Auszüge aus Erich Fromm's
"Gesellschaft und Seele "

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Die Gesellschaft ist nichts als die lebendigen, konkreten Individuen, und das Individuum kann nur als vergesellschaftetes Individuum leben. Die Analyse des Charakters des einzelnen führt mit allen seinen individuellen Zügen auf die Elemente des sozial typischen Charakters zurück, so daß erst das Verständnis des sozial typischen Charakters ein volles Verständnis des individuellen Charakters ermöglichen kann. So sehr es stimmt, daß der Mensch so zu leben hat, daß er den Forderungen der Gesellschaft, in der er lebt, gerecht wird, so sehr stimmt es auch, daß die Gesellschaft so konstruiert und strukturiert sein muß, daß sie den Bedürfnissen des Menschen gerecht wird. Das Recht, den anderen zu analysieren, erwirbt der Analytiker sich dadurch, daß er imstande ist, in sich das zu mobilisieren, was ihn verstehen läßt, was im anderen vor sich geht. Das wichtigste Instrument des Analytikers ist er selbst.

Für mich besteht die Zukunft der Analyse darin, daß sie wieder eine kritische Theorie wird, indem sie hilft, die heute in den Individuen und in der Gesellschaft entscheidenden Verdrängungen aufzuklären, Widersprüche aufzuhellen und Ideologien zu entzaubern; indem sie zeigt, daß das, was Freud das „Unbehagen in der Kultur“ genannt hat, in Wirklichkeit schon eine Pathologie der kybernetischen Gesellschaft ist.

Der sozial typische Charakter als Ausdruck der gesellschaftlich geprägten psychischen Struktur des einzelnen

Wir haben bisher im wesentlichen von Impulsen und Charaktersyndromen gesprochen, wie sie sich bei Individuen finden, und haben zu zeigen versucht, daß diese nicht als unmittelbare Produkte des Sexualinstinkts zu verstehen sind, sondern als Reaktion auf bestimmte Umweltbedingungen, und – im weitesten Sinn – als Objektbeziehungen.

Gesellschaft und Individuum stehen sich nicht „gegenüber“. Die Gesellschaft ist nichts als die lebendigen, konkreten Individuen, und das Individuum kann nur als vergesellschaftetes Individuum leben. Seine individuelle Lebenspraxis ist notwendigerweise die seiner Gesellschaft beziehungsweise Klasse und letzten Endes durch die Produktionsweise der betreffenden Gesellschaft bedingt, das heißt dadurch, wie diese Gesellschaft produziert und wie sie organisiert ist, um die Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu befriedigen. Die Verschiedenheit der Produktions- und Lebensweise der verschiedenen Gesellschaften beziehungsweise Klassen führt zur Herausbildung verschiedener, für diese Gesellschaft typischen Charakterstrukturen. Die einzelnen Gesellschaften unterscheiden sich nicht nur durch die Verschiedenheit in der Produktionsweise und ihrer sozialen und politischen Organisation, sondern auch dadurch, daß ihre Menschen bei allen individuellen Unterschieden eine typische Charakterstruktur aufweisen. Wir wollen diese den „sozial typischen Charakter“ nennen.

Der sozial typische Charakter ist eine Kategorie, die mit Notwendigkeit weniger spezifisch ist als die des individuellen Charakters. Bei der Beschreibung des Charakters eines Individuums haben wie es mit der Gesamtheit aller Züge dieses Charakters zu tun, die in ihrer besonderen Konfiguration den Charakter eben dieses Individuums ausmachen. Wie bei jeder Typenbildung werden beim sozial typischen Charakter nur gewisse grundlegende Züge herausgegriffen und zwar solche, die ihrer Dynamik und ihrem Gewicht nach von entscheidender Bedeutung für alle Individuen dieser Gesellschaft sind. Die Fruchtbarkeit der Kategorie muß sich daran erweisen, daß bei aller Allgemeinheit des Typs er dennoch spezifisch für die betreffende Gesellschaft ist und sich vom sozial typischen Charakter anderer Gesellschaften deutlich abhebt; ferner daran, daß auch die Analyse des Charakters des einzelnen mit allen seinen individuellen Zügen auf die Elemente des sozial typischen Charakters zurückführt, und daß erst das Verständnis des sozial typischen Charakters ein volles Verständnis des individuellen Charakters ermöglichen kann. In Klassengesellschaften weisen die Angehörigen der verschiedenen Klassen einen gemeinsamen, das heißt für sie alle geltenden sozial typischen Charakter auf, aber vermehrt um bestimmte nur für die betreffende Klasse gültigen Züge in einer für diese Klasse typischen Konfiguration.

Bevor wir das Problem des sozial typischen Charakters weiter behandeln, ist es nötig, noch einmal an die grundsätzliche Auffassung vom Charakter zu erinnern, wie sie die Psychoanalyse herausgestellt hat und wie sie auch für die oben vorgeschlagene Modifizierung der Freudschen Triebtheorie gilt. Unter Charakter wird nicht verstanden die Summe der für einen Menschen typischen manifesten Verhaltungsweisen und Haltungen, sondern die Struktur derjenigen Impulse, Ängste und Haltungen, die, zum großen Teil selbst unbewußt, das für den Menschen typische manifeste Verhalten bedingen. Dabei ist besonders wichtig, die dynamische Qualität des Charakters zu verstehen, das heißt, daß Kräfte in ihm wirksam sind, die im Charakterzug in einer ganz bestimmten Weise gebunden und kanalisiert sind. Der Charakter ist die Form, in der ein großer Teil der menschlichen Energien ihren permanenten Ausdruck findet, gleichsam das mit Triebenergie geladene Werkzeug des Individuums, mit dem es unter den gegebenen Lebensbedingungen seine Bedürfnisse durchsetzt und sich gegen Gefahren schützt.

Die gesellschaftliche Funktion des sozial typischen Charakters

Der sozial typische Charakter ist seinem Inhalt nach so verschieden, wie es die Produktions- und Lebensweise der verschiedenen Gesellschaftsformationen und der Klassen innerhalb ihrer ist. Sein Inhalt steht aber immer in einer besonderen Beziehung zu den Aufgaben, die ein bestimmtes Individuum im engeren Sinne seiner ökonomischen Tätigkeit als auch im weiteren Sinne seines sozialen Verhaltens zu vollziehen hat, und mit den Verboten, die es zu respektieren hat, speziell mit der Notwendigkeit, sich der herrschenden Klasse unterzuordnen. Soweit es das Vollziehen gewisser Aufgaben anlangt, ist gewiß die reale Notwendigkeit, auf eine bestimmte Weise seine Bedürfnisse zu befriedigen, sich in einer bestimmten Weise zu betätigen, wenn man nicht verhungern will, das entscheidende Motiv für das entsprechende Verhalten der Individuen. Je größer aber die Arbeitsintensität ist, die in einer bestimmten Gesellschaft notwendig ist, je komplizierter die Aufgaben sind, die das Individuum zu vollziehen hat, und je fremder gleichzeitig diese Aufgaben den menschlichen Bedürfnissen des Individuums sind, desto mehr erweist sich die rationale Einsicht in die Notwendigkeit des geforderten Verhaltens als nicht zureichendes Motiv. Und dies aus zwei Gründen. Der erste Grund ist der, daß intensive und differenzierte Leistungen eines Maßes an Energie und Interesses bedürfen, wie sie der bloße Zwang beziehungsweise die bloße Einsicht in die Notwendigkeit eines Verhaltens nicht liefern. Tätigkeiten wie Häuserbau, extensive Agrikultur oder die Arbeit eines unqualifizierten Industriearbeiters können allenfalls auf Grund reiner Notwendigkeit hinreichend vollzogen werden, aber qualifizierte Tätigkeiten bedürfen der „Freiwilligkeit“.
Das Individuum muß das, was es tun, oder die Art, wie es sich verhalten muß, selbst tun wollen; das von außen Notwendige muß zu einem von innen her Gewünschten werden. Hierzu kommt noch ein anderer Grund: In einer Gesellschaftsordnung, in der das Individuum politisch frei ist, bedarf es eines gewissen Maßes an subjektiver Befriedigung, um reibungslos und zufriedenstellend zu funktionieren. Gewiß könnte eine bestimmte Tätigkeit oder Lebensweise diese Befriedigung mit sich bringen, wenn sie den menschlichen Bedürfnissen des Individuums entspricht, wenn sie eine Äußerung seiner Individualität ist. Wenn aber die geforderte Tätigkeit oder Verhaltungsweise eine ihm fremde, von außen auferlegte ist, dann muß diese Befriedigung dadurch geschaffen werden, daß das Individuum eine Charakterstruktur entwickelt, auf deren Basis das für die Gesellschaft Notwendige zu etwas vom Individuum Erstrebtem und seine Vollziehung zu etwas Befriedigendem wird.

Der Angehörige eines Stammes, der im wesentlichen durch Krieg und Raubzüge seinen Lebensunterhalt erwirbt, muß Lust am Krieg, am Raub, an persönlicher Auszeichnung entwickeln. Das Mitglied eines Stammes, der in erster Linie intensive Agrikultur auf kooperativer Basis betreibt, muß eine gewisse Hingabe an seine Arbeit und ein gewisses Maß an Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft seinen Stammesgenossen gegenüber entwickeln. Der bürgerliche Mensch muß in seiner Charakterstruktur einen bestimmten Grad von Aggressivität entwickeln, eine bestimmte Stärke des Impulses zu erwerben, zu arbeiten, mit anderen zu konkurrieren, und sie aus dem Felde schlagen zu wollen, seine Ansprüche auf eigenes Glück und Befriedigung zugunsten des Bedürfnisses nach Pflichterfüllung zu unterdrücken. Indem er aber eine Charakterstruktur entwickelt, in der solche Impulse und Haltungen vorhanden sind, wird die Praktizierung der geforderten Verhaltungsweisen wie Pflichterfüllung, Arbeit, Konkurrieren usw. zu etwas für ihn Befriedigendes.

Allerdings bedarf es zur Befriedigung des „psychischen Existenzminimums“, das heißt des zum reibungslosen Funktionieren des Individuums notwendigen Mindestmaßes an subjektiver Befriedigung noch zusätzlicher Mittel. Solche zusätzlichen Befriedigungen können zum großen Teil durch Ideologien und durch Veranstaltungen erfolgen und bedürfen keines nennenswerten materiellen Aufwandes. Bei der Charakterstruktur, bei der sadistische und masochistische Impulse stark entwickelt sind, sind es die entsprechenden Veranstaltungen, die solche Phantasiebefriedigungen bewirken. Die Befriedigung dieser Impulse ist gerade da besonders wichtig, wo die materiellen Bedürfnisse der Menschen nicht hinreichend befriedigt werden, aber sie werden auch gerade da in beträchtlicher Stärke erzeugt, wo die materielle Lage unbefriedigend ist. Die circenses des alten Rom sind das klassische Beispiel der sadistischen Phantasiebefriedigungen. Das Gleiche gilt von narzißtischen Haltungen. Wenn das Selbstgefühl der Menschen, der Stolz auf ihre eigene Leistung und Persönlichkeit auf Grund ihrer materiellen Lebenssituation geschwächt ist, dann wird diese Schwächung durch Phantasien kompensiert, die etwa besagen, daß die betreffende Nation oder Rasse die hervorragendste und beste unter allen Völkern ist, und daß die einfache Zugehörigkeit zu dieser Gruppe das Individuum über die Menschen aller anderen Gruppen heraushebt.

Der sozial typische Charakter enthält neben den Impulsen und Erwartungen, die eine Verinnerlichung des Notwendigen und Gebotenen darstellen, auch solche Züge, die eine Verinnerlichung des Verbotenen sind. Auch diese Seite des sozial typischen Charakters hat große Bedeutung für das Funktionieren der Gesellschaft. Das Individuum muß im gesellschaftlichen Zusammenleben auf die Befriedigung gewisser Impulse zugunsten der Allgemeinheit verzichten. Darüber hinaus aber muß es in vielen Gesellschaften auch auf die Befriedigung solcher Bedürfnisse verzichten, die nicht mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben an sich verknüpft sind, sondern mit der Struktur einer bestimmten Gesellschaft.

Die bürgerliche Gesellschaft hat ein bestimmtes Maß an sexueller Unterdrückung und Verzicht von Ansprüchen auf eigenes Glück überhaupt notwendig gemacht, sie legt dazu noch speziell der großen Masse Einschränkungen an Befriedigungen und Genuß materieller Güter auf (wenngleich sie auch wieder zu diesem Genuß anreizt), die ihr Leben in schroffsten Gegensatz zu dem der besitzenden Schichten stellen. Würden einem Individuum diese Ansprüche lebenswichtig sein und hätten sie nur jedes Mal gleichsam der Gewalt zu weichen, so wäre die Folge, daß einmal in vielen Fällen das Individuum trotz angedrohter Sanktionen auf der Durchsetzung seiner Ansprüche bestehen würde, und zweitens, daß es selbst da, wo es sie bewußt unterdrückt, ein Ressentiment und eine Feindseligkeit gegen diejenigen entwickeln würde, die es zur Unterdrückung zwingen. Das Ergebnis wäre vom Standpunkt der Gesellschaft aus gesehen höchst unbefriedigend. Die gesellschaftliche Notwendigkeit eines automatischen und ohne Entwicklung zu starken Ressentiments führenden Triebverzichts verlangt, daß die zur Befriedigung nicht zugelassenen Impulse, seien es physiologische wie die Sexualität, seien es psychische irgendwelcher Art, verdrängt werden, das heißt, im Bewußtsein nicht mehr oder in quantitativer geringerer Stärke als Bedürfnis erscheint. Aus dem äußeren Verbot wird ein inneres, eine Forderung des Gewissens, oder wie Freud es in seinem dynamischen Aspekt genannt hat, das „Über-Ich“, das seinerseits die Verinnerlichung der in einer Gesellschaft herrschenden Autoritäten ist. (Vgl. hierzu E. Fromm, 1936a.)

Der sozial typische Charakter ist bedingt von der Produktions- und Lebensweise einer Gesellschaft. Seine Formation wird aber durch eine Reihe von anderen Faktoren noch zusätzlich beeinflußt, beziehungsweise werden gewisse Züge, die von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung sind, verstärkt. Die Faktoren, um die es sich hier handelt, lassen sich allgemein als ideologische Beeinflussungen beschreiben. Die Religion war das stärkste Instrument einer solchen Beeinflussung der Charakterstrukturen, ihr Platz ist heute weitgehend von gewissen politischen Ideologien eingenommen worden. Die gesellschaftliche Funktion des Protestantismus und seiner Sekten lag weitgehend in der Verstärkung jener Charakterzüge, die sich an sich schon aus der veränderten Produktionsweise entwickelten. Es handelt sich aber um mehr als nur um eine Verstärkung einzelner Züge.

Die Religion stellt ein System dar, das dazu beiträgt, die Charakterzüge, wie sie sich aus der Lebensweise der Gesellschaft ergeben, zu integrieren, das heißt nicht um gewisse Züge zu verstärken, sondern auch andere, die sich nicht ohne weiteres als Reflex des gesellschaftlichen Lebens ergeben, die aber zur Formung des Gesamtcharakters erforderlich sind, zu erzeugen. Gleichzeitig schafft sie aber die Phantasiebefriedigungen, die für den Menschen mit seinem bestimmten sozial typischen Charakter notwendig sind. Der Protestantismus und speziell die protestantischen Sekten haben durch ihre Lehren Angst erzeugt, aber gleichzeitig durch die Betonung der Pflicht und dessen, was Max Weber die „innerweltliche Askese“ nennt, den Weg zu einer relativen Befreiung von dieser Angst gezeigt, und damit den sozial typischen Charakter der bürgerlichen Gesellschaft in der Richtung beeinflußt, die von der Produktions- und Lebensweise der bürgerlichen Gesellschaft in ihren Grundlagen gegeben war. ...

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