Auszüge aus Erich Fromm's
"Leben zwischen Haben und Sein"

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„Viele spüren, daß ein Leben, das dem Erfolg, der Konkurrenz, der Ausbeutung dient, in Wirklichkeit ein Leben ist, das die Menschen unglücklich macht“ (Erich Fromm). Warum ist es so schwierig, sich von der Existenzweise des Habens zu verabschieden, dem Konsum zu entgehen und ein Leben zu führen, das wirklich zufrieden macht? Viel Unbewußtes ist im Spiel, wenn Menschen und eine ganze Gesellschaft in eine Fehlform des Lebens hineingeraten. Es kommt darauf an, bewußter zu leben, aufmerksam zu werden für das, was wirklich wesentlich und wichtig ist. Wurzeln zu schlagen und doch frei zu sein: das ist die Kunst, zu sein und die Weisheit eines glücklichen Lebens. Mit vielen bisher unveröffentlichten Texten, die die Alternativen zwischen Haben und Sein noch deutlicher herausstellen. Ein lebenspraktisches Buch, das die Kunst lehrt, tiefer zu leben.

Einleitung

Unser Leben ist ein „Leben zwischen Haben und Sein“. Diese Erfahrung machen viele, die sich von Erich Fromms Alternative „Haben oder Sein“ bewegen und zu einer Veränderung ihres Lebens anregen lassen. Die Alternative hat Erich Fromm 1976 in seinem Buch „Haben oder Sein“ formuliert. Diesem Buch folgte 1989, neun Jahre nach dem Tod von Erich Fromm, ein weiteres, das den Titel hat „Vom Haben zum Sein" und jene Kapitel aus dem Nachlaß enthält, die er zwar für das 1976 erschienene Buch verfaßt, jedoch aus verschiedenen Gründen damals nicht veröffentlicht hatte.

Die Alternative „Haben oder Sein“ dient vielen als Schlüssel zum Verständnis dessen, woran sie bewußt, halb-bewußt oder unbewußt ihr Herz hängen und was sie faktisch mit Leidenschaftlichkeit in ihrem Leben verfolgen. Mit ihr läßt sich nicht nur begrifflich fassen und diagnostizieren, was in Wirklichkeit in jedem von uns vor sich geht; sie ist zugleich auch eine konkretisierbare Leitidee zur Veränderung unseres Lebens.

Wer immer versucht, seine eigene Orientierung am Haben zu erkennen und mit der Orientierung am Sein eine Alternative zu praktizieren, entwickelt das Bedürfnis, über den Weg dorthin noch mehr zu erfahren. Diesem Bedürfnis möchte das vorliegende Lesebuch zur Alternative „Haben oder Sein“ entsprechen. Es will nicht die Lektüre der beiden Bücher „Haben oder Sein“ und „Vom Haben zum Sein“ ersetzen, sondern ergänzen. Dies ergibt sich sowohl aus der Auswahl der hier versammelten Texte wie aus der Art ihrer Zusammenstellung. Darüber hinaus verfolgt der Band „Leben zwischen Haben und Sein“ das Anliegen, die vielfältigen Mißverständnisse, die es um die Alternative „Haben oder Sein“ gibt, zu reduzieren und jene Aspekte der Alternative hervorzuheben, die sich nach bald zwanzigjährigem „Umgang“ mit Fromms Alternative als besonders fruchtbar und wegweisend herausstellten.

Vieles, was in den beiden genannten Büchern in wohlgesetzten Worten formuliert ist, kommt als gesprochenes Wort erst richtig an. Vorträge und Interviews sind deshalb eine wichtige Ergänzung und Bereicherung. Zwar schrieb Erich Fromm alle seine Bücher in Englisch, doch hielt er in den siebziger Jahren zur Entstehungszeit von „Haben oder Sein“ eine Reihe von Vorträgen in deutscher Sprache und gab zahlreiche deutsche Interviews. Die Transkripte dieser sonst nicht oder nur schwer zugänglichen Interviews und Vorträge bilden einen wesentlichen Grundstock des vorliegenden Bandes.

Die Alternative „Haben oder Sein“ als Grundausrichtungen des leidenschaftlichen Strebens – des Charakters – hatte Erich Fromm über viele Jahre bereits beschäftigt, bevor er ihr am Ende seines Lebens ein eigenes Buch widmete. Vorformuliert bei Meister Eckhart und Karl Marx (vgl. E. Fromm, 1992b) faßte er sie in den vierziger Jahren bereits als Alternative zwischen nicht-produktiver und produktiver Charakterorientierung (vgl. E. Fromm, 1947a), später auch als Alternative zwischen Destruktivität bzw. Nekrophilie und Kreativität bzw. Biophilie (vgl. E. Fromm 1964a).
Auch zu diesen Alternativen gibt es Beiträge und Vorträge, die gerade das, was Fromm mit der Existenzweise des Seins meint, illustrieren. Weil auch sie weitgehend unbekannt sind, fanden sie in diesen Band Eingang.

Schließlich enthält der Band einige zentrale Abschnitte aus den beiden Büchern „Haben oder Sein“ und „Vom Haben zum Sein“, die für die Frage des Lebens zwischen Haben und Sein und des Wegs zu einer Orientierung am Sein besonders aufschlußreich sind, sowie als Einleitung ein bisher unveröffentlichtes Manuskript zu dem Buch Haben oder Sein. ...

Die Auswirkungen der Marktwirtschaft auf den Menschen

Der wichtigste Schlüssel zum Verständnis der Charakterstruktur unserer heutigen Gesellschaft ist die Veränderung, die sich zwischen dem Frühkapitalismus und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Gesellschafts-Charakter vollzog. Der autoritär-zwanghaft-hortende Charakter, der sich im 16. Jahrhundert zu entwickeln begann und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zumindest in der Mittelklasse vorherrschte, mischte sich allmählich mit dem Marketing-Charakter oder wurde durch ihn verdrängt. Ich habe die Bezeichnung „Marketing-Charakter“ gewählt, weil der einzelne sich selbst als Ware und den eigenen Wert nicht als „Gebrauchswert“, sondern als „Tauschwert“ erlebt.

In unserer modernen Wirtschaft gibt es keinen Markt, auf dem Menschen sitzen und ihre Waren verkaufen. Vielmehr wird sie von dem regiert, was man einen „öffentlichen Warenmarkt“ nennen könnte, auf dem die Preise und die Produktion von der Nachfrage bestimmt werden. Dieser öffentliche Markt ist für die moderne Wirtschaft der regulierende Faktor. Die Preise werden von keiner wirtschaftlichen Gruppe bestimmt, die sagt, was für dieses oder jenes bezahlt werden muß. Solches geschieht höchstens in Ausnahmesituationen oder in Kriegszeiten. Der Preis oder die Verweildauer auf dem Markt werden durch das Marktgeschehen selbst bestimmt, wobei der Markt ständig dazu tendiert, im Gleichgewicht zu sein und sich bis zu einem bestimmten Punkt selbst ausbalanciert.

Was bedeutet dies alles unter psychologischen Gesichtspunkten? Der Markt bewirkt, daß alle Gegenstände als Waren erscheinen. Worin liegt der Unterschied zwischen einem Gegenstand und einer Ware? Ein Trinkglas ist ein Gegenstand, den ich dazu gebrauche, Wasser zu halten. Es ist für mich sehr nützlich. Es mag nicht besonders schön sein, aber es ist, was es ist. Als Ware hingegen ist es etwas, das ich kaufen kann, das einen bestimmten Preis hat. Ich nehme es nicht nur als einen Gegenstand wahr, der einen bestimmten Gebrauchswert hat, sondern als eine Ware mit einem bestimmten Tauschwert. Es erscheint als eine Ware auf dem Markt und sein Zweck als Ware ist darin zu sehen, daß ich es beschreiben kann als einen 50- oder 25-Pfennig-Gegenstand. Ich kann also diesen Gegenstand in Form von Geld oder in Form einer Abstraktion ausdrücken. Jeder, der seine eigene Einstellung gegenüber Gegenständen ein wenig analysiert, wird merken, daß er sich weitgehend so verhält und sich auf sie nicht als Gegenstände, sondern als Waren bezieht. Man nimmt einen Gegenstand bereits in Form seines abstrakten Geldwertes, in Form seines Tauschwertes wahr. ...

Auch der Mensch wird zur Ware: auf dem „Persönlichkeitsmarkt“. Das Bewertungsprinzip ist dasselbe wie auf dem Warenmarkt, mit dem einzigen Unterschied, daß hier „Persönlichkeit“ und dort Waren feilgeboten werden. Entscheidend ist in beiden Fällen der Tauschwert, für den der „Gebrauchswert“ eine notwendige, aber keine ausreichende Voraussetzung ist.

Obwohl das Verhältnis von beruflichen und menschlichen Qualitäten einerseits und der Persönlichkeit andererseits als Voraussetzung des Erfolges schwankt, spielt der Faktor „Persönlichkeit“ immer eine maßgebliche Rolle. Der Erfolg hängt weitgehend davon ab, wie gut sich ein Mensch auf dem Markt verkauft, ob er im Wettbewerb „gewinnt“, wie anziehend seine „Verpackung“ ist, ob er „heiter“, „solide“, „aggressiv“, „zuverlässig“ und „ehrgeizig“ ist, aus welchem Milieu er stammt, welchem Verein er angehört, und ob er die „richtigen“ Leute kennt.

Der bevorzugte Persönlichkeitstyp hängt bis zu einem bestimmten Grad von dem Berufszweig ab, in dem ein Mensch arbeiten möchte. Der Börsenmakler, der Verkäufer, die Sekretärin, der Bahnbeamte, der Universitätsprofessor und der Hotelmanager – sie alle müssen einer je verschiedenen Art von Persönlichkeit entsprechen, die ungeachtet aller Unterschiede eine Bedingung erfüllen muß: Sie muß gefragt sein.

Die Einstellung des einzelnen zu sich selbst wird somit durch den Umstand geprägt, daß Eignung und Fähigkeit, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, nicht ausreichen. Um Erfolg zu haben, muß man imstande sein, in der Konkurrenz mit vielen anderen seine Persönlichkeit vorteilhaft präsentieren zu können. Wenn es zum Broterwerb genügen würde, sich auf sein Wissen und Können zu verlassen, dann stünde das eigene Selbstwertgefühl im Verhältnis zu den jeweiligen Fähigkeiten, das heißt zum Gebrauchswert eines Menschen. Aber da der Erfolg weitgehend davon abhängt, wie gut man seine Persönlichkeit verkauft, erlebt man sich als Ware oder richtiger: gleichzeitig als Verkäufer und zu verkaufende Ware. Der Mensch kümmert sich nicht mehr um sein Leben und sein Glück, sondern um seine Verkäuflichkeit.

Das oberste Ziel des Marketing-Charakters ist die vollständige Anpassung, um unter allen Bedingungen des Persönlichkeitsmarktes begehrenswert zu sein. Der Mensch dieses Typus hat nicht einmal ein Ich (wie die Menschen des 19. Jahrhunderts), an dem er festhalten könnte, das ihm gehört, das sich nicht wandelt. Denn er ändert sein Ich ständig nach dem Prinzip: „Ich bin so, wie du mich haben möchtest.“ Menschen mit einer Marketing-Charakterstruktur haben kein Ziel, außer ständig in Bewegung zu sein und alles mit größtmöglicher Effizienz zu tun. Fragt man sie, warum alles so rasch und effizient erledigt werden muß, erhält man keine echte Antwort, nur Rationalisierungen wie:„Um mehr Arbeitsplätze zu schaffen“, oder: „Damit die Firma weiter expandiert.“ Philosophischen oder religiösen Fragen, etwa wozu man lebt und warum man in die eine und nicht die andere Richtung geht, bringen sie (zumindest bewußt) wenig Interesse entgegen. Sie haben ihr großes, sich ständig wandelndes Ich, aber keiner von ihnen hat ein Selbst, einen Kern, ein Identitätserleben. Die „Identitätskrise“ der modernen Gesellschaft ist darauf zurückzuführen, daß ihre Mitglieder zu selbstlosen Werkzeugen geworden sind, deren Identität auf ihrer Zugehörigkeit zu Großkonzernen (oder anderen aufgeblähten Bürokratien) beruht. Wo kein echtes Selbst existiert, kann es auch keine Identität geben.

Der Mensch von heute ist wie eine Ware und hat das Gefühl, sein Wert hänge von seinem Erfolg, von seiner Verkäuflichkeit und von der Anerkennung durch andere ab. Er merkt, daß sein Wert weder auf dem inneren oder auf dem Gebrauchswert seiner Persönlichkeit beruht, noch auf seiner Kraft oder Liebesfähigkeit und seinen menschlichen Qualitäten – es sei denn, er kann sie verkaufen oder hat mit ihnen Erfolg und andere anerkennen ihn.

Aus diesem Grunde ist die Selbstachtung der meisten Menschen heute sehr leicht zu erschüttern. Sie haben kein Selbstwertgefühl aus der Überzeugung: „Das bin ich, das ist meine Liebesfähigkeit und meine Fähigkeit, zu denken und zu fühlen“; vielmehr fühlen sie sich nur wertvoll, wenn sie von anderen anerkannt werden, wenn sie sich verkaufen können, wenn andere sagen: „Du bist ein wunderbarer Mann“ oder „Du bist eine wunderbare Frau“.

Ein Selbstwertgefühl, das von anderen abhängig ist, wird immer unsicher sein. Jeder Tag bringt eine neue Bewährungsprobe, und jeden Tag muß man sich selbst und andere davon überzeugen, daß man o.k. ist. Man kann die Situation fast mit der einer Handtasche vergleichen, die auf dem Ladentisch zum Verkauf ausliegt. Jene Handtasche, von deren Art im Laufe eines Tages viele verkauft wurden, könnte am Abend stolz auf sich sein, während eine andere, deren Art nicht mehr ganz der Mode entspricht oder die etwas zu teuer ist oder aus sonst einem Grund nicht so gut verkauft wurde, sich deprimiert fühlen würde. Die eine Handtasche könnte sich sagen: „Ich bin wunderbar“; die andere müßte sich eingestehen: „Ich bin nichts wert“, obwohl die „wunderbare“ Handtasche nicht schöner, brauchbarer oder von besserer Qualität sein muß als die andere. Die nicht verkaufte Handtasche müßte das Gefühl haben, daß man sie nicht haben will. Der Vergleich zeigt, daß der Wert einer Handtasche von ihrem Erfolg abhängt, also davon, wieviel Käufer aus irgendeinem Grund die eine der anderen vorziehen. ...

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