Auszüge aus Erich Fromm's
"Haben oder Sein "

Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft

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Vorwort

Dieses Buch setzt zwei Richtungen meiner früheren Schriften fort. Es ist eine Erweiterung meiner Arbeiten auf dem Gebiet der radikal-humanistischen Psychoanalyse und konzentriert sich auf die Analyse von Selbstsucht und Altruismus als zwei grundlegenden Charakterorientierungen. Im letzten Drittel des Buches, in Teil III, führe ich ein Thema weiter aus, mit dem ich mich schon in „The Sane Society“ (1955a) und „The Revolution of Hope“ (1968a) beschäftigt habe: der Krise der heutigen Gesellschaft und der Möglichkeiten, sie zu lösen. Wiederholungen schon früher geäußerter Überlegungen waren unvermeidlich, aber ich hoffe, daß der neue Gesichtspunkt, von dem aus diese kleinere Arbeit geschrieben ist, und der weitere Rahmen auch Lesern Gewinn bringen wird, die mit meinen früheren Schriften vertraut sind.

Der Titel dieses Buches ist fast identisch mit zwei Titeln anderer Werke: mit dem Titel von Gabriel Marcels Buch „Sein und Haben“ (G. Marcel, 1954) und mit dem Titel des Buches von Balthasar Staehelin „Haben und Sein“ (B. Staehelin, 1969). Alle drei Bücher sind aus dem Geist des Humanismus geschrieben, aber der Zugang zum Thema ist jeweils verschieden. Marcels Standpunkt ist ein theologischer und philosophischer; Staehelins Buch ist eine konstruktive Erörterung des Materialismus in der modernen Wissenschaft und ein Beitrag zur Wirklichkeitsanalyse; Thema dieses Buches ist eine empirische psychologische und gesellschaftliche Analyse der beiden Existenzweisen. Interessierten Lesern empfehle ich die Bücher von Marcel und Staehelin.

Das Ende einer Illusion

Die große Verheißung unbegrenzten Fortschritts – die Aussicht auf Unterwerfung der Natur und auf materiellen Überfluß, auf das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl und auf uneingeschränkte persönliche Freiheit – das war es, was die Hoffnung und den Glauben von Generationen seit Beginn des Industriezeitalters aufrechterhielt. Zwar hatte die menschliche Zivilisation mit der aktiven Beherrschung der Natur durch den Menschen begonnen, aber dieser Herrschaft waren bis zum Beginn des Industriezeitalters Grenzen gesetzt. Von der Ersetzung der menschlichen und tierischen Körperkraft durch mechanische und später nukleare Energie bis zur Ablösung des menschlichen Verstandes durch den Computer bestärkte uns der industrielle Fortschritt in dem Glauben, auf dem Wege zu unbegrenzter Produktion und damit auch zu unbegrenztem Konsum zu sein, durch die Technik allmächtig und durch die Wissenschaft allwissend zu werden. Wir waren im Begriff, Götter zu werden, mächtige Wesen, die eine zweite Welt erschaffen konnten, wobei uns die Natur nur die Bausteine für unsere neue Schöpfung zu liefern brauchte.
Männer und in zunehmendem Maß auch Frauen erlebten ein neues Gefühl der Freiheit. Sie waren Herren ihres eigenen Lebens; die Ketten der Feudalherrschaft waren zerbrochen, sie waren aller Fesseln ledig und konnten tun, was sie wollten. So empfanden sie es wenigstens. Und obwohl dies nur für die Mittel- und Oberschicht galt, verleiteten deren Errungenschaften andere zu dem Glauben, die neue Freiheit werde schließlich allen Mitgliedern der Gesellschaft zugute kommen, wenn die Industrialisierung nur im gleichen Tempo voranschreite. Sozialismus und Kommunismus wandelten sich rasch von einer Bewegung, die eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen anstrebte, zu einer Kraft, die das Ideal eines bürgerlichen Lebens für alle aufrichtete: der universale Bourgeois als Mann und Frau der Zukunft. Leben erst alle in Reichtum und Komfort, dann, so nahm man an, werde jedermann schrankenlos glücklich sein. Diese Trias [Dreiheit] von unbegrenzter Produktion, absoluter Freiheit und uneingeschränktem Glück bildete den Kern der neuen Fortschrittsreligion, und eine neue irdische Stadt des Fortschritts ersetzte die "Stadt Gottes". Ist es verwunderlich, daß dieser neue Glaube seine Anhänger mit Energie, Vitalität und Hoffnung erfüllte?

Man muß sich die Tragweite dieser großen Verheißung und die phantastischen materiellen und geistigen Leistungen des Industriezeitalters vor Augen halten, um das Trauma zu verstehen, das die beginnende Einsicht in das Ausbleiben ihrer Erfüllung heute auslöst. Denn das Industriezeitalter ist in der Tat nicht imstande gewesen, seine große Verheißung einzulösen, und immer mehr Menschen werden sich folgender Tatsachen bewußt:

Als Albert Schweitzer am 4.11.1954 zur Entgegennahme des Friedensnobelpreises nach Oslo kam, forderte er die ganze Welt auf: "Wagen wir die Dinge zu sehen wie sie sind. Es hat sich ereignet, daß der Mensch ein Übermensch geworden ist ... Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf ... Damit wird nun vollends offenbar, was man sich vorher nicht recht eingestehen wollte, daß der Übermensch mit dem Zunehmen seiner Macht zugleich immer mehr zum armseligen Menschen wird ... Was uns aber eigentlich zu Bewußtsein kommen sollte und schon lange vorher hätte kommen sollen, ist dies, daß wir als Übermenschen Unmenschen geworden sind" (A. Schweitzer, 1966, S. 118–120).

Warum hat sich die große Verheißung nicht erfüllt?

Daß sich die große Verheißung nicht erfüllt hat, liegt neben den systemimmanenten ökonomischen Widersprüchen innerhalb des Industrialismus an den beiden wichtigsten psychologischen Prämissen des Systems selbst, nämlich

1.  daß das Ziel des Lebens Glück, d. h. ein Maximum an Lust sei, worunter man die Befriedigung aller Wünsche oder subjektiven Bedürfnisse, die ein Mensch haben kann, versteht (radikaler Hedonismus);

2.  daß Egoismus, Selbstsucht und Habgier – Eigenschaften, die das System fördern muß, um existieren zu können – zu Harmonie und Frieden führen.

Radikaler Hedonismus wurde bekanntlich in verschiedenen Epochen der Geschichte von den Reichen praktiziert. Wer über unbegrenzte Mittel verfügte, wie beispielsweise die Elite Roms und die der italienischen Städte in der Renaissance sowie die Englands und Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert, der versuchte, seinem Leben durch unbegrenztes Vergnügen einen Sinn zu geben. Doch obwohl dies in bestimmten Kreisen zu bestimmten Zeiten die gängige Praxis war, entsprang sie mit einer Ausnahme nie der Theorie des "Wohl-Seins", die von den großen Meistern des Lebens in China, Indien, dem Nahen Osten und Europa formuliert worden war.

Die Ausnahme ist der griechische Philosoph Aristipp, ein Schüler des Sokrates (1. Hälfte des 4. Jh. v. Chr.), der lehrte, daß das Ziel des Lebens der Genuß eines Optimums an körperlichen Freuden sei und daß Glück die Summe des genossenen Vergnügens sei. Das Wenige, was wir über seine Philosophie wissen, verdanken wir Diogenes Laertius, doch es reicht aus um zu belegen, daß Aristipp der einzige radikale Hedonist war, für den die Existenz eines Verlangens die Basis für das Recht auf seine Befriedigung und damit für die Verwirklichung des Lebenszieles, die Lust, ist.
Epikur kann kaum als Vertreter dieser Art von Hedonismus, wie Aristipp sie vertrat, gesehen werden. Obwohl Epikur die "reine" Lust als das höchste Ziel ansieht, bedeutet dies für ihn die "Abwesenheit von Schmerz" (aponia) und "Seelenruhe" (ataraxia). Laut Epikur kann Vergnügen im Sinne der Befriedigung von Begierden nicht das Ziel des Lebens sein, denn auf solche Lust folge zwangsläufig Unlust, und dadurch entferne sich der Mensch von seinem wahren Ziel, der Abwesenheit von Schmerz. (Epikurs Theorie weist viele Parallelen zu jener Freuds auf.) Dennoch scheint Epikur im Gegensatz zur Position des Aristoteles einen gewissen Subjektivismus vertreten zu haben, soweit die widersprüchlichen Darstellungen der Epikuräischen Philosophie eine endgültige Interpretation zulassen.

Keiner der anderen großen Meister lehrte, daß die faktische Existenz eines Wunsches eine ethische Norm konstituiere. Ihnen ging es um das optimale Wohl-Sein (vivere bene) der Menschheit. Das wichtigste Element ihres Denkens ist die Unterscheidung zwischen solchen Bedürfnissen (Wünschen), die nur subjektiv wahrgenommen werden und deren Befriedigung zu momentanem Vergnügen führt, und solchen Bedürfnissen, die in der menschlichen Natur wurzeln und deren Erfüllung menschliches Wachstum fördert, das heißt Wohl-Sein (eudaimonia) hervorbringt. Mit anderen Worten, es ging ihnen um die Unterscheidung zwischen rein subjektiv empfundenen und objektiv gültigen Bedürfnissen – wobei ein Teil der ersteren das menschliche Wachstum behindert, während letztere in Einklang mit den Erfordernissen der menschlichen Natur stehen.

Die Theorie, daß das Ziel des Lebens die Erfüllung eines jeden menschlichen Wunsches sei, wurde nach Aristipp unmißverständlich erstmals wieder von den Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts ausgesprochen. Diese Auffassung konnte leicht aufkommen, als das Wort "Profit" aufhörte "Gewinn für die Seele" zu bedeuten (wie in der Bibel und auch noch bei Spinoza) und statt dessen materiellen, finanziellen Gewinn bezeichnete. Dies geschah in jener Epoche, als das Bürgertum nicht nur seine politischen Fesseln abwarf, sondern auch alle Bande der Liebe und Solidarität, und zu glauben begann, wer nur für sich selbst sei, sei mehr er selbst, nicht weniger. Für Hobbes ist Glück das ständige Weiter-schreiten von einer Begierde (cupiditas) zur nächsten; Lamettrie empfiehlt sogar Drogen, da diese wenigstens die Illusion von Glück vermittelten; für de Sade ist die Befriedigung grausamer Impulse allein schon deshalb legitim, weil sie vorhanden sind und nach Befriedigung verlangen. Diese Denker lebten im Zeitalter des endgültigen Sieges der bürgerlichen Klasse. Was einst die unphilosophische Praxis der Aristokratie gewesen war, wurde nun zur Praxis und Theorie der Bourgeoisie.. ...

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