetzt, ihre große Bedeutung erhalten haben. Ich glaube, daß dieser Rahmen ein humanistischer sein muß, jene paradoxe Mischung aus unnachgiebiger Kritik, kompromißlosem Realismus und rationalem Glauben, der eine fruchtbare Weiterentwicklung Freudschen Gedankengutes ermöglichen wird.

Noch eine Bemerkung: Während die in diesem Buch zum Ausdruck kommenden Gedanken alle das Ergebnis meiner klinischen Arbeiten als Psychoanalytiker (und bis zu einem gewissen Grade als Erforscher sozialer Prozesse) sind, habe ich einen großen Teil der klinischen Dokumentation ausgelassen. Diese Dokumentation ist einem größeren Werke vorbehalten, das sich mit der Theorie und Therapie der humanistischen Psychoanalyse beschäftigen wird. Zum Schluß möchte ich Paul Edwards meinen Dank für seine kritischen Anregungen zu dem Kapitel über Freiheit, Determinismus und Alternativismus zum Ausdruck bringen.

Der Mensch – Wolf oder Schaf?

Es gibt viele, die glauben, daß die Menschen Schafe sind, und es gibt andere, die glauben, daß der Mensch ein reißender Wolf ist. Beide Parteien können ihre Standpunkte mit guten Argumenten untermauern. Diejenigen, die die Menschen für Schafe halten, brauchen nur auf die Tatsache hinzuweisen, daß sich der Mensch leicht dazu bereit findet, die Befehle anderer auszuführen – sogar dann, wenn es für ihn schädlich ist; daß er seinen Führern in den Krieg gefolgt ist und dabei nichts als Vernichtung geerntet hat; daß er jede nur mögliche Art von Unsinn glaubt, wenn er ihm nur mit gehörigem Nachdruck präsentiert und durch die Zurschaustellung von Macht nahegebracht wird – von den rohen Drohungen der Priester und Könige bis zu den leisen Worten verborgener und ebenso oft auch offenkundiger Überredungskünstler. Man gewinnt den Eindruck, daß die meisten Menschen leicht beeinflußbar wie halbwache Kinder und jederzeit bereit sind, ihren Willen demjenigen unterzuordnen, der mit drohendem oder honigsüßem Unterton in der Stimme auf sie einredet. Derjenige, dessen Überzeugungen so stark sind, daß er dem Widerstand der Masse widersteht, ist in der Tat eher die Ausnahme als die Regel, und ein solcher Mensch wird als Ausnahmeerscheinung von späteren Generationen bewundert, von seinen Zeitgenossen jedoch meistens verlacht.

Und gerade diese Unterstellung – nämlich daß die Menschen Schafsnaturen sind – ist es, auf der die Großinquisitoren und Diktatoren ihre Machtsysteme gründen. Und mehr noch: gerade diese Auffassung, daß die Menschen, weil von Natur aus Schafe, Führer brauchen, die ihnen die Entscheidungen abnehmen, hat Führerpersönlichkeiten oft die echte Überzeugung verliehen, eine moralische Pflicht zu erfüllen – mag sie auch gelegentlich tragische Züge tragen – , wenn sie dem Menschen das gaben, was er wollte, d.h. wenn sie dem Menschen die Last der Verantwortung und der Freiheit von den Schultern nahmen.

Wenn aber die meisten Menschen Schafe sind, wie kommt es dann, daß sich das Leben der Menschen derartig von dem der Schafe unterscheidet? Die Menschheitsgeschichte ist mit Blut geschrieben; es ist eine Geschichte unaufhörlicher Gewalttat, in deren Verlauf der Mensch mit Gewalt danach trachtet, sich den Willen seiner Mitmenschen botmäßig zu machen. Hat Talaat Pascha allein Millionen von Armeniern ausgerottet? Hat Hitler allein Millionen von Juden ausgerottet? Hat Stalin allein Millionen von politischen Feinden ausgerottet? Nein, sie töteten nicht allein; sie verfügten über Tausende, die für sie mordeten, für sie folterten und die diese Arbeit nicht nur bereitwillig, sondern sogar mit Vergnügen übernahmen.

Sehen wir die Unmenschlichkeiten des Menschen nicht überall in der rücksichtslosen Kriegsführung, im Mord und in der Vergewaltigung, in der brutalen Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren und in der Tatsache, daß die Seufzer der gepeinigten Kreatur fast immer auf taube Ohren fallen? Aus allen diesen Tatsachen folgerte ein Denker wie Hobbes: homo hommi lupus – der Mensch ist der Wolf seines Mitmenschen; sie überzeugten viele von uns heutzutage, daß der Mensch von Natur aus böse und von Zerstörungswut beseelt ist, daß er ein "Killer" ist, der von seiner Lieblingsbeschäftigung nur durch die Angst vor einem noch größeren "Killer" abgehalten werden kann. ...

Der Narzißmus des Einzelnen und der Gesellschaft

Zu den fruchtbarsten und umfassendsten Entdeckungen Freuds zählt sein Begriff des Narzißmus. Freud selbst hält ihn für eines seiner bedeutsamsten Forschungsergebnisse und zog ihn zum Verständnis ganz bestimmter Erscheinungen wie der Psychose (narzistische Neurose), Liebe, Kastrationsangst, Eifersucht, Sadismus und ebenso zum Verständnis von Massenphänomenen wie der Bereitschaft unterdrückter Klassen zur Treue gegenüber ihren Herrschern heran. In diesem Kapitel möchte ich Freuds Gedankengänge fortsetzen und die Bedeutung des Narzißmus für das Verständnis des Nationalismus, Nationalhasses und der psychologischen Grundlagen von Zerstörungssucht und Krieg untersuchen. ...

Das Ungeborene im Mutterleib lebt noch im Zustande eines absoluten Narzißmus. "Mit der Geburt", schreibt Freud, "haben wir den Schritt von einem absolut selbstgenügsamen Narzißmus zur Wahrnehmung einer sich wandelnden Außenwelt und der beginnenden Entdeckung von Objekten gemacht." Es dauert Monate, bis der Säugling Objekte als solche, als Teil eines "Nicht Ich", überhaupt wahrnehmen kann. Durch zahlreiche Schläge gegen den Narzißmus des Kindes, seine stetig zunehmende Bekanntschaft mit der Außenwelt und ihrer Gesetze, entwickelt der Mensch "notwendigerweise" seinen Narzißmus zur sogenannten "Objektliebe". Doch sagt Freud, "bleibt der Mensch bis zu einem gewissen Grad narzißtisch, auch wenn er bereits außerhalb seiner selbst gelegene Objekte für seine Libido gefunden hat." Ja, man kann die Entwicklung des Einzelnen nach Freud als Evolution vom absoluten Narzißmus bis zur Fähigkeit zu objektiver Vernunft und Objektliebe definieren, einer Fähigkeit jedoch, die über ganz bestimmte Grenzen nicht hinauswachsen kann. Beim "normalen", "reifen" Menschen ist der Narzißmus bis auf ein von der Gesellschaft gerade noch akzeptiertes Minimum zurückgegangen, ohne jedoch ganz zu verschwinden. Freuds Beobachtungen werden durch Erfahrungen des täglichen Lebens bestätigt. ...

Wir wollen die Darstellung des Narzißmus mit zwei extremen Beispielen beginnen: dem "primären Narzißmus" des Neugeborenen und dem Narzißmus des Geisteskranken. Das Neugeborene hat noch keine Beziehungen zur Außenwelt. Oder anders ausgedrückt: Die Außenwelt existiert für das Neugeborene noch nicht, und zwar dergestalt, daß es noch nicht zwischen dem "Ich" und dem "Nicht-Ich" unterscheiden kann. Man könnte auch sagen, daß das Neugeborene noch kein Interesse (inter-esse = darinnensein) an der Außenwelt besitzt. Die einzige Realität, die für das Neugeborene existiert, ist es selbst, sein Körper, seine körperlichen Wahrnehmungen von warm und kalt, Durst, Schlafbedürfnis und körperlicher Berührung.

Der Geisteskranke befindet sich in einer Lage, die sich von der des Neugeborenen nicht wesentlich unterscheidet. Während aber für das Neugeborene die Welt draußen als Realität noch nicht in Erscheinung getreten ist, hat sie für den Irren aufgehört real zu sein. Bei Halluzinationen zum Beispiel haben die Sinne ihre Funktion, äußere Ereignisse zu registrieren, verloren; sie registrieren dagegen das subjektive Erlebnis in Kategorien einer Sinnesreaktion auf außerhalb liegende Objekte. Beim Paranoiden sehen wir denselben Mechanismus am Werk. Angst und Argwohn beispielsweise, die den subjektiven Gefühlsregungen zuzurechnen sind, werden dergestalt objektiviert, daß der paranoide Mensch überzeugt ist, andere wollten ihm etwas zuleide tun. Hier liegt deutlich der Unterschied zum Neurotiker. Der letztere mag zwar ständig fürchten, man hasse und verfolge ihn, doch weiß er immerhin noch, daß es sich hierbei um etwas handelt, was er fürchtet. Für den Paranoiden hat sich diese Furcht bereits in eine Tatsache verwandelt.

Ein besonderer Fall von Narzißmus, der auf der Grenze zwischen geistiger Normalität und Irresein liegt, findet sich zuweilen bei Menschen, die eine außerordentliche Machtfülle erworben haben. Die ägyptischen Pharaonen, die römischen Kaiser, die Borgias, Hitler, Stalin, Trujillo – sie alle weisen ähnliche Züge auf. Sie sind im Besitz absoluter Macht; ihr Wort entscheidet über Leben und Tod; in dem, was sie tun oder lassen, unterliegen sie keinerlei Beschränkungen. Sie sind Halbgötter; nur Krankheit, Alter und Tod können ihnen etwas anhaben. Sie versuchen, dadurch eine Lösung für das Problem der menschlichen Existenz zu finden, daß sie mit verzweifelter Anstrengung über die Grenzen menschlichen Daseins hinauszuwachsen trachten. Sie tun so, als gäbe es keine Grenze für ihre Lüste und ihre Macht; sie schlafen mit zahllosen Frauen, sie töten unzählige Menschen, sie bauen sich Schlösser allerorten, sie greifen nach den Sternen, sie wollen das Unmögliche. Dies ist Wahnsinn, auch wenn es sich um den Versuch handelt, das Daseinsproblem durch die Vorgabe zu lösen, man sei nicht menschlich.

Es ist ein Wahnsinn, der während der Lebensspanne des Betroffenen zu wachsen trachtet. Je mehr er Gott ähnlicher zu sein sucht, desto mehr entfernt er sich von dem Menschengeschlecht; diese Isolierung verstärkt seine Furcht, jedermann wird ihm zum Feind, und um die daraus resultierende Angst zu überstehen, muß er seine Macht, Rücksichtslosigkeit und seinen Narzißmus steigern. Dieser Cäsarenwahn wäre nichts weiter als Irresein, wenn nicht ein weiterer Faktor hinzuträte: mit Hilfe seiner Macht hat Cäsar die Realität zugunsten seiner narzistischen Wahnvorstellungen verbogen. Er fordert jedem das Eingeständnis ab, er sei Gott, der mächtigste und weiseste unter den Menschen – infolgedessen erscheint ihm sein Größenwahn als durchaus vernünftig. Andererseits hassen ihn aber viele und wollen ihn stürzen und töten – infolgedessen wird sein pathologischer Argwohn durch einen Kern von Realität untermauert. Also fühlt er sich von der Wirklichkeit nicht ganz geschieden – infolgedessen bleibt ihm ein kleiner Rest von Klarheit.

Die Psychose stellt einen Zustand des absoluten Narzißmus dar, bei dem der Mensch alle Verbindungen zur Außenwelt abgebrochen und sich selbst an die Stelle der Realität gesetzt hat. Er füllt sich selbst vollkommen aus, er ist vor sich selber "Gott und die Welt" geworden. Mit dieser Erkenntnis hat Freud als erster den Weg für das dynamische Verständnis des Wesens der Psychose geöffnet. ...

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